Forschungsmagazin der Universität Innsbruck - 02/2022

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zukunft forschung

GRENZFRAGEN

thema: grenzen in der forschung | pharmazie: neuer blick auf arzneimittel wirtschaft: die visualisierung der arbeit | holzbau: geeignet für großbauten rechtswissenschaft: menschenrechte schützen | informatik: lernende roboter

Ausgabe 2/2022, 14. Jg.
02 | 22 DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNSBRUCK
zukunft forschung

hybrid Steigfelle

Aus dem Herz der Alpen, auf die Berge der Welt …

… auf unseren contour Steigfellen mit hybrid Klebertechnologie

zukunft forschung 02/22 2 Foto: Andreas Friedle
Rider: Roman Rohrmoser /
 contourskins.com contourskins #wearebackcountry
Photo: Tom Klocker

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

Grenzen prägen manchmal offensichtlich, manchmal sub til unseren Alltag, grenzen etwas real, symbolisch oder auch nur im Kopf ein, aus oder ab. Sie markieren – ganz wertfrei betrachtet – Übergänge und bieten daher viele span nende Anknüpfungspunkte für Wissenschaft und Forschung, weshalb „Grenzen“ diesmal den inhaltlichen Schwerpunkt unseres Magazins bilden.

Ein großes Thema, das zahlreiche WissenschaftlerInnen an der Universität Innsbruck beschäftigt, ist die Teilung Tirols nach dem Ersten Weltkrieg. Die Folgen dieser Grenzziehung greifen wir beispielhaft anhand einer zeithistorischen Untersuchung zur Südtiroler Option auf. Grenzen sind aber auch in Hinblick auf Migration und Rechtsprechung von Bedeutung, beidem räumen wir in der aktuellen Ausgabe Platz ein. Grenzen als Übergänge hingegen beschäftigen MeteorologInnen, die Ge birgsgrenzschichten als Entstehungsorte für Wetter und Klima besser verstehen wollen. Aber auch Architektur- und Literatur forschung erweitern den Blick und das Verständnis von Gren zen im vorliegenden Magazin.

IMPRESSUM

Darüber hinaus vermitteln wir, wie gewohnt, spannende Einbli cke in die große Bandbreite aktueller Projekte an der Universität Innsbruck: So wird an der österreichweit einzigen Professur für Klinische Pharmazie für mehr Therapiesicherheit bei Krebspa tientInnen geforscht. Aber auch über Menschenrechtsschutz und Tierwohl in Österreich sowie über die Zukunft von Hoch häusern in Holzbauweise und über viele weitere Neuigkeiten berichten wir auf den folgenden Seiten.

PEFC zertifiziert Dieses Produkt stammt aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern und kontrollierten Quellen www.pefc.at

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei Lektüre und angenehme Weihnachtsfeiertage!

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MÄRK, REKTOR ULRIKE TANZER, VIZEREKTORIN FÜR FORSCHUNG

Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6020 Innsbruck, www.uibk.ac.at Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Dr. Christian Flatz (cf), Mag. Eva Fessler (ef); publicrelations@uibk.ac.at Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Maria-Theresien-Straße 21, 6020 Innsbruck, www.kultig.at Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Lea Lübbert, BSc (ll) Lisa Marchl, MSc (lm), Fabian Oswald, MA (fo), Mag. Susanne Röck (sr) Lektorat & Anzeigen: MMag. Theresa Koch Layout & Bildbearbeitung: Mag. Andreas Hauser, Florian Koch Fotos: Andreas Friedle, Universität Innsbruck Druck: Gutenberg, 4021 Linz

DEMinion Myriad

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zukunft forschung 02/22 3 EDITORIAL
TILMANN
Foto: Uni Innsbruck
BILD DER WISSENSCHAFT

TITELTHEMA

METEOROLOGIE. Das Projekt TEAMx will neue Erkenntnisse über die Prozesse in der Gebirgsgrenzschicht gewinnen, um Wetterprognosen und alpine Klimaprojektionen zu verbessern. 8

ZEITGESCHICHTE. Mit digitalen Hilfsmitteln verschiebt Eva Pfanzelter die Grenzen der Geschichtswissenschaften und erzählt von der Südtiroler Option. 12

MIGRATION. Zivilgesellschaftliches Engagement zum Schutz von Migrant*innen läuft offizieller Politik meist zuwider. Julia Mourão Permoser untersucht die daraus entstehenden Konflikte. 14

LITERATURWISSENSCHAFT. Julia Pröll befasst sich mit ermächtigenden Potenzialen von Grenzerfahrungen, wie sie sich in der französischsprachigen Migrationsliteratur artikulieren. 16

GESCHICHTE. Was Europäer*innen übereinander denken, was „europäisch“ ist und was nicht, wird am Forschungszentrum „Europakonzeptionen“ erforscht. 18

FORSCHUNG

STANDORT. Rektor Tilmann Märk und Vizerektorin Ulrike Tanzer über viele Jahre im Wissenschaftsmanagement, die Forschungs leistung der Uni Innsbruck und regionale Kooperationen. 24

WIRTSCHAFT. Andreas Eckhardt forscht zur Zukunft der Arbeit und untersucht, wie virtuelle Organisationen Unternehmen helfen können, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren. 26

INFORMATIK. Justus Piaters Roboter soll aus gelernten Bewegungen neue erschließen und mit dem Menschen interagieren lernen. 28

PHARMAZIE. Anita Weidmann will einen neuen Blick auf Medikamente etablieren, der dabei helfen soll, die Arzneimittel therapiesicherheit zu verbessern. 34

ETHNOLOGIE. Nadja Neuner-Schatz im Interview über das Verhältnis von Landwirt*innen zu ihren Tieren, den Begriff Tierwohl und über „Forschen zwischen Nähe und Distanz“. 42

RUBRIKEN

TITELTHEMA. Grenzen – ob real, symbolisch oder auch nur im Kopf – markieren Übergänge und bieten daher Anknüpfungspunkte für Wissenschaft und Forschung. Einige davon stellt Ihnen diese Ausgabe von ZUKUNFT FORSCHUNG vor.

RECHTSWISSENSCHAFT. Verena Murschetz beobach tet, wie es um die Einhaltung von Menschenrechten in heimischen Justizanstalten, Polizeianhaltezentren und anderen Orten des Freiheitsentzugs steht.

HOLZBAU. Der Holzbau boomt, allerdings nicht bei Großbauten. Das Projekt BIGWOOD will daher Barrieren und Vorurteile gegenüber dem Einsatz von Holz bei mehrgeschoßigen Gebäuden abbauen.

Bei genauem Hinsehen erkennt man inmitten der Bergwelt der Ötztaler Alpen einen kleinen Container, in dem große Datenmengen für die Wis senschaft generiert werden. In der Forschungsstation am „Hinteren Eis“ auf über 3.000 Metern befindet sich ein weltweit einzigartiges System zur Beobachtung der Gletscherentwicklung: Mit einem terrestrischen

Laserscanner wird die Oberfläche des Hintereisferners seit 2016 regel mäßig abgetastet und damit die Veränderung der Masse des Gletschers in Echtzeit vermessen. Die so gewonnenen Informationen über einen der größten Gletscher Tirols fließen in die Arbeit zahlreicher Forscher*in nen an der Fakultät für Geo- und Atmosphärenwissenschaften ein.

zukunft forschung 02/22 5 INHALT
EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: FORSCHUNGSSTATION HINTEREISFERNER 4 | NEUBERUFUNG: BARBARA SCHNEIDER-MUNTAU 6 | FUNDGRUBE VERGANGENHEIT: 100 JAHRE BERUFUNG BRUNO SANDER 7 | MELDUNGEN 22 + 41 | GURGL CARAT 33 | WISSENSTRANSFER 38 – 40 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP: SCOTT HILL 48 | SPRUNGBRETT INNSBRUCK: BARBARA WEBER 49 | ESSAY: REGULIEREN JENSEITS
DER GRENZE von Andreas Th. Müller 50
36 30 8 Fotos: AdobeStock / Dominik Kindermann(1), Andreas Friedle (1), proHolz Tirol (1); COVERFOTO: AdobeStock / Dominik Kindermann(1); BILD DER WISSENSCHAFT: Eva Fessler

BARBARA SCHNEIDER-MUNTAU (*1975) studierte von 1995 bis 2003 Bau ingenieurwesen – Vertiefung Geotechnik – an der Technischen Universität Darm stadt. Jeweils ein Studienjahr verbrachte sie in Florenz (1998 1999) und in Lau sanne (2001 2002). Sie promovierte ab 2006 an der Uni Innsbruck am Arbeits bereich für Geotechnik und Tunnelbau. Im Anschluss an ihre Beschäftigung als Senior Scientist in diesem Arbeitsbereich wurde sie im April 2022 Professorin für Bodenmechanik an der Universität Inns bruck.

ROLE MODEL IN DER TECHNIK

Barbara Schneider-Muntau legt ihren Fokus auf die Erarbeitung nachhaltiger Lösungsansätze, um den Berg zu stabilisieren.

Den meisten Spaß hatte Barbara Schneider-Muntau schon immer an den mathematischen und na turwissenschaftlichen Fächern. Nach dem Abitur fiel ihre Wahl auf das Bau ingenieurwesen, weil „es so vielfältig ist, und man sich nicht schon zu Studienbe ginn auf eine bestimmte Richtung fest legen muss.“ Sie begann ihr Studium in Darmstadt und entschied nach dem Vor diplom, sich in Geotechnik zu vertiefen. „Die Nähe zur Naturwissenschaft – zur Geologie und Geografie – und der hohe Frauenanteil der Arbeitsgruppe haben mich angezogen“, erinnert sie sich. Um andere Universitäten kennenzulernen, verbrachte sie jeweils ein Jahr in Florenz und Lausanne, für ihre Diplomarbeit zog es sie erneut in die Berge. Am Arbeits bereich für Geotechnik der Universität Innsbruck schrieb sie ihre Diplomarbeit über Murprozesse.

Schneider-Muntau arbeitete nach ih rem Abschluss drei Jahre als Projektin genieurin bei AlpS im Naturgefahrenma nagement und promovierte anschließend an der Universität Innsbruck zum Thema „Modellierung von Kriechhängen“. Sie

beschreibt sich selbst als neugierigen und umtriebigen Menschen und fühlt sich damit in der Forschung gut aufgehoben. „Routine ist für mich schrecklich! In der Wissenschaft gibt es immer neue Ideen“, so Schneider-Muntau.

Ihren Forschungsschwerpunkt setzt sie seitdem auf die möglichst realitäts nahe numerische Modellierung natür licher Prozesse. „Es geht primär darum, wie der Boden belastet wird und welche Verformung daraus resultiert“, erklärt sie.

In Zukunft will Schneider-Muntau ihren Fokus auf die Berechnung von durch den Klimawandel bedingten Szenarien und dessen Einfluss auf die Veränderung geo technischer Phänomene legen.

Modellierung & Klimawandel

Durch den Klimawandel ändern sich die äußeren Faktoren, die in die Model lierung einbezogen werden, so Schnei der-Muntau. So könne dessen Einfluss auf den Boden abgeschätzt werden. Eine Veränderung der Geschwindigkeit der Schneeschmelze würde sich beispielswei se deutlich auf die Hangstabilität auswir ken. „Die Berechnung wird immer wich

tiger, vor allem wenn man in Richtung nachhaltiger Lösungsansätze denkt“, be tont sie. Man merke an der Art der Pro zesse, dass ein Wandel stattfinde. „Mich interessiert, was getan werden kann, um den Berg zu stabilisieren. Aber eben nicht, indem beispielsweise große Betonbau werke errichtet werden, sondern auf eine sanfte und natürliche Art und Weise“, erzählt sie. Ihre Expertise in dieser The matik bringt sie ebenfalls in den nächsten österreichischen Sachstandsbericht zum Klimawandel – dem „Austrian Assess ment Report“ (ARR) – ein.

Vorbild für Ingenieurinnen

Schneider-Muntau ist die zweite Professo rin innerhalb der Fakultät für Technische Wissenschaften. „Es freut mich besonders, hier als Role Model wirksam zu sein“. Stu dentinnen kommen gerne zu ihr, erzählt sie, denn „die Befürchtung, als Frau nicht ernst genommen zu werden, fällt weg.“ Sie nimmt ihre Vorbildfunktion sehr ernst: „Wir haben ungefähr 17 Prozent Frauen anteil unter den Studierenden – und das müsste nicht so wenig sein. Es ist höchste Zeit, dass sich da was tut.“ ll

zukunft forschung 02/22 6 Foto: Andreas Friedle NEUBERUFUNG

EIN GEFÜGIGER FORSCHER

Vor 100 Jahren wurde Bruno Sander zum Professor für Mineralogie und Petrographie bestellt. Seine Berufung war umstritten, für die Universität aber ein Glücksfall, gilt er doch als Pionier der Gefügekunde.

Als Bruno Sander am 1. Oktober 1922 zum Professor der Mineralogie und Petrographie an der Universi tät Innsbruck ernannt wurde, war seiner Berufung ein intensiver Briefwechsel vo rausgegangen. Sander sei zwar, schrieb etwa der Wiener Mineralogie-Ordinarius Friedrich Becke, ein hochgeschätzter Geo loge, seine Beschäftigung mit dem eigent lichen Fach aber nur rudimentär. „Einem solchen Mann die Professur für Mineralo gie und Petrographie zu übertragen, halte ich für unmöglich“, schlussfolgerte Becke. Dennoch, in Innsbruck hielt man an San der fest, der daher am 23. November 1922 seine Antrittsvorlesung halten konnte. „Sander dachte sehr fraktal“, sagt Bern hard Fügenschuh, Professor für Struktur geologie an der Universität Innsbruck: „Er verfolgte unter anderem die Frage, ob sich die Symmetrie von Kristallen in der Symmetrie von Gesteinen und schließlich von Gebirgen abbildet.“ Sanders Interesse galt der kristallografischen Vorzugsorien tierung – der Textur, wie es heute heißt. Er untersuchte die Lage und Orientierung von Kristallen bzw. deren Achsen im Ge stein und stellte die Frage nach dem Zu sammenhang. Sein Arbeitsgerät war – un ter anderem – ein mit einem Mikroskop verbundener Universaldrehtisch, mit dem er Gesteinsdünnschliffe charakterisierte.

„Sander bestimmte für jeden einzelnen Kristall die Orientierung. Eine mühevolle Arbeit“, weiß Fügenschuh. Vor allem, da Sander dies, farblich hinterlegt, auf Papier übertrug. Die derart entstandenen „Farb mosaike“ (siehe Abb. rechts) veranschau lichten etwa die Dominanz bestimmter kristallografischer Orientierungen im untersuchten Gestein gegenüber anderen Kristallen. Sander gab dieser Methode den Namen Achsenverteilungsanalyse (AVA). „Dieser Ansatz war genial und hat heute noch Bestand“, sagt Fügenschuh. Vor al lem, da Sander das kristallografische Den ken, das auf den einzelnen Kristall abzielt, mit Hilfe der AVA auf die benachbarten Kristalle ausdehnte.

(1884 1979) studierte an der Universität Innsbruck, promovierte 1907 im Fach Geologie und habilitierte sich 1912. Ab 1913 war er an der Geologischen Reichsanstalt (später Staatsanstalt) tätig, 1922 erfolgte die Be rufung zum Professor für Mineralogie und Petrographie in Innsbruck. Sander wurde national und international mit Preisen, Ehrendoktoraten und -mitgliedschaften ausgezeichnet. Mit dem Sanderit trägt ein Mineral, mit dem Bruno-Sander-Haus ein Innsbrucker Universitätsgebäude und im ostantarktischen Viktorialand der Sander pass seinen Namen. Unter Anton Santer war Sander auch als Schriftsteller tätig. Er gehörte zur Brenner-Gruppe und veröf fentlichte in den Zeitschriften Der Brenner, Wort im Gebirge und Seefelder Zeitung Das Porträt Sanders stammt von Wilfried Kirschl (1930 2010) und entstand 1965 anlässlich der Ehrenringvergabe durch die Stadt Innsbruck an Bruno Sander.

Sanders wissenschaftliche Tätigkeit be gann mit geologischen Kartierungsarbei ten, so erstellte er Kartenblätter für Mode na und Brixen. Die geologische Feldarbeit und die damit verbundene Analyse der äußeren und inneren Gestaltung geologi scher Körper führte zum Konzept der Ge fügekunde, das Sander weltweit bekannt machte. Seine aus den Dünnschliff-Unter suchungen abgeleitete Erkenntnis, dass die Gefügesymmetrie die grundlegende Eigenschaft natürlich deformierter Gestei ne ist, darf als Sanders wichtigster Beitrag zur Strukturgeologie angesehen werden.

Dünnschliffe fürs Gebirge

Sein Arbeitsgebiet im Gelände war das Tauernfenster: eine Region in Tirol, Salz burg und Kärnten, im Westen scharf ab gegrenzt durch das Wipptal, mit klaren, ost-west-verlaufenden Grenzen bis zur Line Schladming Mauterndorf im Osten. „Innerhalb des Tauernfensters gibt es eine Struktur mit Zentralgneiskernen wie dem Zillertaler-, Tuxer- und Ahornkern. Das waren Symmetriefragen, die Sander be schäftigten“, sagt Fügenschuh. Im großen Gebirgsmaßstab suchte Sander jene Sym metrien, die er in Dünnschliffen von Tau ern-Gesteinen gefunden hatte. Im Zuge dessen beschäftigte er sich auch mit den Faltenachsen im Gebirge und definierte, so Fügenschuh, „eine B-Achsen-Kinematik“. Wisse man, wie Faltenachsen im Gebirge verlaufen, wisse man auch, wie der Schub darauf, nämlich normal, gewirkt habe. „Das hat sich als teilrichtig herausgestellt. Es trifft auf niedermetamorphe Gebirgs bereiche zu. Im Kernbereich von Gebirgen verlaufen Bewegung aber oft parallel zu den Faltenachsen“, erklärt Fügenschuh. 33 Jahre nach seiner Berufung emeritier te Sander – als Begründer einer weltweit renommierten „Innsbrucker mineralo gisch-geologischen Schule“ und als Verfas ser internationaler Standardwerke wie „Gefügekunde der Gesteine“ oder seine „Einführung in die Gefügekunde der geo logischen Körper“. ah

zukunft forschung 02/22 7 FUNDGRUBE VERGANGENHEIT
Foto: Forschungsinstitut
Brenner-Archiv / Johannes Plattner; Institut für Mineralogie und Petrographie / Bernhard Fügenschuh BRUNO SANDER

TURBULENTE FRAGEN

Die Grenzschicht ist die erdnächste Schicht der Atmosphäre. Sie ist hochrelevant für Wetter und Klima, da in ihr sämtliche Austauschprozesse zwischen Erdoberfläche und Atmosphäre stattfinden. Besonders komplex sind diese Prozesse über dem Gebirge. In dem Projekt TEAMx will eine internationale Gemeinschaft von Forscherinnen und Forschern neue Erkenntnisse über die Prozesse in dieser Gebirgsgrenzschicht gewinnen, um Wetterprognosen und alpine Klimaprojektionen zu verbessern.

Foto: Andreas Friedle

DIE i-BOX ist ein System aus mehreren Messstationen, um ein möglichst vollständiges Bild der Grenzschichtprozesse im Inntal erzeugen zu können. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei die Turbulenzen, da die Turbulenzstruktur eine wichtige Rolle bei Austausch prozessen von Impuls, Masse und Energie zwischen der Erd oberfläche und der Atmosphä re spielt. Zum Einsatz kommen dabei u. a. Sonic Anemometer, also Sensoren, die – wie hier am Arbeser Kogel – mittels akustischer Signale Turbulen zen in der Atmosphäre messen können.

Das Tal im wattig-weißen Frühnebel, die Berghänge hingegen im gleißen den Sonnenlicht – für die einen fantas tische Aussicht nach mühevollem Aufstieg, für andere, vor allem für Meteorologinnen und Meteorologen, ein Blick auf den oberen Rand der atmosphärischen Grenzschicht. Mit einem Mantel, der die Erdoberfläche umhüllt, verglich der deutsche Meteorologe und Kli matologe Karl Schneider-Carius (1896 1959) jene unterste Schicht der Atmosphäre und be nannte sie nach peplos – altgriechisch für Man tel – Peplosphäre.

Weniger metaphorisch ist heute die Be zeichnung atmosphärische Grenzschicht (atmospheric boundary layer, ABL) in Ver wendung, was nichts daran ändert, dass sie im Zentrum zahlreicher Forschungsvorhaben steht. Kein Wunder, ist der – im Schnitt – ers te Kilometer über der Erdoberfläche doch höchst relevant für unser Wetter und Klima. „Die Grenzschicht ist vor allem interessant, weil in ihr alle Austauschvorgänge zwi schen Erdoberfläche und freier Atmosphäre stattfinden“, erläutert Mathias Rotach vom Institut für Atmosphären- und Kryosphären wissenschaften der Universität Innsbruck. Ausgetauscht werden etwa Impuls, Wärme, Wasser und Spurenstoffe, Schadstoffe ein

geschlossen. „Verdunstung passiert an der Erdoberfläche. Wasserdampf steigt auf und kondensiert, es kommt zur Wolkenbildung und zum Niederschlag. Dies wird durch die Grenzschicht bewerkstelligt“, beschreibt Rot ach einen solchen Austauschvorgang. Ange trieben werden diese Austausche durch eine „chaotische Bewegung“, die Turbulenz. In der Folge wirken sie sich auf so unterschied liche Phänomene wie Klima, Sturmsysteme, Luftverschmutzung oder Gletscherschmel ze aus. „Der Output von atmosphärischen Modellen wird daher von Kolleginnen und Kollegen genutzt, um z. B. hydrologische Mo delle zu erstellen“, erklärt Rotach.

Das Verständnis der atmosphärischen Turbulenz und der Art und Weise, wie sie in Wetter- und Klimamodellen berücksichtigt wird, stammt allerdings von Beobachtungen und Messungen über flachem Gelände, Aus tauschprozesse über komplexem Gelände wie z. B. über Gebirgen sind vielschichtiger. Rund 30 Prozent der Erdoberfläche bestehen aus solch komplexem Gelände, das mangelnde Wissen über die darüber, in der Gebirgsgrenz schicht (mountain boundary layer, MoBL) stattfindenden Austauschprozesse führt zu Unsicherheiten bei Wettervorhersagen und Klimaprojektionen über Berggebieten, aber

zukunft forschung 02/22 10 Foto: Ivana Stiperski (1), Grafik: TEAMx (1) TITELTHEMA

AUSTAUSCHPROZESSE sind in der Grenz schicht über Bergen komplexer als über flachem Gelände, zudem wird vermutet, dass der vertika le Transport in Richtung freier Atmosphäre über Bergen im Durchschnitt intensiver ist.

auch über die globalen Wasser-, Energie- und Kohlenstoffkreisläufe.

In TEAMx, einem Projekt, dessen voller Na me Multi-scale transport and exchange processes in the atmosphere over mountains – programme and experiment lautet, hat sich nun eine interna tionale Gemeinschaft von Forscherinnen und Forschern zum Ziel gesetzt, das Verständnis dieser Prozesse in der MoBL zu verbessern.

Langfristige Ziele von TEAMx, das vom Inns brucker Institut für Atmosphären- und Kryo sphärenwissenschaften koordiniert wird, sind die Optimierung numerischer Modelle und Beobachtungssysteme für die Anwendung über bergigem Gelände, die Verbesserung von Wettervorhersagen und Klimawandel szenarien über Gebirgen sowie die genauere Charakterisierung der globalen Kreisläufe von Wasser, Energie und Spurengasen.

Messkampagne im Inntal

„Im Frühjahr 2024 wird die große TEAMxMesskampagne starten“, berichtet Rotach. Mit Spezialausrüstungen ausgestattete inter nationale Forschungsgruppen werden einen „luftigen“ Brenner Basistunnel samt Zulauf strecken unter die Lupe nehmen: das Inn tal in seiner West-Ost-Ausrichtung, das von Norden nach Süden verlaufende Etschtal, sowie das Alpenvorland in Süddeutschland

sagt Rotach. Zur Überprüfung benötigt es also auch Höhe, man bedient sich z. B. In-situ-Sen sorik an Masten oder bodengebundener Fern sondierungsverfahren. Nur: Mit der Höhe al lein ist es auch nicht getan. „Mit der i-Box ha ben wir ein dreidimensionales Arrangement“, erklärt Rotach. Sechs Stationen, an charakte ristischen Plätzen im zentralen Inntal (Nordund Südhang, Tallage, Bergkamm, Wiese, Wald, bebautes Gebiet…) aufgestellt, bilden die i-Box, gemessen werden vor allem Tur bulenz, aber auch Temperatur, Feuchte, CO2, Sonneneinstrahlung etc. Die vorliegenden, bis zu zehn Jahre zurückreichenden Messreihen sollen auch helfen, „Daten aus der TEAMxMesskampagne, die wir vielleicht nicht ein ordnen können, mit schon vorhandenen zu vergleichen“, schildert Mathias Rotach.

„Prozesse in der Gebirgsgrenzschicht sind für angewandte Simulationen wichtig – das kann die Luftqualität, die Wasserversorgung, die Stromerzeugung durch Erneuerbare Energien oder die Landwirtschaft betreffen.“ Mathias Rotach

und Norditalien. Vor allem das Inntal bringt – abseits seiner geografischen Lage – optimale Voraussetzungen mit, gibt es doch, so Rotach, „wahrscheinlich keine andere alpine Region, die derart dicht mit ständigen Messstationen besetzt ist“. Eine davon ist die von Rotach initiierte Innsbruck-Box, in Anlehnung an Apple kurz i-Box genannt. „Um eine Theo rie der Grenzschichtforschung über flachem und homogenem Gelände zu überprüfen, be nötigt man nur einen Punkt, eine stationäre Messstation. Nur: Diese Homogenität gibt es eigentlich nirgends, eventuell in der Wüste“,

Die Messkampagne erstreckt sich über ein komplettes Jahr (Frühjahr 2024 bis Frühjahr 2025) und umfasst zwei Extensive Observation Periods (EOPs), eine im Sommer und eine im Winter. Die bestehenden Beob achtungs- und Überwachungs netze werden mit zahlreichen Instrumentierungen und Mess verfahren ergänzt: Das Karlsru her Institut für Technologie etwa rückt dem Inntal mit seinem KIT cube zu Leibe, ein mobiles Ge samtbeobachtungssystem, das ein Atmosphä renvolumen von ca. zehn Kilometer Seitenlän ge vermessen kann; die Technische Universität Braunschweig wiederum reist mit einem spe ziellen Forschungsflugzeug an, das in der tief gelegenen MoBL fliegen und messen kann. Davon Flugstunden gebucht hat unter ande rem Rotachs Institutskollegin Ivana Stiperski, die in dem Projekt UNICORN – gefördert im Rahmen des ERC-Consolidator-Programms –ein neuartiges Framework zum Verständnis von oberflächennahen Turbulenzen in komple xem Gelände entwickeln will. ah

AUSGANGSPUNKT des Projekts TEAMx war die 33. International Conference on Alpine Meteorology, die 2015 in Innsbruck stattfand. Am Schlusstag diskutierte eine Runde von Forscherinnen und Forschern die Möglich keit einer groß angelegten Messkampagne, wie sie schon in der Vergangenheit durch geführt worden waren. 2017 erfolgte die Einsetzung einer Coordination and Implemen tation Group, 2018 die Einrich tung eines Koordinationsbüros in Innsbruck, 2019 der erste TEAMx-Workshop in Rovereto mit 92 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus elf Nationen. In dem über die beteiligten In stitutionen finanzierten Projekt wird eine breite Kampagne mit zahlreichen bodengestützten In-situ-, Fernerkundungs- und Flugzeugmessungen vorberei tet, die von Frühjahr 2024 bis Frühjahr 2025 dauern wird. An der Kampagne beteiligen sich Universitäten, Forschungsein richtungen und Wetterdienste aus elf Ländern in Europa und den USA. Info: www.teamxprogramme.org

zukunft forschung 02/22 11 TITELTHEMA

VOM ZÄHLEN ZUM ERZÄHLEN

Mit digitalen Hilfsmitteln verschiebt die Zeithistorikerin Eva Pfanzelter die Grenzen der Geschichtswissenschaften und erzählt von der Südtiroler Option.

Diese Dokumente einzeln zu erfassen, erscheint wie eine Sisyphusarbeit. Mit Unterstützung von Robotern und künst licher Intelligenz können die Forscher*in nen um Eva Pfanzelter vom Institut für Zeitgeschichte diesen einzigartigen Da tenbestand nun digitalisieren. Die Karten wurden in Zusammenarbeit mit Inns bruck University Innovations bereits au tomatisiert gescannt und werden nun mit Hilfe der von der Universität Innsbruck mitentwickelten und auf künstlicher In telligenz basierenden Schrifterkennungs software Transkribus eingelesen. Ein vor gegebenes Raster erklärt der Software, wo welche Informationen zu finden sind. Dann wird die Software an zahlreichen Karten trainiert, bis ein Modell entsteht, mit dem der Computer alle Informatio nen auf den Karten identifizieren kann. „Je besser das Trainingsmodell ist, desto weniger müssen die Daten später manu ell korrigiert werden. Bis Ende dieses Jah res hoffen wir, alle Informationen in einer Datenbank zu haben, die wir dann mit der Unterstützung von Freiwilligen noch nachbearbeiten werden.“

Einzigartige Datensammlung

Die umfangreiche Datenbank liefert einen guten Überblick über die deutschsprachi ge Bevölkerung Südtirols mit Geburts daten, Familienzusammenhängen und Berufen. Öffentlich zugänglich wird sie sowohl der Familienforschung als auch anderen Forschungsvorhaben reichhal tige Informationen bieten. „Es handelt sich hier um einen einzigartigen Bestand, der umfassende und vielschichtige Daten über die Migrationsströme aus und nach Südtirol enthält“, betont Eva Pfanzelter.

Ein grünes R prangt auf der Kar teikarte in den Händen von Eva Pfanzelter. Auf dem postkarten großen Dokument der „Dienststelle Umsiedlung Südtirol“ finden sich ein Name, das Geburtsdatum, Angaben zur Familie und zum Beruf, handschriftliche

Vermerke, Stempel und Markierungen. 267.000 solche Karteikarten befinden sich im Tiroler Landesarchiv, zusam men mit den dazugehörigen Akten. Sie erzählen über jene Menschen, die 1939 für die Auswanderung aus Südtirol ge stimmt hatten.

Der zugrunde liegende Bestand der „Dienststelle Umsiedlung Südtirol“ geht auf das Optionsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Italien zurück. Bei der Italianisierung Südtirols während des Faschismus in den zwanzig Jahren vor diesem Abkommen ging es vor allem darum, das neu erworbene Territorium so italienisch wie möglich zu machen. Das bedeutete, die Verwendung der deut schen Sprache und Kultur einzuschrän ken. „Der Brenner wurde sehr rasch zum Statussymbol für die Grenze zwischen Italien und dem deutschsprachigen Aus land“, erklärt die Zeithistorikerin: „Für Mussolini war der Brenner die nördliche Grenze Italiens, die nicht angetastet wer

zukunft forschung 02/22 12 Foto: Andreas Friedle
TITELTHEMA
EVA PFANZELTER: „Es handelt sich um einen einzigartigen Bestand, der umfassende und vielschichtige Daten über die Migrationsströme aus und nach Südtirol enthält.“

JENBACH bietet sich als Untersuchungsgemeinde an, da hier einerseits im Jenbacher Museum ein Bereich der Dauerausstellung der „Option“ gewidmet ist, der längst auf eine Neuinterpretation wartet. Andererseits ist Jenbach auch eine typische Gemeinde mit Arbeitsmigration, da mit den „Heinkel Werken“ (Bild) der größte Tiroler Rüstungsbetrieb hier beheimatet war. Neben tausenden Zwangsarbeiter*innen wurden in der Kriegszeit auch Arbeitskräfte aus Südtirol rekrutiert. Neben der typischen Südtiroler Siedlung nehmen die Forscher*innen weitere migrantische Aspekte wie Ressentiments, Vorurteile, kulturelle und soziale Auseinanderset zungen, aber ebenso Integration und Anpassung in den Blick.

den durfte. Gleichzeitig war Südtirol aber das südlichste deutschsprachige Gebiet, der Brenner eine Grenze, die sprachlich Zusammengehörendes radikal trennte.“

Adolf Hitlers Pakt mit Italien stand diese Grenze im Wege. Nach Verhandlun gen kam es im Juni 1939 zum Optionsab kommen, in dem den deutschsprachigen Südtiroler*innen die Möglichkeit gegeben wurde, entweder ins Deutsche Reich aus zuwandern oder italienisch zu werden. Rund 130.000 Südtiroler Haushalte gaben in der Abstimmung eine sogenannte Op tionserklärung ab, etwa 86 Prozent davon entschieden sich für eine Auswanderung ins Deutsche Reich. In der Folge verlie ßen 75.000 Südtiroler*innen das Land in Richtung Innsbruck, der ersten Station bei der Ausreise. Nach dem Zweiten Welt krieg kehrte von diesen rund ein Drittel – zunächst illegal und dann in Folge der Rücksiedlungsabkommen von 1948 legal – in die Provinz Bozen zurück.

Grenzen im Kopf

Diese Teilung Tirols hat die Identität der Menschen in die Region erschüttert. Bis spät in die 1990er-Jahre bleibt die Suche nach einer Südtiroler Identität sehr prä sent: „Gibt es so etwas wie eine Südti roler Identität, oder gibt es sie nicht?“ Diese Identitätskrise traf aber auch die Menschen in Nord- und Osttirol, da die

DAS KANALTAL im Dreiländereck Italien-Österreich-Slowenien mit dem Zentrum Tarvis ist für die Optionsgeschichte von be sonderem Interesse, weil hier fast die gesamte deutschsprachige Bevölkerung nach der Umsiedlungsabmachung zwischen Hitler und Mussolini abgewandert und auch nicht mehr zurückgekehrt ist. So war das Kanaltal nach dem Krieg zu einem weitgehend italienischsprachigen Gebiet geworden, was mit großen wirt schaftlichen und kulturellen Änderungen einhergeht. Um diese nachzuzeichnen, analysieren die Innsbrucker Historiker*innen auch die Aktenbestände der Dienststelle Umsiedlung Südtirol zu einzel nen Migrant*innen aus dem Kanaltal.

Brennergrenze das Selbstverständnis des ehemaligen Kronlandes durchbrach. „Wenn wir uns die Region der heutigen Euregio anschauen und auf Identitäts fragen hin beleuchten, dann merkt man sehr schnell, dass die Phase der Italiani sierung im Faschismus als eine Form der Kolonialisierung gelesen werden kann“, sagt Eva Pfanzelter. So seien die Freiheits bestrebungen des Trentino damals be graben worden und Südtirol gleichzeitig die Region geworden, die aufgrund der Identitätskrise immer mehr Autonomie verlangen konnte. Dasselbe passierte in Nordtirol, das zwar als Teil Österreichs fest verankert war, dem aber ein Stück des Kernlandes fehlte. „Wenn man die Zeit des Faschismus als interne Kolonia lisierung begreift, sind diese Identitätsfra gen sehr komplex und vielschichtig, die ganz viele Grenzlinien überschreiten und wo es keine eindeutigen Zuschreibungen gibt“, resümiert die Zeithistorikerin. „Die ganze Region hat sich mit dieser neuen Grenze gesellschaftspsychologisch und in ihrer Identität verändern müssen.“

Von den Zahlen zur Geschichte Den Innsbrucker Historiker*innen stehen aber für die Analyse solcher Fragen nicht nur die Unterlagen der „Optionskartei“ zur Verfügung. Einerseits untersuchen sie als Fallbeispiele die Gemeinde Jenbach

und das norditalienische Kanaltal im De tail. Andererseits hat Eva Pfanzelter mit ihrem Team bereits weitere 25.000 Kartei karten aus dem Staatsarchiv in Bozen di gitalisiert und ausgewertet. Sie enthalten Informationen zu jenen Menschen, die nach 1945 wieder nach Südtirol zurück gekehrt sind. Durch den Abgleich der beiden Datenbanken können die Wissen schaftler*innen die Migrationsströme bes ser nachzeichnen. Und damit erklärt sich auch das grüne R auf vielen Karteikarten im Tiroler Landesarchiv. Der Buchstabe steht für die Rückübersiedelung nach Südtirol, die weitgehend auch in den Nordtiroler Akten vermerkt sind. Während die Archivarbeit normalerwei se detaillierte Einblicke in Einzelschicksale liefert, bietet die Digitalisierung großer Be stände zunächst vor allem Zugang zu quantitativen Daten. Die Schwierigkeit be steht nun darin, diese beiden Zugänge zu sammenzuführen. „Das ist eine große He rausforderung, aber natürlich auch sehr spannend“, sagt Pfanzelter. „Wir als Geis teswissenschaftler*innen müssen unsere komplexe Sprache reduzieren auf Nullen und Einsen, zumindest auf Wortteile oder quantifizierbare Dinge, wollen aber doch auch unsere diskursiven Fähigkeiten ein bringen. Es geht für uns also auch um die Frage, wie kommt man vom Zählen wie der zum Erzählen.“ cf

Fotos: Das Alte Jenbach https://www.jenba.ch/industrie/die-heinkel-werke/ (1), https://www.sprachinseln.it/de/reimmichlkalenderbeitrag-kanaltal-2010.html (1)

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TITELTHEMA

GRENZEN DER MORAL

Zivilgesellschaftliches Engagement zum Schutz von Migrant*innen läuft offizieller Politik von Nationalstaaten meist zuwider. Die daraus entstehenden Dilemmas und Konflikte stehen im Kern eines aktuellen Projekts von Julia Mourão Permoser.

Bei ihrem Antrittsbesuch in Brüs sel Anfang November betonte die neue italienische Minister präsidentin Giorgia Meloni, in der Mi grationspolitik einen Fokus auf Außen grenzsicherung legen zu wollen. Kurz davor war bekannt geworden, dass ihre Regierung Schiffen von SeenotrettungsOrganisationen mit insgesamt rund 1.000 geretteten Flüchtlingen ein Anlegen an italienischen Häfen untersagt. „Italien erlässt hier Verordnungen und Gesetze, die das Betreten des Hafens verbieten. Zugleich gibt es internationale Rege lungen, die zur Rettung aus Seenot ver pflichten – welche Norm zählt mehr?

Diese Dilemmas und Konflikte, die ja fast immer auch mit Werten und Fragen

der Moral verbunden sind, interessie ren mich“, sagt Julia Mourão Permoser vom Institut für Politikwissenschaft, derzeit Gastprofessorin an der Univer sität Wien. „Zu Wertekonflikten gibt es einiges an Forschungsliteratur, im Fokus stehen dort aber meist Fragen wie die gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung, sexuelles Verhalten – also der Gegensatz zwischen konservativ-religiösen und li beral-säkularen Einstellungen“, erklärt sie. Migrationspolitik ist genauso „mo ralisch“, folgt aber anderen Trennlinien. Vor allem im Gegensatz zwischen säku laren und religiösen Positionen ergeben sich hier teils völlig andere Standpunkte als bei den „klassischen“ Moralfragen. In ihrem Projekt „Migration as Morali

ty Politics“ sieht sich Mourão Permoser politische Konflikte rund um Migration genauer an, insbesondere in Bezug auf die normativen Trennlinien.

Zivilgesellschaft

„Ich interessiere mich für zivilgesell schaftliches Engagement, das im Wider stand zu nationaler oder europäischer Politik stattfindet. Politik, die von die sen Akteur*innen aus grundsätzlichen Gründen als illegitim oder unmoralisch abgelehnt wird“, sagt die Politikwissen schaftlerin. Sie untersucht dabei Schutz räume, in denen Menschen, die nicht die Erlaubnis haben, sich in einem Land auf zuhalten, Schutz vor der Staatsmacht er halten und in denen die Durchsetzungs

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möglichkeit des Staates verhindert oder zumindest erschwert wird. „Damit sind wir in einem sehr konfliktreichen Be reich, wir haben es mit normativ heiklen Themen zu tun: Ist dieses Engagement legitim? Gibt es prinzipielle Gründe, es abzulehnen oder gutzuheißen, und wel che sind das?“ Drei Fallbeispiele beleuch tet die Politikwissenschaftlerin mit einer Mitarbeiterin konkret: Rettungsaktionen an den Grenzen, unter anderem See notrettung vor allem im Mittelmeer, wo (meist) Nichtregierungsorganisationen Migrant*innen vor dem Ertrinken retten und in europäische Häfen bringen; die Kirchenasyl-Bewegung, die vor allem, aber nicht nur in Deutschland und den USA verbreitet ist; und die wachsende Bewegung der „Sanctuary Cities“, wo Stadt- und Regionalverwaltungen im Widerspruch zu nationalen Vorgaben ir reguläre Migrant*innen nicht verfolgen oder vor Verfolgung und Abschiebung bewusst schützen.

„Sanctuary Cities sind in den USA for malisierter als in Europa und die Praxis sieht zum Beispiel so aus, dass es städti schen Institutionen, Behörden und Beam ten verboten wird, bei Krankenhausauf enthalten, Schuleinschreibungen oder bei der Meldung eines Verbrechens nach dem Aufenthaltsstatus der Person zu fra gen oder solche Informationen an natio nale Einwanderungsbehörden weiterzu geben.“ Im Gegensatz dazu steht die Po litik in manchen europäischen Ländern, zum Beispiel im Vereinigten Königreich: „Im Vereinigten Königreich ist es Pflicht, bei Kontakten mit staatlichen Behörden den Aufenthaltsstatus anzugeben und diese Stellen müssen diese Information auch an Einwanderungsbehörden wei tergeben. Dadurch wird der Zugang zu Leistungen verhindert – auch zu jenen, zu denen irreguläre Migrant*innen auf grund allgemeiner Grundrechte einen Anspruch hätten –, denn jeder Kontakt mit den Behörden führt potenziell zu einer Abschiebung. Das Argument für diese Regel ist, irreguläre Migration effi zienter verfolgen zu können.“ Sanctuary Cities, teils unter anderer Bezeichnung, gibt es aber auch in Europa: Barcelona, Palermo und Mailand sind Beispiele, Wales als Region bietet – soweit unter den strengen Regeln im Vereinigten Kö nigreich möglich – unterstützende Infor mationen für irreguläre Migrant*innen,

Asylwerber*innen und Menschen mit abgelehntem Asylstatus.

Schutz vor Verfolgung

Im Mittelmeer sind es humanitäre Orga nisationen aus der Zivilgesellschaft, die Menschen aus Seenot retten. „Diese Be wegung ist transnational, besteht sowohl aus einzelnen kleinen Crews als auch großen NGOs wie etwa Seawatch, SOS Méditerranée oder Ärzte ohne Grenzen und besteht ebenfalls schon seit Mitte der 2000er-Jahre“, erläutert Julia Mourão Permoser. Die Kirchenasyl-Bewegung wiederum bietet Verfolgten Schutz in kirchlichen Liegenschaften – entweder in Kirchen selbst oder anderswo mit Unter stützung der Kirchen.

Rechtlich umstritten sind alle drei For men, wird doch der (National-)Staat an der Durchsetzung geltenden Rechts ge hindert. „Allein bei der Seenotrettung se hen wir immer wieder Gerichtsverfahren,

die Seenotretter*innen werden wegen Schlepperei und Beihilfe zu illegaler Mi gration angeklagt. Die Seenotretter*innen argumentieren dabei mit ihrer Pflicht, Menschen zu retten, die über staatlichem Recht steht, der Staat dagegen – in Euro pa ist das zuletzt meist Italien als klagen de Partei – mit der Durchsetzung gel tenden Rechts auf seinem Staatsgebiet.“ Auch die Seenotrettung selbst hat sich in den vergangenen Jahren verändert: Die eingesetzten Boote sind deutlich größer und werden von hochprofessionellen Crews betrieben – damit einhergehen aber auch höhere staatliche Auflagen, die den Einsatz erschweren. „Auch das Kirchenasyl ist umstritten – in Deutsch land wird es geduldet, aber auch das wirft Fragen nach der Trennung von Kir che und Staat auf: Warum sollte die Kir che Flüchtlinge aufnehmen dürfen, ein Fußballverein aber zum Beispiel nicht?“ Und auch in den USA gab es, vor allem unter Präsident Trump, Klagen gegen die Sanctuary Cities.

Verlagerung der Grenzen

MOURÃO PERMOSER (*1980 in Rio de Janeiro, Brasilien) forscht am Insti tut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, derzeit bekleidet sie eine Gast professur an der Universität Wien. Bevor sie Mitarbeiterin der Universität Innsbruck wurde, hatte sie Forschungsstellen an der Universität Wien und an der Freien Universität Brüssel inne. Ihre Hauptfor schungsinteressen sind Migration, der politische Umgang mit Diversität, die Rol le von Normen und Werten in der Politik sowie gegenwärtige Herausforderungen liberaler Demokratien im Hinblick auf den zunehmenden Pluralismus moderner Gesellschaften.

Mourão Permoser befasst sich auch mit einer weiteren moralischen Frage in Be zug auf die Grenzen Europas: Die EU verschiebt ihre Grenzen weiter nach au ßen und lagert den Grenzschutz nach Libyen aus. „Die libysche Küstenwache stoppt Migrant*innen und schickt sie zu rück. Dafür bekommt sie Gelder, Training und Equipment von der EU. Ein Abschie ben in Länder, in denen Betroffene ver folgt und misshandelt werden, ist laut EU-Verträgen und Genfer Menschen rechtskonvention verboten. In diesem Fall erledigt das allerdings Libyen für die EU – und Libyen hat weder die Men schenrechtskonvention unterschrieben noch unterliegt es EU-Recht“, sagt Mourão Permoser. „Das ist eindeutig ei ne Strategie, um geltendes Recht zu um gehen.“ Und auch die Binnengrenzen verschieben sich: „Grenzschutz“ passiert längst nicht mehr nur an nationalen Grenzen, Migrant*innen drohen auch in nerhalb der EU Kontrollen – eben nicht nur durch Polizei, sondern auch im all täglichen Kontakt mit Behörden und öf fentlichen Institutionen. „Gegen eben diese innerlichen und äußerlichen Ver schiebungen der Grenzen kämpfen die Aktivist*innen, die im Zentrum meines Forschungsprojektes stehen.“ sh

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JULIA

GRENZÜBERSCHREITUNG ALS RESSOURCE

Migrationsliteratur verhandelt Grenzerfahrung auf zahlreichen Ebenen.

Julia Pröll vom Institut für Romanistik spannt in ihrer Forschung einen Bogen zwischen Migration, Medizin und Krankheit(serfahrung) und macht dabei die ermächtigenden Potenziale von Grenzerfahrungen in französischsprachiger Migrationsliteratur deutlich.

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JULIA PRÖLL: „Migrationsautor*innen legen ihren Schwerpunkt weniger auf den traumatischen Effekt der Exilerfahrung, sondern nutzen ihre Literatur oft für transkulturelle Identitätsentwürfe.“

Krankheit und Migration zählen zu jenen Erfahrungen im Leben eines Menschen, die potenziell krisenbehaftet sind. In literarischen Dar stellungen wird gerade das Exil, das ein erzwungenes Verlassen der Heimat be deutet, häufig mit Krankheit gleichsetzt. Tatsächlich waren es Sätze wie „Das Exil ist eine Krankheit. Sie ergreift den Geist, das Gemüt“ der österreichischen Autorin Hilde Spiel, oder „Das Exil […] ist […] ei ne Schule des Taumels“ des in Rumänien geborenen Schriftstellers Emile Cioran, welche die Romanistin Julia Pröll dazu inspiriert haben, sich mit den vielfältigen

gesehen werden?“, beschreibt Julia Pröll jene Fragen, die ihr Forschungsinteresse an der Schnittstelle von literarischem und medizinischem Diskurs leiten.

Transkulturelles

Die Analyse der Darstellung von Krank heit und Medizin in literarischen Texten, die im Kontext von kulturellen Kontak ten entstehen, eröffnete für die Literatur wissenschaftlerin neue Perspektiven auf verschiedene gesamtgesellschaftlich rele vante Bereiche. So zeigte sich für Pröll in der Auseinandersetzung mit asiatischer Migrationsliteratur in Frankreich seit den

„Texte aus der Migrationsliteratur könnten in die Ausbildung von medizinischem Personal einfließen, damit es sich besser auf die Bedürfnisse der Patient*innen aus aller Welt einstellen kann.“ Julia Pröll

Wechselbeziehungen zwischen Migration, Medizin und Krankheitserfahrung ausei nanderzusetzen.

Dazu untersuchte die Literaturwissen schaftlerin unter anderem literarische Tex te von chinesischen und vietnamesischen Autorinnen und Autoren, die in Frank reich leben und auf Französisch schreiben. „Ist dieser ‚Schwindel‘, von dem Cioran spricht und der die Autorinnen und Auto ren beispielsweise dann ergreift, wenn sie die chinesischen Ideogramme gegen das Alphabet eintauschen, nur negativ zu se hen? Oder besitzt er auch ein produktives Potenzial? Anders gesagt: Wenn alle mei ne bisherigen Bezugspunkte ins Wanken geraten, inwiefern kann dies dennoch als der Beginn von etwas – heilsam – Neuem

Gesundheitssystem profitieren kann, das sich mehr und mehr mit Migrant*innen als Patient*innen zu beschäftigen hat und dies ohne Arroganz tun soll.“

„Lebenswissen“ im Kontakt

In der literarischen Analyse der „Trias“ von Migration, Krankheit und Medizin sieht Julia Pröll großes Potenzial und auch eine kulturelle Bereicherung für das „reale“ Leben auf unterschiedlichen Ebe nen. „Durch die Analyse von literarischen Texten in diesem Themenfeld ist mir be wusst geworden, dass sich darin sehr viel ‚Lebenswissen‘ befindet, das an anderer Stelle so nicht greifbar werden kann. Oder eben anders greifbar wird, wie bei spielsweise in den naturwissenschaftlich orientierten Life Sciences.“

1980er-Jahren, „dass Migrationsautorin nen und -autoren ihren Schwerpunkt nicht auf den traumatischen Effekt der Exilerfahrung legen, wie man es viel leicht etwas vorschnell vermuten würde, sondern sich viel mehr auf Identitätsbil dungsprozesse fokussieren. Das heißt, sie nutzen ihre Literatur für transkulturelle Identitätsentwürfe und verrücken Gren zen zwischen ‚Fremd‘ und ‚Eigen‘, gera de indem sie für das ‚Fremde im Eigenen‘ sensibilisieren.“

Diese Literatur verhandelt für Pröll daher Migration nicht als Schwäche, sondern durchaus als Stärke; sie sieht in Migrant*innen folglich nicht ausschließ lich (passive) Patient*innen oder „angst machende“ Träger*innen gefährlicher Krankheiten. Vielmehr wird gerade durch die literarische Figur des erkrankten Mi granten eine spannende Perspektive auf den Kontakt von Gesundheits- und Me dizinsystemen ermöglicht. „Unterschied liche Körper- und Krankheitskonzepte werden häufig zusammen gedacht und spannungsreich aufeinander bezogen. So kommen neben medizinischen Erklärun gen für Krankheitssymptome durchaus auch andere Konzepte, wie beispielsweise Geisterglaube, vor“, erklärt die Literatur wissenschaftlerin: „Dies vermag zu ver deutlichen, dass auch Medizin kulturelle Wurzeln hat und dass die – westlich ge prägte – Medizin nicht das Deutungsmo nopol für Krankheit hat. So kommt es in der von mir untersuchten Literatur häufig zu einer wohltuenden Relativierung der Perspektiven, wovon letztlich auch ein

MIT MEDICAL HUMANITIES wird ein interdisziplinäres Forschungsfeld an der Schnittstelle zwischen Medizin und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften be schrieben. Die Universität Innsbruck verfügt über ein eigenes Forschungszentrum zu diesem Themenbereich, das am Center für Interdisziplinäre Geschlechterforschung angesiedelt ist. Die zahlreichen Innsbrucker Forscher*innen vereinen darin vielseiti ge Perspektiven auf Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Gesellschaft oder Gesundheit und Umwelt wie etwa transkulturelle Gesundheitskommunikation, Körperbilder oder Geschlechterkonzepte.

Die Literatur sieht Pröll daher als be sonders geeigneten „Lehrmeister“, um Grenzen im Kopf zu überwinden, was etwa Vorurteile gegenüber Menschen be trifft, die aus anderen Kulturen kommen. Die Erschließung dieser Texte könne da her sowohl für die Geisteswissenschaften als auch für die Medizin von großem Vor teil sein, denn eigentlich, so Pröll, seien ja beides „Lebenswissenschaften“: „Literari sche Texte von Migrationsautor*innen könnten etwa in die Ausbildung von me dizinischem Personal einfließen, damit dieses sich besser auf die Bedürfnisse ih rer Patientinnen und Patienten aus aller Welt einstellen kann. Menschen artikulie ren Symptome nicht überall auf der Welt gleich, Körperbeschreibungen sind sehr unterschiedlich. In dieser Hinsicht können wir aus der Migrationsliteratur sehr viel lernen“, ist Pröll überzeugt. mb JULIA PRÖLL ist promovierte Juristin und assoziierte Professorin für Französische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik. Sowohl ihre an der Universität Innsbruck erstellte Dissertation (2006) als auch ihre Habilitationsschrift (2014) sind preisgekrönt. Von 2014 bis 2016 forschte sie im Rahmen eines Humboldt-Stipendiums an der Universität des Saarlandes. Ihr Forschungsinteresse fokussiert seit mehreren Jahren auf das relativ neue Forschungsfeld der Medical Humanities im Lichte französischsprachi ger Migrationsliteratur. Sie ist auch (Mit-) Gründerin und (Mit-)Herausgeberin der Online-Zeitschrift Re:visit. Humanities & Medicine in Dialogue (journal-revisit.org), die im Dezember 2022 erstmals erscheint.

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EINE EUROPAKARTE AUS 1743 mit damals aktuellen Grenzen, in gelb das damalige Heilige Römische Reich Deutscher Nation.

EIN KONZEPT VON EUROPA

Was Europäer*innen übereinander denken, was „europäisch“ ist und was nicht, und wie sich das alles historisch entwickelt hat: Das wird am Forschungszentrum „Europakonzeptionen“ erforscht.

Grenzen spielten jahrhundertelang in Europa für den Alltag der Menschen praktisch keine Rolle“, sagt Stefan Ehrenpreis. Der Historiker leitet das For schungszentrum „Europakonzeptionen“ – ein zentraler Forschungsgegenstand ist dort, wie sich Europäer*innen gegensei tig wahrnehmen, was sie eint und was sie trennt. Nationale Grenzen sind heute zwar innerhalb der Europäischen Union für EUBürger*innen weitgehend aufgehoben,

spielen aber eine große Rolle in den Köpfen und nach außen. Und sie sind ein noch sehr junges Phänomen, wie Ehrenpreis erläutert: „Bis ins frühe 19. Jahrhundert waren Gren zen höchstens im rechtlichen Sinn relevant, etwa, wenn es darum ging, welchem Lan desherren man gegenüber verpflichtet war und Steuern abliefern musste, und natürlich darum, welche Gesetze generell galten.“ Für Reisende hatten die Grenzen zwischen ein zelnen politischen Einheiten darüber hinaus

zukunft forschung 02/22 18 Fotos: J. M. Hasic – Homann {Erben} 1743 (1), Andreas Friedle (1)
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keine besondere Bedeutung, oft waren sie nicht einmal exakt definiert: „Man wusste natürlich, welches Dorf welchem Fürsten gehört, aber wo genau die Grenze zwischen den Dörfern ver läuft, war nicht immer klar – und eben über weite Strecken irrelevant.“

Zaristisches Kontrollbedürfnis

Eine Ausnahme bildete lange Zeit Russland: Schon für das 16. Jahrhundert ist belegt, dass man sich bei Einreise in das Zarenreich im ersten Dorf anmelden und beim jeweils verantwortlichen Adeligen auch ein Formu lar mit Fragen zu weiteren Zielen und dem Zweck der Reise ausfüllen musste, eine Art Passbrief, den man auch bei weiteren Statio nen erneut vorzeigen musste. „Das ist nur mit einem gewissen Kontrollbedürfnis des Zaren zu erklären, der zu jeder Zeit informiert sein wollte, welche Fremden sich in seinem Ge biet aufhielten. Dieses Verhalten war mit ein Grund dafür, und auch das wissen wir aus Quellen, dass der Rest Europas Russland damals noch nicht als europäische Macht be griff, sondern als etwas strukturell Anderes, wo man sich auch anders zu benehmen hat te“, sagt der Historiker. Dieses Verhältnis zu Russland sollte sich erst im 18. und 19. Jahr hundert ändern. „Ab dem 18. Jahrhundert, unter Peter dem Großen, hat Russland sich geöffnet und expandierte, und das führte dazu, dass das Reich auch nicht mehr als so fremd wahrgenommen wurde.“ Diese mental maps , durch unterschiedliche Sichtweisen, Konzepte und Praktiken geprägte Konstruk tionen von europäischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, wandeln sich stetig, und dementsprechend verschieben sich auch defi nitorische Grenzen des „Europäischen“.

Generelle Überlegungen über ein europäi sches Mächtegleichgewicht sind bereits aus dem 15. Jahrhundert belegt, etwa in den Me moiren des französischen Diplomaten Philippe de Commynes (1447 1511). Die bisher erste bekannte Quelle für eine Benennung dessen, was wir heute als „europäische Werte“ be zeichnen würden, hat Stefan Ehrenpreis ge meinsam mit seinem Kollegen Niels Grüne in Korrespondenz rund um den Spanischen Erb folgekrieg (1701 1714) entdeckt: „Der Konflikt war vielschichtig und ist kaum in einem Satz zusammenzufassen. Aber kurz umrissen stan den sich damals in Europa Österreich mit dem Heiligen Römischen Reich, die Niederlande und England auf der einen und hauptsächlich Frankreich auf der anderen Seite gegenüber, auf dem Spiel stand das Mächtegleichgewicht auf dem Kontinent – der französische König

Ludwig XIV. wollte sich selbst die Herrschaft über Spanien sichern, die Gegenparteien woll ten das verhindern. Und die Kriegsparteien schlossen den französischen König Ludwig XIV. sozusagen aus Europa aus – er verhalte sich uneuropäisch, wie ein Tyrann, das kenne man nur von außerhalb Europas, vom russi schen Zaren oder vom osmanischen Sultan.“ Die Mächte definierten auch Merkmale Euro pas, denen Ludwig XIV. nicht (mehr) ent sprach: Die Mitbeteiligung der Stände an der Politik, eine gewisse regionale Selbstverwal tung und der Schutz des Privateigentums.

Nationalismus

Das 19. Jahrhundert bildet in vielerlei Hin sicht eine Zäsur im Verständnis von Grenzen und Zugehörigkeiten: Der damals aufkei mende Nationalismus beförderte eine genau ere Definition von Staatlichkeit und Staaten, das schließt auch die Staatsgrenzen mit ein; und schon im Wiener Kongress 1815 wurden in der damals erfolgten Aufteilung Europas Grenzverläufe recht detailliert benannt. Da mals entsteht der moderne Staat mit seinen Symbolen, die wir bis heute kennen: Reisepäs se, Grenzbalken, Nationalflaggen und -wap pen, dazu kommen später heutige Selbstver ständlichkeiten wie nationale Telefonvorwah len und Internet-Domains.

„Das 19. und 20. Jahrhundert bringen be kanntlich große Umwälzungen. Die Öffnung Russlands endete mit der Revolution 1917, da entstanden auch neue mental maps in Europa – Russland wurde erst Hoffnungsgebiet für Sozialisten und Kommunisten, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg brachten dann erneut neue Grenzen und Zuschreibungen“, sagt Stefan Ehrenpreis. Gleichzeitig halten sich andere Konzepte teils über Jahrhunderte – wenn etwa ein Kommentator in der Finan cial Times während der Finanzkrise noch 2011 den damals aktuellen Konflikt in der Eurozo ne zwischen nördlichen und südlichen Mit gliedsstaaten auf den Dreißigjährigen Krieg und den Unterschied zwischen (vermeintlich) prassenden Katholik*innen und sparsamen Protestant*innen bezieht. „Generell wurde und wird ein Europa-Argument genauso oft als Mittel des Ausschlusses verwendet wie als eines der Einigung“, betont der Historiker. „Auch historisch ist das leicht belegt: Europa als Konzept wurde und wird ganz unter schiedlich benutzt, mit ganz unterschiedli chen Folgen. Nicht nur Historikerinnen und Historiker wissen: Quellenkritik ist stets an gebracht, auch, wenn es um Europa und seine Grenzen geht.“ sh

STEFAN EHRENPREIS ist seit 2014 Universitätsprofessor im Arbeitsbereich Geschichte der Neuzeit am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Ehrenpreis ist auch Leiter des Forschungszentrums „Europa konzeptionen“ der Universität. Dieses Zentrum will zur wissen schaftlichen Aufklärung über Vorstellungen und Wahrneh mungen von Europa beitragen. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas entstanden Bilder des Kontinents und so ziale Praktiken seiner Lebens welten, die zur Wirklichkeit europäischer Gesellschaften gehörten und gehören. Das Forschungszentrum untersucht die Entstehung von Narrativen und Praktiken zu Europa als auch deren Wandel in Ver gangenheit und Gegenwart. Neben Texten werden auch visuelle und künstlerisch-ästhe tische Quellen genutzt und so die Zusammenarbeit der „Buchwissenschaften“ mit den „Bildwissenschaften“ in Inns bruck systematisch gestärkt –beteiligt sind hier insbesondere die Institute der geisteswissen schaftlichen Fakultäten.

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NEUE MÄCHTE, ALTE LÄNDER

Im Mittelpunkt der noch jungen Grenzraumforschung am Bereich Baugeschichte und Denkmalpflege stehen Architektur, Städtebau und Bildmedien in europäischen Grenzräumen. In diesen Gebie ten, die im Laufe der Geschichte – meist aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen – ihre nationale Zugehörigkeit gewechselt haben, wurden von den neuen Machthabern bewusst bauliche Aneignungsstrategien eingesetzt, die von Wissenschaftler*innen rund um Klaus Tragbar anhand methodischer Ansätze aus ver schiedenen Disziplinen untersucht werden. Einen Schwerpunkt bilden Südtirol/Alto Adige und das Trentino, wo sich zahlreiche Beispiele für die Italianisierung der Regionen finden. Der von Klaus Tragbar und Volker Ziegler herausgegebene Band Planen und Bauen im Grenzraum/Planning and Building in Border Regions bietet einen Überblick über das Thema.

TRENTINO NOSTRO

Die Abbildung zeigt das Cover der 1916 erschienenen Publikation Trentino nostro von Antonio Rossaro. Die Illustration des 1890 geborenen Architekten, Malers und Grafikers Giorgio Wenter Marini in den ita lienischen Nationalfarben ist ein eindrucks volles Beispiel dafür, wie irredentistischen Schriften für den Anschluss des Trentino an Italien warben.

K.K. BAHNHOF TRIENT

Das 1859 eröffnete k.k. Bahnhofsgebäude wurde nach dem Ersten Weltkrieg von Italien als unzulänglich angesehen. Angiolo Mazzoni schrieb, es lasse „besonders vom archi tektonischen Gesichtspunkt aus viel zu wünschen übrig“ und sei „bar jeglichen Gefühls für Modernität“. 1933 wurde der Bahnhof abgerissen.

BAHNHOF DER FERROVIE DELLO STATO IN TRIENT

Der Bahnhof von Angiolo Mazzoni (errichtet 1933 bis 1936) war nach dem in Florenz der zweite Bahnhofsneubau des Rationalismus, der modernità und italianità ausstrahlen sollte. Das prägnante horizontale Flugdach verleiht dem Gebäude Dynamik, die Pfeilerhalle Monumentalität.

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Fotos: Attilio Brunialti: Le nuove provincie Italiane. Bd. 2: L’Alto Adige. Turin 1919 Rossaro, Antonio: Trentino nostro. Parma 1916, Umschlag; Historische Postkarte, Sammlung Bereich Baugeschichte und Denkmalpflege; Klaus Tragbar

NARODNI DOM IN TRIEST

Im Frühjahr 1900, in einer Zeit großer Span nungen zwischen der slowenischen und der italienischen Bevölkerung in Triest, beschlossen die slowenischen Vereine den Bau des Narodni dom (1902–1904), eines repräsentativen, multifunktionalen Gebäudes, das nach dem Entwurf von Max Fabiani auf der Piazza della Caserma errichtet wurde.

DER BRAND DES NARODNI DOM

Nach dem Ersten Weltkrieg benannte die nunmehr italienische Stadtregierung die Piazza della Caserma nach dem Irredentis ten Guglielmo Oberdan um. Im Dezember 1918 und im August 1919 wurden Räume im Narodni dom demoliert, und am 13. Juli 1920 setzte Francesco Giunta, später Sekretär des Partito Nazionale Fascista, das Gebäude in Brand.

NARODNI DOM, ANSICHT 2020

Die heutige Ansicht zeigt das Ergebnis der städtebaulichen Umgestal tung des Ventennio: Der zwischen 1924 und 1926 errichtete Palazzo Arrigoni verdrängt buchstäblich das Narodni dom in die zweite Reihe. Am 13. Juli 2020, 100 Jahre nach dem Brand, wurde das Gebäude an die slowenische Gemeinschaft in Triest zurückgegeben.

Fotos: Historische Postkarte, Sammlung Bereich Baugeschichte und Denkmalpflege; Mladika, 2020, 4, S. 4 oben; Pemič, Monika: Das slowenische Vereinshaus Narodni dom und die städtebauliche und politische Italianisierung der Stadt Triest, in: Tragbar, Klaus/Ziegler, Volker (Hg.): Planen und Bauen im Grenzraum / Planning and Building in Border Regions (Innsbrucker Beiträge zur Baugeschichte 1). Berlin/München 2019, S. 103–123, hier S. 104

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NOBELPREIS FÜR ANTON ZEILINGER

Von 1990 bis 1999 forschte Anton Zeilinger an der Universität Innsbruck und führte hier zahlreiche seiner Experimente durch.

Ich gratuliere Anton Zeilinger herz lich zum Nobelpreis. Es ist eine große Stunde für die österreichische Physik, aber auch für die Universität Innsbruck, an deren Institut für Experi mentalphysik Anton Zeilinger von 1990 bis 1999 forschte und lehrte und wo er mehrere der gewürdigten bahnbrechen den Experimente durchgeführt hat, so die erste Quantenteleportation mit Pho tonen im Jahr 1997“, freute sich Rektor Tilmann Märk nach der Verkündigung der diesjährigen Preisträger durch die Schwedische Akademie der Wissen schaften Anfang Oktober.

Das Experiment zur Quantenteleporta tion war das erste, das den Quantenzu stand eines Teilchens auf ein anderes Teilchen in der Distanz übertrug. Zeilin gers Erfolge waren nicht zuletzt auch ein Grund dafür, die Quantenphysik in Inns bruck auszubauen und führten später zur Gründung des Akademie-Instituts für Quantenoptik und Quanteninforma tion in Innsbruck und Wien. An der Uni versität Innsbruck forschen heute über 20 Arbeitsgruppen im Bereich der Quanten physik, unter anderem auch an der Ent wicklung eines universellen Quanten computers.

PROMINENTE FORSCHER*INNEN WERDEN BEVORZUGT

Forschungsarbeiten von renommierten Forscher*innen werden trotz gleicher Qualität deut lich besser bewertet als Arbeiten weniger bekannter Forscher*innen. Zu diesem Ergebnis kam ein Team von Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Jürgen Huber vom Institut für Banken und Finanzen der Universität Innsbruck in einer kürzlich veröffentlichten Studie. „Unse re Ergebnisse zeigen deutlich, dass die unterschiedlichen Informationen über den Verfasser die Bewertung der Qualität des Forschungsartikels stark beeinflussen“, sagt Jürgen Huber. Sein Kollege Rudolf Kerschbamer führt das Ergebnis auf den „Halo-Effekt“ zurück: „Dieses aus der Sozialpsychologie bekannte Phänomen besagt, dass Handlungen und Werke von Personen, von denen man einen positiven Eindruck hat, grundsätzlich positiver wahrgenommen werden als jene von unbekannten Personen oder von Personen, denen man nicht so viel zutraut.“

KURRENT LESEN MIT TRANSKRIBUS

Handschriften sind so individuell wie Menschen. Dennoch sind Computer heute in der Lage, handschriftliche Texte in unterschiedlichsten Sprachen automa tisch zu erkennen. Die von der Universität Innsbruck mitentwickelte Software-Platt form Transkribus macht diese Technologie der Wissenschaftsgemeinde, interessierten Archiven und der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Über 90.000 Nutzerinnen und Nutzer aus aller Welt verwenden die Plattform bereits, um handschriftliche Do kumente lesbar und durchsuchbar zu ma chen. Eine immer größer werdende Gruppe interessiert sich für ihre Familiengeschichte und begibt sich in Kirchenbüchern, Verträ gen oder in historischen Dokumenten auf die Suche nach ihren Vorfahren.

Transkribus arbeitet mit neuronalen Net zen. Diese maschinenlernenden Methoden haben den großen Vorteil, dass sie nicht mehr speziell für eine bestimmte Hand schrift programmiert werden müssen. „Die Benutzerinnen und Benutzer bringen der Maschine bei, die Schrift zu lesen“, sagt

Günter Mühlberger von der Arbeitsgruppe Digitalisierung/Archivierung an der Uni versität Innsbruck und Verwaltungsratsvor sitzender der europäischen Genossenschaft READ-COOP: „Und eine Maschine ermüdet nicht, das heißt, sie kann auch Tausen de, Hunderttausende oder Millionen von Seiten automatisiert verarbeiten.“ Die ver wendete Technologie ist unabhängig von der Sprache und der eigentlichen Schriftart. Transkribus erkennt nicht nur Kurrentschrift oder moderne Handschriften, sondern auch mittelalterliche Schriften, Hebräisch, Arabisch oder indische Schriften.

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ÜBER 90.000 Nutzer*innen verwenden Transkribus, um handschriftliche Doku mente les- und durchsuchbar zu machen.
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Fotos: Jaqueline Godany (1), Universität Innsbruck

DIE JAHRHUNDERTCHANCE

Rektor Tilmann Märk und Ulrike Tanzer, Vizerektorin für Forschung, sprechen über viele Jahre im Wissenschaftsmanagement, die Forschungsleistung der Uni Innsbruck und regionale Kooperationen.

ZUKUNFT: Herr Märk, Sie haben 2003 das Amt des Vizerektors für Forschung, 2011 das Amt des Rektors angetreten. War die se lange Zeit im Wissenschaftsmanage ment Ihr Plan?

TILMANN MÄRK: Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Als junger PostDoc in den USA habe ich festgestellt, dass wir in Österreich und an der Universität Inns bruck, was das internationale Niveau betrifft, weit hinten lagen. Zurück in Innsbruck hatte ich die Vision, dass es schön wäre, wenn die Universität Inns bruck wieder an das Vorkriegsniveau anschließen könnte, immerhin zieren die Eingangshalle des Hauptgebäudes die Büsten von vier Nobelpreisträgern. Ich war dann als Vorsitzender des Assisten tenverbandes im Rahmen des UOG 75 universitätspolitisch tätig, die Situation im akademischen Senat als Vertreter der Assistentinnen und Assistenten war aber frustrierend. Daher habe ich mich dann auf die Forschung konzentriert, mir aber immer gedacht, wenn später die Chance bestehen würde, tatsächlich etwas bewe gen zu können, dann würde ich das gerne tun. 2003 hatte ich daher die Hoffnung, mit diesem neuen Instrument, dem UG 2002, die Universität entsprechend vor anzubringen. Es war für mich die Jahr hundertchance, mit 59 war ich auch in einem guten Alter, von der Wissenschaft ins Wissenschaftsmanagement zu wech seln. Das Vizerektorat für Forschung war 2003 eine wichtige Funktion, ging es uns doch darum, die Forschung neu zu orga nisieren und quer über die Fächer ent sprechende Leistungen zu ermöglichen. Und wenn man sich die damaligen und heutigen Zahlen der Wissensbilanz ver gegenwärtigt, kann ich nur sagen, dass uns das gelungen ist.

ZUKUNFT: Wenn Sie die universitäre Si tuation von 2003 mit der heutigen verglei chen – wo sehen Sie inhaltlich die größten Unterschiede und Entwicklungen?

MÄRK: Die Haltung vieler Universitäts angehöriger in Hinblick auf ihre Arbeit

TILMANN MÄRK: „2003 hatte ich die Hoffnung, mit diesem neuen Instrument, dem UG 2002, die Universität entsprechend voranzubringen. Aus heutiger Sicht zurecht.“

hat sich stark verändert. Es war ein not wendiger Paradigmenwechsel der Mit arbeitenden und der Universität vom 20. ins 21. Jahrhundert. Um es an eini gen Beispielen festzumachen: Früher gab es kaum aktive unternehmerische Tätigkeiten der Universität bzw. an der Universität, auch damit zusammenhän gend, dass bis dahin Erfindungen dem Ministerium gehörten. Das UG 2002 er möglichte gemeinsame Ausgründungen auf der Basis von Entdeckungen und Er findungen, eine kommerzielle Nutzung solcher Ergebnisse war vorher nahezu verpönt. Ähnliches gilt für das, was man heute als third mission bezeichnet. Indi rekt hat man diese Verantwortung zwar schon immer wahrgenommen, indem man zum Beispiel die Studierenden auf dem aktuellsten Wissensstand ausgebil det und somit stark in die Gesellschaft hineingewirkt hat. Hinzugekommen ist nun aber das aktive Hineinwirken, Uni versitäten haben sich geöffnet, sie sind nun Orte, an denen Wechselwirkung mit der Gesellschaft stattfindet. Dazu kommt ein dritter Punkt und zwar das von mir

initiierte Schwerpunktsystem: Vor dem UG 2002 waren Forscherinnen und For scher hauptsächlich alleine aktiv – mit dem Schwerpunktsystem gelang es, da zu überzugehen, komplexere Fragestel lungen in kompetenten Teams zu lösen und auch aufgrund von kritischer Masse nach außen hin erfolgreicher zu wirken.

ZUKUNFT: Frau Tanzer, quasi zur Halbzeit dieser 20 Jahre, nämlich 2014, wurden Sie an die Universität Innsbruck berufen. Was für einen Eindruck hatten Sie von Ihrem neuen Arbeitsplatz?

ULRIKE TANZER: Es war ein sehr positi ver. Ich habe mich auf eine Professur beworben, die auch die Leitung des Forschungsinstituts Brenner-Archiv be inhaltet hat. In Innsbruck angekommen, bin ich sofort besucht worden: vom Lei ter des Forschungsservicebüros, von der Leiterin der Personalentwicklung. Das kannte ich von meiner früheren Univer sität nicht, dass die zentrale Verwaltung sofort Kontakt aufnimmt und zeigt, wel che Möglichkeiten es gibt. Die Universität Innsbruck hat sich mir als sehr moderne und vielfältige Universität präsentiert.

zukunft forschung 02/22 24 Fotos: Andreas Friedle STANDORT

ZUKUNFT: 2017, als Vizerektorin für For schung, erklärten Sie, ein spezielles Au genmerk auf den wissenschaftlichen Nachwuchs und Frauen in der Wissen schaft zu legen. Ist Ihnen das gelungen?

TANZER: Die Uni Innsbruck hatte damals bereits eine große Anzahl an Förder möglichkeiten für den wissenschaftli chen Nachwuchs, die weiter ausgebaut wurden. Es gibt die Möglichkeit interner Karriereverläufe, zudem Förderungen wie Doktoratsstipendien, Mentoringpro gramme, Preise und Auszeichnungen, die teilweise speziell für Frauen entwickelt wurden. Das ist, denke ich, nicht schlecht gelungen. Natürlich wird man aber immer einen Punkt finden, bei dem man nicht erfolgreich war, und man kann natürlich nicht alles umsetzen, was man sich vor stellt. Mit den Doktoratskollegs haben wir zudem erstmals strukturierte Möglichkei ten für Doktoratsstudierende entwickelt.

ZUKUNFT: Wenn es um das Messen wis senschaftlicher Leistungen geht, werden alljährlich die unterschiedlichsten Ran kings erstellt. Kann man Forschungsleis tung überhaupt ranken und vergleichen?

MÄRK: Natürlich kann man ranken, es gibt verschiedene Indikatoren, um zumindest näherungsweise solide Aussagen treffen zu können. Schwierig ist aber, verschiede ne Arten von Universitäten zu vergleichen – das muss man im Hinterkopf behalten und sich eine bessere Differenzierung wünschen. Wir haben weltweit in etwa 20.000 Universitäten, die Universität Inns bruck befindet sich in den verschiedenen Rankings je nach gewichteter Leistung zwischen Platz 200 und 400 – unter den ein bis zwei Prozent der besten Universitäten. Vergleicht man aber das Umfeld dieser Po sitionen, sind vor und hinter uns Univer sitäten, die mit ganz anderen Ressourcen und besseren Arbeitsbedingungen ausge stattet sind. In Wirklichkeit sind wir daher sehr effizient und auch insofern besser, als es die Rankings abbilden. In Deutschland wird pro Studierendem das Doppelte, in der Schweiz das Drei- bis Fünffache, in den USA das Fünf- bis Zehnfache ausge geben. Dennoch können wir uns mit TopUniversitäten vergleichen und – Stichwort Physik – mit der Spitze mithalten. Absolut gesehen sind die Rankings in Ordnung, sie zeigen, wie viel man leistet. Sie zeigen aber nicht immer, wie viel man pro Input leis tet. Da sind wir sehr gut – und, das sage ich nach wie vor, wir würden wesentlich

„Es braucht mehr Initiativen, um der Wissenschaftsskepsis entgegenzuwirken. Das ist für unsere weitere gesellschaftliche Entwicklung von enormer Bedeutung.“ Ulrike Tanzer

weiter vorne liegen, wenn man die Univer sitäten in Innsbruck nicht getrennt hätte. TANZER: Ich sehe das ähnlich, auch wenn ich als Germanistin Rankings differen zierter gegenüberstehe, da nur bestimm te Publikationen in Rankings bewertet werden. Als Geisteswissenschaftlerin ist man gewohnt, in anderen Feldern zu publizieren, wobei sich in den letzten Jahren in der geisteswissenschaftlichen Publikationskultur einiges verschoben hat. Ich war während meiner Amtszeit die einzige Vizerektorin für Forschung in Österreich, die aus einem geisteswis senschaftlichen Fach gekommen ist – das sagt auch etwas über den Stellenwert aus, den die Geisteswissenschaften in der Forschungslandschaft haben.

ZUKUNFT: Herr Märk, vor 15 Jahren mein ten Sie, dass die Kooperation mit der Ti roler Wirtschaft ausbaufähig wäre. Konn te sie ausgebaut werden?

MÄRK: Ja, das war 2003 ein wichtiges Ziel für mich. Es war klar, dass wir gegenüber unseren „Konkurrenten“ finanziell im Nachteil sein werden und daher mög lichst viel zusätzliche finanzielle Mit tel lukrieren müssen. In diesem Punkt können wir auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken: Der Jahreswert der ein geworbenen Drittmittel hat sich von cir ca zehn Millionen auf fast 60 Millionen Euro erhöht; besonders bemerkenswert ist, dass auch für eine Volluniversität ein vergleichsweiser großer Anteil unserer Drittmittel als Auftragsforschung aus der Region kommt; wir konnten zudem den „Förderkreis 1669“ und die Stiftung der Universität Innsbruck einrichten, in denen wichtige Partner aus Industrie, Politik und Kultur die Universität finan ziell und als Netzwerk unterstützen; mit dem Land Tirol und der Industrie sind wir Kooperationen eingegangen, um z.B. Lücken in der Ausbildung oder der For schungslandschaft gemeinsam zu schlie ßen; und wir haben wahrscheinlich in Österreich die größte Zahl an Stiftungs professuren eingeworben, zuletzt auch Professuren, die von der FFG sehr kom petitiv vergeben werden.

TANZER: Bei dieser österreichweiten Aus schreibung konnten wir überproportio nal gut abschneiden, zuletzt mit der Pro fessur für „Aktive Mobilität“. Wichtig für diese Stiftungsprofessuren sind nicht nur die Forschungsleistung, sondern auch Kooperationen mit Firmen.

ZUKUNFT: Viele dieser Kooperationen sind regionale Kooperationen. Ist Regio nalität Chance oder Gefahr für eine Uni versität wie die Innsbrucker?

MÄRK: Dazu eine klare Antwort: Wir sind eine Bundeseinrichtung, wirken aber im Land Tirol. Regionalität ist daher inso fern okay, indem wir uns etwas an den Bedürfnissen der Region – was die Aus bildung und Forschungsexpertise betrifft – ausrichten, aber immer – was die Quali tät der Ausbildung und Forschung be trifft – auf internationalem Niveau. Die ses Niveau ist der Gradmesser, nationale und internationale Vergleiche zeigen, dass wir in diesem Bereich top sind. Am Ende zeigt ja auch die stark gestiegene, hohe Zahl an ausländischen Mitarbeiten den, über 40 Prozent, und Studierenden, über 50 Prozent, wie attraktiv die Univer sität Innsbruck überregional und inter national gesehen wird. ah

zukunft forschung 02/22 25 STANDORT

DIE VIRTUALISIERUNG VON ORGANISATIONEN

Andreas Eckhardt forscht zur Zukunft der Arbeit und untersucht, wie virtuelle Organisationen Unternehmen helfen können, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren.

Klimakrise, Fachkräftemangel, im mer kürzer werdende Entwick lungszyklen und eine Arbeitswelt, die immer digitaler wird – auf alle diese Entwicklungen müssen Unternehmen aktuell reagieren. Eine Lösung, mit die sen Herausforderungen umzugehen, sieht Andreas Eckhardt, Professor für Wirtschaftsinformatik, in der virtuellen Organisation. „Darunter ist eine Organi sationsform zu verstehen, die primär in der virtuellen Welt existiert. Die Beleg schaft arbeitet dabei komplett virtuell, zeitlich und örtlich ungebunden, Firmen gebäude und Büros gibt es nahezu nicht mehr“, so Eckhardt, der am Institut für Wirtschaftsinformatik, Produktionswirt schaft und Logistik der Universität Inns bruck forscht.

Diese Organisationsform funktioniert bereits vor allem für Unternehmen des Informationssektors, die Wissensarbei ter*innen beschäftigen, wie beispiels weise Programmierer*innen, Desig ner*innen oder Texter*innen. Doch für Eckhardt ist die virtuelle Organisation langfristig auch in anderen Branchen denkbar: „Im Austausch mit Firmen bemerke ich häufig noch Vorbehalte gegenüber einer Virtualisierung der ei genen Organisation. Die digitale Trans formation ist jedoch nicht mehr aufzu halten – sie findet statt, egal ob einzelne Unternehmen mitmachen oder nicht. Auch Industrie-Produkte und deren Fer tigung werden immer digitaler, es gibt sogar bereits erste virtuelle Fabriken, in denen ausschließlich Roboter in der Fer tigung agieren und Menschen nur noch die Prozesskontrolleure sind. Meiner Meinung nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis sogenannte First-Mover auch in der Produktion vollständig virtuell agie ren und so den Weg für weitere Unter nehmen bereiten.“

Neue Arbeitswelt

Dabei bringt der Schritt in die digitale Welt diverse Vorteile mit sich: Sind Mit arbeiter*innen nicht mehr an einen be stimmten Ort gebunden, erweitert das den Radius für Unternehmen, geeigne te Fachkräfte zu finden. Wegfallendes Pendeln und das Einstellen von Reise tätigkeiten wirken sich positiv auf die CO2-Bilanz aus, und insgesamt können virtuelle Unternehmen sich schneller und kostengünstiger auf neue Anforderungen einstellen. Wie die Transformation hin zu einer virtuellen Organisation gelingen kann, daran forscht Eckhardt bereits seit 2017. Konkret beschäftigt er sich unter anderem damit, wie Mitarbeiter*innen darauf vorbereitet werden können, sich in einer virtuellen Organisation zurecht zufinden.

„Dass Menschen aus dem Homeoffice arbeiten, das gibt es nicht erst seit dem Beginn der Corona-Pandemie. Die Lite ratur zu virtuellen Teams geht zurück bis in die 1980er-Jahre. In einer meiner Studien, die Ende 2019 erschienen ist, habe ich gemeinsam mit Kolleg*innen ein dreistufiges Modell präsentiert, wie

ANDREAS ECKHARDT ist seit 2020 Universitätsprofessor für Wirtschaftsinfor matik am Institut für Wirtschaftsinforma tik, Produktionswirtschaft und Logistik der Universität Innsbruck. Er promovierte und absolvierte seine akademische Aus bildung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Neben der Virtua lisierung von Organisationen forscht er zu Themen wie Cybersecurity, Electronic Commerce sowie der ethischen Entwick lung und Nutzung von IT-Systemen. Vor seiner akademischen Laufbahn arbeitete er als Projektmanager für DaimlerChrysler Taiwan in Taipeh.

die vollständige Virtualisierung der eige nen Organisation gelingen kann. Kurz darauf kam die Corona-Pandemie und unser Gedankenkonstrukt wurde plötz lich Realität“, berichtet Eckhardt. Heute, drei Jahre später, haben viele Arbeitneh mer*innen sich an das flexible Arbeiten aus dem Homeoffice gewöhnt. Unter nehmen stehen nun vor dem Problem, dass sie ihre Belegschaft wieder zurück in die Büros holen müssen, obgleich vie le Arbeitnehmer*innen dies gar nicht mehr wollen. Schuld daran sind nicht zuletzt auch die – derzeit stark steigen den – Kosten für die Bereitstellung und das Heizen von Bürogebäuden, welche Unternehmen rechtfertigen müssen. Hinzu kommt die verbreitete Meinung, dass beim dauerhaften Arbeiten aus dem Home office das soziale Miteinan der verloren geht. Ein Argument, das für Andreas Eckhardt nur bedingt zählt: „Es gibt bereits erste Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Mitarbeiter*innen auch in einer völlig virtuellen Arbeitsumge bung starkes Vertrauen zueinander fas sen können, ohne sich jemals in Präsenz gesehen zu haben. Nicht jeder Mensch braucht den direkten Kontakt zu Kolle ginnen und Kollegen.“

Neue Organisationsform

Teil der Forschung von Andreas Eck hardt sind auch Dezentralisierte Autono me Organisationen (engl.: decentralized autonomous organizations), kurz DAOs. Sie stellen die Extremform der virtuellen Organisation dar. Bei diesem Organisa tionstypus arbeiten Menschen komplett virtuell und dezentralisiert über den Glo bus hinweg verteilt zusammen an einem gemeinsamen Ziel. DAOs weisen keine hierarchischen Management-Strukturen mehr auf, alle Regeln, Rollen und Prozes se dieser Unternehmung sind als Code

zukunft forschung 02/22 26 Foto: Andreas Friedle
WIRTSCHAFT

„Es gibt bereits erste Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Mitarbeiter*innen auch in einer völlig virtuellen Arbeitsumgebung starkes Vertrauen zueinander fassen können, ohne sich jemals in Präsenz gesehen zu haben. Nicht jeder Mensch braucht den direkten Kontakt zu Kolleg*innen.“

primär auf der Ethereum-Blockchain in sogenannten Smart Contracts hinterlegt. Diese sind für alle Mitglieder der Block chain transparent einsehbar. Entscheidun gen innerhalb einer DAO trifft die virtuel le Gemeinschaft der beteiligten Akteure.

Sowohl im Zusammenhang mit virtu ellen Organisationen als auch mit ihrer Extremform, den DAOs, ergeben sich jedoch gerade aus Perspektive der Län der der Europäischen Union, in denen die Rechte von Arbeitnehmer*innen und das Prinzip des Sozialstaats wichtige Er rungenschaften darstellen, viele Fragen: Wie etwa soll mit einer global verteilten

Belegschaft umgegangen werden? Muss ich jemandem, den ich außerhalb meines Landes anstelle, trotzdem die Vorteile meines Sozialsystems zukommen las sen? Rechtlich ist das noch nicht geklärt. „Diesen offenen Fragen müssen wir uns stellen. Denn es ist auch klar, dass die EU weltweit gesehen eine Sonderrolle beim Arbeitnehmer*innen-Schutz einnimmt. Trotz teils berechtigter Kritik an diesen neuen virtuellen Organisationsformen muss Europa konkurrenzfähig bleiben. Spätestens, wenn virtuelle Organisatio nen sich in anderen Erdteilen wie Asien und Amerika noch stärker durchsetzen,

können wir sie nicht mehr ignorieren. Das funktioniert in einer globalisierten Welt nicht“, betont Andreas Eckhardt. Allerdings gibt es derzeit noch keinen allgemeinen Rechtsrahmen für DAOs auf globaler oder EU-Ebene. Die einzige Aus nahme ist der US-Bundesstaat Wyoming. Dort können DAOs seit dem vergange nen Jahr den Rechtsstatus einer LLC (Li mited Liability Company) erlangen, die stark Gesellschaften mit beschränkter Haftung in unserem Wirtschaftssystem ähnelt. Die weitere Entwicklung verfolgt wohl nicht nur Andreas Eckhardt mit Spannung. lm

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Andreas Eckhardt

SCHRITT FÜR SCHRITT

Justus Piater lehrt seinem Roboter das Lernen – mit Erfolg. So lernte der Roboter, wie sich Objekte bewegen, wenn er sie anschubst, und wie er diese stapeln kann. Nun soll er sich aus gelernten Bewegungen neue erschließen und mit dem Menschen interagieren lernen.

Am 25. Jänner 1921 erblickte der Roboter das Licht der Welt. An diesem Tag gab das Prager Natio naltheater erstmals das Drama R. U. R. von Karel Čapek. Millionen menschen ähnlicher Maschinen dienen darin den Menschen als billige Arbeitskräfte und übernehmen Tätigkeiten in Haushalt und Industrie. Čapeks Bruder Josef gab den Maschinen einen Namen – Robota , tschechisch für Frondienst oder Zwangs arbeit.

Heute kommen Roboter vielseitig zum Einsatz, etwa in Industrie oder Medizin, sie erkunden für Menschen gefährliche Regionen – oder mähen einfach Rasen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie für ihre Aufgaben programmiert wurden. Aber kann man Roboter mit derart vielen Da ten füttern, dass sie die ihnen gestellten Aufgaben jederzeit und überall erfüllen können? Und was passiert, wenn die Realität nicht dem Programmierten ent spricht? Justus Piater, Robotik-Spezialist am Institut für Informatik der Universi tät Innsbruck, wählt daher einen anderen Weg – er will Roboter lehren, selbststän dig zu lernen. Erste Schritte sind schon

gemacht, nun wendet er sich mit seinem Team dem nächsten zu.

Nicht ganz 100 Jahre nach der Urauf führung von R. U. R. erblickte auch am Innsbrucker Informatikinstitut ein Ro boter das Licht der Welt: Im Rahmen des EU-Projekts Xperience (2011 2015) und unterstützt durch die Universität Inns bruck entstand Robin, der sein Wissen durch Lernen aus Erfahrung bezieht. Ro bin „schubste“ unterschiedliche Gegen stände – Bauklötze, Schachteln, Bälle… –, beobachtete deren „Reaktion“ und clus terte die sensormotorischen Daten, die er von diesem Prozess via Kamera und Kraftsensoren erhielt. „In der Folge ord net er ein Objekt aufgrund visueller Fea tures einem Cluster zu und weiß, wie sich dieses Objekt dann erwartungsgemäß verhält“, erklärt Piater. Robin lernte also, dass runde Objekte rollen, wenn er sie an schubst, Klötze aber nicht. Mit diesem er lernten Wissen ausgestattet schickten die Informatiker ihren Roboter in die nächste Schulstunde. Robin agierte nun mit zwei Objekten, schaute, was passiert, wenn er einen Ball auf einen Bauklotz oder eine Schachtel auf einen Ball stellt, clusterte

wiederum die sensormotorischen Daten und lernte, so Piater, „im Zuge von zig Interaktionen, wie man Türme baut“.

Bewegungen generalisieren

Im bisherigen Lernprozess agierte Piaters Roboter als Einzelkämpfer, nun gehen die Innsbrucker Informatikerinnen und Informatiker daran, auch das humane Umfeld einzubinden. In dem EUREGIOProjekt OLIVER – Open-Ended Learning for Interactive Robots (2019 2022), wollten sie in Zusammenarbeit mit der Uni Bozen Robotern beibringen, Aufgaben, die von ihren Designern nicht speziell vorgese hen sind, sowie kollaborative Aufgaben auszuführen. „Unser Fokus lag zunächst darauf, wie Roboter von einer gelernten Bewegung auf ähnliche Bewegungen generalisieren können“, berichtet Piater. Maschinelles Lernen, erläutert der Infor matiker, basiere auf der Annahme, dass die Daten, die das trainierte Modell in der Praxis sieht, statistisch gesehen dieselben Daten wie im Training sind. Doch was wenn nicht? „Dann funktioniert das Sys tem nicht“, sagt Piater und nennt ein Bei spiel: „Ein Roboter hat gelernt, einen Stift

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Fotos: Andreas Friedle

von A nach B zu legen. Soll er ihn aber mit der gleichen Bewegung nach dem weiter entfernten C legen, weiß er nicht, was zu tun ist. Er hat diese – längere – Bewegung im Training nicht gesehen.“ Dem Roboter fehlt die Fähigkeit, zu extrapolieren, sich aus Bekanntem Neues zu erschließen.

Um diese Fähigkeit zu verbessern, setzt Piaters Team auf ein anderes künstliches neuronales Netzwerk (KNN) als üblich. Ein KNN besteht aus künstlichen Neuro nen (Units), die über mehrere Eingänge In formationen als reale Zahlenwerte erhalten und diese mit einem Faktor multiplizieren. Die Resultate werden summiert und er geben das Aktionspotenzial der Unit. „In sogenannten Equation Learner Networks berechnen Units hingegen ausdrucksstär kere Funktionen. Nicht die Summe, son dern z. B. das Produkt von zwei Eingän gen. Oder die Sinusfunktion von lediglich einem Eingang“, erklärt Piater. Der Hinter gedanke dabei: „Viele reale physikalische Prozesse sind durch derartige Funktionen beschrieben. Daher sollten wir auch solche Funktionen für die Repräsentation dieser Prozesse verwenden, damit die Repräsen tation die realen physikalische Prozesse möglichst genau widerspiegelt.“ Darauf fußte die Annahme der Informatiker, dass Roboter mit Equation Learner Networks besser extrapolieren können. Und die An nahme konnten sie in der Simulation und im Praxisversuch bestätigen – obwohl der Roboter diese Bewegung nicht gelernt hat te, bewegte er den Stift von A nach C. Ge nauer gesagt: Nicht ganz bis nach C.

„Im Prinzip funktionierte die Explora tion auf die größere Strecke sehr gut. Es

kam allerdings zu systematischen Ab weichungen“, räumt Piater ein. Es zeigte sich, dass der Roboter die neue, weitere Bewegung zwar ausführen konnte, je weiter sie aber wurde, desto größer wur den die Abstände zum eigentlichen Ziel. Die Lösung fand Matteo Saveriano, ein inzwischen an der Università di Trento tätiger Mitarbeiter Piaters, gemeinsam mit Dissertant Héctor Pérez Villeda. „Sie entwickelten mit Hilfe von Quadratic Programing eine Methode, die gezeigte Bedingungen imitiert und dabei Randbe dingungen erfüllt“, erläutert Piater. Dem Roboter werden Bewegungen gezeigt, die er lernt, zu rekonstruieren – inklusive der festgelegten Bedingung, dass die Bewe gung von einem Anfang bis zu einem En de reichen muss. In Kombination mit der erlernten Explorationsfähigkeit aus dem ersten Schritt gelingt es dem Roboter nun tatsächlich, den Stift von A nach C zu be wegen – egal, wie weit entfernt C auch ist.

Robotik & Affordanzen

Auf die Kollaboration mit Menschen zielt mit ELSA, kurz für Effective Lear ning of Social Affordances for Human-Ro bot Interaction, ein anderes Innsbrucker Robotik-Projekt ab. In französisch-öster reichischer Zusammenarbeit wollen For scherinnen und Forscher aus Informatik und Psychologie Robotern beibringen, sogenannte Affordanzen zu erkennen. „Der Begriff stammt aus der Psychologie und bezeichnet Aktionsmöglichkeiten, die ein Objekt einem Aktor bietet. In EL SA haben wir den Begriff auf die soziale Ebene erweitert, nämlich auf Menschen,

DER ROBOTER LERNT, von einer ge lernten Bewegung auf ähnliche Bewegun gen zu generalisieren.

die ihrem Umfeld Interaktionsmöglich keiten anbieten“, erklärt Piater. Durch das Erkennen solcher Affordanzen sollen Roboter lernen, mit ihrem menschlichen Umfeld zielgerichteter zu interagieren: „Menschen haben unterschiedliche Fähig keiten, zum Beispiel, wenn sie bestimmte Werkzeuge bei sich haben. Jemanden mit einer Schere kann ein Roboter bitten, ein Blatt Papier durchzuschneiden. Die glei che Bitte ohne Schere in der Nähe ergibt aber keinen Sinn, das muss ein Roboter allerdings auch begreifen“, erläutert Pia ter. Das bis 2026 laufende Projekt, ange siedelt am Institut für Informatik und am „Digital Science Center“ (DiSC) der Uni Innsbruck, soll das Handlungsrepertoire von Robotern in Zusammenarbeit mit Menschen deutlich erweitern.

Ein weiterer Schritt also zum humanoi den Roboter, wie ihn Čapek in R. U. R. kon zipierte? „Aus wissenschaftlicher Sicht ist es extrem interessant, daran zu arbeiten. Wir lernen dabei viel über Intelligenz, Autonomie und wie der Mensch funktio niert“, sagt dazu Piater: „Ob aber jemals humanoide Roboter im Einsatz sein wer den, ist offen, da die Komplexität immens ist. Möglicherweise kommt man mit spe zialisierten Robotern viel weiter.“ ah

JUSTUS PIATER (*1968 in Bremen) stu dierte Informatik an der TU Braunschweig sowie der Universität Magdeburg und schloss 1994 mit dem Diplom ab. An der University of Massachusetts machte er einen M. Sc. (1998) und einen Ph. D. (2001) in Computer Science. Nach einer Zeit als PostDoc am Forschungsinstitut INRIA Rhône-Alpes wechselte er 2002 an die Université de Liège in Belgien. 2010 wurde er an das Institut für Informatik der Universität Innsbruck berufen, wo er die Arbeitsgruppe Intelligent and Inter active Systems leitet.

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zukunft forschung 02/22 30 Foto: Andreas Friedle RECHTSWISSENSCHAFT

MENSCHENRECHTE IN ÖSTERREICH SCHÜTZEN

Verena Murschetz beobachtet seit sieben Jahren, wie es um die Einhaltung von Menschenrechten in Justizanstalten, Polizeianhaltezentren und anderen Orten des Freiheitsentzugs in Tirol und Vorarlberg steht. Im Interview gibt Murschetz, Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Innsbruck, Einblick in ihre Tätigkeit und erzählt, wie diese in Forschung und Lehre einfließt.

Seit dem Jahre 2012 wird in Öster reich das OPCAT, eine Ergänzung zum Anti-Folter-Übereinkommen der Vereinten Nationen, umgesetzt: Expert*in nen-Kommissionen auf regionaler und Bun desebene machten seither durchschnittlich 450 Besuche pro Jahr in Einrichtungen des Freiheitsentzugs. Im Zuge dieser Kontroll maßnahmen wurden in bis zu 80 Prozent der Fälle Defizite festgestellt. Die Juristin Verena Murschetz leitet die Kommission für Tirol und Vorarlberg. Im Folgenden spricht sie über Menschenrechtsschutz in Praxis, Forschung und Lehre.

ZUKUNFT: Was ist OPCAT und wie wird es umgesetzt?

VERENA MURSCHETZ: Als fakultatives Zusatzprotokoll zum Antifolter-Abkom men trägt OPCAT den Staaten, die es ratifizieren, auf, einen sogenannten Na tionalen Präventionsmechanismus ein zurichten. Darunter ist ein zusätzlicher Kontrollmechanismus zu verstehen, der durch Kontrollbesuche präventiv vor Menschenrechtsverletzungen schüt zen soll. In Österreich involviert dieser die Volksanwaltschaft und sechs Län derkommissionen sowie eine Bundes kommission. Diese haben die Aufgabe, unangekündigte Besuche in Einrichtun gen, welche die Freiheit entziehen oder auch nur potenziell entziehen können, zu machen und darüber zu berichten. In Österreich sind wir vergleichsweise gut aufgestellt und können daher nicht nur die klassischen Orte des Freiheitsentzugs wie Justizanstalten, Polizeianhaltung und Psychiatrien, sondern auch Alten- und Pflegeheime, Einrichtungen für Kinder und Jugendliche und für Menschen mit Behinderungen besuchen.

ZUKUNFT: Sie sind seit 2015 Leiterin der Kommission 1 für Tirol und Vorarlberg. Was machen Sie und Ihre Kommission ganz konkret?

MURSCHETZ: Als Kommissionsleiterin entscheide ich zunächst, welche Ein richtungen wir prüfen und in welcher Expert*innen-Zusammensetzung. Wir gehen dann unangekündigt in die In stitutionen, führen Gespräche mit den Insass*innen, Klient*innen oder Bewoh ner*innen, aber auch mit dem Personal und der Leitung. Wir protokollieren alle Gespräche und treffen dann zu be stimmten Themen wie zum Beispiel zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen Feststellungen und eine menschenrecht liche Beurteilung. Das heißt, wir erklären im Protokoll und auch in einem abschlie ßenden Gespräch vor Ort, warum etwas menschenrechtlich zu beanstanden ist und formulieren konkrete Empfehlun

so häufig, kommt aber vor. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, nachträglich zu prüfen, ob ein Verschulden vorliegt, zum Beispiel, wenn ein Suizid während eines Freiheitsentzugs stattgefunden hat. Unser Ziel ist es, strukturelle Probleme aufzudecken und konkrete Empfehlun gen zur Beseitigung der festgestellten Defizite vorzuschlagen.

ZUKUNFT: Ist es in der Alltagspraxis nicht schwierig, rechtliche von strukturellen oder sozialen Problemen abzugrenzen?

MURSCHETZ: In meiner Kommission sind verschiedene Expert*innen vertre ten. Wir haben zwei Jurist*innen, eine davon ist auch Sozialpädagogin, einen Psychiater, einen diplomierten Gesund heits- und Krankenpfleger, eine Fach sozialbetreuerin für Altenarbeit, eine Psychologin und einen Experten für Be hindertenrecht. Die Zusammensetzung und Stärke der Kommission richten sich

„Wir merken, dass unsere Besuche sehr viel bewirken, gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich. Insbesondere bei Alten- und Pflegeheimen stellen wir eine hohe Reflexionsbereitschaft und Offenheit für unsere Vorschläge fest.“

gen bzw. Verbesserungsvorschläge. Das Protokoll über den Besuch erhält dann die Volksanwaltschaft und kommuni ziert die Beanstandungen und Empfeh lungen an das zuständige Ministerium bzw. die Landesregierung sowie die zu ständigen Trägerinstitutionen.

ZUKUNFT: Kommt es im Zuge solcher Be suche auch manchmal zu Anzeigen?

MURSCHETZ: Ja, wenn ein Problem so schwerwiegend ist, dass es strafrecht lich relevant ist, wie z. B. jüngst der Pflegeskandal in Salzburg. Das ist nicht

nach der Einrichtung und den konkre ten Schwerpunkten, die wir prüfen. In einem gemeinsamen Protokoll hält je des Kommissionsmitglied seine Wahr nehmungen fest und bewertet diese aus seiner Expertise. Rein rechtlich gesehen gibt es für die jeweiligen Einrichtungen verschiedene, aber klare Vorgaben, z. B. das Strafvollzugsgesetz für Justizan stalten, das Heimaufenthaltsgesetz, das Unterbringungsgesetz oder die Behin dertenrechtskonvention. Insofern ist die Einschätzung nicht so schwer.

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RECHTSWISSENSCHAFT

ZUKUNFT: Gehen Sie selbst auch bei allen Besuchen mit?

MURSCHETZ: Im Schnitt macht die Kom mission ca. vier Besuche im Monat – in unterschiedlicher Besetzung. Ich selbst habe bereits alle Arten von Einrichtun gen besucht, bin aber aufgrund meines wissenschaftlichen Schwerpunkts am häufigsten in Justizanstalten mitgegan gen. Inzwischen begleite ich die Besuche seltener, bin aber an jeder Protokollerstel lung beteiligt und trage für jedes Proto koll auch die Letztverantwortung.

ZUKUNFT: Menschenrechte sind ja auch Ihr Forschungsgegenstand. Ich gehe davon aus, dass sich Ihre Tätigkeit als Kommissionsleiterin und als Rechtswis senschaftlerin gegenseitig befruchten…

MURSCHETZ: Genau. Als Wissenschaftle rin ist für mich zunächst die theoretische Beurteilung von Normen und Erkennt nissen der Rechtsprechung wichtig. Aber dann in der Praxis zu sehen, inwieweit diese Normen und gerichtlichen Ent scheidungen umgesetzt werden, welche Probleme es gibt beziehungsweise aus welchem Grund rechtliche Vorgaben eben nicht eingehalten werden, ist na türlich sehr spannend und bereichernd. Auch bei der wissenschaftlichen Be arbeitung oder Erstellung von Reform vorschlägen hat man natürlich mehr Ge wicht, wenn man die Praxis gut kennt. Insgesamt befruchtet dieses Praxiswis sen und gesteigerte Problembewusstsein meine Forschung, das heißt Publikatio nen, Vorträge, Tagungen etc., ungemein. Meine Tätigkeit in der Kommission ist

aber nicht nur für meine wissenschaft liche Arbeit, sondern auch für die Leh re sehr interessant. Ich habe im Jahr, in dem ich die Kommissionsleitung über nommen habe, ein Seminar zum Thema Strafvollzug und Menschenrechte gestar tet. Wir besuchen im Zuge dessen auch immer eine Justizanstalt und ich lade re levante Praktikerinnen und Praktiker in meine Lehrveranstaltungen ein, die ich über meine Funktion als Kommissions leiterin kennengelernt habe.

der wissenschaftlichen Bearbeitung oder Erstellung von Reformvorschlägen hat man natürlich mehr Gewicht, wenn man die Praxis gut kennt.“

ZUKUNFT: Das heißt, das Thema kommt auch in der Lehre gut an?

MURSCHETZ: Ja, das Seminar ist immer sehr gut besucht, und durch die Stu dierenden werden viele interessante Themen beleuchtet. Was sie in ihren Seminararbeiten theoretisch bearbeiten und beurteilen müssen, können sie dann eben auch praktisch hinterlegen. Und seit ich das Seminar – und seit letztem Jahr auch eine Vorlesung im Straf- und Maß nahmenvollzugsrecht – anbiete, steigt die Zahl der Diplomand*innen, die sich in ih ren Arbeiten mit wichtigen Aspekten aus Straf- und Maßnahmenvollzug beschäf tigen, sehr stark an. Das bringt auch das in Österreich wissenschaftlich eher stief mütterlich behandelte Fach weiter.

VERENA MURSCHETZ ist seit 2011 Universitätsprofessorin für Strafrecht und Strafprozessrecht einschließlich des Euro päischen und Internationalen Strafrechts an der Universität Innsbruck, wo sie sich 2006 habilitierte. Murschetz studierte Rechtswissenschaften in Innsbruck und an der University of California at Los Angeles. Sie ist Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Vereini gungen und setzt sich u. a. als Leiterin der Kommission 1 der österreichischen Volksanwaltschaft für den Schutz der Menschenrechte ein, die auch einen wissenschaftlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden.

ZUKUNFT: Kehren wir noch einmal zurück zur Kommission. Haben Sie eine beson dere Erfolgsgeschichte zu erzählen?

MURSCHETZ: Sagen wir so: Wir merken, dass unsere Besuche sehr viel bewirken, gerade im Sozial- und Gesundheits bereich. Insbesondere bei Alten- und Pflegeheimen stellen wir eine hohe Re flexionsbereitschaft und Offenheit für unsere Vorschläge fest. Und unsere Be richte bieten den Einrichtungen oft auch eine Argumentationsbasis für von ihnen selbst gewünschte Verbesserungen zum Schutz der Menschenrechte. Besonders freut mich, dass wir uns vor allem im So zial- und Gesundheitsbereich, aber auch im Justizbereich, Respekt verschaffen konnten, Respekt nicht als gefürchtetes Kontrollorgan, sondern vielmehr Respekt als Expert*innenteam.

ZUKUNFT: Können Sie konkrete Beispiele aus den angeführten Bereichen nennen?

MURSCHETZ: Der österreichische „Natio naler Präventionsmechanismus“, kurz NPM, hat zum Beispiel die Abschaffung der Netzbetten in Psychiatrien, dringend nötige Aufstockungen von Nachtdiens ten uvm. bewirkt. Es ist durch die Besu che und Berichte der Kommissionen auch schon mehrfach zu Schließungen desast röser Einrichtungen gekommen, wie die Schließung eines als Frühstückspension genehmigten Hauses, in dem psychisch schwerst kranke Menschen ohne Betreu ung durch qualifiziertes Personal lebten. Der Pflegeskandal in Salzburg zeigt be sonders, wie wichtig die unabhängige Kontrolle durch den NPM ist. ef

zukunft forschung 02/22 32 RECHTSWISSENSCHAFT
Foto: Andreas Friedle
„Bei

START INS KONGRESSLEBEN

Das Kongress- und Eventzentrum Gurgl Carat feierte nach der pandemiebedingten Zwangspause seine offizielle Eröffnung.

Rund 100 Gäste aus Tourismus, Wis senschaft und Politik trafen sich im Juli 2022 in Obergurgl, um an der offiziellen Eröffnung des Gurgl Carat teilzunehmen. Das höchstgelegene Kon ferenzzentrum Europas weist bereits eine bewegte Geschichte auf. Nach der Fertig stellung im Januar 2020 und ersten Veran staltungen schloss sich im März 2020 die Covid-bedingte Pause an. Die offizielle Er öffnungsfeier mit Segnung des Gebäudes markierte den formellen Neustart nach der Pandemie. Langfristig soll das Gurgl Carat nicht nur zur Belebung des Dorfzen trums beitragen, sondern aus Obergurgl die Top-Kongressdestination der Alpen für internationale Gäste machen.

Blick in die Zukunft

Das Gurgl Carat kann nun erstmals sein volles Potenzial entfalten. Insbesondere die moderne Veranstaltungstechnik der

Location sei zukünftig ein großer Wett bewerbsvorteil. „Das Gurgl Carat ist aufgrund seiner Ausstattung besonders für technisch aufwendige Events wie Hybrid-Konferenzen, Live- Schaltungen, Podiumsdiskussionen und Produktprä sentationen geeignet“, betont Gurgl-Ca rat-Geschäftsführer Felix Kupfer. Auch die Gäste der Eröffnungsfeierlichkeiten erhielten einen Vorgeschmack auf die technischen Möglichkeiten. Im größten Saal, Schalfkogel, der Platz für bis zu 500 Personen bietet, präsentierten die Gastge ber das Herzstück des Gebäudes – die 100 m² Frontleinwand mit Full-HD-Projektion.

des Standorts Obergurgl: „Wissenschaft passiert hier oben viel effizienter als bei einem Treffen im Büro.“ Abseits des städ tischen Trubels und mitten in der Natur herrschen nicht nur ideale Forschungsbe dingungen, vor allem sei auf 1.900 Metern Raum für ergiebige Gespräche und Ge dankenaustausch auf höchstem Niveau.

Standort mit Tradition

UNTER DEM MOTTO „Alpiner Raum für Inspiration“ finden im Gurgl Carat seit Januar 2020 Meetings, Kongresse, Produktvorführungen und kulturelle Ver anstaltungen statt. Bis zu 500 Personen fasst das futuristische Gebäude, dessen Form an einen geschliffenen Diamanten erinnert. Damit ist die Eventlocation im Dorfzentrum eine Hommage an Gurgl, den „Diamant der Alpen“. Das Gurgl Carat reiht sich in die lange Kongressund Wissenschaftstradition des Tiroler Ortes ein. Die Verbindung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zeigt sich auch in der Betreibergesellschaft, die aus Ötz tal Tourismus, Universität Innsbruck und Gemeinde Sölden besteht.

Nun gilt es, das moderne Eventzent rum mit der vorhandenen Infrastruktur bestmöglich zu verbinden, um neue Syn ergien zu schaffen. Der Grundstein dafür ist mit der Ötztal Tourismus Congress GmbH gelegt, die vom Ötztal Tourismus, der Gemeinde Sölden und der Universität Innsbruck betrieben wird. Das gemeinsa me Ziel: Obergurgl langfristig als Kon gressstandort und Universitätsdorf zu etablieren. Ernst Schöpf, Bürgermeister der Gemeinde Sölden, ist überzeugt, dass dank der Zusammenarbeit und der gu ten Infrastruktur in Obergurgl die besten Voraussetzungen für den aufstrebenden Kongresstourismus gegeben seien. Auch Sara Matt, Leiterin der Transferstelle der Universität Innsbruck, betont die Vorteile

Dass das modernste Kongresszentrum Österreichs ausgerechnet in Obergurgl steht, ist kein Zufall. Seit der Gründung des Bundessportheims im Jahr 1951, dem heutigen Universitätszentrum Obergurgl, finden in dem kleinen Bergdorf regelmä ßig Veranstaltungen und Fortbildungen statt. Die neue Location soll nicht nur die Tagungstradition des Ortes fortführen, sondern auch den ganzjährigen Kongress tourismus stärken. „Eine Location auf diesem (Höhen-)Niveau in Verbindung mit der hochqualitativen Ausrichtung der Hotel- und Nächtigungsbetriebe und der einzigartigen alpinen Umgebung ist ein Alleinstellungsmerkmal in diesem Seg ment“, ist sich der CEO des Ötztal Touris mus Oliver Schwarz sicher. Es gehe nun darum, diese drei Dinge zusammenzu führen, um den Tourismus im MICE-Be reich (Meetings, Incentives, Conventions, Exhibitions) in Gurgl weiter voranzutrei ben.

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GURGL CARAT
Fotos: Gurgl Carat

NEUER BLICK AUF ARZNEISTOFFE

Anita Weidmann, Professorin für Klinische Pharmazie an der Uni Innsbruck, will mit ihrer Arbeit einen neuen Blick auf Medikamente etablieren, der dabei helfen soll, die Arzneimitteltherapiesicherheit zu verbessern und zur globalen Herausforderung in Bezug auf Patient*innensicherheit beiträgt.

Wirkstoffsuche und Wirkstoff entwicklung, Technologien, um diese möglichst effizient an ihr Ziel im Körper zu bringen, und die Analyse von Wechsel- und Neben wirkungen einzelner Wirkstoffe sind Forschungsarbeiten, die gemeinhin im Bereich der Pharmazie verortet werden. An der Universität Innsbruck wurde An fang 2021 mit dem österreichweit einzi gen Lehrstuhl für Klinische Pharmazie ein Fachgebiet eingerichtet, das auch die Erfahrungen der Patient*innen mit ihren Medikamenten im Blick hat.

„In der klinischen Pharmazie ha ben wir uns für einen anderen Blick winkel entschieden und zwar den, wie Patientinnen und Patienten im Laufe ihrer gesamten Behandlungsspanne mit Medikamenten umgehen. Unsere For

„Wir haben versucht, die Auswirkungen der Therapie für die Patientinnen und Patienten ganzheitlich darzustellen.“

schungsrichtung zielt darauf ab, wis senschaftliche Evidenzen zu schaffen, wie Pharmazeut*innen zur Patient*in nensicherheit beitragen können. Die eigenen Erfahrungen der Patientinnen und Patienten mit den Medikamenten sind dabei wesentlich“, erklärt Anita Weidmann, Professorin für Klinische Pharmazie an der Uni Innsbruck. „Die ser neue Forschungsbereich an der Uni Innsbruck entspricht auch einer globalen Direktive der Weltgesundheitsorganisa tion WHO, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Patient*innensicherheit weltweit zu verbessern und flächendeckend zu stan dardisieren.“

zukunft forschung 02/22 34 PHARMAZIE Fotos: Colourbox.de (1), Andeas Friedle (1)
ANITA WEIDMANN will mithilfe ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Erfahrungen von Patientinnen und Patienten während ihrer Chemotherapie verbessern.

Prognosen sagen voraus, dass es 2030 über 22 Millionen Krebspatient*innen pro Jahr geben wird. Dementsprechend wird ein großer Fokus auf die Krebs therapie und Entwicklung neuer Wirk stoffe gerichtet. Anita Weidmann will allerdings auch die Erfahrungen der Pa tient*innen im Verlauf der Behandlung verbessern. In einer qualitativen Studie hat sie deshalb gemeinsam mit ihrem Team die Erfahrungen von Krebspatien tinnen und -patienten untersucht. Dabei begleiteten die Wissenschaftler*innen 16 Menschen, die aufgrund ihrer Darm krebs-Diagnose in ein bestimmtes Be handlungsschema fielen, über ihren ge samten Behandlungszeitraum.

„Wir haben versucht, die Auswirkun gen der Therapie für die Patientinnen und Patienten ganzheitlich darzustel len – sowohl was die Lebensqualität als auch was andere interne und externe Einflussfaktoren wie beispielsweise die finanzielle Situation betrifft“, erklärt die Klinische Pharmazeutin. „Da betreuen de Angehörige im Verlauf einer Thera pie auch eine wesentliche Rolle spielen, haben wir auch ihre jeweils engste Be zugs- und damit Betreuungsperson in die Studie aufgenommen und befragt“, beschreibt Weidmann das Studiendesign. Basis dieser qualitativen Studie war das sogenannte patients lived experience model, das von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durch intensive, sys tematische Literaturrecherche für den onkologischen Bereich angepasst wurde. Im Anschluss wurden die Patientinnen und Patienten über den Zeitraum ihrer sechsmonatigen Behandlung insgesamt vier mal interviewt.

Ernüchterung & Überforderung

„Unsere Gespräche haben gezeigt, dass viele Patientinnen und Patienten nach der Diagnose Darmkrebs eine Chemo therapie begonnen haben, weil ihre Hoffnung auf Heilung größer war als die Angst vor den Nebenwirkungen der Behandlung. Leider waren sie dann ge gen Ende der Behandlung allerdings oft desillusioniert, weil sie feststellten, dass es keine Heilung gibt und dass sie sich wohl anders entschieden hätten, wenn sie zu Beginn der Behandlung die rich tigen Fragen gestellt und mehr Informa tionen zu ihrem Fall gehabt hätten“, so Weidmann.

ANITA WEIDMANN, geboren und auf gewachsen im deutschen Rheinhessen, absolvierte ihr Pharmaziestudium an der Robert Gordon University in Schottland, wo sie 2007 promovierte. Sie war einige Jahre als Apothekerin in öffentlichen und Krankenhausapotheken in Groß britannien tätig, absolvierte Auslands aufenthalte und lehrte und forschte im Bereich Clinical Pharmacy an der Robert Gordon University. Seit Jänner 2021 ist sie Universitätsprofessorin für Klinische Pharmazie an der Uni Innsbruck. Zudem ist sie Gastprofessorin an der Universität Graz und der Robert Gordon University und Mitglied der Expert*innengruppe zur Verschreibung von Generika im österrei chischen Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumenten schutz, sowie im wissenschaftlichen Beirat der European Society of Clinical Pharmacy und der österreichischen Platt form Patientensicherheit.

Es zeigte sich auch, dass die Patientin nen und Patienten zwar mit der Behand lung an sich und mit dem medizinischen Personal sehr zufrieden waren, in den Phasen zu Hause allerdings oft mit den Nebenwirkungen überfordert waren. Auch ihr Empfinden darüber, ein aktives Mitbestimmungsrecht zu haben, war oft nicht vorhanden. „Die Auswirkung der Medikamentierung auf die Lebensquali

tät – nicht die des Krebses selbst – wurde von allen Befragten als beträchtlich ange geben. Auch die Betreuungspersonen, die als Ungeschulte in den Zeiten zu Hause auch für die Medikamentengabe verant wortlich waren, fühlten sich oft überfor dert“, erläutert Anita Weidmann.

Insgesamt hat die Studie gezeigt, dass das System sehr gut funktioniert, Pa tient*innen und deren Angehörige aber teilweise komplett überfordert sind, weil der Zugang zur Information meist relativ generisch gehalten wird. Diese Überfor derung führt dazu, dass Patient*innen, wenn sie zu Hause sind, öfter Ärztinnen und Ärzte oder die Notaufnahme kon taktieren und so zusätzlichen Druck auf das Gesundheitssystem aufbauen.

Individualisierte Information

„Dieser zusätzliche Druck könnte ver mieden werden, wenn man Patient*innen und Angehörige sowohl bei der Diagno se als auch bei der Entlassung aus dem Krankenhaus richtig schult, ihnen genau erklärt, was auf sie zukommen wird, welche Medikamente sie bei welchen Symptomen und Nebenwirkungen ver abreichen können und ab welchem Punkt sie wieder ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Ein individuell zuge schnittenes Beratungsgespräch könnte den Patientinnen und Patienten sowie ih ren pflegenden Angehörigen Einiges er leichtern und am Ende auch das Gesund heitssystem entlasten“, ist die Klinische Pharmazeutin überzeugt. Zudem glaubt Anita Weidmann, dass auch individuelle Informationsgespräche während der Be handlung und eine gezieltere Förderung des Austausches zwischen Patientinnen und Patienten ihre Erfahrungen mit der Behandlung verbessern könnten.

„Auch wenn alle in der Krebstherapie tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal sehr genau wissen, wie es den Patientinnen und Patienten geht, glauben wir, mit qualitativen Studien wie dieser, wissenschaftliche Evidenz zu schaffen, um die sich stets wandelnden Erfahrungen der Patient*innen mit ihren Arzneitherapien festzuhalten, um die Be treuung in dieser Hinsicht verbessern und standardisieren zu können. Denn eine Verbesserung der Erfahrungen der Patient*innen ist auch für den Behand lungserfolg wesentlich“, ist Weidmann überzeugt.

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sr

ÜBERZEUGUNGSARBEIT

Der Holzbau boomt, allerdings nicht bei Großbauten. Das Projekt BIGWOOD will daher Barrieren und Vorurteile gegenüber dem Einsatz von Holz bei mehrgeschoßigen Gebäuden abbauen.

Es sind spektakuläre Bauten, die es immer wieder in die Schlagzeilen schaffen: 84 Meter ragt das Wie ner HoHo in die Höhe, bietet auf knapp 20.000 Quadratmetern Platz für Büros, ein Fitnessstudio, ein Hotel und ein Restau rant. Ähnlich aufsehenerregend ist das Mjøstårnet im norwegischen Brumund dal: 85,5 Meter hoch ist der Wolkenkratzer, in dem man auch wohnen kann. Und gar 86,6 Meter misst der Ascent Tower in Mil waukee, USA. Gemeinsam ist ihnen Holz als Baustoff, sie sind damit die – aktuell – höchsten Holzhäuser der Welt. Doch es muss nicht nur Höhe sein. In München entstand auf dem ehemaligen Gelände der Prinz-Eugen-Kaserne ein ökologisches Vorzeigeprojekt: Von den 1.800 Wohnun gen wurden 566 in Holzbauweise gebaut, die damit das größte zusammenhängende Holzbauquartier Deutschlands bilden.

Nicht ganz so beeindruckend nimmt sich im Vergleich dazu das Naturquartier Weißache in Kufstein aus, doch der Fünf geschoßer in Gebäudeklasse 5 ist – abge sehen von Tiefgarage und Treppenläufen – ein reiner und damit Tirols größter Voll holzwohnbau.

Wie diese Leuchtturmprojekte zeigen, eignet sich der nachhaltige Baustoff Holz für mehrgeschoßige und großvolumige Gebäude. Die Praxis zeigt aber: Gerade bei Großbauten, ob im Wohnungsbau oder bei Geschäftsgebäuden, gibt es noch zahlreiche Vorurteile, Bedenken und Bar rieren. Diese abzubauen ist Ziel des Inter reg-Projekts BIGWOOD. Geführt von der Universität Bozen wollen die Projektpart ner – Arbeitsbereich Holzbau der Univer sität Innsbruck, proHolz Tirol und der bel lunesische Unternehmerverband Centro Consorzi – ein überregionales Netzwerk

etablieren, um alle Akteure im Holzbau sektor auf den neusten Stand der Technik zu bringen.

„Im privaten Sektor hat Bauen mit Holz in den letzten Jahren – mit einem preis bedingten Dämpfer 2020 und 2021 – sehr stark angezogen. Mit BIGWOOD zielen wir auf die größere Ebene, auf Wohnbau träger und öffentliche Auftraggeber, ab“, sagt Anton Kraler vom Arbeitsbereich Holzbau und erklärt warum: „Auch wenn es für viele der Traum ist: Wir haben nicht die Fläche, dass alle in einem Einfamilien haus wohnen können. Wir müssen daher Raum nachhaltig und platzschonend nüt zen sowie kompakter und energieeffizi enter bauen.“ Das BIGWOOD-Team will daher Überzeugungsarbeit leisten – vor allem aber Lösungen liefen. Helfen soll dabei ein Vorführmodell der anderen Art: In einer Koproduktion der Uni Innsbruck

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(1) HOLZBAU
Fotos: Alex Gretter (1), proHolz Tirol (4), Arbeitsbereich Holzbau NATURQUARTIER WEISSACHE: Unterberger Immobilien errichtete 2021 in Kufstein Tirols bislang größten Wohnbau in Massivholz.

und der HTL Imst entstand ein transpor tables Mock-Up einer Wohnanlage der Gebäudeklasse 5 in Massivholzbauweise, anhand dessen Holzlösungen bis ins De tail anschaulich dargestellt werden.

Holz-Lösungen

„Geht es um Holzbau, hört man vor allem zwei Vorbehalte: Holz ist hellhörig und Holz brennt“, weiß Kraler. Kein Wun der also, dass sich der Holzbauexperte intensiv mit diesen Themen befasst. Im Betonbau regelt die Masse des Materials den Luftschallschutz, vergleichbare Mas sewerte mit Holz wären nur mit extrem dicken Wänden erreichbar – und daher aufgrund des Raumverlusts wirtschaft lich nicht umsetzbar. Im Holzbau setzt man daher auf Mehrschaligkeit. „Ähnlich wie bei Skirennen. Zwei, drei Fangnetze hintereinander federn den Sturz eines Läufers ab“, zieht Kraler einen sportlichen Vergleich. Mit Feder-Masse-Systemen lässt sich, so zeigen die Erfahrungen, der gesetzlich vorgeschriebene, in Österreich sehr strenge Luftschallschutz einhalten. „Auch für den Trittschallschutz können wir Lösungen anbieten“, führt der Wis senschaftler weiter aus. Um Trittschall zu vermeiden, benötigt es immer eine Mehr schaligkeit. Im Betonbau kommt Styrolose als Schüttmaterial zum Einsatz – für Holz ist der Kunststoff zu leicht, man bedient sich daher eines Naturmaterials: Kies. „Beim mehrgeschoßigen Holzwohnbau in der Innsbrucker Schützenstraße, den ich 2006 mitbetreuen durfte, kam erstmals Kies zum Einsatz. Heute ist es Standard“, erinnert sich Kraler.

Auf Lösungen kann der Holzbau auch im Brandschutz verweisen. Holz brennt, logisch, wenn aber, dann gleichmäßig und langsam – und dieses Brandverhalten kann genau berechnet und eingeschätzt werden. Verlangt etwa die Statik eines Ge bäudes zehn Zentimeter dicke Holzwände und das Abbrennverhalten des Holzes be trägt zwei Zentimeter in 30 Minuten, be deutet dies, dass mit einer zwölf Zentime ter dicken Wand die Statik des brennenden Gebäudes für mindestens eine halbe Stun de gewährleistet ist. „Brandschutz zielt ja primär darauf ab, dass ein Gebäude lange genug stehen bleibt, damit Mensch und Tier es im Brandfall sicher verlassen kön nen“, erläutert Kraler: „Es geht um Brand verhalten und Feuerwiderstand. Dafür können wir Lösungen bieten.“

HOLZBAU-MOCK-UP ON TOUR: Im Rahmen des Interreg-Projekts BIGWOOD entstand ein Vorführmodell der anderen Art. 1 Ein klassisches Rendering zeigt einen mögliche Wohnanlage der Gebäudeklasse 5 in Massivholzbauweise. 2 Schülerinnen und Schüler der HTL Imst und proHolz Tirol konstruierten in Zusammenarbeit mit der Universität Innsbruck das entsprechende Mock-Up. 3 + 4 Das Mock-up ist zerlegbar und zeigt Strukturen wie z.B. Rahmenbauweise oder Holzschichten 5 Für Wohnbauträger, Planer und Architekten werden die angewandten Lösungen inklusive möglicher Materialien im Detail präsentiert.

Lösungen für Objekte der Gebäude klasse 5, die von Kraler und seinen Pro jektmitarbeitern Julian Meyer und Benja min Wolf intensiv mit Bauträgern sowie Expertinnen und Experten aus Architek tur, Ingenieurwesen und Holzbau dis kutiert und auch auf Wirtschaftlichkeit hinterfragt wurden. Das Ergebnis ist ein Online-Tool, das detaillierte Holzbau-Lö sungen für Wände, Decken, Balkone, Ter rassen, Fensteranschlüsse etc. bietet. „Im mer mit spezieller Berücksichtigung der Komponenten Statik, Schall- und Brand schutz. Ein weiteres Augenmerk liegt auf dem Wärme- und Feuchteschutz“, beschreibt Kraler das Projektergebnis, das auch Vorschläge für Beschaffenheit und Qualität der zu verwendenden Ma terialien beinhaltet. Für ihn ist das Tool eine Argumentationshilfe, um Bedenken gegen einen mehrgeschoßigen Holzbau „fachlich fundiert zu entkräften“.

Veranschaulicht werden die HolzbauLösungen mit dem Mock-Up. Das mittels 3D-Druck von Schülerinnen und Schülern der HTL Imst sowie von proHolz Tirol ge baute Modell lässt sich leicht zerlegen und eröffnet so Blicke auf unterschiedliche Strukturen und Holzschichten, auf die Rahmenbauweise, auf Fenster, Fassaden und weitere Details. Mittels QR-Codes auf Infoflyern, so der Plan, geht‘s dann direkt zum Online-Tool. Seit Spätherbst 2022 ist das Mock-Up auf Tour und kommt auf Veranstaltungen von Projekt- und assozi ierten Partnern wie der HTL Imst oder dem Netzwerk Passivhaus zum Einsatz –und soll helfen, Vorurteile, Bedenken und Barrieren gegenüber mehrgeschoßigem Holzbau abzubauen. ah

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1 2 3 4 5 HOLZBAU

DIGITALE INNOVATIONEN ERARBEITEN

Unternehmen und Organisationen aller Branchen sehen im Bereich Digitalisierung immer mehr Chancen. Das Institut für Informatik hat mit DIGIT einen Sparringpartner für die Umsetzung innovativer Ideen gegründet.

Noch immer landen in Österreich zu viele Lebensmittel im Abfall.

Im Handel tragen fehlerhafte Bestandsdaten, nicht optimierte Bestel lungen und zu wenig Flexibilität bei der Preisbildung zu hohen Abfallmengen bei.

Das Institut für Informatik versucht, ge meinsam mit dem Handelsunternehmen MPREIS, mit Mitteln der Datenanalyse und IT verschiedene Strategien zur Ab fallvermeidung im Frischebereich (Obst, Gemüse, Molkereiprodukte) zu einem Gesamtprozess zusammenzufügen. So soll die Menge der in Filialen vernichte ten Lebensmittel stark reduziert werden.

„Das gemeinsame Projekt mit MPREIS ist nur ein Beispiel unserer Kooperation mit Unternehmen“, erzählt Ruth Breu, Leiterin des Instituts für Informatik der

Mehr Informationen zu DIGIT, dem Entwicklungszentrum für digitale I­nnovation finden Sie hier: http://digit-uibk.at/

Universität Innsbruck. Andere Projekte laufen derzeit zum Beispiel mit Hollu, planlicht, Bartenbach, Zumtobel und Rie derbau. Viele dieser Projekte haben inter disziplinären Charakter und werden in Kooperation mit anderen Instituten, zum Beispiel im Bereich Bauingenieurwesen, Ökologie und Chemie durchgeführt.

Gemeinsame Projekte

Mit dem Entwicklungszentrum für digita le Innovation DIGIT hat Ruth Breu eine Plattform initiiert, die den Austausch von Wissen zwischen Universität sowie Unter nehmen und Organisationen im Bereich Digitalisierung fördern soll. Die Partner erhalten Zugang zum Know-how der For scherinnen und Forscher in anwendungs orientierten Bereichen, können Projektvor haben verfolgen und sich direkt mit Stu dierenden vernetzen. „Wir konnten in den letzten beiden Jahren die Zahl drittmittel geförderter Projekte in Kooperation mit Unternehmen in Westösterreich signifi

kant steigern“, sagt Breu. „Wir führen aber auch industriefinanzierte Projekte in Kooperation durch oder erledigen Auf tragsforschung. In den nächsten Jahren werden wir auch verstärkt Angebote für die Weiterbildung entwickeln.“

DIGITAL INNOVATION HUB WEST:

Für klein- und mittelständische Unterneh men gibt es neben DIGIT die Angebote des Digital Innovation Hub West. Der DIH West erleichtert KMUs den Zugang zu Know-how und Infrastruktur von Hoch schulen und Forschungseinrichtungen. Es ist ein Zusammenschluss von acht Hochschulen und Forschungseinrichtun gen (wissenschaftlichen Einrichtungen mit Digitalisierungsschwerpunkt) in Salz burg, Tirol und Vorarlberg, der drei Standortagenturen sowie Wirtschaftskammer Tirol und Industriellenvereinigung Tirol: https://dih-west.at/

zukunft forschung 02/22 38 Foto: MPREIS
WISSENSTRANSFER

DER SCHNEEPROPHET

Künstliche Schneeerzeugung benötigt viel Wasser und Energie. Das Start-up lumiosys will Skigebieten beim Energiesparen helfen

sowie Beschneiungsdaten aus den Skige bieten simuliert die Software die Pisten verhältnisse in der Zukunft – detailliert und hochaufgelöst. Die Betreiber können so für jeden Punkt auf der Piste und ab hängig von der Beschneiungsstrategie die Höhe der Schneedecke in den kommen den zwei Wochen abrufen. Dabei infor miert die Software auch über den mit der jeweiligen Strategie verbundenen Energieund Wasserverbrauch. Die Simulationen lassen sich auch für frühere Zeiten gene rieren, um damit beispielsweise Strategien aus der letzten Saison zu überprüfen.

Werden in Tirol die Schneekano nen eingeschaltet, schnellt der Stromverbrauch in die Höhe. Bis zu 30 Kilowatt benötigt der Betrieb einer Schneekanone. In großen Skigebieten ste hen mitunter über 1.000 Maschinen zur Schneeerzeugung. Dafür werden enorme Mengen an Energie und Wasser benötigt. Michael Warscher und Ulrich Strasser vom Institut für Geographie haben ge meinsam mit ihrem ehemaligen Kollegen Florian Hanzer das Start-up lumiosys gegründet, das den Skigebieten beim Energiesparen helfen will. Mit der von ihnen entwickelten Software „Schneepro phet“ (www.schneeprophet.at) können die Kunden über ein Webinterface Daten zur Schneedecke abrufen. Basierend auf den aktuellen Wetterprognosen, Schnee höhen- und Wetterstationsmessungen

KLIMABERICHT FÜR ÖSTERREICH

Im vergangenen Winter wurde die Software in zwei Skigebieten in Vorarl berg und Osttirol im Pilotbetrieb einge setzt. In diesem Winter geht das Unter nehmen nun auf den Markt und mit den ersten Kunden in die neue Saison. Viele Skigebiete sind aufgrund der hohen Energiekosten und dem Bestreben nach einem nachhaltigen Betrieb bereits stark für das Thema sensibilisiert. Die Unter nehmensgründer schätzen das Einspa rungspotenzial der Software konservativ auf zehn Prozent, in manchen Fällen kön ne es aber auch noch deutlich mehr sein. Jedenfalls leistet die Software einen Bei trag für einen nachhaltigen Skitourismus und sorgt für perfekte Pistenbedingun gen bei gleichzeitig minimalem Mittel einsatz. Die Universität Innsbruck hält über die Uni-Holding eine Beteiligung an dem Start-up.

QUANTENCOMPUTER IN DER CLOUD

Der EIC Accelerator ist ein Förderins trument des Europäischen Innova tionsrates (EIC) im EU-Rahmenprogramm Horizon Europe und unterstützt einzelne Unternehmen bei der Entwicklung und Skalierung von hochrisikoreichen Innova tionen. Das Innsbrucker Quanten-Spin-off Alpine Quantum Technologies GmbH (AQT) erhielt im Oktober diese Förderung zugesprochen. Das Besondere an den Finanzierungen im EIC Accelerator ist, dass sie neben einem Förderanteil zusätzlich auch einen Eigenkapital-Anteil umfassen können, eine sogenannte BlendedFinance-Finanzierung: Der Eigenkapitalein stieg erfolgt dabei durch den EIC Fund, der eigens für diesen Zweck etabliert wurde und ähnlich wie ein Venture Capital Fonds funktioniert, aber genau dort unterstützen soll, wo die private Finanzierungsinitiative noch nicht ausreicht.

Mehr als 120 Wissenschaftler*innen erarbeiten in den kommenden drei Jahren einen neuen, umfassenden Klimabericht für Österreich. „Nur wenige Nationalstaaten erstel len einen eigenen Klimabericht. Österreich nimmt mit dieser nationalen Analyse eine inter nationale Vorreiterrolle ein. Das übergeordnete Ziel des Berichts ist, eine österreichspezifische Synthese der wissenschaftlichen Erkenntnisse mit nationalen und internationalen Daten zu erstellen. Es wird in diesem Kontext aber auch darum gehen, Wissenslücken zu definieren. Daraus erwarte ich mir über diesen Bericht hinaus einen generellen Booster für die Klima forschung in Österreich, denn diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist bisher einzigartig“, sagt Projektleiterin Margreth Keiler vom Institut für Geographie der Universität Innsbruck. Die Autor*innen streben eine wissenschaftliche Erhebung und Bewertung der bisherigen, aktuel len und potenziellen künftigen Auswirkungen des Klimawandels in Österreich an.

Ziel ist es, dass die allerbesten techno logiebasierten Ideen sehr rasch wachsen können – und zwar in Europa. Jedes einzelne Projekt erhält relativ hohe Förderbzw. Finanzierungsvolumina, damit die Unternehmen die Produktentwicklung abschließen und den internationalen Markteinstieg schaffen können. AQT will mit der Investition den ersten europäi schen Cloud-Zugang für seine Quanten computer realisieren. Mit seinen Systemen hat AQT bereits relevante Anwendungen im Bereich der Chemie, Finanzen (Portfo lio-Optimierung, Risiko-Management) und Cybersecurity umgesetzt.

zukunft forschung 02/22 39 WISSENSTRANSFER Fotos: lumiosys (1), AQT (1)
AQT, das Quanten-Spin-off der Univer sität Innsbruck, erhält eine europäische Innovationsförderung.

STATT VORLESUNG INS KINO

Im Oktober 2022 zeigte das 21. INFF – Innsbruck Nature Film Festival fantastische neue Filme zu den Themen Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit.

Die Studierenden wurden aktiv in das Gespräch eingebunden und so konnten Standpunkte aus verschiedensten Diszi plinen ausgetauscht werden.

Neues Format

„Bei Experimenten weiß man nie so richtig, wie sie ausgehen“, sagt Günter Scheide. „Neue Formate und Ideen aus zuprobieren ist aber das, was die Zu sammenarbeit zwischen Uni und Festival ausmacht und dafür sorgt, dass wir uns immer weiterentwickeln. Deswegen wird es den Students Day im nächsten Jahr wohl wieder geben und wir fangen jetzt schon an, uns Gedanken zu machen, wie wir ihn verbessern können.“

Filmkuratorin Katja Trippel und der Leiter des Festivals, Johannes Kostenzer, besuchten die Veranstaltung, um den Students Day gemeinsam zu eröffnen.

Über 40 Filme wurden heuer auf dem Innsbruck Nature Film Fes tival gezeigt. Die Jury prämierte Beiträge über eine Freundschaft zwischen Mensch und Wal, die Machenschaften der Holzmafia, die ungewisse Suche nach dem Schneeleoparden und noch einige mehr.

Wieder einmal war die Universität Inns bruck über ihre Transferstelle aktiv am Festival beteiligt und organisierte unter anderem sieben Science Glimpses, bei de nen Wissenschaftler*innen ihre Expertise mit dem Publikum teilen konnten. Weiter hin waren Angehörige der Universität in der Jury aktiv, waren – wieder zusammen mit dem Land Tirol – am „Boden Preis“ beteiligt und stellten über das Vizerektorat für Forschung den neuen Preis „Agricul tural Biodiversity“ zur Verfügung, der ei gens zum 100-jährigen Bestehen der Gen datenbank Tirol ausgeschrieben wurde.

Mit dabei war auch ein neues Format, dass die Studierenden der Uni ins Kino brachte: der „uibk-studentsday @ INFF“

wurde von Günter Scheide, Mitarbeiter der Transferstelle und Koordinator der Zusammenarbeit zwischen Universität und Filmfestival, konzipiert und ins Le ben gerufen. An einem Montagmorgen besuchten 100 Studierende der Universi tät Innsbruck das Metropolkino für eine eigens für sie organisierte Vorführung. Ge zeigt wurde der Film „Paradiese aus Men schenhand – Die Rückkehr der Moore.“

„Ich habe diesen Film ausgewählt, weil ich der Ansicht bin, dass dieser für viele Disziplinen Unterschiedliches enthält, aber insbesondere sehr positive Botschaf ten hat und zeigt, dass Moore ein tolles Habitat sind und Menschen viel Positives bewirken können“, sagt Günter Scheide.

Nach dem Motto „Statt Vorlesung ins Kino!“ gab es im Anschluss an die Filmvorführung eine Diskussionsrunde, an der sich sechs Professor*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen sowie ein Vertreter des Landes, verantwortlich für den Schutz der Moore, beteiligten.

„Ich habe mich sehr gefreut, dass der neue uibk-studentsday @ INFF geklappt hat!“, sagt Katja Trippel. „Als Biologe und Geografin haben Johannes und ich ganz begeistert den vollen morgendlichen Ki nosaal begrüßt und die Studierenden be stärkt, dass sie superinteressante und ebenso wichtige Fächer studieren. Ich finde es großartig, dass sie den Lernstoff dank der INFF-Filme auf so coole Art und Weise präsentiert bekommen. Und wer weiß, vielleicht weckt es ja bei der einen oder dem anderen die Lust, selbst in die Filmwelt einzusteigen…“

FÜR DAS INFF 2023 werden Volun teers und Mitglieder für die nächste Nominierungsjury gesucht. Interes sierte können sich unter hello@inff.eu melden.

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Fotos: Mario Kain
RUND 3.000 Besucherinnen und Besucher sahen sich die 41 Filme aus 25 Ländern an.

HAUS DER PHYSIK

Am Campus Technik der Universität Innsbruck entsteht ein großes und modernes Zentrum der Naturwissenschaften.

Die sehr erfolgreichen und stetig wachsenden Physikinstitute der Universität Innsbruck sind über verschiedene Standorte verteilt und brau chen bereits jetzt mehr als den zur Verfü gung stehenden Platz. Bald werden sie in einem eigenen Haus der Physik zusam menkommen. Es wird am Campus Tech nik der Universität Innsbruck errichtet, soll mit Wintersemester 2028 in Betrieb gehen und wird den gestiegenen Ansprü chen an Universitätsinfrastruktur, insbe sondere in den naturwissenschaftlichen Fächern, in hervorragender Weise gerecht.

Das Haus der Physik ist für rund 850 Studierende und 500 Mitarbeiter*innen der Uni Innsbruck konzipiert. Die Bun desimmobiliengesellschaft investiert

180,8 Millionen Euro in den Universitäts neubau, an denen sich das Land Tirol mit drei Millionen Euro beteiligt. Die Investi tion wird über Mieten vom Wissenschafts ministerium refinanziert. Nach Abschluss des EU-weiten Wettbewerbs, bei dem 40 Architekturbüros eingereicht hatten, prä sentierten Mitte Oktober Wissenschafts ministerium, Bundesimmobiliengesell schaft, Universität Innsbruck, Land Tirol und Stadt Innsbruck das Siegerprojekt.

Auf 25.000 m² sind ein lichtdurchflute ter Eingangsbereich, ein zweistöckiger Hörsaal für 300 Personen, Seminar- und Praktikumsräume, Büros und Laborflä chen vorgesehen. Die Labore nehmen die größte Fläche im neuen Haus der Physik ein.

NEUER FORSCHUNGSBEREICH: DATA SCIENCE

I m Zuge der weltweit fortschreitenden Digitalisierung und Vernetzung fallen stetig wach sende Datenmengen an. Für die Verarbeitung und Nutzung dieser Daten werden wissen schaftlich ausgebildete Fachkräfte sowie neue Methoden und Ansätze benötigt, um wissen schaftlichen Erkenntnisgewinn und auch die Steigerung der Wertschöpfung zu ermöglichen. Die Universität Innsbruck hat nun eine Stiftungsprofessur für Data Science eingerichtet, die Know-how auch für die regionale Wirtschaft bereitstellt. Finanziert wird sie von Innio Jenba cher GmbH & Co OG, der Industriellenvereinigung Tirol, der TINETZ-Tiroler Netze GmbH, der Innsbrucker Kommunalbetriebe Aktiengesellschaft und der D. Swarovski KG. Besetzt wurde die Stelle mit Adam Jatowt, einem Experten im Bereich Natural Language Processing und Information Retrieval. Vor seinem Ruf nach Innsbruck war Jatowt an der Kyoto University und am National Institute of Advanced Industrial Science and Technology in Japan tätig.

Wirbel sind in der Natur allgegenwär tig: Durch Rühren lassen sich Was serstrudel erzeugen. Wird die Atmosphäre aufgewühlt, können gewaltige Tornados entstehen. So verhält es sich auch in der Quantenwelt, nur dass dort viele identische Wirbel gleichzeitig entstehen – der Wirbel ist quantisiert. In vielen Quantengasen konnten solche quantisierten Wirbel bereits nachgewiesen werden. „Das ist deshalb interessant, weil solche Wirbel ein klarer Hinweis für das reibungsfreie Strömen eines Quantengases – die sogenannte Supra fluidität – sind“, sagt Francesca Ferlaino vom Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck.

Ferlaino forscht mit ihrem Team an Quantengasen aus stark magnetischen Ele menten. Für solche dipolaren Quantengase, in denen die Atome stark wechselwirken, konnten die Quanten-Wirbel bisher noch nicht nachgewiesen werden. Die Wissen schaftler*innen haben nun eine neue Methode entwickelt: „Wir nutzen die Rich tungsabhängigkeit des Quantengases, des sen Atome sich wie viele kleine Magnete verhalten, um das Gas umzurühren“, erklärt Manfred Mark. Dazu legen die Forscher*in nen ein Magnetfeld so an ihr Quantengas an, dass dieses zunächst runde, pfann kuchenartig geformte Gas aufgrund von Magnetostriktion elliptisch verformt wird. Indem sie das Magnetfeld drehen, können die Physiker*innen das Quantengas rotieren lassen. Bei ausreichend hoher Rotations geschwindigkeit bilden sich entlang des Magnetfelds auffällige Streifen mit Wirbeln. Diese sind ein besonderes Charakteristikum dipolarer Quantengase und wurden nun an der Universität Innsbruck zum ersten Mal beobachtet.

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ULTRAKALTE MINI-TORNADOS
Fotos: Filippo Bolognese Images (1), Ella Maru Studio (1) KURZMELDUNGEN
DICHTEVERTEILUNG eines rotierenden dipolaren Bose-Einstein-Kondensats mit quantisierten Wirbeln.

TIERWOHL ZWISCHEN STALL UND FORSCHUNG

Nadja Neuner-Schatz über das Verhältnis von Landwirt*innen zu ihren Tieren, den Begriff Tierwohl, den öffentlichen Tierwohl-Diskurs und über „Forschen zwischen Nähe und Distanz“.

ZUKUNFT: Sie erforschen den Begriff „Tier wohl“ und das Mensch-Tier-Verhältnis in der Tiroler Landwirtschaft. Können Sie diese kurz beschreiben?

NADJA NEUNER-SCHATZ: Die Landwirt schaft in Tirol ist recht klein strukturiert. Die größten Höfe haben vielleicht 80 bis 100 Rinder, die meisten sind viel kleiner –Schweinemast gibt es praktisch nicht. Das geht gerade im Tiroler Oberland auf das ehemalige Erbsystem zurück, bei dem die

Höfe aufgeteilt wurden. In diesen kleinen Strukturen ist die Konkurrenz riesengroß, auch um Flächen und Einfluss. Das merkt man unter anderem am Nischendasein der Bio-Landwirt*innen, deren Anliegen von der Standesvertretung oft nicht mit getragen werden.

ZUKUNFT: Und persönlich? Besteht da ein Bezug zum Thema?

NEUNER-SCHATZ: In der Europäischen Eth nologie ist es nicht unüblich, eine persön

liche Nähe zu seinem Thema zu haben. Das hat auch damit zu tun, dass wir All tagskultur erforschen. Ich bin auf einem landwirtschaftlichen Betrieb im Tiroler Oberland aufgewachsen, habe während des Studiums Abstand zur Landwirtschaft gewonnen und lebe jetzt wieder auf einem kleinen Bauernhof. Dieses Forschen „zwi schen Nähe und Distanz“ wird in meinem Fach immer wieder thematisiert, es kenn zeichnet auch unsere qualitativen Metho

zukunft forschung 02/22 42 Fotos: Coulorbox.de (1), Andreas Friedle (2) ETHNOLOGIE

den. In meinem Forschungsfeld erachte ich die Nähe als hilfreich. Es geht ja im mer auch darum, wie man als Forscherin vom Feld wahrgenommen wird. Im länd lichen Umfeld wird der Wissenschaft oft mit Skepsis begegnet, da ist es gut, nicht als allzu fremd zu gelten. Ich versuche, tragfähige Forschungsbeziehungen auf zubauen, was Vertrauen auf beiden Sei ten voraussetzt. Vorwissen und Sprach kenntnisse mitzubringen ist da sicher von Vorteil. In der landwirtschaftlichen Praxis gibt es viele dialektale Ausdrücke für Tä tigkeiten oder Dinge, für die ich gar keine anderen Wörter oder nur umständliche Umschreibungen kenne.

ZUKUNFT: Wie genau sieht das For schungsprojekt also aus?

NEUNER-SCHATZ: Ein erster Schritt war es, die Tierwohl-Debatte nachzuverfolgen. Wer ist daran beteiligt, welche Positionen nehmen die maßgeblichen Akteur*innen ein? Ich wollte sehen, ob die Alltagswahr nehmung, dass plötzlich alle über Tier wohl reden, auch belegbar ist. Dafür habe ich über 400 Meldungen aus dem OnlineArchiv der österreichischen Presseagentur APA gesichtet. Die Auswertung zeigt, dass der Tierwohl-Diskurs ab den 2010er-Jahren öffentlich wird. Ein spannender Befund: Die ersten, die über Tierwohl sprechen, kommen nicht aus der Tierschutzbewe gung. Es ist vor allen anderen die Agrar politik, die Tierwohl in die öffentliche De batte um die Nutztierhaltung einbringt. Was kommt also vom öffentlichen Diskurs über Tierwohl in der Landwirtschaft an? Um das herauszufinden, gehe ich klassisch ethnografisch vor, besuche Rinderbetriebe in Tirol und führe Gespräche mit den Bau ern und Bäuerinnen.

ZUKUNFT: Was bedeutet Tierwohl denn überhaupt?

NEUNER-SCHATZ: Es gibt seit etwa 70 Jahren agrarwissenschaftliche und ve terinärmedizinische Definitionen von Tierwohl, im öffentlichen Diskurs und in der Politik spielen diese aber kaum eine Rolle. In diese Lücke springen die Label und Gütesiegel des Lebensmitteleinzel handels, sie versuchen Standards oder Kriterien zu definieren und ökonomisch zu verwerten. Die Bauernvertreter*innen verstehen diese Standards – so das Nar rativ des Diskurses – als überzogene oder zu wenig abgegoltene Forderungen, die an ihrer Praxis vorbeigehen. Auffällig ist, dass sich Konsument*innen oder deren

Vertretung im öffentlichen Diskurs kaum zu Wort melden. Für den deutschen Sprachgebrauch ist Tierwohl ein neuer Begriff, der sich anfänglich beispielsweise in EU-Dokumenten findet, wo das engli sche Animal Welfare zuvor als Tierschutz übersetzt wurde, dann als Tierwohlfahrt, um schließlich auf Tierwohl verkürzt zu werden. Animal Welfare wiederum wurde Mitte der 1960er-Jahre als wissenschaftli ches Konzept im sogenannten „Brambell Report“ erstmals definiert und vom briti schen Landwirtschaftsministerium in die Debatte um die intensive Nutztierhaltung eingebracht. Das geschah als Reaktion auf die öffentliche Empörung, die Ruth Harri sons Buch „Animal Machines“ ausgelöst hatte. Was für die Landwirt*innen da

mals wohl ziemlich überraschend war, in ihrem Verständnis hatten sie den Hunger nach dem Zweiten Weltkrieg besiegt. Die Haltungsbedingungen der Tiere waren ob der enormen Produktivitätssteigerung in den Nachkriegsjahren kaum diskutiert worden.

ZUKUNFT: Wie bewerten Landwirt*innen in Tirol denn das Wohlergehen ihrer Tie re?

NEUNER-SCHATZ: Die Frage stelle ich im mer und die Antwort ist einstimmig: „Das sehe ich doch. Ich erkenne doch auf den ersten Blick, ob es meiner Edel weiß gut geht oder nicht.“ Das ist auf das Selbstverständnis der Landwirt*innen zurückzuführen: Das Wohlergehen der Tiere liegt für sie in der Qualität ihrer Be ziehung, also darin, ein enges Verhältnis zu den Tieren zu haben und täglichen Umgang zu pflegen.

ZUKUNFT: Überschneidet sich dieses Selbstverständnis mit der wissenschaft lichen Definition von Tierwohl?

NEUNER-SCHATZ: Das Stichwort dazu lie fert der Nutztier-Ethnologe Christoph Winckler: Er betrachtet Tierwohl als ein Zusammenspiel vieler Faktoren. Da spielt die Mensch-Tier-Beziehung zwar eine maßgebliche Rolle, aber es sind auch viele Umgebungsfaktoren wie Weide, Stall und Nahrung im Spiel. Dazu gibt es viel span nende Forschung, zum Beispiel wie Rin der auf menschliche Nähe reagieren, oder ob Kühe sich erschrecken, wenn man zu laut spricht. Und gleichzeitig ist das der emotionale Knackpunkt. Vorschriften, wie groß ein Standplatz sein muss, kann man festlegen, nachlesen und umsetzen. Aber eine Beziehung, die man pflegt, lässt sich nur schwer mit Zahlen bewerten. Wenn das Wohlergehen der Tiere infrage gestellt wird, wird aber eben auch diese Beziehung kritisiert, und dann fühlen sich viele Landwirt*innen persönlich an gegriffen.

NADJA NEUNER-SCHATZ studierte Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck, untersuchte unter anderem den Wissensbestand zu Trachten im Ötz tal und erforscht nun im Rahmen ihrer Dissertation die Bedeutung des Begriffes „Tierwohl“ für das Mensch-Tier-Verhältnis in der kleinbäuerlichen Lebensmittel produktion in Tirol, ein Projekt, bei dem Europäische Ethnologie, Human Animal Studies und Agrarsoziologe ineinander greifen.

ZUKUNFT: Wie wird es mit dem Projekt nun weitergehen?

NEUNER-SCHATZ: Nach der Förderung durch den TWF wird mein Projekt mitt lerweile auch durch ein DOC-Stipendium der ÖAW unterstützt und derzeit arbeite ich als Universitätsassistentin im Fach Europäische Ethnologie weiter daran. Es steht die zweite Feldforschungsphase an, es wird also noch eine Reihe von Inter views geben. Dann soll ein schönes Buch daraus werden. fo

zukunft forschung 02/22 43
ETHNOLOGIE

LANDESPREIS FÜR WISSENSCHAFT

Der Wissenschaftspreis des Landes Tirol ging in diesem Jahr an den Musikwissenschaftler Federico Celestini. Milijana Pavlović wurde mit dem Förderpreis ausgezeichnet.

Der mit 14.000 Euro dotierte Tiroler Landespreis für Wissenschaft 2022 ging an Federico Celestini, Leiter des Instituts für Musikwissenschaft. „Mit seiner musikwissenschaftlichen Arbeit trägt Fede rico Celestini maßgeblich zur überregiona len Strahlkraft der Forschung am Institut für Musikwissenschaft bei und prägt den inter nationalen musikwissenschaftlichen Diskurs“, gratulierte Kulturlandesrätin Beate Palfrader dem Preisträger und zitierte weiters aus dem Juryprotokoll: „Hervorzuheben ist insbeson dere die Gründung der Forschungsstelle Gustav Mahler in Innsbruck und Toblach, mit der sich Innsbruck als Zentrum der internationalen Mahler-Forschung positioniert hat. Die hohe internationale Reputation des Ausgezeichne ten spiegelt sich auch in zahlreichen Preisen und Funktionen wider.“ Die Vergabe des Prei ses an Celestini wird auch als wichtiges Sig

nal zur Anerkennung der wissenschaftlichen Leistungen in einem so genannten „kleinen Fach“ sowie zur Stärkung der wissenschaft lichen Zusammenarbeit in der Euregio ange sehen.

Federico Celestini studierte Violine sowie Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Ästhetik in Rom. Seit 2011 lehrt und forscht er als Universitätsprofessor am Institut für Mu sikwissenschaft der Universität Innsbruck.

Der mit 4.000 Euro dotierte Förderpreis ging an Milijana Pavlović, die ebenfalls am Institut für Musikwissenschaft tätig ist. Sie setzt sich in ihrer Forschung mit dem Zusammenhang zwischen Musik und Gewalt, dem Holocaust und Antisemitismus auseinander. Weitere Schwerpunkte sind Geschlechterforschung sowie Musik und Literatur. Seit 2021 ist sie stellvertretende Leiterin der Forschungsstelle Gustav Mahler

FEDERICO CELESTINI, Beate Palfrader und Milijana Pavlović (v. l.) bei der Übergabe der Auszeichnungen im Innsbru cker Landhaus. Der Landes preis für Wissenschaft wird seit 1984 jährlich zur Anerkennung von hervorragenden Leis tungen auf dem Gebiet der Wissenschaft von der Tiroler Landesregierung auf Vorschlag einer Jury verliehen.

zukunft forschung 02/22 45 PREISE & AUSZEICHNUNGEN Foto: Land Tirol / Krepper

BIRTH-AWARD

Christian Huck vom Institut für Analytische Chemie und Radio chemie wurde von der US-amerikanischen wissenschaftlichen Gesellschaft für Nah-Infrarot-Spektro skopie CNIRS mit dem Gerald-Birth-Award ausgezeichnet. Huck arbeitet seit Jahren an der Optimierung und der Kalibrierung analy tischer Messverfahren wie der Nah-InfrarotSpektroskopie und der Raman-Spektrosko pie. Zum Einsatz kommt diese Expertise in Projekten zur Qualitätssicherung im Lebens mittelbereich, im Bereich pharmazeutischer Pflanzenwirkstoffe, in der Landwirtschaft und in der Biomedizin.

HERVORRAGENDE LEHRE

Ende September wur de vom Bundesminis terium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Wien der „Ars Docendi“ – der österreichische Staats preis für exzellente Lehre – vergeben. Marina Hilber, Assistenz professorin am Institut für Geschichtswissen schaften und Europäische Ethnologie, erhielt für ihre Lehrveranstaltung „Forschungslabor: Ausstellungsprojekt – Medizingeschichte im Montafon“ einen Anerkennungspreis. Im Rahmen der Lehrveranstaltung nahmen die Studierenden nicht nur die Rolle der Ausstel lungsmacher*innen ein und erarbeiteten re levante medizin-historische Inhalte, sondern konnten auch gestalterisch bei der museo logischen Konzeption aktiv werden.

PROMOTIONSPREIS

Im September hat die Deutsche Bunsen-Ge sellschaft Christina Maria Tonauer vom Institut für Physi kalische Chemie in Anerkennung ihrer exzellenten Grundla genarbeit zur „Spektroskopie von Eis“ als ef fizientem Druck- und Temperaturmarker für Exoplaneten-Benchmarking-Experimente mit dem Agnes-Pockels-Promotionspreis 2022 ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand im Rahmen der Bunsen-Tagung an der JustusLiebig-Universität in Gießen statt.

STARTING GRANT

Martin Ringbauer erhielt für seine experimentelle Forschung zu neuartigen Quantencomputern einen ERC Starting Grant.

Solange wir zurückdenken kön nen, arbeiteten Computer mit null und eins. Diese binäre Art der In formationsverarbeitung war so erfolg reich, dass Computer aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken sind und nun auch eine neue Generation von Computern, basierend auf der Quanten mechanik, nach diesem binären Vorbild entwickelt wird. „Die Bausteine heutiger Quantencomputer können allerdings deutlich mehr als nur Null und Eins,“ erklärt Martin Ringbauer. Die Innsbru cker Quantencomputer arbeiten etwa mit einzelnen gefangenen Ionen, die jeweils acht mögliche Zustände haben: „Zwingt man dem Quantencomputer die gewohnte binäre Rechenweise auf, so verschenkt man wertvolle Rechen leistung.“

Für diese experimentelle Forschung zu neuartigen Quantencomputern er hielt Ringbauer im Sommer einen Start ing Grant des Europäischen Forschungs rats (ERC). Die mit rund 1,5 Millionen Euro dotierte Förderung ist die höchste Auszeichnung für erfolgreiche Nach wuchswissenschaftler*innen in Europa.

In seinem ERC-Projekt will Ringbauer einen Quantencomputer auf Basis soge nannter Quantum Digits, kurz Qudits, konstruieren, um das volle Potenzial der gespeicherten Ionen ausnutzen zu kön nen. „Mit Qudits zu rechnen, ist nicht nur natürlicher für die Hardware, son dern auch ideal für viele der Anwendun gen, für die wir Quantencomputer ent wickeln,“ sagt der Physiker. Mit dem neuen Quantencomputer möchte Ring bauer beispielsweise fundamentale Ef fekte in der Teilchenphysik untersuchen, um ein besseres Verständnis für unser Universum zu entwickeln.

MARTIN RINGBAUER (*1990 in Wien) studierte an der Universität Wien Physik und Mathematik. 2016 promovierte er in der experimentellen Quantenphy sik in der Arbeitsgruppe von Andrew White an der University of Queensland in Australien. Nach einem PostDoc an der Heriot-Watt University in Schottland kam er 2018 als Erwin-Schrödinger-Fellow in die Arbeitsgruppe von Rainer Blatt an der Universität Innsbruck.

zukunft forschung 02/22 46 Fotos: Uni
/
(1), Blickfang (1) PREISE & AUSZEICHNUNGEN
Innsbruck (1), Theresa Nairz (1), BMBWF
Martin Lusser
MARTIN RINGBAUER will mit Qudits das volle Potenzial gespeicherter Ionen ausnutzen.

EHRENKREUZ FÜR EVA LAVRIC

Die Romanistin Eva Lavric wurde mit dem österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse ausgezeichnet.

STIPENDIUM

Mit einem L’ORÉAL-UNESCO Österreich Stipen dium FOR WOMEN IN SCIENCE wurde Ende November Laris sa Traxler vom Institut für Molekularbio logie ausgezeichnet. Sie forscht seit einem Jahr als Postdoc in der Arbeitsgruppe von Jerome Mertens und untersucht, wie der zelluläre Zuckerstoffwechsel neurodegene rative Krankheiten fördert. Vom Bundesministerium für Bildung, Wis senschaft und Forschung erhielt Larissa Traxler in diesem Jahr außerdem einen Award of Excellence, den Staatspreis für die besten Dissertationen in Österreich.

MEILENSTEIN

Eva Lavric ist eine Wissenschaftle rin und Universitätslehrerin von großem internationalen Renom mee und mit einer großen thematischen Bandbreite“, betonte Rektor Tilmann Märk bei der Verleihung der Auszeich nung: „Zusammenfassend lässt sich fest stellen, dass Eva Lavrics Forschungsleis tung, Forschungsbreite und Forschungs tiefe beeindruckend ist und dass sie Au ßergewöhnliches für die Verbindung von Theorie und Praxis geleistet hat.“ In Ver tretung des Bundespräsidenten konnte Märk ihr die höchste Auszeichnung für

EVA LAVRIC (*1956 in Wien) studierte an der Universität Wien Lehramt für Ger manistik und Romanistik, danach unter richtete sie vier Jahre an verschiedenen Schulen. 1983 begann ihre Universitäts laufbahn als Assistentin am Institut für Romanische Sprachen der Wirtschafts universität Wien, wo sie sich 1998 habili tierte. Ab 2003 war sie als Professorin für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Innsbruck tätig.

Wissenschaftler*innen in Österreich ver leihen, das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse.

Der Leiter des Instituts für Romanis tik, Paul Danler, bedankte sich bei Lavric für ihren unermüdlichen Einsatz für das Institut, ihre innovativen Ideen nicht nur in Forschung und Lehre, sondern auch im Bereich der Institutsleitung, die sie mehrere Jahre innehatte und für die Öf fentlichkeitsarbeit, die Lavric mit ausge sprochenem Elan und Schwung über viele Jahre prägte. Der Studiendekan der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät, Gerhard Pisek, würdigte Lav rics außerordentliches Engagement und betonte die schier unerschöpfliche Ener gie, mit der sie innovative Lehrveranstal tungen leitete und an Projekten mitwirk te. Pisek unterstrich insbesondere die Vielfalt an ansprechenden Themen, von der Linguistik des Fußballs über Unter nehmenskommunikation und Linguistic Landscaping bis hin zur sprachlichen Gestaltung von Weinverkostungen, mit denen Lavric Studierende immer wieder motivieren und begeistern konnte.

Wie kann Quantenin formation über lange Strecken transportiert werden? Matthias Bock aus der For schungsgruppe um Rainer Blatt hat in seiner Doktorarbeit an der Universität des Saarlandes nicht weniger als einen Meilenstein in der Quan tenforschung gesetzt: Er ermöglichte es, die Quanteneigenschaften eines Atoms und eines Photons über 20 Kilometer herkömm liche Glasfaser hinweg zu verschränken: ein neuer Rekord – bislang war dies weltweit nur über 900 Meter gelungen. Dafür wurde er mit dem Eduard-Martin-Preis ausgezeich net.

EISKALTE EXPERIMENTE

Bei der Arbeit mit He lium-Nanotröpfchen sind Wissenschaft ler*innen des Instituts für Ionenphysik und Angewandte Physik auf ein überraschen des Phänomen ge stoßen: Treffen die ultrakalten Tröpfchen auf eine harte Oberfläche, verhalten sie sich wie Wassertropfen. Ionen, mit denen sie zuvor dotiert wurden, bleiben so beim Aufprall geschützt und werden nicht neu tralisiert. Der Erstautor dieser Arbeit, Paul Martini, wurde dafür von der Österreichi schen Physikalischen Gesellschaft mit dem Fritz-Kohlrausch-Preis ausgezeichnet.

zukunft forschung 02/22 47 PREISE & AUSZEICHNUNGEN
Fotos: Uni Innsbruck
(1), IQOQI (1), Privat (2)
ENDE OKTOBER überreichte Rektor Tilmann Märk die Auszeichnung an Eva Lavric.

FELSENFESTE ÜBERZEUGUNGEN

Der amerikanische Philosoph Scott Hill untersucht am Institut für Christliche Philosophie verschiedene Formen von Meinungsresilienz.

Und lebt hier in Innsbruck seinen Traum.

Scott Hill ist im Juli mit seiner Fa milie nach Innsbruck gekommen, um für zwei Jahre im Rahmen des Euregio-Projekts Resilient Beliefs: Reli gion and Beyond als Postdoktorand zu forschen. Sowohl am Institut für Christ liche Philosophie als auch in seiner dörf lichen Wohnumgebung in der Nähe von Innsbruck fühlt er sich schon sehr wohl. „Das ist wahrscheinlich die beste Zeit meines Lebens“, meint er dankbar. „Ich werde wohl nie wieder einen Job haben, der mir so viel Zeit für die Forschung lässt, wie ich aktuell habe.“

Die Gelegenheit, all seine Kräfte in die Forschung und ins Schreiben investieren zu können, war einer der Gründe, war um sich Scott Hill dafür entschieden hat, seine Lehraufträge in den USA, unter anderem an der University of Massachu setts Amherst und der Auburn Univer sity, auszusetzen und an die Universität Innsbruck zu kommen. Aber auch die spannenden und inspirierenden Ge spräche mit Katherine Dormandy und Winfried Löffler, die das Euregio-Pro jekt leiten, sowie die guten Erfahrungen von anderen Postdocs aus seinem Um feld mit dem Innsbrucker Institut für Christliche Philosophie haben ihn dazu bewogen, seine Zelte in den Vereinigten Staaten abzubrechen. Außerdem glaubt Scott Hill zutiefst an das Projekt, in das er mehrere seiner Forschungsinteressen einfließen lassen kann.

Aliens & Verschwörungstheorien

Es sind vor allem verschiedene erkennt nistheoretische und ethische Frage stellungen, die Hill in Verbindung mit resilienten Meinungen beschäftigen. –Resiliente Meinungen sind Meinungen oder Überzeugungen, die Menschen auf keinen Fall aufgeben, sondern im Ge

genteil vehement gegen Einwände und Gegengründe verteidigen. – Ein Thema, an dem Scott Hill in diesem Zusammen hang arbeitet, sind Verschwörungstheo rien: Wie man sozialwissenschaftliche Erkenntnisse dazu vermittelt und wie die Wissenschaft mit Verschwörungs theorien, mit Verschwörungstheoreti kern und ihren Anhängern umgeht und umgehen soll. „Ein anderes Thema, das mich interessiert, sind Aliens“, erzählt der Philosoph. „Wissenschaftler lehnen es ab, Dinge mit Außerirdischem zu er klären. Natürlich haben sie damit recht. Was ich aber wissen möchte, ist zum Beispiel, was passieren müsste, um diese Überzeugung rational zu überwinden“, erläutert er. Scott Hill stellt aber auch die moralische Verantwortung des Men schen gedanklich auf die Probe. „Einige Philosophen sind der Meinung, die Vor stellung, dass wir moralisch verantwort lich sind, sei so tief in uns verwurzelt, dass wir nicht in der Lage sind, diese aufzugeben“, erklärt er einen weiteren Ausgangspunkt seiner philosophischen Überlegungen. „Ich will wissen, ob das stimmt und welche Folgen sich daraus ergeben.“ Aber auch Fragen wie „Kann ich als Individuum durch mein Ver halten, zum Beispiel durch vegane Er nährung, einen Unterschied machen? Ist man schuldig, wenn man durch sein Kaufverhalten Massentierhaltung unterstützt? Kann man Schuldgefühlen trauen?“ zählen zu den Forschungs interessen von Scott Hill. Nicht zuletzt denkt er über die Frage nach, wie viel freier Wille bleibt, wenn man an Got tes schöpferisches Wirken glaubt. „Alle diese Fragen fallen in den Themenkreis resilienter Überzeugungen, und ich bin sehr dankbar, daran arbeiten zu kön nen“, betont er.

„Die Zeit hier Innsbruck ist wahrscheinlich die beste meines Lebens. Ich werde wohl nie wieder einen Job haben, der mir so viel Zeit für die Forschung lässt, wie ich aktuell habe.“

Philosophische Gespräche führt Scott Hill im Übrigen nicht nur gerne in uni versitären Räumen, sondern auch beim Wandern. „Manchmal organisieren Kol leginnen und Kollegen Almwanderun gen. Es gibt nichts Besseres, als zu wan dern und dabei zu philosophieren und dann gutes Essen und ein Bier oben auf der Alm zu genießen“, schwärmt er und kann schon jetzt auf viele schöne Erinne rungen zurückblicken. ef

zukunft forschung 02/22 48 Foto: Andreas Friedle ZWISCHENSTOPP INNSBRUCK

GEBURTSHILFE IN ST. GALLEN

Barbara Weber hat sich 2009 als erste Informatikerin an der Uni Innsbruck habilitiert.

Heute ist sie Professorin an einer der führenden Wirtschaftsuniversitäten in Europa.

Im Jahr 2019 hatte eine deutliche Mehrheit des St. Galler Stimmvolks eine IT-Bildungsoffensive des schwei zerischen Kantons gutgeheißen. Darauf hin wurde an der Universität St. Gallen (HSG) ein Informatik-Fachbereich etab liert, an dessen Aufbau die Tirolerin Bar bara Weber maßgeblich beteiligt ist. Sie kam 2019 als Lehrstuhlinhaberin für den Fachbereich Software Engineering aus Dänemark in die Schweiz und ist Grün dungsdekanin der neu etablierten School of Computer Science an der Universität St. Gallen. Seit dem Vorjahr wird hier ein Master in Computer Science angeboten und in diesem Jahr wurden auch die ers ten Bachelorstudierenden begrüßt.

Barbara Weber profitiert in ihrer neu en Funktion von Erfahrungen, die sie als junge Wissenschaftlerin bei der Eta blierung des Informatik-Schwerpunkts an der Universität Innsbruck sammeln konnte. Nach ihrem BWL-Studium be fasste sie sich in ihrer Doktorarbeit schwerpunktmäßig mit einem Thema aus der Wirtschaftsinformatik und wechselte 2004 an das hier kurz zuvor gegründete Institut für Informatik. „Ich konnte mit erleben, wie die Informatik innerhalb von zehn Jahren rapide gewachsen ist und im Jahr 2011 aus zwei Instituten mit 130 An gestellten bestand, zahlreiche interdiszi plinäre Kooperationen mit anderen Fach bereichen der Universität vorweisen und beeindruckende Summen an Drittmitteln lukrieren konnte“, erzählt Weber. „Diese Erfahrungen sind in meiner derzeitigen Rolle aus vielerlei Hinsicht wertvoll. An der School of Computer Science haben wir 2022 mittlerweile 13 Professorinnen und Professoren und an die 80 Mitarbei tende.“

Software für Anwender

Mit Tirol verbindet sie noch ihre Fami lie, aber auch beruflich gibt es nach wie vor Kontakte: „Ich habe weiterhin aktive Forschungszusammenarbeiten mit der Wirtschaftsinformatik, mit einzelnen

Kolleginnen und Kollegen und ehemali gen Mitarbeitenden stehe ich in Kontakt und versuche generell die Entwicklun gen aus der Ferne mitzuverfolgen“, sagt Weber. Wissenschaftlich beschäftigt sich die Informatikerin mit flexiblen prozess orientierten Informationssystemen und der Verständlichkeit für den Endver braucher. Zurzeit arbeitet sie an neuro adaptiven Softwaresystemen, die den emotionalen und kognitiven Zustand von Nutzer*innen berücksichtigen. An hand der gesammelten Daten richten sich die Systeme selbstständig neu aus und integrieren dabei auch das „Internet der Dinge“. Weber untersucht, wie Applika tionen nutzergerechter gestaltet werden können, um den Endverbraucher in per sonalisierter Form in seinen Bedürfnissen zu unterstützen. Die Unterstützung von Benutzern steht auch im Zentrum eines vom Schweizerischen Nationalfonds ge förderten Projekts. Darin möchte Weber ein umfassendes Verständnis dafür erlan gen, wie Analysten Process-Mining in der Praxis durchführen, d. h. den „Prozess des Process-Mining“, um methodische Anleitungen und operative Unterstüt zung zu entwickeln, die Neulingen bei der Analyse wirksam helfen.

BARBARA WEBER (*1977) studierte an der Universität Innsbruck Betriebswirt schaftslehre und promovierte 2003 im Fachbereich Wirtschaftsinformatik. Von 2004 bis 2016 arbeitete sie am Institut für Informatik der Uni Innsbruck und leitete hier im Arbeitsbereich Quality Engineering einen eigenen Forschungs bereich zur flexiblen IT-Unterstützung von Geschäftsprozessen und Arbeitsabläufen. 2009 habilitierte sie sich als erste Frau an der Universität Innsbruck für das Fach Informatik.

In den nächsten Jahren möchte Weber den Aufbau der Informatik an ihrer Uni versität weiter vorantreiben. „Das beinhal tet, St. Gallen als Informatik-Standort in Lehre und Forschung zu etablieren, inter nationale Sichtbarkeit unserer Forschung zu erreichen, gleichzeitig aber auch eine positive Wirkung für die Region zu erzie len, sodass die Informatik an der Universi tät St. Gallen als Erfolgsgeschichte wahr genommen wird“, blickt Weber in die Zu kunft. Nach ihrer Zeit als Dekanin – sie hat gerade ihre zweite Amtsperiode begonnen – plant Weber ab Mitte 2024 ein Sabbatical und freut sich schon jetzt auf mehr Zeit für spannende Forschung. cf

zukunft forschung 02/22 49 Foto: Universität St. Gallen (HSG) SPRUNGBRETT INNSBRUCK

„Das ‚moderne‘ Völkerrecht, gerne mit dem 1648 geschaffenen Westfälischen System in Verbindung gebracht, geht von der souveränen Gleichheit der Staaten aus, gesteuert vom Leitbild der ‚Arena‘, nicht des ‚Turmes‘.“

REGULIEREN JENSEITS DER GRENZE

Der Jurist Andreas Th. Müller über das Völkerrecht als Recht zu Koordinierung von näher oder ferner gelegenen Nachbarn.

Für das Völkerrecht spielen Staatsgren zen eine entscheidende Rolle. Denn während die Grenzen eines Staates den äußeren Rahmen für seine nationale Rechts ordnung bilden, ist das Völkerrecht jenes Recht, das jenseits dieser Grenzen reguliert: im Verhältnis inter nationes , zwischen den Staaten, international.

In der Bedeutung der Grenzen manifestiert sich die Territorialität des heutigen Völker rechts. In seinem Zentrum stehen Staaten als Territorialsubjekte, d. h. als Rechtssubjekte, die dadurch charakterisiert sind, dass sie sich über einen Teil der Erdoberfläche erstrecken. Das war nicht immer so, verstand sich das Völkerrecht doch lange mehr als Recht inter reges, also zwischen Monarchen.

Das „moderne“ Völkerrecht, gerne mit dem 1648 geschaffenen Westfälischen System in Verbindung gebracht, geht von der souve ränen Gleichheit der Staaten aus, gesteuert vom Leitbild der „Arena“, nicht des „Turmes“ (Douglas M. Johnston). Es versteht sich von daher im Kern als Recht zu Koordinierung von näher oder ferner gelegenen Nachbarn.

ANDREAS TH. MÜLLER

(*1977) studierte Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck. Beide Studien schloss er 2003 mit dem Magister ab, zudem 2009 den Master of Laws an der Yale Law School. Der Pro motion 2010 an der Universi tät Innsbruck folgte 2016 die Habilitation. Müller lehrt und forscht seit 2005 in Innsbruck, seit 2018 ist er Universitäts professor am Institut für Euro parecht und Völkerrecht.

Vor allem nach 1945 sind dem Völkerrecht neben diesen horizontalen auch vermehrt vertikale Funktionen zugewachsen, etwa die Ansiedlung des Monopols legaler Gewalt ausübung beim UN-Sicherheitsrat. Wie ge rade der Überfall Russlands auf die Ukraine schmerzlich bewusst macht, steht das Völker recht gegenwärtig in beiderlei Hinsicht auf dem Prüfstand. Dies enthebt es freilich nicht seiner Hauptaufgabe: des permanenten Rin gens um Zähmung und Kontrolle politischer und militärischer Macht durch von der Staa tengemeinschaft gemeinsam angenommene Regeln.

Aber auch jenseits der Kardinalfrage von Krieg und Frieden ist das Völkerrecht als Recht „jenseits der Grenze“ gefordert. Nur einige wenige Herausforderungen seien ge nannt: Während ein Staat über das, was inner halb seiner Grenzen geschieht, abgesehen etwa von universalen Menschenrechtsstandards, frei disponieren kann, gilt es zu regeln, wie die

„Governance“ von Räumen jenseits der Sum me der Staatsgebiete erfolgen soll: Welches Regime gilt für die Weltmeere, namentlich für den für die wirtschaftliche Ausbeutung immer attraktiver werdenden Tiefseeboden? Wer ent scheidet über die Polarregionen, die durch die Eisschmelze immer mehr Begehrlichkeiten auf sich ziehen? Und als völkerrechtliche Fra ge par excellence: Welche Rechtsregeln gelten jenseits der planetaren Grenze, also im Welt raum? Schon seit Jahrzehnten ist ein space law im Aufbau begriffen, das sich gegenwärtig vor allem mit Fragen von Weltraummüll und der Regulierung der immer wichtiger werdenden privaten Weltraumnutzer beschäftigt. Dass sich funktional verwandte Fragen in einem an deren „entgrenzten“ Raum stellen, wird nicht überraschen. Denn auch der „Cyberraum“ generiert fundamentale Herausforderungen. Als Kehrseite von Globalisierung, komple xen Lieferketten, erhöhter Mobilität und in tensiviertem Austausch auf allen Ebenen stellt sich auch immer mehr die Frage, wie sehr die „westfälische“ Grundprämisse des Völkerrechts, dass es nämlich eine Vielzahl grundsätzlich selbstständiger und räumlich einigermaßen klar abgegrenzter Staaten gibt, noch trägt. In verschiedensten Zusammen hängen wird nach der völkerrechtlichen Re levanz von „extraterritorialen“ Phänomenen gefragt: angefangen von militärischen Aus landseinsätzen, traditioneller, aber auch Cy ber-Spionage über Wirtschaftssanktionen, Plattformregulierung im Ausland, Migrati onsströme bis hin zu Treibhausgasemissio nen. Keine Herausforderung markiert die Grenze des Denkens und Handelns in Gren zen so deutlich wie jene des Klimawandels. Denn hier sind alle zugleich Täter und Opfer, freilich in ganz unterschiedlichem Maße und mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, zu Klimaschutz und Klimaanpassung beizutra gen. Hier, soweit sind sich die meisten einig, wird man nur durch intensivierte globale Zu sammenarbeit vorwärts kommen. Hier ist das Völkerrecht, mit all seinen Grenzen, einmal mehr unverzichtbar.

zukunft forschung 02/22 50 Foto: privat ESSAY
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