TRAFFIC News to-go #5

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AUSGABE 05

MAI 2010

FREE PRESS!

JAHRGANG 01

NEWS TO GO

WHAT ARE YOU PLANNING TO DO TODAY TO MAKE THE WORLD A BETTER PLACE OR AT LEAST MAKE IT WORTHWHILE TO HANG IN THERE A BIT LONGER

ZEITGESCHEHEN 04 SPECIAL K: DEUTSCHL AND UND DER KRIEG. EIN WORT KOMMT ZURÜCK WIRTSCHAFT

06 NICOLAS BISSANTZ: PORTRAIT EINES UNTERNEHMERS, DER AUSZOG, UM ES ANDERS ZU MACHEN

DAS WET TER

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SPORT

08 CONCORSO D’ELEGANZ A

DESIGN

10 WENN ES ZWEI GRAD WÄRMER WIRD. FRIEDRICH VON BORRIES ÜBER DIE GESTALTUNG UNSERES ÜBERLEBENS 12 TARNKAPPES: MARTIN MARGIELA WAR NIE DA UND IST JETZT WEG

KUNST

16 JAN UND TINA WENTRUP LÜFTEN DAS POSTGEHEIMNIS

FASHION

20 L’HOMMES 100 TÊTES

MUSIK

26 JEEESUS, PEACHES! INTERVIEW MIT EINER MUSICALGÖTTIN

ARROGANT BASTARD 27 KULTUR

28 ACHT AUSSTELLUNGEN, DIE MAN SEHEN SOLLTE

FIK TION

30 BREM. AUS „ARGO.ANDERSWELT“ VON ALBAN NIKOLAI HERBST

IN FORM FRIEDRICH VON BORRIES, UTOPIE UND DYSTOPIE, MARTIN MARGIELA, PEACHES


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AUSGABE 05

MAI 2010

JAHRGANG 01

THE NATURE OF SPACE REFLECTS WHAT IT WANTS TO BE. (LOUIS KAHN)


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CONTRIBUTORS

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Anita Bresser, 1981 in Rumänien geboren, kam mit dem Fall der Mauer 1989 nach Berlin. Ihre Passion für die Fotografie entdeckte sie früh, nach zahlreichen Assistenzen machte sie sich 2005 selbstständig. In ihren aufwendigen Kompositionen kombiniert sie auf ungewöhnliche Weise Mode-, Beauty- und Produktfotografie. 2010 ist Anita das dritte Mal in Folge als beste Newcomerin beim internationalen Festival der Modefotografie in Cannes nominiert. Für TRAFFIC fotografierte sie die Modestrecke L’hommes 100 têtes. Anne Hansen wurde 1980 in Husum an der Nordsee geboren. Sie besuchte die Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft, studierte nebenbei VWL und Politik in Köln sowie Potsdam. Im Anschluss schrieb sie für Zeit, stern, Tagesspiegel, taz und German Times. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin. Im August erscheint ihr erster Roman im Eichborn Verlag.

Jan Friese wurde 1976 in Mühlheim an der Ruhr geboren. 1997 bis 2004 studierte er Fotografie an der Folkwangschule in Essen. Seit 2000 verschiedene Ausstellungen in Galerien und Auszeichnungen bei den Lead Awards für Magazinfotografie. (Zeitmagazin, SZ-Magazin, brandeins, AD). Außerdem fotografiert Jan Werbung, zum Beispiel für MercedesBenz. Nach Jahren in Hamburg ist er seit 2009 mit seinem Studio in Berlin. Für TRAFFIC News to-go hat er beim Concorso d’Eleganza Bilder gemacht und die Wohnung des Galeristenpaares Jan und Tina Wentrup dokumentiert.

TRAFFIC NEWS TO-GO “Constituting a new read” Anzeigenanfragen bitte an: ad@trafficnewstogo.de For advertisement enquiries please write to: ad@trafficnewstogo.de Abonnement-Anfragen bitte an: abo@trafficnewstogo.de TNTG UG Torstraße 223 D -10115 Berlin http://trafficnewstogo.de

VERLEGER Jacques C. Stephens V.i.S.d.P. Co-VERLEGER Murat Suner CHEFREDAKTEURIN Ophelia Abeler DESIGN Doublestandards ASSISTENTIN DER VERLAGSLEITUNG UND CHEFREDAKTION Franziska Nagy BILDREDAKTION Ivan Cottrell SCHLUSSREDAKTION Carlina Rossée

MITARBEITER DIESER AUSGABE Anita Bresser, Phuong Anh Pham Doan, Julius Mark Forgo, Jan Friese, Anne Hansen, Lydia Harder, Michael Hölzl, Alban Nikolai Herbst, Anaïs Kern, Catrin Kreyss, Tina Maier, Ralph Martin, Franziska Nagy, Miriam Rauh, Chris Rehberger, Benedikt Reichenbach, Uta Schwarz, Jacques C. Stephens, Murat Suner, Elvira Veselinović, Andreas Vitt, Anne Theresia Wanders, Eric Weigel Druck: Druckhaus Schöneweide ISSN 1869-943X

Cover Foto: Anita Bresser

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ZEITGESCHEHEN

AUSGABE 05

DEUTSCHE KRIEGE

MAI 2010

JAHRGANG 01

DAS VERBOTENE K-WORT IST PLÖTZLICH DA: DEUTSCHLAND IST IM KRIEG. IN DIE DEBATTE UM DEN EINSATZ IN AFGHANISTAN MISCHT SICH EINE MENGE PATHOS.

VON ANNE HANSEN

D

Deutschland hat rhetorisch aufgerüstet. Bis vor kurzem war von einem Stabilisierungseinsatz die Rede. Die Soldaten sollten Brunnen bauen, Krankenhäuser und Straßen errichten und die vielzitierten Mädchenschulen schützen. Nun hat uns die Realität eingeholt. Deutsche Soldaten schießen, sterben, fallen. Eigenartige Wörter, kaum gebraucht in den vergangenen Jahrzehnten, wie aus einer anderen fernen Zeit, damals im Weltkrieg. Wir sind offiziell im Krieg, in Afghanistan. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg nahm das - bis dato verbotene K-Wort vor ein paar Tagen in den Mund. Spät war das und überfällig ohnehin. Der Einsatz am Hindukusch war von Anfang an ein Krieg, nur mit dem kleinen Unterschied, dass die Politik ihn nicht so genannt hat. Seit aber innerhalb von zwei Wochen sieben Soldaten erschossen oder in die Luft gesprengt wurden, kamen die Politiker nicht mehr drum herum, der Realität den verhassten Namen zu geben. „Man kann sich nicht mehr in die Tasche lügen“, sagt auch Wolfgang Zellner, der stellvertretende wissenschaftliche Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. „Jahrelang hat man verdrängt, was am Hindukusch vor sich geht. Und nun sehen wir plötzlich unsere Soldaten, die in Sär-

gen nach Deutschland zurückkehren. Das passt nicht in unser Denken.“ Deutschland wird sich aber an genau diese Bilder gewöhnen müssen. Ab Ende 2010 soll die Bundeswehr ihre afghanischen Partner noch intensiver in der Praxis ausbilden; so werden deutsche Soldaten zum Beispiel stärker mit auf Patrouille gehen. Dieses „Partnering“ nach US-Vorbild ist riskanter als die Strategie, die Deutschland bisher verfolgt. Das Ergebnis sind wahrscheinlich noch mehr Tote. In noch mehr Särgen. Und zwar auf beiden Seiten. Genau das ist Krieg. Die fünf Buchstaben haben eine Debatte entfacht: Es geht um den Sinn des Einsatzes. Darüber, ob und wie lange unsere Soldaten noch am Hindukusch kämpfen werden. Ob das Mandat, vom Bundestag verabschiedet, noch ausreicht. In die Diskussion mischt sich eine Menge Pathos. Kanzlerin Angela Merkel war erstmals bei einer Trauerfeier für Soldaten und Verteidigungsminister zu Guttenberg spricht öffentlich darüber, wie er von seiner kleinen Tochter gefragt wurde, ob man auf die toten Soldaten stolz sein dürfe. Ja, das darf man, habe er ihr geantwortet. Dann schwieg er und sah ein wenig zu ergriffen auf das Rednerpult vor sich. Die Art und Weise, wie in diesen Tagen getrauert wird, ruft wieder Sorgen

hervor. Werden die toten Soldaten irgendwann zu Kriegshelden? Gibt es Szenen aus amerikanischen Kriegsblockbustern in Deutschland? Die Antwort scheint sicher: Nein. Die deutsche Geschichte ist auch 65 Jahre nach Kriegsende unvergessen. Die vielbeschworene kollektive Verantwortung prägt das Bild Deutschlands nach innen und nach außen, und nun das: Seit 1945 ist Deutschland zum ersten Mal wieder offiziell im Krieg. Und zwar in ganz anderer Mission. Nach sogenannter völkerrechtlicher Sprachregelung handelt es sich bei dem Einsatz am Hindukusch um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Doch die öffentliche Wahrnehmung und nun auch endlich öffentlich eingestandene Tatsache bleibt: Deutschland ist im Krieg. Wenn man sich dessen bewusst wird, kann man Sinn und Ziel sachlich diskutieren. Wird der Einsatz dann für richtig erachtet, muss man mit den Konsequenzen leben. Wenn nicht, muss man abziehen. Und sich eingestehen, dass es womöglich die falsche Antwort auf den Terror war. 70 Prozent der Deutschen forderten in einer Blitzumfrage den sofortigen Abzug aus Afghanistan. Auch das spricht eine eindeutige Sprache. © apn Photo/ Kay Nietfeld, Pool


AUSGABE 05

MAI 2010

JAHRGANG 01

ZEITGESCHEHEN

EINS, ZWEI, DREI

DER APRIL IN DREI AKTEN

BABYLON Denk ich an Thailand in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf

GULAG Hölle ist kein Ausdruck für die Missbrauchsskandale, die seit Wo-

INFERNO Nach dem Flugzeugabsturz nahe Katyn, bei dem der polnische

gebracht. In Bangkoks zwielichtigen Straßenschluchten am Nana Plaza, in Soi Cowboy oder Patpong dominiert normalerweise das Rotlicht. Jetzt sind es rote Hemden. Die Roten, mittellose Bauern und Arbeiter, haben einen bewaffneten Feldzug gegen die Gelben begonnen, also gegen etablierte Royalisten, Beamte und Großbürger. Es kam zu den blutigsten Unruhen seit knapp zwanzig Jahren – nicht nur deswegen, weil die Rothemden zur kollektiven Blutspende aufriefen und mit dem Blut das Haus des Premierministers Abhisit bespritzten. Die Roten sind Jünger des ehemaligen Regierungschefs Thaksin, der zu einem Zeitpunkt zurück an die Macht strebt, an dem Thailand die Nachfolge des Königs beschäftigt. Er ist 82 Jahre alt, und das ist selbst für die Thai, die sich doch beinahe nur von Riesengarnelen, Papayasalat und Kokosnüssen ernähren, ein stattliches Alter. Das gewaltsame Protestieren in Thaksins Armee wird gut entlohnt, etwa 20 Euro gibt es am Tag – ein Vermögen für die Bauern aus dem Osten. Das führt zurück ins Zwielicht: Die mittellosen Frauen vom Land, die machen ja schon lange ihr Geld im gottlosen Bangkok.

chen täglich ans Licht kommen – erst in Kloster-, dann in Reformschulen. Nachdem nun herauskam, dass auch in ostdeutschen Heimen Kinder vergewaltigt wurden, kann man feststellen, dass Katholische Kirche und DDR doch etwas gemein haben: Ihre Verteidiger ignorieren der wahren Lehre zuliebe sogar das Offensichtliche. Im „Neuen Deutschland“, dem ehemaligen SED-Zentralorgan, hieß es kürzlich: „verfehlte Erziehungsmethoden“ seien doch kein Grund, „die vielen engagierten Kollegen unter einen ideologisch geprägten Generalverdacht zu stellen“. Der Missbrauch werde „unzulässig mit der besonders in den Werkhöfen herrschenden Strenge vermischt“. Da würde sich ein Redaktionsausflug des „ND“ nach Torgau lohnen. In der Gedenkstätte des Jugendwerkhofs erfährt man: Hier wurden junge Menschen zur Umerziehung gefoltert. Die Vergewaltigungen waren in den Heimen besonders leicht zu vertuschen, weil die SED schon 1964 die völlige Isolierung der Minderjährigen von ihrer Umgebung angeordnet hatte – als Teil der weltanschaulichen Konditionierung. Aber solche Studienreisen werden die letzten echten Genossen kaum antreten. Das verbindet sie mit den Kollegen vom „Osservatore Romano“.

Präsident Lech Kaczynski mit weiteren 95 Passagieren ums Leben kam, laufen die Ermittlungen. Bisher ist klar, dass das Flugzeug noch ein Stück vom Pistenende entfernt war, als es einen Baum streifte und abstürzte. Die Flugleitung soll wegen der schlechten Sicht von einer Landung dringend abgeraten haben, die Besatzung folgte dem nicht – manche glauben, auf Geheiß des Präsidenten. Der ehemalige Staatspräsident Lech Walesa fasste die Gefühle der Polen kurz nach dem Unglück zusammen: „Vor 70 Jahren haben die Sowjets in Katyn die polnische Elite ermordet. Heute ist erneut die polnische Elite ums Leben gekommen.“ Die ganze Welt trauerte einige Tage lang um Kaczynski. Fast bekam man das Gefühl, es habe niemals deutsch-polnischen Zwist gegeben – und auch Sowjets und Polen seien schon immer brüderlich vereint gewesen. Doch für manche Polen war die Trauerzeit schon vor dem Begräbnis vorbei. In Krakau protestierten Hunderte gegen die geplante Beisetzung des Präsidentenpaares in der Königsgruft auf der Wawel-Burg, Zehntausende unterschrieben im Internet entsprechende Aufrufe: Die nationale Adelung durch die Grablegung in einer Kathedrale war ihnen zuviel der Ehre. Lydia Harder

Foto: Nate Roberts

Foto: Odenwaldschule

Foto: Russia Today

J’ACCUSE (5) Die zwei Männer, die am 18. März 1990 kurz nach Mitternacht an der Tür des Isabella Stewart Gardner Museums in Boston standen, müssen ausgesehen haben wie die Beastie Boys in ihrem Video „Sabotage“. Zumindest klingt ihre Personenbeschreibung in der FBI-Akte so: Die zwei unbekannten weißen Männer trugen dunkelblaue Polizeiuniformen, dazu dunkle Schnurrbärte, die offenbar angeklebt waren. Sie seien hier, weil ihnen eine Störung im Museum gemeldet worden sei, informierten sie das zuständige Wachpersonal. Entgegen der Museumsrichtlinien ließen die Wächter die angeblichen Polizisten ein. 81 Minuten später marschierten die zwei Männer mit zwölf Gemälden und einer Vase seelenruhig wieder hinaus. Seitdem fehlt von ihnen und den Kunstwerken im Wert von einer halben Milliarde Dollar jede Spur.

Der größte Kunstraub der Geschichte hat die ermittelnden Beamten der Kunstraub-Abteilung des FBI auf viele Fährten geführt, doch alle verliefen im Sande. Inzwischen geht es dem FBI und dem Museum auch gar nicht mehr darum, die eigentlichen Täter zu fassen, sondern nur noch darum, die Gemälde in möglichst gutem Zustand zurückzuerhalten. „Wir raten denjenigen, die die gestohlenen Kunstwerke besitzen, sie unter bestimmten Bedingungen zu lagern“, schreibt das Museum auf seiner Internetseite fast flehentlich, „21,1 Grad Celsius und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit wären ideal.“ Die Belohnung für die Herausgabe der Rembrandts, Vermeers, Manet und Degas-Gemälde wurde erst kürzlich auf fünf Millionen Dollar angehoben. Dass Kunsträuber auch Kunstkenner sind, muss übrigens nicht immer stimmen. Die zwei falschen Polizisten

haben ihr Verbrechen zwar sehr gentlemanlike verübt – sie hatten keine Waffen dabei und waren beim Fesseln der zwei Museumswächter fast höflich - doch sie haben die Bilder nicht klug ausgewählt. Das renommierteste Bild des Museums, Francesco Albani’s „Rape of Europe“, ließen sie einfach hängen. Die Degas-Zeichnungen, obwohl hübsch anzuschauen, sind keine wirklichen Meisterwerke. Und eines der drei gestohlenen RembrandtGemälde schnitten sie so unprofessionell aus dem Rahmen, dass dessen Wert definitiv gesunken ist. Diese Missachtung der Kunst ließ schnell die Spur zu einem der notorischsten Kunsträuber Amerikas erkalten. Myles Connor, Sohn eines Polizisten und Bruder eines Pastors, war in unzählige Gemäldediebstahle verwikkelt. Doch er ist ein Connaisseur. „Hätte ich das Isabella Stewart Gardner Museum bestohlen“, sagte er während

seiner Befragung, „dann wäre The Rape Of Europe bestimmt nicht mehr da.“ Als Sackgassen erwiesen sich auch Hinweise auf die Beteiligung der IRA oder der Bostoner Mafia. Der einzige Hoffnungsschimmer, der bleibt, ist, so paradox es klingt, die zeitliche Länge der Ermittlungen. „Je mehr Zeit vergeht, desto näher sind wir der Lösung eines Kunstraubes“, sagt der Chefermittler des FBI. Die Ware ist zunächst so heiß, dass die Täter sie erstmal für mehrere Jahre, sogar Jahrzehnte einlagern, bevor sie sie verkaufen. Wenn der Verkauf dann jedoch losgeht, bekommt die Polizei das oftmals mit. Im Gardner Museum wartet man auf diesen Moment. Als ständige Erinnerung an den Diebstahl hängen dort seit nun mehr 20 Jahren zwölf leere Rahmen an der Wand. Uta Schwarz

RÜSTIG STATT ROSTIG Eine Vertragsunterzeichnung in einer Burg, ambitionierte Reden, Händeschütteln. Vor allem Zahlen sollen hier sprechen: Die Reduzierung der Atomsprengköpfe von 2200 auf 1550, die Halbierung der Trägersysteme von 1600 auf 800. Das ist doch was! Oder? Der Teufel steckt hier im Detail. Die besiegelten Abrüstungsambitionen des russischen Präsidenten Medwedjew und des amerikanischen Präsidenten Obama sind, auf der großen Bühne der Weltpolitik betrachtet, ein Schritt in eine mögliche Zukunft ohne Atomwaffen. Obama hält an seinem angekündigten Vorhaben fest: Er will die Verbreitung von Atomwaffen und das Wissen um den Bau solcher verhindern. Der Amerikaner ist ein geschickter Diplomat: Er weiß, dass ein Entgegenkommen im Sinne des Atomwaffensperrvertrages seine Glaubwürdigkeit erhöht. Mit diesem Vertrag erklären die Staaten ohne Atomwaffen, auf selbige zu verzichten. Im Gegenzug versichern die Atommächte Abrüstung. Doch was wird hier abgerüstet? Die USA und Russland nutzen die in Prag unterzeichnete Verlängerung des

START-Vertrages vor allem, um ihre Arsenale zu modernisieren. Verschrotten überalterter Technologien, Aufrüsten im Geiste der sogenannten „Neuausrichtung aufgrund neuer Gefährdungsszenarien“. Die Zahl der Sprengköpfe und Träger spielt schon längst keine Rolle mehr. Am Ende steht ein klassisches Win-Win: Das militärische Gleichgewicht zwischen den beiden Großmächten bleibt erhalten, Russlands Image als Hegemonialmacht wurde gleichsam aufpoliert. Derweil denken die Amerikaner nicht daran, auf das Erstschlagsrecht zu verzichten, ein Abzug der in Europa stationierten Sprengköpfe ist, wenn überhaupt, nur langfristig denkbar. Während die einen also strategisch vermeintlich gewieft an diplomatischen Druckmitteln feilen, zeigen sich die anderen davon reichlich unbeeindruckt: Iran bastelt fleißig an seiner Atommachtsvision, Israel entscheidet derweil, an der Atomkonferenz in Washington nicht teilzunehmen. Bevor seine Nachbarn und die Türkei auf ihm rumhacken, bleibt Netanjahu lieber zuhause. Dass Israel, wie Pakistan und Indien, nichts von der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages hält, ist ein offenes Geheimnis.

Fassen wir zusammen: Die USA und Russland unterschreiben einen gutgemeinten Vertrag, um andere Vertragspartner, sprich Iran, stärker unter Druck setzen zu können. Gleichzeitig nutzen sie die selbsterteilte Chance, ihre Arsenale zu überholen und an der Bedeutung atomarer Waffen für ihre Sicherheitspolitik keine Zweifel aufkommen zu lassen. Auf der anderen Seite des Sumpfes aus Zahlen und Verträgen stehen jene, die sich für diese Art von Politik herzlich wenig interessieren. Nordkorea ist aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten, Israel, Indien und Pakistan verfolgen ihre Interessen aller Verträge ungeachtet. Und was war jetzt noch mal genau der Erfolg, den Obama und Medwedjew errungen haben? Abrüsten nach Zahlen. Dass Obama dabei den historischen Grundstein für eine atomwaffenfreie Welt legen konnte, wird er beweisen müssen. Franziska Nagy

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WIRTSCHAFT

AUSGABE 05

LOB DER KLARHEIT B

issantz ist nicht zimperlich. In seinem Blog (blog.bissantz.de) setzt er sich Teufelshörner auf, stülpt sich eine Papiertüte über den Kopf, lässt sich die Brust von einem Trendpfeil durchbohren oder hantiert mit einem blutigen Schlachtermesser. Bissantz scheut weder Drama noch Selbstironie: In dramatischen Bildern und manchmal Worten beleuchtet er den Umgang mit Information – in den Medien, in der Wirtschaft, im Alltag. Und wenn er darauf verweist, welche Rolle Software dabei spielt, dann stellt er sich der eigenen Verantwortung: Bissantz ist Gründer und Chef eines Unternehmens, das Software entwickelt. Nachgerade ketzerisch muten die Fragen an, die er zur Sprache bringt: „Können Computer richten, was Manager nicht mehr hinbekommen?“ Seiner Ansicht nach will ein Teil der Softwarebranche dies seit einiger Zeit Glauben machen. Business Intelligence nennt sie das, nicht ganz zufällig in sprachlicher Nähe zur CIA, deren abenteuerlicher Aufklärungsarbeit Blockbusterfilme sich gern widmen. Mit Software sollen Unternehmer und Manager den Überblick bewahren, Chancen und Risiken abwägen, die richtigen Entscheidungen treffen, Krisen verhindern. Dazu erstellen mittlere und große Unternehmen Berichte, meist bergeweise. Die zeigen Zahlen und Diagramme; Zahlen nicht allzu viele, Farben dafür umso mehr. Wer einen Bericht bekommt, hat es geschafft: Er darf etwas entscheiden und steht auf der Karriereleiter einen Schritt über denen, die keine Berichte bekommen. Und er muss, so vermittelt es das Marketing jener Softwarehersteller, deswegen ganz behutsam behandelt werden. Schließlich kommt es doch vor allem darauf an, dass „alles im grünen Bereich“ ist – und das darf dann auch so dargestellt werden: mit einer grünen Ampel, einem gestreckten Daumen oder einem Smiley. Und so gerät eine umgangssprachliche Metapher zu einem Instrument für Managemententscheidungen – von denen nicht selten viel Geld, Arbeitsplätze, Existenzen abhängen. Mit diesen Gepflogenheiten und Grundannahmen der Szene steht Bissantz auf Kriegsfuß, wie man regelmäßig in seinem Blog nachlesen kann. Statt einer Informationsflut sieht er in den meisten Unternehmen nur eine große Dürre: Manager dürsten nach Information, aber ihre Berichte liefern diese nur tröpfchenweise. Die angeblich so begrenzte Aufnahmefähigkeit des Menschen will Bissantz nicht gelten lassen: „Das AugeHirn-System verarbeitet Unmengen an Information, unablässig, ohne dass wir darunter zusammenbrechen. Allenfalls dem Gedächtnis muss man ab und zu auf die Sprünge helfen.“

Muster erkennen Die Finanzkrise hat die Frage nach der richtigen Rollenverteilung zwischen Mensch und Maschine neu aufgeworfen. Was hilft der schönste Bericht und die beste Darstellung, wenn die dahinterstehenden Annahmen und Erwartungen der Realität nicht mehr standhalten? Wer hätte lesen und akzeptieren wollen, dass man nur noch mit einer Rendite von zwei Prozent auf der sicheren Seite ist? Bissantz verlangt deswegen immer wieder: Zurückhaltung, Skepsis, Bescheidenheit. Auch wenn er dazu zu unbescheidenen Mitteln greifen muss. Nur wer die Grenzen des Computers kennt, kann ihm innerhalb dieser Grenzen auch vertrauen. Der Schachweltmeister Garri Kasparow scheiterte an der Maschine, weil er sie überschätzte: 1996 verlor er gegen Deep Blue, den berühmten Schachcomputer der IBM, der schon damals in der Lage war, 126 Millionen Stellungen pro Sekunde zu berechnen. In Kasparows Kalkül hatte die Vorstellung keinen Platz, dass ein solch gewaltiger Computer die Möglichkeit übersehen könnte, dem Gegner durch Dauerschach ein Remis aufzuzwingen.

MAI 2010

JAHRGANG 01

NICOLAS BISSANTZ IST UNBEQUEM. MODEN GEGENÜBER SOGAR UNERBITTLICH. EIN MANN, DER ES SICH ZUR MISSION GEMACHT HAT, DIE RICHTIGEN METHODEN ZU FINDEN, DAMIT WIR ALLE VERANTWORTLICH MIT EINEM HEILIGEN GUT UMGEHEN: INFORMATION.

Rollen anders verteilen Vielleicht ist es das, was Bissantz meint: Wir sollten unseren Geist nicht nach Computern richten, sondern Computer nach unserem Geist. Im Jahr von Kasparows Niederlage gründete Bissantz sein Unternehmen. Davor studierte er BWL in Trier, München und Nürnberg und promovierte bei Peter Mertens, dem Begründer der Wirtschaftsinformatik. Von ihm hat er besonders das interdisziplinäre Arbeiten und Denken aufgegriffen: Mertens hat vor Jahrzehnten die Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologie für die Wirtschaft erkannt und sich dafür eingesetzt, Informations- und Wirtschaftswissenschaften zusammenzubringen. Bei Bissantz & Company passiert das jeden Tag – in einer Rollenverteilung, die nicht eben typisch ist für die Branche: Bissantz ist überzeugt, dass Software nicht von Programmierern gemacht werden darf. Nur die Bedürfnisse von Managern zählen; und die sind relative Laien im Umgang mit Computern und dürfen es auch sein. Ein Team zu formen, das diese Ausrichtung akzeptiert, hat einige Jahre Aufbauarbeit gekostet. Heute arbeiten rund 80 Menschen bei Bissantz; mit Software von Bissantz arbeiten prominente Unternehmen wie Bayer, Leica, Nordsee, Porsche und andere, die ihr Geschäft ernsthaft betreiben und nicht nur von Quartalsergebnissen getrieben sind. Die Krise hat bei vielen den Eindruck hinterlassen, man stehe einer von der Realität abgekoppelten Wirtschafswelt gegenüber, die mit der eigenen nichts mehr zu tun habe. Der Fachfremde hat es schwer, die komplizierten Zusammenhänge zu durchschauen, und ist verstört von dem glatten Auftreten mancher ihrer Protagonisten, ihrer Aura der Unantastbarkeit, der beklemmenden Kühle ihrer juristischen Rhetorik. Und damit einhergehend die Verwendung eines außerweltlich erscheinenden Fachvokabulars, hinter dem man sich verschanzt. Nicolas Bissantz versteht Fachchinesisch, spricht es aber nicht – sondern Klartext. Aura: ja, Unantastbarkeit: nein. In seinem Blog geht er mit der Informationskultur, der eigenen Branche und ihren Produkten hart ins Gericht, beispielsweise dann, wenn er eine Renaissance des Papiers kommen sieht (während viele dessen Untergang herbeireden wollen) und die Zeitungen daran erinnert, was sie dem Internet voraushaben.

Handschrift, wer konnte gut frei sprechen? Der freien Rede ist das Programm jedenfalls abträglich: Es verleitet Vortragende, selbst ein einfaches „Guten Tag“ von ihrer Powerpointfolie abzulesen. Ein kreativer Rückkopplungseffekt, der dem Einfallsreichtum der Digitalen Bohème zu verdanken ist, ist die Wiederbelebung des Theatersports durch das Format „Powerpointkaraoke“. Die – ebenfalls nicht unabsichtlich auf die CIA anspielende – Zentrale Intelligenz Agentur gestaltet sehr unterhaltsame Abende mit Improvisationen zu fremden Präsentationen aus dem Internet. Nicolas Bissantz ist klar der Gruppe derer zuzuordnen, deren Einfallsreichtum angesichts von Missständen auf Hochtouren kommt. In seinem Denken erinnert er an Personen wie Herbert von Karajan, der sich als Musiker niemals einem neuen Tonträgermedium und seinen Aufnahmetechniken ausgeliefert hätte. Lieber lernte er gleich als erster, die neuen Medien zu beherrschen: Karajan spielte 1951 die erste Vinyl der EMI ein und 1980 die erste CD der Deutschen Grammophon und war wohl der erste Dirigent, der begriff, dass es nicht nur um einen Datentransfer von analog zu digital ging, sondern um eine Neuinterpretation; darum, die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Medien zu kennen und zu nutzen. Daher macht Nicolas Bissantz ab Juni auch den Schritt vom Blogger zum Kolumnisten bei TRAFFIC News to-go, auf Papier von 60 g/m2, im Rollenoffset gedruckt und von Hand unter die Leute gebracht. Wir freuen uns auf bissige Bilanzen.

Konkurrenz als Chance Die Printmedien sind etwas, worüber Bissantz sich ständig die Haare raufen könnte. „Die Printmedien verschwenden ihr Darstellungspotenzial. Eine Tageszeitung hat je Doppelseite einen halben Quadratmeter Platz, Großes zu tun. Ich als Softwaremensch bin grün vor Neid angesichts solcher riesigen unbebauten Informationsgrundstücke.“ Die Entwicklung der Printmedien in den letzten 25 Jahren, also etwa der Zeitspanne, in der die personalisierte Computertechnologie ihren Wirkungskreis auf unser aller Alltag ausgeweitet hat, bewertet er als Kapitulation vor einem Medium, das sich selbst noch nicht versteht. Ein Beispiel: das Wallstreet Journal Europe. „Der Relaunch zeigt viele Elemente der Anbiederung an uns vermeintlich so bescheuerte Leser. Was sollen zum Beispiel die ganzen Fotos, die gar nichts mit den Stories zu tun haben? Sehr schade; das Journal war immer mein Vorbild für gute Datengrafik.“ Bedenklich auch, welchen Rückkopplungseffekt ein Programm wie Powerpoint, das mittlerweile schon an Grundschulen den Overheadprojektor mit seinen handbeschrifteten Folien abgelöst hat, auf Datengrafiken im Printbereich hat. Bei den handgemachten Folien war Kreativität gefragt und man erfuhr etwas über seine Klassenkameraden – wer konnte zeichnen, wer hatte noch eine kindliche

Foto: © Christian Höhn


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DAS WETTER

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Vier visionäre Projekte auf Empfehlung von Friedrich von Borries siehe Interview S. 10/11

AUFWIND

ABKÜHLUNG

ÜBERFLUTUNG

AUSGLEICH

Namibia

Madrid

Weltmeere

Melbourne

Thermikkraftwerk Büro: Schlaich Bergermann und Partner Irgendwo in der Wüste Afrikas: gleißend spiegelnde Flächen, dazwischen hohe Kamine. Die Wüste, die sich mit dem Klimawandel ausgebreitet hat, als Ort der Energiegewinnung. Ähnlich einem Treibhaus heizen sich in der Sonne Luft und Boden unter einer Kollektorfläche auf, durch Unterdruck entsteht Aufwind im Kamin und treibt eine Turbine an. Ein höherer Druckunterschied zum Boden entsteht bei höherem Kamin und beschleunigt so den Aufwind (Kamineffekt). Die Leistung eines Thermikkraftwerkes hängt neben der Kaminhöhe von der Größe der Kollektorfläche ab, wodurch sich eine Installation auf als Agrarland nicht nutzbaren Flächen in heißen Ländern anbietet. Auch in der Nacht kann noch Elektrizität gewonnen werden, da der Temperaturunterschied zur Außenluft für genügend Thermik sorgt. Zur Verbesserung der Leistung während der Nacht können außerdem thermische Speicherelemente unter der Kollektorfläche angebracht werden, die mehr Hitze aufnehmen als der Boden. Die erste Versuchsanlage entwickelte Prof. Dr. Ing. Jörg Schlaich mit Mitteln des Deutschen Bundesforschungsministeriums 1982 in Manzanares, Spanien. AW

EcoBoulevard of Vallecas Büro: EcosistemaUrbano Der kühlende Schatten eines Baumes im heißen Spanien. In vergessenen Stadtteilen, vernachlässigten Parks oder frisch errichteten Vorstädten sind Bäume von schattenspendender Größenordnung selten. Wohltemperierte öffentliche Orte, an denen man sich gerne aufhält, sind oft nicht zu finden. EcosistemaUrbano haben künstliche Bäume entwickelt, die diese Lücke temporär schließen. Die Konstruktionen spenden Schatten und sind im Inneren voller Pflanzen, die eine Kühlung von 8-10ºC und verbesserte Luftfeuchtigkeit im Vergleich zur aufgeheizten Straßenumgebung bewirken. Der luftige Platz unter der zylinderförmigen Konstruktion soll zu spontaner Aktivität und Begegnung abseits von Konsumfreizeit einladen. Photovoltaikanlagen auf den künstlichen Bäumen sollen mittels Stromgewinnung die Kosten für Aufbau, Wartung und Abbau refinanzieren. Die künstlichen Bäume sind als überbrückende Installation vorgesehen, bis eine natürliche Bepflanzung ein ausreichendes Maß an Schatten und Erholungsraum bieten kann. Nach der Demontage sollen sie eine Lichtung im Wald zurücklassen und an neuen Orten eingesetzt werden können- wenn die Menschen ihren künstlichen Baum noch hergeben wollen. AW

Lilypad Büro: Vincent Callebaud Architecture Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts soll der Wasserspiegel der Meere um 0,5 – 1 m steigen, nicht überall gleich stark und mit unterschiedlichen Folgen. Verlust von bewohnbarem Land, versalzte Böden, Trinkwassermangel, häufigere oder schwerere Stürme und Fluten sind Teil der Szenarios, die Leben, Nahrungsmittelproduktion und Tourismus in Küstengebieten unmöglich machen. Geringe finanzielle Ressourcen oder unwirtliche Lebensbedingungen im Landesinneren werden besonders in kleineren oder ärmeren Ländern Flüchtlingsströme auslösen. Das Lilypad ist ein autarkes Stadtfloß für Klimaflüchtlinge und kämpft nicht gegen die steigenden Ozeane, sondern verbündet sich mit ihnen. In seiner Struktur inspiriert von den Blättern einer Riesenseerose versorgt sich die schwimmende Stadt mit erneuerbarer Energie, stößt kein Kohlenstoffdioxid aus, gewinnt Süßwasser selbst und recycelt alle benötigten Materialien. Das multikulturelle schwimmende Ecopolis versorgt sich in Symbiose mit der Natur und kann reicheren Ländern wie Monaco zur Erweiterung ihrer bewohnbaren Fläche dienen. In erster Linie aber soll es Klimaflüchtlingen unserer „Trauminseln“, die mit als erste verschwinden werden, eine neue idyllische Inselheimat geben. AW

CH2. Melbourne City Council House 2 Büro: DesignInc Bis zum Jahr 2020 will Melbourne zur Zero-EmissionsGemeinde werden. Das Bürogebäude hat einen um 50% reduzierten Energieverbrauch und versorgt sich weitgehend selbst mit Strom, Wärme, Kühlung und aufbereitetem Wasser. Die Bepflanzungen im Gebäude und an der Fassade bewässern sich selbsttätig und entsprechen in ihrer Menge dem natürlichen Wuchs auf einem unbebauten Grundstück gleicher Größe. Die Menschen im Gebäude kommen im 30-Minutentakt in den Genuss von ausgetauschter Frischluft, was durch erhöhte Produktivität jährlich zwei Millionen Dollar einsparen soll. Innovative Technologie in Einklang mit klimatischen Gegebenheiten im Tag-Nacht- bzw. Sommer-Winter-Rhythmus nutzt physikalische Grundgesetze für ein ausgeglichenes Gebäudeklima ohne klassische Heizung oder Klimaanlage. Die bewusste Positionierung der Fenster und bewegliche Fensterläden nutzen die Sonne optimal als Lichtquelle. Sobald nachts die Luft außen kühler als im Gebäude ist, öffnen sich automatisch die Fenster, so daß die kühle Nachluft die von den Betondecken gespeicherte Hitze hinaustransportiert. Die sonnengelben Windräder auf dem Dach erzeugen tagsüber Strom und unterstützen nachts durch den Kamineffekt die Kühlung des Gebäudes. Grün kann also schön und kitschfrei sein. AW

Foto: Schlaich Bergermann Solar, Stuttgart

Foto: Emilio P. Doiztua

Foto: Vincent Callebaut Architectures - www.vincent.callebaut.org

Foto: www.melbourne.vic.gov.au

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SPORT

SCHON SCHÖN VON ANAÏS KERN

AUSGABE 05

MAI 2010

JAHRGANG 01

NICHT BEI OLYMPIA, BEIM CONCORSO D’ELEGANZA IST DAS DABEISEIN ALLES. UND WIR WAREN DABEI.


AUSGABE 05

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MAI 2010

SPORT

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as schönste Autorennen der Welt ist zugleich das langsamste. Die Wagen fahren in einer festgelegten Reihenfolge hintereinander her und am Ende gewinnt eben nicht der, der zuerst da ist, sondern der, der den Leuten am besten gefallen hat. Es ist ein bisschen wie bei Rassehundeschauen. Ein Schönheitswettbewerb für sehr alte, sehr teure Autos. Dieser Concorso zeichnet sich durch wahnsinnige Exklusivität aus. Alle Autos kosten mindestens sechs- oder siebenstellige Summen – und die meisten Leute hier haben auch nicht nur eins von der Sorte, sondern einen ganzen Fuhrpark. Das heißt, die kennen sich untereinander, wollen aber oft nicht vor Publikum in Erscheinung treten. Deren Kinder sind ja alle potentielle Entführungsopfer. Viele der Besitzer fahren deshalb ihre Oldtimer nicht selber vor, sondern sie haben irgendwelche Freunde oder entferntere Verwandte, denen das Spaß macht und bei denen es vielleicht nicht so drauf ankommt. Man kann im Katalog nachlesen, wem die Autos gehören und ein paar der großen italienischen Familien, die sowieso jeder kennt, halten dann ein bisschen Hof. In einem Packard von 1937 mit so einer lustigen Klappe (wie eine Kinderkrippe zum Ausklappen) saß die Familie Bulgari, in einem anderen ein Ferretti-Sprössling (Aeffe Group).

Den Anfang des Concorso machte diesmal ein Mann namens Egon Zweimüller, äußerlich der Stellvertreter James Deans auf Erden schlechthin. Er fuhr mit Außenkompressorstarthilfe den ersten Wagen vor, unter unfassbarem Lärm und mit unfassbar unbewegtem Gesichtsausdruck, und zwar einen Talbot Darracq GP 150 von 1926. Egon ist Oldtimerrestaurator und so etwas wie der Dealer etlicher Teilnehmer hier. Den Talbot-Darracq gab es überhaupt nur drei Mal. Alle drei Exemplare wurden an Emilio Materassi verkauft, der mit einem von ihnen tödlich in Monza verunglückte (und mehr als 20 Zuschauer dabei mitnahm!). Das kann bei den Geschwindigkeiten am Comer See zum Glück nicht passieren. Dafür stirbt es sich hier wahrscheinlich ganz gut an Bleivergiftung oder Lärmschäden. Interessant ist, wie sehr die Lautstärke eines Motors die Fotografen anzieht: Je lauter es knattert, desto mehr Blitzlichtgewitter. Das ist, so deutlich muss man das mal sagen, einfach das großartigste hier, dieses ungehemmte Röhren und Qualmen und Stinken. Bei den alten Modellen muss ja wirklich oft noch Blei nachgegossen werden, damit die Motoren überhaupt laufen. Später bat der Moderator immer häufiger, am Ende der Parade, wo die Jury sitzt, den Motor auszumachen. Deren Mitglieder starrten dann verzückt und mit geröteten Augen durch die Rauchwolken.

Es gab auch die Gelegenheit, mit Amphibienfahrzeugen über den See zu tuckern. Von weitem sehen die Leute in diesen Schwimmautos aber so aus, als bräuchten sie sehr dringend Hilfe; die liegen so tief im Wasser, dass man an das Dresdner Hochwasser denkt und nicht an eine Automobilconvention. In manchen Momenten denkt man auch an einen Handtaschen/Stiletto/ Plastic Surgery-Wettbewerb unter den Frauen, der aber bei weitem nicht so ausgeprägt ist, wie man das vielleicht erwarten würde. Leider! Leider auch, trotz mehrerer verheißungsvoller Helikopterlandungen hinterm Haus, keine Spur von George Clooney und Elisabetta Canalis. Dafür gibt es haufenweise bunte Hosen plus Nackenrolle bei den Männern, während viele Automobiljournalisten, auch das muss man leider so sagen, durch lange graue Zöpfe, Bierbäuche und speckige Knitterleinenanzüge ordentlich die andere Waagschale vollmachen. Wer die Hosen voll hat, kann gut stinken, sagte hier einer immer über „die Schnösel“ in den schönen Autos. Und das war nun wirklich nicht sehr elegant. Foto: © Jan Friese

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... UND JEDEM SEINE KAPSEL Prof. Dr. Friedrich von Borries lehrt Designtheorie und kuratorische Praxis an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Als Kurator für zeitgenössisches Design des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg zeigt Friedrich von Borries in der Ausstellung „Klimakapseln. Überlebensbedingungen in der Katastrophe“ aktuelle und historische Positionen, die sich mit der Anpassung an den Klimawandel auseinandersetzen. Ergänzend erscheint ein gleichnamiges Buch, das anhand einer Erzählung ein Zukunftsszenario rund um die Klimakapsel illustriert. In einem theoretischen Glossar werden Verweise auf die Ausstellung, künstlerische, wissenschaftliche und alltagskulturelle Positionen zu klimatischen Utopien und Dystopien aufbereitet. Die sinnliche Erfahrbarkeit der Ausstellung und das Buch sollen einen kulturkritischen Diskurs anstoßen, der die gesellschaftlichen Folgen der Anpassung wie Segregation und globale Polarisierung reflektiert. In der Ausstellung „Klimakapseln“ geht es um Adaption an den Klimawandel. Ist nach der Klimakonferenz von Kopenhagen nun Plan B die neue Lösung? Nein, Plan B ist natürlich überhaupt gar nicht die Lösung. Das dramatische ist nur, dass wir immer nur über einen Plan A reden, von dem wir wissen, dass wir ihn alle nicht leben. Und ich finde es problematisch, ohne dass ich da die Lösung hätte, dass wir nicht über Adaption nachdenken oder reden. In der Wissenschaft wird darüber nachgedacht und in der Politik vielleicht auch hinter verschlossenen Türen, und wir in der Öffentlichkeit glauben immer noch, mit so AAAKühlschränken wäre es zu machen. Und die Ausstellung will das erstens hinterfragen, und zweitens zeigen, dass wir eigentlich lauter Anpassungsstrategien kennen. Wir alle kennen diese Sciencefictionfilme, wir kennen viele künstlerische Arbeiten dazu, wir kennen Sloterdijks Blasentheorie, irgendwas von den drei Sachen. Wir kennen diese Kapselwelten, und leben selber schon in einer, mit unserer Südgrenze „Frontex“ zum Mittelmeer, mit Klimaflüchtligen. Flüchtlinge kommen ja auch wegen klimatischer Veränderungen, jetzt schon, und wir kapseln sie ja bereits ab. Nicht mit der großen Glaskuppel wie wir sie aus „Truman Show“ oder Filmen wie „Logan’s Run“ kennen, oder von Buckminster Fuller’s Manhattan Dome, aber letztendlich ist es eine Kapsel. Und die Ausstellung will fragen, ob das wirklich das ist, was wir wollen. Eigentlich eine ganz einfache, naive Frage. Firmen oder Regierungen, die adaptive Projekte oder Forschung darin unterstützen, tun dies, weil sie nicht zu einer globalen Kooperation bereit sind, sondern sich nur in ihrem eigenen Land schützen möchten. Ist das zu hart formuliert? Nein, eines der großen Themen von Kopenhagen war ja nicht nur Vermeidung, sondern auch: welche Mittel für Anpassungsmaßnahmen werden den betroffenen Ländern, die ja gleichzeitig oft die ärmsten sind, zur Verfügung gestellt. Das war einer der großen Streitpunkte in der großen Politik, sehr abstrahiert verhandelt, das kommt nur nicht so in unsere Alltagsdebatten herein. Und wenn man heute Stadtplanung betreibt, dann redet man immer irgendwie über Urban Heat, also innerstädtische Erhitzungsräume und wie man lokal etwas dagegen tun kann. Denn wenn es auf der Welt zwei Grad wärmer wird, dann heißt das ja nicht,

dass wir damit nicht irgendwie zurechtkommen können. Natürlich denken da viele auch an ihre nationalen Interessen. Auch das ist eine Fragestellung dieser Ausstellung, man sieht es an historischen Beispielen: Einkapselungen verändern auch das Leben derer, die eingekapselt sind. Zu sagen, wir halten die sozialpolitischen Folgen des Klimawandels von uns weg durch eine verschärfte Grenzpolitik, und wir schaffen uns lokal schöne Klimata – das wird auch uns total verändern, wir bleiben dann nicht die, die wir jetzt sind. Und das muss man wirklich überlegen, ob man dieses gesellschaftliche Klima will – auch da steht ja ein Klimawandel an – und in welche Richtung man das entwickeln kann.

DENN WENN ES AUF DER WELT ZWEI GRAD WÄRMER WIRD, DANN HEISST DAS JA NICHT, DASS WIR DAMIT NICHT IRGENDWIE ZURECHTKOMMEN KÖNNEN. Also ist es eher ein Mangel an wirtschaftlicher und kultureller Flexibilität, hängen wir alle zu sehr in unseren Gewohnheiten fest? Das ist ein Mangel des Verhaltens, mich eingeschlossen, alle kleben wir an unseren Bildern. Und das ist total komisch, wenn man dann mit Leuten redet, gerade bei Zukunftsprojekten, die bis 2050 gehen oder so, dann sagen die immer: Achja, dreißig Jahre sind doch gar nicht so viel. Und dann guckst du die an und sagst: Sag mal, wann ist die Mauer gefallen? Wann hast du deine erste Email verschickt? Seit wann bist du gewohnt, zu Besprechungen zu fliegen? Dann sage ich: wir reden über in dreißig Jahren. Und dann kann man wieder nachdenken. Da merkt man dann doch aber auch, wie schnell das gehen kann. Ja, und das kann aber auch ganz schnell in alle möglichen Richtungen gehen. Ich glaube, wir denken wirklich gesellschaftlich so: ein Liter weniger auf 100 Kilometer und AAA-Kühlschrank, das ist die Lösung.

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FRIEDRICH VON BORRIES ÜBER DIE CHANCEN VON ANPASSUNGSSTRATEGIEN UND DIE GESELLSCHAFTLICHEN FOLGEN DES KLIMAWANDELS.

INTERVIEW: ANNE THERESIA WANDERS Das ist die Optimierung des bestehenden Systems. Ja, das ist die Manifestierung der globalen Ungerechtigkeit, so ein bisschen aufgehübscht. Aber das wird nicht so sein, in Zukunft, das glaube ich nicht.

Wenn man das will, muss man sich zwangsläufig damit auseinandersetzen, was es für kulturelle, ökonomische und politische Einflussfaktoren auf unser Verhalten gibt, auf unsere Art zu leben, zu denken. Dann ist man in dem, was man Theorie nennt. Die Ausstellungen, Abgesehen von der Ausstellung, gibt es noch andere die kommen dann dazu, denn wenn man das Interesse Projekte auf deinem ganz eigenen Weg, die dir per- hat, mit den Fragestellungen, die man für wichtig hält, sönlich sehr wichtig sind? etwas zu erreichen, dann muss man das rein wissenDas ist so wie beim Fußball, wir schauen immer aufs schaftliche auch ein bisschen verlassen. nächste Spiel. Jetzt bei dem Buch zu den Klimakapseln gibt es zwei Teile: Der eine sind fiktive Portraits, wo Wurdest du auch schon einmal mit dem Vorwurf ich Bewohner der Kapselwelt portraitiere; das ist Fik- konfrontiert, ein reiner Denker ohne Bezug zur tion, roman- oder kurzerzählungsartig. Und dann gibt Praxis zu sein? es ein Glossar, in dem die kulturellen, wissenschaftli- Nein, ich werde eher mit dem Vorwurf konfrontiert, chen und politischen Hintergründe methodisch auf- dass ich so ein starker Praktiker bin, oder kein reiner geschlüsselt werden. Durch das Buch erfährt man ganz Wissenschaftler. Denken ist ja auch eine Praxis, das gut das Spannungsfeld, in dem ich mich bewege. Und ist ganz wichtig. Ich bin in ganz praktischen Kontexin den praktischen Leitbildentwicklungen, das ist auch ten tätig, wenn wir Ausstellungen machen. Auch Leiteine Entwicklung der letzten 2 Jahre, dass neben die- bildentwicklung mit Politik und Verwaltung ist eine sen theoretischen Reflexionen und diesem subkultu- bestimmte Form der Praxis oder der Realitätsnähe. rellen Agieren, wo man sozusagen ein Kulturaktivist Natürlich bin ich in manchen Auseinandersetzungen ist, jetzt Anfragen kommen aus dem realen Raum der auch bewusst realitätsfern und bewege mich in fiktioPolitik und der Verwaltungen. Die wollen genau von nalen Räumen wie bei den Klimakapseln. Kuratieren diesen experimentellen kritischen Blick profitieren. ist für mich auch eine Praxis, es ist nicht wissenschaftDas ist eine extrem spannende Entwicklung für mich lich, das ist ja eher an der Grenze zu künstlerischen Statements, wie man Themen setzt. persönlich. Die Welt der Kapselbewohner - was habe ich mir darunter vorzustellen? Das war ein neues Schreiben für mich, so eine ScienceFiction-Story. Die Kapselbewohner sind die Menschen, die darin wohnen: der Architekt, der sie gebaut hat, der Flüchtling, der gern rein will und nicht rein kann, der hofft auf die schwimmende Insel, die kommen soll, daher gibt es den Kapitän auf der schwimmenden Insel, es gibt den Widerstandskämpfer, der das zerstören will, es gibt den Wettermacher, so ein HippieKünstler, der mit Wettermaschinen experimentiert, es gibt den Läufer, das ist der Bewacher der außerhalb der Stadt liegenden Solarstromproduktionsareale, es gibt den Sonnenlenker, das ist der größenwahnsinniggigantomanisch-modernistisch denkende Ingenieur, der im globalen Geo-Engineering-Maßstab die Klimarettung plant. Das klingt nach einem spielerischen Ansatz. Genau, das ist auch total wichtig. Ich glaube, heute sind Ausstellungen etwas, was du freiwillig machst, und auch Bücher liest du ja, weil sie dich interessieren, oder im Idealfall, weil sie dich fesseln. Und ich glaube, dieser spielerische Ansatz ist sehr wichtig für mich, gerade in der Arbeit, und auch das narrative Erzählen. War für dich schon immer klar, dass du in die theoretische und kuratorische Richtung gehen möchtest? Ich habe überhaupt Architektur studiert, weil es mir nicht nur um ästhetische Erlebnisse ging, sondern darum, dass Gestaltung Gesellschaft verändern kann.

Beeinflussen sich deine Arbeitsweisen gegenseitig, das Kuratieren, die Lehre und die Wissenschaft? Das geht Hand in Hand, und manchmal sind es Gegenpole: Man kann sich in dem einen austoben und kompensieren, worüber man sich in dem anderen aufregt. Reine Wissenschaftler verlieren oft den Realitätsbezug und reine Praktiker verlieren das Träumen und das grundsätzliche Hinterfragen. Diese Verknüpfung von kultur- und gesellschaftspolitischer Reflexion in diesem geschützten Raum von Kunst, Kultur, Museum, Ausstellungsraum, Experiment, Hochschule – um mal alles zu nennen – ist total wertvoll, das brauchen wir als Gesellschaft und ich bin total froh, daran teilhaben zu dürfen und das mitzugestalten. Und auf der anderen Seite dieser Raum Realität-Handlung-Politik-Verwaltung, im Prinzip auch Wirtschaft: wie setzen wir bestimmte Bilder und Ziele auch tatsächlich um. Dass ich im Moment beides tun kann, ist für mich sehr wichtig. Wie in dem Projekt zur Leitbildentwicklung – kannst du das kurz erläutern? Leitbilder sind übergeordnete Zielvorstellungen, wohin sich ein Raum entwickeln soll. Das machen wir in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsarchitekturbüro BGMR für den Berliner Grünraum bis 2050, also von der kleinen Insel am Moritzplatz bis hin zum Grunewald. Die Frage ist, was kann eigentlich dessen soziale Funktion sein, seine ökologische, seine klimatechnische, seine ökonomische Funktion. Und dann natürlich die Fragestellung, wie ändert sich


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FÜR EINEN PROFESSOR IST FRIEDRICH VON BORRIES NOCH ZIEMLICH JUNG. FÜR EINEN ARCHITEKTEN BAUT ER RECHT WENIG. UND FÜR DIE DIE FRAGE, WIE WIR IN ZUKUNFT LEBEN WERDEN, WENN WIR ÜBERLEBEN WOLLEN, IST ER DESHALB GENAU DER RICHTIGE MANN: ALS THEORETIKER, DER DIE PRAXIS KENNT, ABER NICHT IN SIE VERSTRICKT IST. NACHDEM ER GEMEINSAM MIT MATTHIAS BÖTTGER AUF DER LETZTEN ARCHITEKTURBIENNALE IN VENEDIG DEN DEUTSCHEN PAVILLON MIT KONKRETEN PROJEKTEN FÜR EIN ÖKOLOGISCHERES BAUEN UND LEBEN GEFÜLLT HAT, ZEIGT ER NUN AM MUSEUM FÜR KUNST UND GEWERBE IN HAMBURG, WAS DER KLIMAWANDEL JETZT SCHON MIT UNSEREN STÄDTEN MACHT, MIT UNSEREN WOHNUNGEN, MIT UNS. Ästhetik unter diesen Bedingungen. Mich langweilt in Berlin, dass alle offiziellen Parks solche billigen englische Landschaftsgärten sind, gemähte Wiese und ein paar Baumgruppen. Vielleicht haben wir ja heute, oder bald, eine ganz andere Ästhetik. Vielleicht finden wir ja Windräder irgendwann schön und nicht hässlich. Wie sieht eigentlich ein schönes Windrad aus? Wär’ doch mal was. Andere Verknüpfungen von Grünraum und Stadt, darüber denken wir nach. Es gibt natürlich ganz viele Ansätze, von denen wir wissen, dass wir das sofort machen könnten. Also, ich würde mir natürlich autofreie Städte wünschen und wir leben in einer Stadt, wo man zahlen muss, wenn man das Fahrrad mit in die S-Bahn nimmt. Das wären die einfachsten Sachen, aber das traut sich halt keiner. Jetzt kam gerade vom ADAC dieser Vorschlag, Unter den Linden zu untertunneln, weil sie wissen, die Zeit ist abgelaufen für Autos Unter den Linden, irgendwann, und um das noch zu retten, schlagen sie eine Untertunnelung vor, wo man sich denkt: in welcher Welt lebe ich, oder die, oder ist es die gleiche, oder eine ganz andere, oder habe ich da irgendwas nicht verstanden? ... das ist wohl die Kapsel... ... hm, vielleicht hab’ ich auch ’ne Kapsel. Das frag’ ich mich dann natürlich schon auch manchmal.

Museumsinsel, dann springst du ins Wasser, um dich abzukühlen und dann gehst du wieder ins Museum. Das wäre doch eine schöne Stadt im Sommer. Großartig. Hat auch was mit Klimawandel zu tun, dann ist es nicht mehr so schlimm, wenn es wärmer wird, auch das ist Anpassung. Das wäre toll, ob’s jetzt wärmer wird oder nicht. Da fehlt aber vielen die Imaginationskraft. Das ist, glaube ich, auch eine wichtige Aufgabe von Gestaltung, für Designer: Imagination zu entfalten und zu verbreiten, so etwas fehlt uns. Buch: Friedrich von Borries. Klimakapseln. Überlebensbedingungen in der Katastrophe Suhrkamp, Berlin 2010 14,00 € ca. 160 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen Ausstellung: 28.5. – 8.8.2010 Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

WIE SIEHT EIGENTLICH EIN SCHÖNES WINDRAD AUS WÄR’ DOCH MAL WAS. Gibt es konkrete Projekte in Berlin, beispielsweise aus Updating Germany? Ein Projekt, das ich ganz toll finde, ist dieses LURI. watersystems. Die Spree ist heute nicht beschwimmbar, und das liegt nicht an Industrieabwassereinführungen, sondern daran, dass an starken Regentagen als Notentwässerung das ungeklärte Abwasser in die Spree fließt. Die von Spree2011 haben einfach überlegt, da, wo diese Kanäle in die Spree führen, unter Wasser große Tanks zu bauen. Auf dem Tank können wir eine Plattform haben, als andere Form des Parks, und wenn der Regen vorbei ist, pumpen wir das Wasser wieder zurück in die normale Kanalisation. Ein sehr einfaches Updating des vorhandenen Systems, sehr billig. Da gab es Forschungsgelder, da gibt’s jetzt Pilotprojekte und das soll, glaube ich, sogar jetzt bald in Berlin entstehen. Ein schöner kleiner Schritt. Ist doch auch absurd, wir haben diese schöne Spree und wir können nicht drin schwimmen.

Friedrich von Borries wurde 1974 in Berlin geboren, studierte Architektur an der Universität der Künste Berlin, der ISA St. Luc Bruxelles und an der Universität Karlsruhe (TH), wo er 2004 promovierte. An der ETH Zürich und am MIT Cambridge war er Gastwissenschaftler und an der Akademie der bildenden Künste Nürnberg Gastprofessor. Er ist Research Fellow am Goldsmith College in London sowie Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina. Von Borries hat zahlreiche reportageartige sozialwissenschaftliche Bücher (mit) veröffentlicht, in denen er Architektur und Urbanismus aus politischer, alltagskultureller und ökonomischer Perspektive beleuchtet. Gemeinsam mit Matthias Böttger und ihrem Büro raumtaktik kuratierte er unter dem Titel „Updating Germany - Projekte für eine bessere Zukunft“ den Beitrag für den Deutschen Pavillon der Architekturbiennale in Venedig 2008.

Stattdessen haben wir ein Schwimmbad, das in der Spree schwimmt. Was ja auch schon toll ist, ich bin ein großer Fan davon, aber eigentlich meint auch schon dieses Schwimmbad, dass wir irgendwann tatsächlich in der Spree schwimmen. Und wenn du das Leuten erzählst, die können sich das gar nicht vorstellen. Stell dir vor, du gehst auf die

Foto © Heji Shin

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ES GIBT KEIN FOTO VON MARTIN MARGIELA AUSSER EINEM VERMEINTLICHEN VON 1997, DAS MIT 11 JAHREN VERSPÄTUNG IN DER NEW YORK TIMES GEDRUCKT WURDE. DAS PROBLEM DARAN: EHEMALIGE MITARBEITER VON MARTIN MARGIELA SAGEN, BEI DEM MANN AUF DEM BILD HANDELE ES SICH KEINESFALLS UM MARTIN MARGIELA. WAS EXAKT DEM PRINZIP MARGIELA ENTSPRICHT, EGAL, WER DA NUN AUF DIESEM FOTO ZU SEHEN IST. ERSTAUNLICHERWEISE FÜHRTE DAS FOTO BEI SEINEM ERSCHEINEN ABER ZU ÜBERHAUPT KEINEM NENNENSWERTEN AUFRUHR IN DER DEM PERSONENKULT VERFALLENEN MODEINDUSTRIE. VIELLEICHT GIBT ES KEIN WIRKLICHES INTERESSE DARAN, MARGIELA ZU ENTTARNEN, WEIL DER SPASS DANN JA IRGENDWIE AUCH VORBEI WÄRE. IM DEZEMBER HAT MARGIELA NUN TATSÄCHLICH DIE MAISON MARTIN MARGIELA UND DAMIT DIE BÜHNE, DIE ER EIGENTLICH NIE RICHTIG BETRETEN HAT, NACH MEHR ALS 20 JAHREN VERLASSEN. WAS BLEIBT VOM MEISTER DER SURREALEN MODE UND WIE GEHT ES WEITER MIT SEINER MARKE

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN

VON MIRIAM RAUH


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ine Duftmarke hat Martin Margiela noch gesetzt, bevor er eingepackt und das Designerkollektiv in der Rue Saint-Maur sich selbst überlassen hat. Sein Parfum heißt „Untitled“ und wurde in Zusammenarbeit mit L’Oréal entwickelt. „Ich denke, das Parfum für L’Oréal war Martins letzter Akt für Maison Martin Margiela. Ein surrealistischer Duft - ähnlich vielleicht Marcel Duchamps „Pariser Luft“ - gleichzeitig auch sehr autobiografisch, indem er uns an Martins langjährigen Favoriten Patchouli erinnert. Und was für eine Flasche: fashion and the... bubble,“ schreibt Chris Dercon, Direktor des Hauses der Kunst in München. Über die Wahl des Partners könnte man sich wundern - gehörte MMM nicht ohnehin seit ein paar Jahren zu Renzo Rossos mächtigem Diesel-Konzern, womit es längst, wenn auch indirekt, im Mainstream angekommen ist. Margiela ist gegangen, der Duft ohne Titel wird uns wahrscheinlich noch viele Jahre auf den Straßen von Paris, Berlin und Tokio anwehen wie der Duft eines Geliebten, der noch lange im Raum schwebt. Aber blicken wir zurück. Martin Margiela wuchs als Sohn eines Parfum- und Perückenhändlers im belgischen Limburg auf und studierte später an der Königlichen Akademie der Schönen Künste in Antwerpen. Dort, so heißt es, sei er quasi die Nummer 7 der legendären Antwerp Six gewesen – Bikkembergs, Demeulemeester, van Beirendonck, van Noten, Yee und van Saene – aber wer sich mit dem Phänomen Margiela und seiner Geschichte befasst, stößt immer wieder auf Ungereimtheiten, so auch hier. Die Zusammensetzung der Antwerp Six wechselt je nach Quelle, es scheint, als würde man nach Informationen Suchende ganz bewusst verwirren. Jedenfalls schloss Margiela sein Studium bereits vor den anderen ab, ging nicht mit nach London und machte sich nach ein paar Assistenzjahren bei Jean Paul Gaultier 1988 zusammen mit seiner Partnerin Jenny Meirens als Maison Martin Margiela selbständig. Nebenbei war er von 1998 bis 2003 Chefdesigner des eher konservativen Hauses Hermès, was angesichts seines avantgardistischen Ansatzes seltsam anmutet, aber für seine ausgeprägte Liebe zum Handwerk spricht, aus dessen genauer Kenntnis bestimmte Designs überhaupt erst entstehen konnten. „Es geht nicht um Recycling und Dekonstruktion, sondern um gutes Schneiderhandwerk,“ fasst Linda Loppa, die Margiela von Anfang an als frühere Intendantin des berühmten MoMu (Modemuseum in Antwerpen) förderte und heute Direktorin der Polimoda (International Institute of Fashion Design and Marketing) in Florenz ist, Margielas Ansatz zusammen. Nur wer weiß, wie ein Blazer geschnitten ist, kann ihn auch dekonstruieren.

Keine Kameras Für die 90er Jahre war die Vorgehensweise Margielas geradezu unerhört. Zur Blütezeit des Pomp und des Personenkultes verweigerte er sich dem Medienrummel um die eigene Person. Schon bald delegierte er Interviews an sein Pressebüro, man sprach von „wir“, von einer kollektiven Identität, die sich einem Geheimbund gleich im Pariser Atelier zusammenfand und im Verborgenen an immer neuen Kreationen wirkte. Gemeinsam, gelenkt von ihm, dem Meister aus Flamen, von dem noch heute alle schwärmen, die dabei waren. „Du würdest ihn mögen,“ sagt einer, der mit ihm gearbeitet hat. Bescheiden sei er, zurückhaltend und empathisch. Manchmal sei er im Mini-Cooper auf den Hof gefahren, oft sei er aber auch einfach zu Fuß gekommen. Einen eigenen Arbeitsraum habe Margiela nicht gehabt. Der einzige Luxus, den er sich leistete, sei die ihm vorbehaltene Treppe in das Atelier gewesen. Seine Mitarbeiter wussten nie, ob er vielleicht schon da war oder gleich kommen würde, oder möglicherweise doch nicht. Allerdings war seine konzeptionelle Methodik vom Team ohnehin so intensiv verinnerlicht, dass er bei Erscheinen auch kaum wahrgenommen wurde.

Radikal war sein Ansatz, das Unsichtbare nach außen zu kehren, Altes in einen neuen Kontext zu bringen, das Neue zu antikisieren und das Kollektive über das Persönliche zu stellen. Manches ging dabei ins Groteske. Die Models trugen Haarperücken über den Gesichtern, defilierten mit schwarz geschminkten Augenbalken, ihre Köpfe wurden mit Nylonstrümpfen anonymisiert. Möbel bekamen Hussen, Böden wurden einheitlich geweißt. Margielas Mitarbeiter waren stets in weiße Kittel gehüllt. Das betraf alles und alle und war ein ausgesprochenes Dogma, sogar für die Kantinenköche. Er, Jenny Meirens und ein weiterer Mitarbeiter trugen diese Farbe aber nie. Auf geradezu maßlose Art zelebrierte Margiela seine Bescheidenheit und Zurücknahme und katapultierte sich gerade so in den Olymp des Personenkults. Es gipfelte darin, dass er sich irgendwann überhaupt nicht mehr fotografieren ließ, auch von engen Mitarbeitern gab es keine Bilder mehr und Interviews, wenn überhaupt, nur noch schriftlich. Ein merkwürdiger Habitus für jemanden, der in einer profilneurotischen Branche, die vor allem von Selbstinszenierung lebt, eine nicht immer geschätzte, aber über lange Zeit zentrale Rolle spielt. Erstaunlich auch, dass das Konzept des Nichterscheinens mehr als zwanzig Jahre lang konsequent umgesetzt werden konnte. Und beinahe noch erstaunlicher, dass Martin Margielas konzeptionelles Understatement noch nach seinem offiziellen Ausscheiden aus dem Unternehmen, das seinen Namen trägt, von Dritten wie selbstverständlich fortgeführt wird. Vielleicht geschieht dies tatsächlich aus Respekt.

Kein Logo als Logo Mit den markanten No-Logos hat Margiela den Grundstein zu einer Bewegung gelegt, die in seiner Anfangszeit Underground war und heute beinahe Mainstream ist. Welch’ passende Ironie: sein No-Logo als Branding ist um ein vielfaches prägnanter, als es ein Etikett mit gut lesbarem Markennamen je sein könnte. Der einfache Stoffschnipsel, in immergleicher Art mit groben Stichen in die Kleidung geheftet, ist eine klare Kennzeichnung, die Margielas Kleidung unmissverständlich ihrer Herkunft zuordnet. Die Nummerierung erfolgt nach klar festgelegten Codes, die Eingeweihte wie Hieroglyphen dechiffrieren und wie ein Mantra beten. So steht die 0 für die von Hand gefertigte Artisanal-Kollektion, die 3 steht für Parfum, 22 für Schuhe, 11 für Accessoires, 13 für Objekte und Publikationen, usw. Den Zahlen 0 bis 23 ist konsistent eine bestimmte Linie oder ein bestimmtes Projekt zugeschrieben; in einer Zahlenreihe wird die jeweils geltende von einem schlichten Kreis umschlossen. Wie Rei Kawakubo auch war Martin Margiela Role-Model einer Ära und beeinflusste die Talente des zeitgenössischen Fashion Business. Haider Ackermann, Raf Simons oder Viktor & Rolf – alle konzeptionell Arbeitenden, die sich heute großer Popularität erfreuen, sind von ihm geprägt. Wie sehr, lässt ihre Reaktion auf die Anfrage einer Stellungnahme zum Kollegen vermuten: „Ich glaube nicht, dass er dazu etwas zu sagen hat, da er keinerlei Verbindung zu ihnen (MMM, Anm.d.R.) hat,“ war die prompte Antwort von Haider Ackermanns PR-Abteilung in Paris - was leicht verschnupft klingt, wenn man bedenkt, dass der in Antwerpen ausgebildete Kolumbianer kurzzeitig für den Posten des Creative Directors im Haus Margiela im Gespräch war. Ähnliches ist von Raf Simons Presseabteilung zu vernehmen, auch wenn diese sich diplomatischer auszudrücken weiß. Und selbst das Label BLESS, das immerhin im gleichen Pariser Hinterhof logierte, mit Margiela zumindest gut bekannt war und oft als Epigone wahrgenommen wird, gibt sich zugeknöpft, mit der Begründung, dass das Haus Margiela „durch Martins Verlassen auch ein wenig an Bedeutung verloren“ habe. Ob es die Angst vor dem Vergleich ist, schlichter Zeitmangel oder branchentypische Borniertheit? Das Gesicht wird jedenfalls gewahrt, das eigene und das von Martin Margiela.

Oper ohne Phantom Auch nach seinem Fortgang werden die Rätsel um Margiela nicht gelöst. Mit Martin Margiela ist es wie mit dem Kopf eines Geheimbundes, dessen Mitglieder auf mysteriöse Weise dazu gebracht werden, zu schweigen. Nicht nur Margiela selbst, auch die Strategie des Hauses gibt Rätsel auf. Einerseits beschwört MMM in der medialen Verweigerung eine nonkonformistische Avantgarde, die sich den Gesetzen der Branche verweigert, andererseits befinden sich die Boutiquen an It-Kultstätten wie der Mailänder Via della Spiga, in der Nähe des Palais Royal in Paris, im schicken Tokioter Distrikt Shibuya oder an der Münchner Leopoldstraße - und dass der Store ausgerechnet in Beverly Hills nicht leicht zu finden ist, macht die Wahl des Standorts auch nicht subversiver. Aber vielleicht sind das die Kompromisse, die man schließen muss, wenn man seine Mitarbeiter bezahlen und den Rücken für seine Projekte frei haben will. Kreativität ist ohne Kapital eben schnell erschöpft. Die Tatsache, dass Martin Margiela nie wie ein typischer Chefdesigner gearbeitet hat, mag der Grund dafür sein, dass es tatsächlich in seinem Sinn weitergeht, möglicherweise ganz anders als es bei Helmut Lang, Wolfgang Joop oder auch Jil Sander der Fall war. Auch sie wurden von großen Konzernen aufgekauft – doch das von ihnen verkörperte Design wurde im Anschluss verraten. Vielleicht hat Margiela es wirklich geschafft, seinem Team den Kollektivgedanken so stark einzuprägen – und die Weigerungen, ihn preiszugeben, der Presse Bilder oder auch nur eine Beschreibung von ihm oder seinem Gesicht zuzuspielen, sprechen dafür – dass sein Konzept auch ohne ihn weitergeführt wird. Wie es im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ nur die Idee anstatt des Stoffes gibt, bedarf es für Maison Martin Margiela keiner greifbaren Person. Konzept geht über Körper, die Linie lebt im Schwarm. Dass dies gelingt, lässt auch die Präsentation der Homecollection im eleganten Mailänder Corso Como anlässlich des Salone del Mobile hoffen. Als wäre nichts geschehen gibt sich das Who-is-Who der internationalen Fashion- und Designelite im April 2010 zu „Position Assis“, „The Maison in a Room“ und „Moustache Guard“ die Klinke in die Hand.

Traue deinen Augen nicht Die Maison Martin Margiela Interior Linie greift das Moment der Täuschung des Trompe-l’oeil auf, das schon in Margielas Kleidung eine große Rolle spielt. Entstanden aus einer konkreten Situation - das Atelier zog aus der herrschaftlichen Maison Particulière in ein zwar schönes, aber teils sehr billig umgebautes ehemaliges Kloster in der Nähe der Rue Oberkampf – begann man, die Stuckelemente der früheren Räume auf Papierbahnen zu drucken, die barocken Türen, das abgelaufene Parkett, und damit den neuen Ort zu verändern, ihm eine andere Identität zu geben, vorwiegend in Weiß, der Farbe des leeren Blattes, das es noch zu beschreiben gilt. Inzwischen hat sich die Interiorlinie verselbständigt. Es gibt Kooperationen mit Droog, luxuriösen Hotels, der Elle Décoration und - man wagt kaum es auszusprechen - im Juni 2009 hat Ikea eine Ausstellung mitfinanziert. Margiela ist gegangen, er lässt sein Haus und dessen Bewohner hinter sich. Die Räume werden sich aufs Neue füllen. Wieder und wieder. Und wer weiß, vielleicht mischt er sich einmal unter die Weißkittel in der Rue Saint-Maur, nur so aus Spaß. Wer würde das bemerken?

Fotos: © Michael Hölzl


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POST UND MODERNE VON FRANZISKA NAGY WENN MAN GALERIEN FÜR ZEITGENÖSSISCHE KUNST BETRITT, FRAGT MAN SICH – NATÜRLICH OHNE, DASS MAN ES JE ZUGEBEN WÜRDE – WER EIGENTLICH DIESE HÄUFIG SEHR RAUMGREIFENDE KUNST KAUFT UND WIE ES BEI DEN GALERISTEN SELBER WOHL ZU HAUSE AUSSIEHT. JAN UND TINA WENTRUP, DIE GEMEINSAM DIE GALERIE WENTRUP IN BERLIN FÜHREN, GEWÄHREN EINEN EINBLICK IN IHR LEBEN MIT DER KUNST.

„Black Moon“ von Mark Handforth scheint auch am Tag.


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s fängt schon einmal damit an, dass es sich bei der angegebenen Adresse um kein herkömmliches Wohnhaus handelt. Die Wentrups wohnen im ehemaligen Rohrpostamt Nr. 26 in Charlottenburg, von wo man seit etwa 130 Jahren Briefe und Sendungen aller Art verschicken kann. Seit einiger Zeit kann man dort auch wohnen. Zwei Torbögen führen in die Innenhöfe des roten Backsteinbaus, der bis heute eine Postfiliale, Berlins einzige Philatelie, ein Yoga-Studio und einige Privatwohnungen beherbergt. Bei der ersten Besichtigung ihres zukünftigen Zuhauses fanden die Wentrups Räume vor, die aussahen, wie man sich die Verwaltungsräume eines Postamtes eben so vorstellt: klein, verschachtelt, mit engen Gängen und einem gelben Anstrich, der von den Wänden blättert. Geübt darin, das Wesen von Dingen zu erfassen, die zunächst vielleicht ganz anders erscheinen, beschlossen sie, dass es funktionieren würde. Jetzt führt der Eingang der knapp 200 Quadratmeter großen Wohnung, die zum einen Teil Loft, zum anderen klassischer Altbau ist, direkt ins Wohnzimmer; in einen Lebensraum hinein, den Tina und Jan Wentrup selbst als Experimentierfeld bezeichnen. Dort leuchtet einen unmittelbar der jüngste Erwerb der Galeristen, „Black Moon“ von Mark Handforth, an. „Der Kauf einer solchen Arbeit ist ein Bekenntnis“, sagt Jan Wentrup. Neue Leitungen mussten unter Putz verlegt werden, damit die strahlenförmige Neonröhren-Gruppierung um einen gesprayten Halbmond herum mit Strom versorgt werden konnte. Interessant an der Installation ist auch die Herausforderung an die eigene Geschicklichkeit: Es gibt zwar eine Schablone für den Mond, aber aufgesprüht haben ihn die Wentrups selber. Eben noch Baustelle, sieht es kurz darauf so aus, als wäre der Handforth für den Raum gemacht. Die beiden erzählen, dass sie den Künstler schon seit längerem beobachten, diese Arbeit aber dieses spezielle Gefühl von „Genau das ist es!“ auslöste. Kurzerhand musste Richard Aldrichs „Coward Painting“ in die Küche umziehen. „Mit der Kunst in unserer Wohnung war es uns immer wichtig, etwas auszuprobieren, keinen Aufwand zu scheuen“, sagt Jan Wentrup. Die Großzügigkeit des Lofts ist dafür eine wichtige Voraussetzung. „Diese Räume haben keinen so starken eigenen Charakter. Die Kunst kann hier einfach sein“, fügt Tina Wentrup hinzu. Handforth gegenüber hängt eine Arbeit von Matthias Bitzer, einem Künstler der Galerie. „The impossible figures“ bildet mit der Couch den Kern des Wohnzimmers. Über einem 50er Jahre Sofa findet man Collagen von Mathew Hale, einem Künstler, der der Galerie im letzten Jahr das zweite Mal eine Einladung zu den Art Statements, einer Sondersektion der Art Basel, einbrachte. Neben der Tür, auf der anderen Seite, hängt eine Arbeit in matten Tönen von Michael Kalki über einer Bank von George Nelson. Im Zweifelsfall würde das Paar immer zugunsten eines Kunstwerks und nicht eines Designermöbelstücks entscheiden. Die Wohnung soll auf keinen Fall ein Showroom sein, sie hat andere Parameter als die Galerie, die Jan Wentrup 2004 gegründet hat und seit 2008 gemein-

Kind kaum wagte, das Elternschlafzimmer zu betreten. Hier wäre es schade darum, keinen Blick zu erhaschen, denn der Raum gehört ganz Axel Geis. „Mädchen (unvollendet)“ strahlt mit einer Intensität, die einen für mehr als einen Augenblick gefangen hält. Das eingangs erwähnte, kleinformatige Schlüsselwerk von Axel Geis, „Clown“ aus dem Jahr 2003, ein kleiner dicklicher Mann im Rautenanzug mit Schnurrbart, hängt über Eck. „In dieses Bild waren wir auf den ersten Blick unsterblich verliebt. Wir haben es aus einer kleinen Hinterhofgalerie.“ Heute macht Axel Geis das, was man auch in der Kunstwelt Karriere nennt. Das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer liegen im zweiten Teil der Wohnung, einem typischen Altbau mit Flügeltüren und einer Loggia. Hier sind die Bücher, hier stehen der Rocking Chair von Charles Eames und ein sehr hübscher Lesesessel, pudrigrosa der Bezug. An der Wand dahinter dann allerdings ein dickes Ding: „Die Passanten“, eine Zeichnung von George Grosz. Die obszön-ironische Darstellung zeigt den Künstler selbst, im Mantel und mit offenem Hosenstall, ein heterosexueller Tom of Finland, seine Frau und seine Schwägerin im Arm. Die Wentrups konzentrieren sich zwar stark auf ihre eigenen Künstler, manchmal aber finden sich faszinierende Brücken zwischen gestern und heute, denen sie sich nicht entziehen können. Im Wohnzimmer, zwischen dem Handforth und zwei Zeichnungen von Jen Ray, hängt zum Beispiel „Tête d´homme à la moustache“ von Francis Picabia. Der Erwerb von Kunst markiert biografische Eckdaten, davon ist Jan Wentrup überzeugt. Beim Betrachten der Werke betrachtet man somit immer auch deren Besitzer. „Ein Kunstwerk sagt etwas über dich aus zu dem Zeitpunkt, als du das Kunstwerk gekauft hast. Es reflektiert dich wie ein Tagebuch.“ Aus dieser Idee heraus erklärt Tina Wentrup, warum die Werke in ihrer Wohnung wechseln, ausgetauscht werden, einen neuen

Platz finden. „Im Leben entwickeln wir uns persönlich weiter. Ein Kunstwerk kann somit für etwas stehen, das man hinter sich gelassen hat. Es gibt wenige Werke,“ sagt Tina, „die auch über die Zeit hinweg noch stark genug sind, um bei ihrem täglichen Anblick auch nach Jahren noch neue Kraft daraus zu schöpfen.“ Timm Ulrichs hat solche Arbeiten geschaffen, ob sie nun materialisiert sind oder im kollektiven Gedächtnis fortleben. Der Performance-, Body Art- und Konzeptkünstler ist der Schöpfer des Begriffs „Totalkunst“, mit dem Jonathan Meese seit ein paar Jahren nahezu exzessiv arbeitet. Er stellte sich schon 1959 als erstes lebendes Kunstwerk aus, setzte sein Leben aufs Spiel, indem er seine Körperform aus zwei Hälften eines Hinkelsteins herausmeißelte und sich für Stunden nackt darin einschließen ließ. Ulrichs verweigerte sich bewusst dem Kunstmarkt, er ist das, was man einen Künstler-Künstler nennt, einer, den alle kennen, von dem viele beeinflusst sind und den man doch kaum in Galerieausstellungen oder auf Kunstmessen findet. Dass Jan und Tina Wentrup ihn in seinem 70. Lebensjahr gewinnen konnten, bei ihnen auf der Art Brussels zu zeigen und im Juni in den Berliner Räumen auszustellen, ist ein echter Coup. Beim Verlassen der Wohnung fällt der letzte Blick wieder auf den strahlenden Mond von Mark Handforth. Dass die Verwaltung der Post einmal diese Räume belegt hat, dass hier der Sitz einer schon zu Lebzeiten vergilbten Beamtenmentalität gewesen sein soll, ist heute schwer vorstellbar. Der Stapel Pakete auf einem Rollwagen im klinkerverputzten Innenhof könnte auch ein täuschend echt aussehender Paketstapel-auf-RollwagenNachbau aus Pappe sein und hier stehen, um gleich von Thomas Demand fotografiert zu werden.

sam mit seiner Frau Tina führt. Es geht hier ums Wohnen und Leben mit, zwischen und für die Kunst. Um das Sammeln von Kunst als Selbstzweck oder als identitätsstiftendem Lebenssinn geht es hingegen nicht, auch, wenn Jan Wentrup mit 16 Jahren schon eine Edition von Joseph Beuys kaufte. Künstler zu unterstützen ist den Wentrups wichtig. Einige Käufe gingen der Aufnahme des jeweiligen Künstlers in die Galerie voraus oder waren sogar Initialzündung zur Galeriegründung, wie zum Beispiel das Bild „Clown“ von Axel Geis, das im Schlafzimmer hängt. Ein Flur führt in den zweiten großen Raum des Lofts, die Küche, die das Herz der Wohnung ist. Sofort gerät man in eine Bühnensituation: Der Boden glänzt in Ochsenblutrot. An der Stirnwand eine in-situ-Installation von Gregor Hildebrandt, ein wandfüllender Vorhang aus unbespielten Videobändern, der wie ein Wasserfall in Magnetgrau die Wand herunterfließt. Der Fotos © Jan Friese Vorhang weckt die Sehnsucht nach einer möglichen Anderswelt dahinter, ähnlich dem Spiegel, der ins Kabinett des Doktor Parnassus führt. „Gregor Hildebrandts Arbeiten haben wir durch Axel Geis kennengelernt. Er klebte seine Bilder damals aus alten Kassetten, das hat uns total schnell berührt. Darin steckt unheimlich viel Melancholie und Intensität. Später hat er das Material losgelöst von seiner Hülle. Wie bei diesem Vorhang.“ Eine Figur von David Noonan - deutlich dem Theater entlehnt - steht davor und blickt erstaunt. Hier wird die Hand von Tina Wentrup besonders deutlich: Ursprünglich vom Theater kommend, hegt sie eine Liebe zu Tanz und Performance und hat Künstler dieser Sparte in die gemeinsame Galerie gebracht. Jen Ray, deren filigrane Tuschezeichnungen voller amazonenhafter Frauenfiguren von Jan Wentrup schon früh für das Galerieprogramm entdeckt wurden, verwirklichte von den neuen Galerieräumen in Kreuzberg angeregt und von der Galeristin befeuert ihre ersten Performances. „Künstler entwickeln sich weiter, wenn sie neue Räume bespielen können.“ Über der Küchenzeile, die durch eine im Raum stehende offene Bar gespiegelt wird, befindet sich eine weitere ortsspezifische Arbeit von Gregor Hildebrandt. „La chanson d´Hélène“ ist der Titelsong des Filmes „Les choses de la vie“ von Claude Sautet, in dem Romy Schneider die Hauptrolle spielt und dessen Text Hildebrandt aus auf die Wand aufgebrachten Kassettenbändern ausgekerbt hat. Am großen Fenster zum Hof hat ein alter langer Esstisch seinen Platz, dahinter ein großformatiges Mondlandungsbild von Wawrzyniec Tokarski. „Everything depends on whom it serves“, stellt das Gemälde fest. In diese Wohnküche passt eine ordentliche Zahl von Gästen, die Bar ist gut bestückt. Jan und Tina Wentrup pflegen ein offenes Haus, zum Gallery Weekend haben sich schon hunderte Leute in ihrer Wohnung getummelt. Erstaunlich ist, wie wenig sie auf Privatheit beharren. Ist in vielen Wohnungen das Schlafzimmer tabu, steht hier die Tür offen. Jan Wentrup amüsiert sich über früher, die Beklommenheit, mit der man als Hinter dem 50er-Jahre-Sessel hängt die Überraschung schlechthin: „Die Passanten“ von George Grosz.

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Der Maler Axel Geis gehört zu den wichtigsten Entdeckungen für die Galeristen. Der „Clown“ (rechts) markiert einen biografischen Punkt.

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Links: drei Collagen von Mathew Hale. Rechts über der Couch: „The impossible figures“ von Matthias Bitzer.

Hinter dem alten Esstisch hängt ein großformatiges Gemälde von Wawrzyniec Tokarski. Die Schrift im Bild ist charakteristisch.

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FASHION

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L’HOMME 100 TÊTES

Photographer: Anita Bresser (www.anitabresser.com) Model: Alexander (www.centoscouting.com) Make-Up: Catrin Kreyss (www.perfectprops.de) Styling: Julius Mark Forgo (www.perfectprops.de) Styling Assistant: Phuong Anh Pham Doan

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Mantel: Vintage Anzugjacke: Drykorn Poloshirt: Firma Hose: Janina Mohr Str端mpfe: Vintage Brosche: Stylists own Schuhe: Vintage Fliege: Volkan


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Lederjacke: Vintage Fliege: Volkan Poloshirt: H&M Strickhose: Vintage Brille: Vintage

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Kopfbedeckung: Vintage Hemd: Ivanman Fliege: Volkan

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Jacke: Topshop Anzugjacke: Drykorn Hose: Stylists own Schals: Edsor Kronen Schirm: Vintage

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Anzug: Kilian Kerner Hemd: Stylists own Fliege: Volkan Uhr: Cartier Brille: Vintage Schulterpolster als Kopfbedeckung: Starstyling

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MUSIK

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HEILIGE SCH...!

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PEACHES UND MUSICAL DOCH, SIE MEINT ES ERNST. INTERVIEW: UTA SCHWARZ

Peaches, die in Kanada geborene Künstlerin, die 2000 mit dem Song „Fuck The Pain Away“ Wegbereiterin des Electroclash war, ist - anders als ihre Bühnenperformances vermuten lassen - eine ganz zarte, kleine Person von etwa 1,60 m. Ihr schmales Gesicht mit den großen Augen könnte fast zu süß aussehen, hätte sie nicht ihr Haar an den Schläfen abrasiert und, ja, wäre sie eben nicht Peaches. Ihr neuestes Projekt ist die Inszenierung der Rockoper „Jesus Christ Superstar“, das erste Musical, das Andrew Lloyd Webber zusammen mit Tim Rice geschrieben hat und das 1971 in New York uraufgeführt wurde. Das Musical löste mit seiner Interpretation der letzten Tage von Jesus einen Riesenskandal unter christlichen Gruppen aus, war aber derart erfolgreich, dass es inzwischen weltweit hundertfach aufgeführt und sogar im Radio des Vatikans abgespielt wurde. Peaches spielt in ihrer reduzierten Version alle Rollen selber, hatte aber zunächst Schwierigkeiten, die Rechtehalter des Musicals von ihrer Version zu überzeugen...

Ende März hast du im Berliner Hebbel am Ufer (HAU) deine One-Woman-Show Peaches Christ Superstar aufgeführt. Kurz davor sah es jedoch so aus, als würde die Vorführung platzen, was ist passiert? Ja, eine Weile sah es so aus, als könnte ich die drei schon lange angekündigten Shows im HAU nicht aufführen. Die Rechtehalter von Andrew Lloyd Webbers Musical „Jesus Christ Superstar“ hatten mir die Rechte zunächst verweigert. Erst kurz vor dem Termin der Uraufführung gaben sie mir probeweise die Genehmigung, meine Interpretation des Musicals dreimal aufzuführen. Kannst du die Ablehnung der Lloyd Webber Rechtehalter verstehen? Denkst du, es hatte etwas damit zu tun, wie du dich bisher als Künstlerin präsentiert hast – meistens provokant und schockierend? Ich glaube nicht, dass die Leute wirklich wussten, wer Peaches eigentlich ist, geschweige denn, was ich bisher für Musik gemacht habe. Es hatte meiner Meinung nach vor allem damit zu tun, dass sie sich nicht vorstellen konnten, wie eine bombastische Musicalshow überhaupt von nur einer Person gestemmt werden könnte. Ich spiele ja alle Figuren und werde lediglich von Chilly Gonzales auf dem Klavier dabei begleitet. Man darf nicht vergessen, dass hinter diesen Musicals eine riesige kommerzielle Maschinerie steht, es ging also vor allem um die Frage, warum sollte man eine Ein-Mann-Show daraus machen, wenn man das ganze auch so viel größer aufziehen könnte? Haben sich die Leute, die über die Genehmigung zu entscheiden haben, die Show angesehen? Ja. Das haben sie! Und sie haben gesehen, dass das, was ich da mache, doch wichtig und interessant ist. Ich habe die Rechte für meine One-Woman-Show danach nämlich für weitere Aufführungen bekommen. Ich glaube, ich habe sie mit meiner Show überzeugt: Erstens konnte ich ein ganz anderes Publikum anlocken, ein sehr viel jüngeres als bei anderen, sagen wir mal, traditionellen Musicals. Vielen geht es offenbar so wie mir, man ist mit der Musik aufgewachsen und liebt sie, aber in Musicals möchte man deswegen noch lange nicht gehen. Und zweitens haben sie gemerkt, dass meine Version die Musik respektiert. In einer solchen, auf nur eine Person heruntergebrochenen Version, kommen die eigentlichen Gefühle, die die Musik transportieren will, viel besser heraus. Vor allem aber haben sie gemerkt, dass ich mich nicht über das Original lustig mache. Das war wahrscheinlich die Hauptsache.

Darf Kunst eigentlich alles? Ich denke ja. Oftmals ist es aber auch eine Frage des Marketings. Da ist die Kunst auf der einen Seite und die Art, sie zu vermarkten, auf der anderen. Werde ich von der Öffentlichkeit als Künstlerin geschätzt? Ich weiß es nicht, manchmal denke ich, ich bin den Leuten zu gefährlich. Im Gegensatz zu Lady Gaga beispielsweise. Auf eine Art macht sie das Gleiche wie ich, aber ihre Vermarktung ist viel massiver. Das ist der Grund, warum sie eine von der Allgemeinheit akzeptierte merkwürdige Mainstream- Person ist und ich immer eine akzeptiert merkwürdige Nicht-Mainstream-Person sein werde. Ist Kunst immer Provokation? Muss Kunst schokkieren? Aber klar, das ist die Aufgabe von Kunst. Kunst muss gefährlich sein, provokant und schockierend. Und sie war es auch immer: Rock´n Roll beispielsweise war eine schockierende Musikrichtung. Jeder fragte sich damals: „Oh mein Gott, was hören sich unsere Kinder für gefährliche Musik an?“ Ich wünschte, heute wäre das auch noch so. Doch viele Jugendliche hören jetzt so seichtes Poptralala. Manchmal möchte ich den Kids von heute zurufen: Hey, seid ein bisschen schockierender! Aber immer nur provozieren zu müssen, ist das nicht auch so etwas wie eine innere Zensur? Das war genau die Frage, die ich mir am Anfang meiner Karriere gestellt habe. Was ist mein innerer Zensor? Sollte ich ihn akzeptieren? Auf ihn hören? Oder ist das alles angelernt und antrainiert? Welche Rolle steht mir als Frau zur Verfügung, war eine der Fragen. Wir singen alle zu irgendwelchen HipHop oder Rocksongs mit, Musikgenres, die Frauen in bestimmte Rollen zwingen. Das liegt daran, dass das Klassiker waren. Ich wollte provozieren, aber mit dem Ziel neue Klassiker zu erschaffen. Wenn ich heute einen Mann in einem Club „Suckin´on my titties“, also meine Liedzeilen, singen höre, dann merke ich, ich habe es geschafft. Glaubst du, dass du nur in Berlin Peaches werden konntest? Nein. Das hat eher damit zu tun, dass man sich manchmal selber verpflanzen muss. Wäre ich aus Berlin, hätte ich wahrscheinlich wegziehen müssen. Es hatte etwas von einer Transplantation. Als ich vor zehn Jahren nach Berlin gezogen bin, war es einfach nur eine Frage von

right time, right place. Berlin hat einfach als erstes mit schiedliche Musiker wissen, wer ich bin. Medienleute auch. Aber eine große Öffentlichkeit? Ich glaube nicht. meiner Musik etwas anfangen können. Die meisten kennen den Song „Fuck The Pain Away“, Dann ist Berlin Heimat für dich geworden? Oder aber wissen sie auch, von wem er ist? Eher nicht. Soviel denkst du daran, dich woanders neu zu erfinden? übrigens auch zu dem Thema, dass mein Image soviel Nein, ich ziehe nicht weg aus Berlin. Berlin ist tatsäch- größer als meine Songs sei. Das stimmt nämlich nicht. lich Heimat. Gibt es etwas, was du als Künstler niemals machen Hast du eigentlich davon geträumt, ein Popstar zu würdest? werden? Nein. Ich würde grundsätzlich alles machen. Es gibt keine Verbote für einen Künstler. Aber es kommt auf die jeweiNein. Davon habe ich nie geträumt. lige Situation an. Provozieren, nur um des Provozieren willens? Nein. Aber ich sehe mich ohnehin eher als Aktivistin Aber du bist einer, oder nicht? Schwer zu sagen. Ich weiß, dass viele Künstler wissen, denn als Sängerin, also noch mal: Ja, ich finde, als Künstler wer ich bin. Beyoncé weiß, wer ich bin, Lady Gaga weiß, ist alles erlaubt. Sag niemals nie zu irgendetwas. wer ich bin, Greenday wissen, wer ich bin. Sehr unter-


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ARROGANT BASTARD

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ARROGANT BASTARD VON RALPH MARTIN

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ie Designerwelt ist mir ein Rätsel. Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass alles, was ich benutze, von jemandem entworfen wurde, aber für die Designerwelt ist das Bewusstsein über den Designer alles. Dein Feuerzeug, das Netzteil deines Apple-Computers, dein Stuhl: alles wurde von großen Designer-Namen geschaffen. Der Idee wohnt etwas Religiöses inne, wie ein animistisches Glaubensbekenntnis, wo jeder Felsen und jeder Baum eine Seele hat und jemandes Inkarnation darstellt. Nach einer Weile wird das ganz schön erbärmlich. Und obendrein auch noch anstrengend. Ich muss zugeben, ich weiß nicht, wer mein BIC-Feuerzeug oder mein Apple-Netzteil entworfen hat, aber ich kann in den IKEA-Katalog schauen, um zu sehen, wer der Designer des Stuhls ist, auf dem ich sitze, während ich dies schreibe. Ich werde das nicht tun, aber zu wissen, dass ich es könnte, macht mich ein kleines bisschen verrückt. Vielleicht ist meine Sicht der Dinge ja total mittelalterlich. Was geschah denn mit der alten Vorstellung vom Steinmetz, der anonym in einer Kathedrale vor sich hin arbeitet? Ich weiß nicht, wer der Designer der Pyramiden war, aber ich weiß, dass jemand mit dem Namen Herman Miller Schreibtischstühle entworfen hat. Dieser Informationsfetzen füllt meinen Kopf, neben anderen Dingen, die ich wirklich wissen muss. Design ist etwas, was jeder, der berühmt wird, gerne in seiner Freizeit tun würde. Große Gebäude und glatte Stühle – der gottgleiche Mies van der Rohe kann es alles! Tom Ford entwirft das perfekte Schuhregal! Warum hat das Universalgenie Karl Lagerfeld nicht die ultimative elektrische Zahnbürste entworfen? Ich könnte mich über so was aufregen, was mich aber nur noch mehr anstrengt. Nichts hiervon würde eine Rolle spielen, wenn Design, so wie einst, das Gebiet der Reichen und der Avantgarde bliebe; wohlhabende Menschen können mit ihrem Geld tun, was sie wollen, und es tut mir nicht weh, wenn sie Tausende für modellierte Plastikmöbel ausgeben wollen. Aber Design ist zwangsläufig auch zu den breiten Massen durchgesickert, und mit ihm ein Snobismus, der genau so weitverbreitet wie unerträglich ist. Unzählige Menschen in Europa und Amerika suchen bei Ebay aufgemotzte modernistische Möbel und lassen sich von Objekten aus Sperrholz und Plastik suggerieren, dass ihr Leben nicht umsonst war. Man gehe zu einer Werbeagentur oder einer Internet-Start-up-Firma, und das begehrteste Erfolgssymbol wird nicht das Eckbüro sein, sondern ein Aeron-Stuhl von Herman Miller. Ich erinnere mich mit Schaudern an die frühen Tage der Internet-Blase in New York, als eine der neuen Firmen 200 Aeron-Stühle für ihre Angestellten kaufte. Die meisten von ihnen arbeiteten unentgeltlich, aber es wurde als Privileg angesehen, diesem Inbegriff von Design ausgesetzt zu sein, so dass sie dankbar waren. Nicht anders ist es bei den Berlinern und ihrem Lieblingszeitvertreib – dem Abklappern von Flohmärkten. Jeder Trödeljäger vom Mauerpark träumt vom ultimativen Gewinn: einen perfekten Satz Arne-Jacobsen-Stühle zu finden, obwohl die Tage der senilen Banausen, die ihre aus der Mode gekommenen modernistischen Möbel dort abladen, längst vorbei sind. Horden ansonsten vernünftiger Mittelklasse-Menschen verbringen ihre angenehmen Sonntage beim Durchwühlen von Müll auf der Suche nach einem winzigen DesignerTeil. Als ob sie ein Teil des wahren Kreuzes Christi besäßen, sind sie dem Designer-Himmel ein Stück näher, wenn sie ein verbeultes Edelstahlbein eines vormals berühmten Sofas ergattert haben. Berlin zu verlassen, um der Design-Manie zu entgehen, macht die Sache auch nicht besser: in jedem Hotel, in dem man zufällig absteigt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Toilettenpapierhalter die Unterschrift von Philippe Starck tragen wird, und die Wagen der Deutschen Bahn wurden umgestaltet von... ich weiß nicht wem. Wir nähern uns mit großer Geschwindigkeit dem Tag, an dem der Auspuff unseres Mercedes, so wie

BY RALPH MARTIN auch die Türen, das Lenkrad und der Schaltknüppel die Initialen der bis dahin unbekannten Schwaben tragen werden, die sie entworfen haben. Achtung: diese Design-Geschichte kann mit ihrem Wahnsinn eine ganze Gesellschaft aufzehren. Man kann aber auch eine alternative, bequeme Route wählen, so wie ich es mache, und in der totalen Unkenntnis der Namen hinter den ganzen Objekten schwelgen. Werden sie Design-Atheist; es gibt viele Wege ins Paradies, aber manche sind viel billiger und weniger anstrengend als andere. Aus dem Amerikanischen von Elvira Veselinović

Design People are a riddle to me. I have come to accept that everything I use was designed by someone; but to Design People, consciousness of the Designer is everything. Your cigarette lighter, the power plug to your Apple computer, your chair: all created by big-name Designers. There’s something religious about the idea, like an animistic creed where every rock and tree has a soul, is an avatar of someone. That becomes rather pathetic after a while. As well as exhausting. I must admit I don’t know who designed my Bic lighter or my Apple power plug, but I can look in the IKEA catalog to see who designed the chair I sit in as I write this. I’m not going to, but knowing I could makes me a little bit crazy. Maybe I’m medieval in my outlook. What happened to the old model of a stonemason working away in anonymity on a cathedral? I don’t know who designed the Pyramids, but I know that someone named Herman Miller made chairs for people to sit in at their desks. This bit of information is crammed in my head with things I actually need to know. Design is what everyone who gets famous aspires to do in their free time. Big buildings and sleek chairs: the godlike Mies van der Rohe can do it all! Tom Ford creates the perfect shoe rack! Why has Renaissance Man Karl Lagerfeld not created the ultimate electric toothbrush? I can get worked up about these things, which makes me feel even more exhausted. None of this would matter if Design were the province of the rich and the avant-garde, as it used to be; wealthy people can do what they want with their money and it doesn’t hurt me if they want to spend thousands on molded plastic furniture. But Design has inevitably trickled down to the mainstream, and with it a mass snobbishness that has become as widespread as it is insufferable. Untold numbers of people in Europe and America go on Ebay in search of chipped-up Modernist furniture, the plywood- and plastic- objects assuring them that their lives have not been wasted. Go to an advertising agency or Internet start-up company, where the most coveted sign of achievement is not a corner office, but a Herman Miller Aeron chair. I remember with a shudder the wild days of the early Internet money-bubble in New York, when one new firm bought 200 Aeron chairs for its employees. Most of them worked for no pay; but it was considered such a privilege to be exposed to such a pinnacle of Design that they felt grateful. It’s no different for Berliners and their favorite pastime: exploring flea markets. Every Mauerpark scavenger dreams of the ultimate score: finding a perfect set of Arne Jacobsen chairs, even though the days of senile philistines unloading their out-of-style Modernist furniture are long gone. Hordes of otherwise reasonable middle-class people spend perfectly pleasant Sundays looking through piles of non-designer junk in search of a tiny scrap of Designer stuff. Like owning a piece of the True Cross, they are that much closer to Design Heaven if they carry away a dented stainless-steel leg to a sofa that once bore a famous name. Leaving Berlin to escape the Design mania isn’t any better; in any hotel you happen to check into, there’s a good chance that your toilet-paper holder will bear Philippe Starck’s signature, and your Deutsche Bahn railway car was remodeled by…I don’t remember who. We are fast approaching the day when the exhaust pipe of your Mercedes, as well as the doors, steering wheel and gearshift, will all bear the initials of the formerly obscure Swabians who designed them. Watch out: this Design business can consume a whole society with its frenzy. Or take an alternate, lazy route, as I do, and wallow in total ignorance of the names behind every object. Become a Design Atheist; there are many paths to heaven, but some are much less expensive and exhausting than others.

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KULTUR

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POSTCOLONIAL PORN GLAM

BEWEGBILDERSTURM

SCHLÖSSER UND KATASTROPHEN DER EXPRESS-EXPRESSIONIST

Die Künstlerin des Jahres 2010 heißt: Wangechi Mutu. Diesen Titel hat ihr jedenfalls eine Jury der Deutschen Bank verliehen, und der muss man immerhin zu Gute halten, dass sie über die Kooperation mit dem Guggenheim-Museum schon häufiger großartige Künstlerinnen aus New York nach Berlin in die „Deutsche Guggenheim“ gebracht hat, und damit einen hier noch weitgehend ungewohnten Diskurs über Hautfarbe und Geschlecht. Das hatte mit Kara Walkers perfiden Scherenschnitten vor Jahren angefangen, und das findet jetzt mit Wangechi Mutu tatsächlichen einen spektakulären Höhepunkt: Mutu ist Kenianerin, 1972 geboren, und in den Collagen, die sie macht, treffen die Bewohner von Pornomagazinen, Bikerzeitschriften oder „National Geographic“ aufeinander und bilden bedrohliche Mensch-Tier-Wolpertinger von unklarer, aber heftiger Geschlechtlichkeit... Glassteinchen oder Glitter verleihen diesen Bildern zusätzlich einen darkroomartigen Glamour. Es geht dabei natürlich um Projektionen, um Zuschreibungen, um Bilder, die auf den Menschen geworfen werden, und in denen er dann festhängt wie in einem Dschungel voller klebriger Lianen... Es waren zunächst vor allem Gruppenausstellungen mit feministischer oder postkolonialer Thematik, als deren Teilnehmerin Mutu in Amerika bekannt wurde. Inzwischen sind ihre Arbeiten allerdings auch ohne diesen Rahmen sehr gut lebensfähig und haben längst den Kunstmarkt erreicht: Von Preisen bis zu 200 000 Dollar für große Formate ist die Rede. Nur in Deutschland hatte man bisher kaum etwas von Wangechi Mutu gehört. Das ändert sich jetzt glücklicherweise mit der Einzelaustellung in Berlin, in der auch die Installation „Miss Sarah’s House“ zu sehen sein wird: Der Nachbau des Hauses von Fats Dominos Witwe, das in New Orleans dem Hurrikan zum Opfer fiel. Mutu sorgte mit ihrer Kunst für den Wiederaufbau. RIP

Julia Stoschek war schon dabei, sich als Dressurreiterin einen Namen zu machen, als sie ihre Passion für Videokunst entdeckte. Und man darf, nach all dem, was in ihrer Düsseldorfer Sammlung inzwischen zusammengekommen ist und zum Teil jetzt in den Hamburger Deichtorhallen präsentiert wird, kurz feststellen: Das war sicher schade für den Pferdesport, aber sehr, sehr erfreulich für die Medienkunst. Stoschek ist Gesellschafterin eines fränkischen Familienunternehmens, und sammelt seit 2002 Kunst, die auf neuen Medien basiert. Das ist schon insofern bemerkenswert, als zu dieser Zeit nichts so hoch im Kurs stand wie die Malerei. Aber Stoschek bekennt sich zu einer Generation, die mit MTV, in einer Videokultur, sozialisiert wurde. Inzwischen umfasst ihre Sammlung fast 400 Arbeiten, die sie normalerweise in Düsseldorf zeigt. Eine Auswahl davon ist jetzt in den Deichtorhallen in Hamburg zu sehen, in einer geradezu musealen Ausstellung, was nicht nur an der Inszenierung liegt, sondern schlicht an der Bedeutung der Werke: In den Deichtorhallen zu finden sind Klassiker der Video-Kunst wie Marina Abramovic´s „Art must be beautiful, Artist must be beautiful“ von 1975/76 oder Chris Burdons „Shoot“ von 1971. Und es gibt einen Schwerpunkt mit früher feministischer Videokunst. Die meisten der gezeigten Arbeiten stammen aber aus den 2000er Jahren. Björks „Wanderlust“ ist dabei, ein aufwendig animierter Film, unterlegt mit Björks ebenfalls aufwendiger, animierender Stimme, und eine ganze Videoinstallation mit den gefilmten Knetmasse-Massakern der Natalie Djurberg. Christoph Schlingensief lässt Affen über Hitlers Schreibtisch turnen, Douglas Gordon zeigt das Empire State Buildung verdoppelt, sozusagen als World Trade Center... Und es gibt auch Fotografien zu sehen, von Christian Demand, von Thomas Demand und eine rührend diskrete auch von Andreas Gursky. RIP

Nach dem großen Erfolg von Robert Polidoris erster musealer Einzelausstellung im Martin-Gropius-Bau im Jahr 2006 ist der Fotograf jetzt wieder in Berlin zu sehen. CAMERA WORK präsentiert „Versailles“, eine Auswahl von Bildern Polidoris aus dem gerade erschienenen Bildband „Parcours Muséoligique Revisité“, der unter anderem die über einen Zeitraum von 25 Jahren entstandene Dokumentation des Schloss Versailles zeigt. Durch Polidoris Augen sieht man ein vor Glanz und opulenten Farben strotzendes Schloss mit kleinen Kratzern. Ein grelles Grün sticht hinter einem intensiven Pink ins Auge, erst der zweite Blick fällt auf die üppigen Goldverzierungen an Wänden und Möbeln. Riesige alte Ölgemälde hängen schwer an brokatverzierten Tapeten, die ausschweifenden Schnitzereien weisen hier und da Risse und Abblätterungen auf. Es ist der Versuch, das Unvollkommene sichtbar zu machen, eine ästhetische Brücke aus der pompösen Vergangenheit des Versailler Schlosses in die Gegenwart zu schlagen, den Polidori in seinen Bildern unternimmt. Dem Betrachter eröffnet sich ein Einblick in ein barockes Frankreich, dessen politische und wirtschaftliche Erfolge an der Innengestaltung der Säle in Versailles abzulesen sind. Der 1951 im kanadischen Montreal geborene Robert Polidori ist bekannt für fotografische Arbeiten, die von ihrer Raumästhetik leben. Neben den imposanten Schlössern und Herrschaftssitzen der Welt interessiert sich Polidori immer auch für die zerstörerischen Seiten des Daseins. Seinen internationalen Erfolg erlangte er unter anderem durch seine fotografischen Zeugnisse der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und den Auswirkungen des Hurrikans „Katrina“ in New Orleans. Polidori lebt und arbeitet in New York und Paris und bereist für Fotoreportagen für The New Yorker, Architectural Digest oder Geo die ganze Welt. FN

Letztlich hat er es ja doch geschafft: er ist sicher der erfolgreichste deutsche Maler des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn man in Betracht zieht, wo er überall hängt. Sogar das Kabinett tagt im Kanzleramt vor einem Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner: „Der Sonntag der Bergbauern“ – was auch immer das über die Arbeit der Bundesregierung aussagen soll. Aber das ist unzweifelhaft die Bedeutung, die sich Ernst Ludwig Kirchner von Anfang an auch selber zugeschrieben hat, soweit man weiß, praktisch schon als Kind. Kirchner wurde in Aschaffenburg geboren, wuchs in Chemnitz auf, studierte zur Sicherheit erst einmal Architektur, und erfand dann mit Heckel und einigen anderen den Expressionismus. In Dresden malte er kleine nackte Mädchen, in Berlin dann große angezogene Prostituierte, 1914 meldete er sich zum Krieg und brach schon in der Kaserne zusammen, wurde drogensüchtig, tourte durch die Kliniken, kam schließlich nach Davos, fror, weil er dachte, das liege im Süden, blieb dann aber trotzdem, malte die Berge und die Bauern, verkaufte weiterhin gut, nahm aber jede Kritik als Beleidigung, schrieb sich schließlich seine Kritiken selbst, unter einem französischen Pseudonym, lobte sich als Franzose selbst, lobte den Franzosen dafür als genialen Kunstkritiker zurück, beschimpfte ansonsten Heckel und die anderen und war überhaupt mindestens soviel mit der Verwaltung seines Nachruhms beschäftigt wie mit dem Malen selbst. Er galt als unausstehlicher Schöpfer unwiderstehlicher Bilder in immer wieder neuem Stil. Sein letzter, eine sonderbare Mischung aus Picasso und Nierentisch, ist selbst für Kenner immer noch eine Überraschung und Herausforderung. Dass die Nazis ihn als „entartet“ verfemten, hat er nicht überwunden. Drogenkrank, depressiv und voller Angst nahm sich Kirchner 1938 mit zwei Schüssen ins Herz das Leben. Die Retrospektive, die das Städel Museum in Frankfurt jetzt zeigt, beleuchtet erstmals wirklich alle Phasen, und ist so voll und so toll, dass einem die Augen weh tun, wenn man mit diesem Drama durch ist. RIP

Wangechi Mutu: My Dirty Little Heaven. Julia Stoschek Collection – I want to see how you see. Robert Polidori: Versailles. Deutsche Guggenheim, Berlin, bis zum 13. Juni 2010 Deichtorhallen, Hamburg, bis 25. Juli 2010 CAMERA WORK, Berlin, bis 26. Juni 2010

Ernst Ludwig Kirchner Retrospektive. Städel-Museum, Frankfurt am Main, bis 25. Juli 2010

© Wangechi Mutu and Susanne Vielmetter Los Angeles Projects

© Horst und Gabriele Siedle Kunststiftung

Blick in die Ausstellung „Julia Stoschek Collection“, Foto: © Henning Rogge

Foto: © Robert Polidori


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LANDSCHAFTSZAPPING

DER NEORAUCHISMUS

MAKE LOVE, NICH WAHR

DIE STADT, DIE LICHTER

Vielleicht nennt man David Schnell am einfachsten und ganz klassisch: einen Landschaftsmaler. Man meint seine Bilder betreten zu können, man würde aber vermutlich ziemlich schnell aus dem Gleichgewicht geraten darin. Die Orientierung verlieren. Oder brutal nach hinten gesogen werden, den Fluchtpunkten seiner dramatischen Perspektiven entgegen. Es ist eine dramatische Sorte von Landschaftsmalerei, und das obwohl Schnell seine Motive in einer landschaftlich – sagen wir mal – eher undramatischen Gegend sucht: nämlich in und um Leipzig herum, wo der 1971 in Bergisch-Gladbach geborene Künstler studiert hat und heute wohnt. Schnell war Meisterschüler bei Arno Rink, er gehört also – wenn man so will – zu dem, was man gerne als Neue Leipziger Schule bezeichnet. Dabei haben seine Bilder mit den Traumszenen in der Nachfolge Neo Rauchs nicht besonders viel zu tun und kommen jedenfalls sehr gut auch ohne Menschen aus, wenn man mal von dem einen absieht, vor dessen Auge sich das alles zu rasanten Zentralperspektiven zusammenschiebt – nämlich dem Betrachter, der sich hier gleichzeitig vorkommen muss wie ein Rennfahrer, vor dessen Frontscheibe die Welt auseinanderfliegt. Oder wie ein Ego-Shooter, dessen Computerspielwelten sich gerade zerstören oder neu herstellen... Es ist eine extrem dynamisierte, prozesshafte Natur, die man da zu sehen bekommt. Die malerische Auflösung architektonischer Strukturen führt das Auge in die Irre, um konkurrierende Fluchtpunkte herum sucht man Halt und verliert sich dann trotzdem in den Details der perspektivischen Verzerrungen und sich überlagernden Räume. Nichts für Baustatiker. Dreißig neue Werke sind noch bis 30. Mai 2010 im Kunstverein Hannover zu sehen. FN

Vorraum, 1993, Uhrenvergleich, 2001, Sonntag, 1997, Mittag, 1997, Oktober, 2009, Start, 1997, Vorort, 2007, Platz, 2000, Acker, 2002, cross, 2006, Abraum, 2003, Am Waldsaum, 2007, Scheune, 2003, Silo, 2002, Das Gut, 2008, Dörfler, 2009, Seewind, 2009, Moder, 1999, Schilfkind, 2010, Sturmnacht, 2000, Vater, 2007, Erl, 1993, Ungeheuer, 2006, Rauner, 2009, Das Angebot, 2010, Bon Si, 2006, Die große Störung, 1995, Weiche, 1999, Die Fuge, 2007, Arbeiter, 1998, Versprengte Einheit, 2010, Reiter, 2010, Reaktionäre Situation, 2002, Diktat, 2004, Aufstand, 2004, Unter Feuer, 2010, Die Flamme, 2007, Ordnungshüter, 2008, Wächterin, 2009, Fluchtversuch, 2008, Helferinnen, 2008, Kommen wir zum Nächsten, 2005, Das Neue, 2003, Höhe, 2004, Bergfest, 2010, Das Plateau, 2008, Abstieg, 2009, Dämmer, 2002, Morgenrot, 2006, Krönung I, 2008 sowie Krönung II, 2008, Ausschüttung, 2009, Reich, 2002, Neid, 1999 Und vor allem natürlich: Rauch, 2005, bzw. von 1960 bis jetzt. Herzlichen Glückwunsch! Die jeweiligen Bilder sollen genauso gut sein wie diese Titel. Und das ist erst die Leipziger Ausstellung, die in München ist noch besser.

Sein tödlichstes Duell war das gegen die Diabetes. Am Ende musste ein Zeh geopfert werden. Der lädierte Fuß wurde porträtiert und kam als große Sensation umgehend in die Kunstkammer. August der Starke, das muss man immer wieder betonen, hatte sich seinen Namen eben nicht auf dem Schlachtfeld erworben, sondern mehr so im privaten Bereich, durch leibliche Beeindrukkungen. Ja: auch im Bett. Fremdenführer kolportieren gern die Zahl von 365 Kindern. Das heißt: unehelichen. Aber das ist sicher übertrieben. Allerdings auch wiederum nicht viel. Der Mann mochte eben schöne Dinge, und dass er sie sich leisten konnte: Das wollte er sozusagen als politische Botschaft verstanden wissen. Vasen statt Soldaten, Juwelen statt Landgewinn, und wenn Waffen, dann bitte aus Gold und mit Edelsteinen drauf, also eher nicht zum Händeschmutzigmachen damit. Das ist, sehr kurz zusammengefasst, lange die Präferenz vieler sächsischer Kurfürsten gewesen – und das war dann, politisch gesehen, allerdings auch ihre Bilanz. Andere, die Preußen etwa, wurden Großmacht, die Sachsen hatten immerhin ihre Kunst. Und heute? Heute gibt es Preußen schon länger nicht mehr, und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden feiern 450. Geburtstag. Die Taktik, auf Kunstgewerbe statt aufs Kriegshandwerk zu setzen, ist also jedenfalls langfristig doch noch aufgegangen, und deshalb dürfen wir jetzt in der großen Jubiläumsausstellung im Dresdner Schloss eine schier endlose Reihung von Unglaublichkeiten besichtigen, eben von dem kurfürstlichen Fußrest bis hoch zu kompletten Gemäldesammlungen, die man finanziell ins Schlingern geratenen italienischen Fürstentümern und Klöstern abkaufte. Kapitel von ganz anderer Brisanz sind die zur Geschichte der Sammlung unter den Nazis und in der DDR. Und: Diese Ausstellung ist die letzte Gelegenheit, die beeindruckenden ausgebrannten, kriegsversehrten Räume des Dresdner Schlosses noch einmal zu sehen, bevor die Stuckateure kommen und alles wieder wie neu machen. RIP

Er hatte in der Londoner Tate Modern eine künstliche Sonne auf- und in Holland eine zweite untergehen lassen. Und wo immer seine kleinen oder großen Eingriffe in der Natur unserer Städte zu sehen waren, hatten selbst notorisch nörgelige Kunstexperten eine Mischung von Staunen und stiller Bewunderung auf dem Gesicht. Jetzt fällt das wärmende Licht des Olafur Eliasson endlich auch einmal auf Berlin. Eliasson sagt, dass er „das Experimentieren als Methode“ betreibt. Diese Auffassung ist das Zentrum seiner Kunst, die Arbeitsweise seines Berliner Ateliers und die grundlegende Überzeugung, mit der er seit 2008 das Institut für Raumexperimente an der Berliner Universität der Künste betreibt. Jetzt setzt er diese Mission in seiner ersten großen Einzelausstellung in Berlin gemeinsam mit dem Martin-Gropius-Bau um. Eine Ausstellung im klassischen Sinne, räumlich erweitert durch zahlreiche Installationen, die Eliasson im sogenannten öffentlichen Raum eingerichtet hat. Der thematische Mittelpunkt von „Innen Stadt Außen“ ist Eliassons persönlicher Bezug zur Stadt Berlin: Der dänisch-isländische Künstler lebt und arbeitet seit vielen Jahren hier. Er hat einen irrlichternden „Blind Pavilion“ auf die Pfaueninsel im Berliner Wannsee gestellt, Treibholz am Berliner Alexanderplatz abgeladen oder „Spiegelfahrräder“ in der Stadt verteilt, die eher wie zufällige Fundstücke wirken und nicht wie „Kunst im öffentlichen Raum“. Es ist mit Olafur Eliassons Kunst oft ein bisschen wie beim Ostereiersuchen: Wenn man sie findet, freut man sich; sie macht aus hektischen Stadtund Kunstbetriebsnomaden andächtige Naturbetrachter. Die Experimentieranordnungen mögen manchmal ein wenig nach Physikunterricht aussehen. Was daraus dann entsteht, sagt aber oft mehr als ein Grünen-Wahlprogramm. FN

David Schnell: Stunde. Kunstverein Hannover, bis 30. Mai 2010

Neo Rauch: Begleiter. Zukunft seit 1560. Museum der Bildenden Künste, Leipzig, und Pinakothek Dresdner Schloss, bis 7. November 2010 der Moderne, München, bis 15. August 2010

Olafur Eliasson: Innen Stadt Außen. Martin Gropius Bau, Berlin, bis 9. August 2010

© courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin, Foto: Uwe Walter, Berlin

© VG Bild-Kunst Bonn, 2010 | courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin und David Zwirner, New York | Foto: Uwe Walter, Berlin

Foto: © Olafur Eliasson

Foto: © David Brandt


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BREM VON ALBAN NIKOLAI HERBST Dies ist ein Auszug aus „Argo.Anderswelt“, dem im Herbst 2011 erscheinenden dritten Band der „Anderswelt“Romane, deren erste beiden Bücher „Thetis.Anderswelt“ und „Buenos Aires.Anderswelt“ bei Rowohlt und im Berlin Verlag erschienen sind. Für „Thetis“ erhielt Alban Nikolai Herbst den Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar. Nach einer globalen Katastrophe ist ein Großteil Eurasiens überflutet. Der noch bewohnbare, hoch technisierte Teil ist rings von einer kolossalen Mauer vor dem sogenannten Thetis-Meer geschützt. Er ist in die simulierte Weststadt, in der wenige Reiche leben, die geschäftige Zentralstadt „Buenos Aires“ sowie in einen rigoros für die Warenproduktion ausgebeuteten, von Militär kontrollierten Osten geteilt. West- und Zentralstadt werden von einem Energieschild überwölbt, gegen den Osten ist man durch eine Demarkationslinie geschützt. Im Zentrum, in dem sich Handel, Forschung und Dienstleistung fortentwickeln, leben neben den Menschen („Porteños“) auch von der Beelitzer CYBERGEN entwickelte Holomorfe: Roboter-Simulationen. Äußerlich von Menschen nicht zu unterscheiden, haben einige von ihnen Selbstbewußtsein entwickelt. Vermittels eines „Selbstprojektors“ können sie sich zu- und wegschalten. Eine Splittergruppe dieser Holomorfen hat sich mit revoltierenden Ostlern zu Terrorgruppen zusammengeschlossen. Architektonisch ist Buenos Aires aus Städten des heutigen Europas zusammengesetzt; nach denen und deren Stadtteilen sind die Kieze Buenos Aires’ benannt. In der uneingedämmten Umweltverschmutzung im Osten haben sich Mutanten entwickelt. Außerhalb der vom Westmilitär kontrollierten Zonen findet ein permanenter Bürgerkrieg statt, den diese Mutanten sowie die in Frauenstädten konzentrierten Amazonen wie Warlords beherrschen. Die Trilogie entsteht während eines Spaziergangs durch das jetzige Berlin. Als der Spaziergänger seinen eigenen Figuren real begegnet und in die Geschehen hineingezogen wird, werden Wirklichkeit und Fantastik unauflösbar eins. Ich schritt in der Begleitung meiner stummen Selbstgespräche die Schönhauser Allee in Richtung Pankow weiter. Es nieselte mal wieder. Ich schritt auch nicht, sondern schwankte. Immer wieder mußte ich mich irgendwo festhalten, obwohl jeder meiner vermeintlichen Haltepunkte meist selber instabil war: manchmal verschwand ein Laternenmast vor meinen Augen, unten zwar stand er noch, aber oben schwebte er, denn dort, wo ich mich anklammern wollte, war Leere. Ich griff einfach hindurch. Nein, ich hatte nicht zuviel getrunken. Cordes, der ja, und Broglier. Ich war den Abend über nüchtern geblieben. Na gut, zwei Bier. Hätte ich von den Ereignissen bei der CYBERGEN gewußt, dann hätte ich geahnt, was los war. Doch ich wußte ja nichts, begriff es erst, als es zu spät war. Immerhin war da die Zeuner zur Stelle. Meine linke Hand bekam etwas Durchsichtiges, mein rechter Fuß ebenfalls. Daß das niemandem auffiel! Die Leute schritten an mir vorbei, als wär das nichts Besonderes. War mir gestern abend ein Halluzinogen untergeschoben worden? Sowas kam vor: sowohl der Synthetiker Boygle als auch Techno-Lasse sorgten auf diese Weise für Nachwuchs in der Szene, der sie ihre Musik als elektronischen Widerstand verkauften, Trance genannt und House. Boygle war immerhin ein talentierter Hund, Lasse hingegen nichts als ein halbschwul geschäftsmieser Junky voll einer mit Timothy Leary gezuckerten Esoterik. Dennoch, er sah ein bißchen aus wie Brem, nur daß er, anders als der, glatzköpfig war wie ich selbst. Seine halbe Brust war bis hinter die rechte Schulter in schweren, schwarzblau-flächigen Mustern tätowiert. Er hatte das Pech, sehr kurzsichtig zu sein. In Sarajewo war er, weil es keine Brillen gab, nahezu blind gewesen. Jetzt trug er Zylindergläser, er schlief sogar mit ihnen. Eine solche Panik hatte er, abermals nichts sehen zu können. Mit der Zeit, zu dem Lachen, das (schreibt Cortázar) den Süchtigen verrät, begann sein Körper, sich zu verwachsen, ja fing an, diesem Lachen zu ähneln und tat-

sächlich auch seinem Mentor Boygle; er bekam etwas Spastisches Zuckendes, man hatte den Eindruck einer ferngelenkten Marionette, so daß er und nicht etwa jener, der es doch war, holomorf wirkte. Boygle hatte den schon nicht mehr jungen Mann aus der Gosse von Manchester gezogen, ganz ging der Dreck aber nie von ihm ab. Es war die Hoch-Zeit des Techno, einer elektronischen, sich anfangs am wilden Punk orientierenden Musikrichtung, die ihre Massen fing, indem sie mit dem Herzschlag als Grundbaß operierte: als Einzelner wäre man vor Entsetzen davongelaufen, zu hundert hingegen pulste sich einem der akustische Hammer ins Blut. Die technologisch dominierte Gesellschaft sucht Heil in der Technik. Deshalb arbeiteten Boygles Kompositionen, ohne daß er das wollte, den holomorfen Rebellen zu; sie waren etwas, das Holomorfe und Humanoide verband, waren eine Art Brücke, auf der man sich treffen und austauschen konnte - freilich begriffslos; für gesprochene Sprache waren sie einfach zu laut. Aber die Leute amalgamierten. Wer nachts so einen Club besuchte, konnte tatsächlich nicht mehr unterscheiden, ob, was da tanzte, natürlich war. Masse ist immer hybrid; insofern war an der Bewegung Emanzipation, hebelte aber zugleich jeden politischen Widerstand aus: Wer nach drei abgefeierten Nächten heimkam, war, um sich noch Gedanken zu machen, viel zu erschöpft. Techno war eine Bewegung, alle Gedanken wegzuschütteln. Weil sie aber stark waren und die Körper zu schwach, um den Schlafentzug auf solche Längen durchzustehen, wurden synthetische Drogen geschluckt, die dem Kokain nicht unähnlich waren, nur haftete an ihnen weniger Blut. Die Pupillen weiteten sich, das hatte in den dunklen Clubs auch orientierende Funktion, die Herzfrequenz stieg, das Schlafzentrum wurde ausgeschaltet, und die empathogene Wirkung von Fortex B löste Euphorien aus, die sich aus der Masse herauszukneten schienen. Dies noch, stimmungsverstärkend, mit sogenannt psychedelischer Musik kombiniert, die ihre Wirkung aus

der Imitation einer indischen Klangaura zog, nicht hingegen aus Grundton und Quart und schon gar aus der Disziplin eines variierten Rhythmus, erzeugten sie den Eindruck einer so grenzenlosen Freiheit, daß man während der kommenden Woche jeder nur denkbaren Tätigkeit klaglos nachging, um nur wieder das nächste Wochenende zu erreichen, das einen auf den Dancefloors erneut in die fessellose Masse tauchte. So war das in den jugendlichen Szenen. Es hatte als Splittererscheinung im TRESOR begonnen, in Manchester also, und unerwartet aufs Berliner GOA und Bocadasses I KILL YOU übergegriffen, sich von dort aus in sämtliche Richtungen des nächtlichen Buenos Aires verstrahlt. Lasse wuselte durch die Leiber, verscherbelte ein Briefchen hier, dort drei Päckchen Fortex, da ein paar CDs. Im I KILL YOU ließ er sich nieder, samplete dort für Boygles HELL’S PRODUCTIONS; der versierte Kollege komponierte die Collagen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikums runter. Der Stil war auf Simplizität aus. Im TRESOR hatte Lasse zum erstenmal aufgelegt, wie das damals hieß. Da war er noch nicht lange der Brache entkommen, wo er stundenlang vor sich hingetumbt und mit Metallschlägeln auf Blechschüsseln eingeprügelt hatte. Desolate Kumpels waren hinzugekommen, stumpf von ihren geklauten Computers begeistert, für die man den Strom vom Natozaun nahm. Mit Platinen Kofferradios Töpfen machte der Trupp den Krawall, das klang wie als Drohung nach draußen, war aber drohend gar nicht gemeint; sie konnten einfach nicht anders. Lasse stand da schon ständig unter MDMA; sein Leben und das der Kumpane hätte sich anders schlecht aushalten lassen. Dennoch hatten sie keinen Erfolg in der Brache, den Leuten reichte ihr eigenes Elend, sie sehnten sich nach Gitarren Folklore. Nicht sehr gewaltfrei trieb man Lasse und Konsorten aus Sarajewo hinaus. Zerrissen tauchten die Kumpane in der zivilisierten Zentralstadt unter. Zweie klauten sofort, einfach aus Daffke, und wurden auch sofort gefaßt. Lasse und die drei andren fanden im TRESOR Asyl. Der Jugend konnte es nicht primitiv genug zugehen. Manche, zum Entsetzen ihrer bürgerlichen Eltern, nannten sich auch so: modern primitives. Sie grölten kotzten schissen in die Ecken. Das paßte zum Techno, war schick wie die Faust in die Fresse: Lasse hatte einen Riesenspaß. Das kriegte er schon unter, das Gesocks; er hatte keinen Zweifel. Und Erfolg. Wurde Guru. Meditierte. Knallte den Ravers den Müll in die Ohren, in seinen steckten Oropax. Die Mädels zerrissen ihre Blusen, er war schon ein mächtiger Mann, als ihn Boygle entdeckte. Boygle stammte nicht aus den Brachen, er war holomorf. Bereits als Bariton programmiert, wurde er in der Titelrolle eines enorm erfolgreichen Musicals nach Victor Hugo berühmt. So sah der Mann tatsächlich auch aus. Kaum war er von seinen Eigentümern entlassen worden, hatte das krüpplige, karpfenköpfige Wesen zu Überraschung und Entsetzen seiner Anhänger eine letzte Vorstellung angekündigt und sie, mit jubelndem

Erfolg, im Palast der Langen Beine gegeben. Danach war der Mann untergetaucht. Er sei mit seiner Freiheit nicht klargekommen, hatte es schnell geheißen, er habe seinen Selbstprojektor ausgeschaltet usw. Nichts davon stimmte. Sondern Boygle hatte Nacht für Nacht Buenos Aires’ Underground durchstreift, war bei Gelegenheit im TRESOR erschienen, und sofort, als er auf Lasse aufmerksam wurde, war ihm klargewesen, daraus sei etwas zu machen, das die Grenzen des TRESORs sprengen und die Bewegung würde, die sie dann war. Man müßte nur etwas den Schmutz herauswaschen, nicht allen, gewiß nicht, aber doch so, daß sich ein Markt entwickeln ließ. „Gib mir freie Hand, und du wirst ein reicher Mann.“ Lasse hatte den Kopf schiefgelegt und dem häßlichen Karpfen in die Augen gegrinst. Er hatte so wenig Ahnung, wer das war, wie später, als Brem ihn rekrutierte. „Wie reich?“ So gekichert. „Sehr reich.“ „Du bist kein Mensch.“ „Das stört dich?“ „Wenn ich dich nicht ficken muß. Ficken ist sowieso nicht wichtig. Auf den Spirit kommt es an.“ Er sprach ein gebrochenes Deutsch, verschleimt, die Brachen hatten ihn geprägt. Er zahlte den Porteños die Brachen zurück. Buenos Aires würde noch viel dankbarer werden. Das aber wußte Lasse da noch nicht. Nur Boygle hatte diese Vision. Auf der ganzen Champs Elysée zwischen Covent Garden und Retiro bis nach Sevilla Chelsea La Villette ravten Millionen, warfen ihre Arme neben Karnevalswagen, die Bässe BUMM BUMM BUMM. Lasses Zeug war noch viel zu komplex, BUMM BUMM mußte reichen, dazu Hodnaprojektionen und Fortex, hoch über den Köpfen zuckten die Hände: Sonnenblumen brauchen Mist, dachte Boygle. Techno-Lasse bekam seine fetten Lippen nicht zu. Brem also, dachte ich auf der Schönhauser: Gelbes Messer also. Die Verbindung zu Lasse schaffen wir später. Eine Zeit lang hatte er zum Schutz des Thetissilbers unter Skamander gedient, hatte während der Ostkriege zu dessen Mudschaheddin gehört. Er war ein Falludsche und stammte von der Odra. Das wurde jedenfalls gesagt. Ein guter Mann, umsichtig, grausam, nicht allzu waghalsig, ideal für die Gegend. Daß er selbst Ostler war, hatte ihm das Vertrauen seines Emirs gesichert; seinerzeit wurde er ständig in der Begleitung des Obersten gesehen, sofern man den Gestaltenwandler denn erkannte. Er unterhielt enge Kontakte in die Oststädte, in jede dritte Siedlung bis an die Karpaten heran. Sogar in die Frauenstädte reichten seine Kanäle. Als die Schänder in ihre Berge zurückgetrieben waren und sich die enge Verbindung mit dem Westen lockerte - ganze Landsknechts-Verbände fielen auseinander und die Söldner ins Elend zurück, das scherte Pontarlier nicht -, da hatte er sich von dem westtreuen Skamander gelöst und nahe Prag die kleine, von einer halbzerfallenen Mauer umgebene, längst überwachsene Anlage hölzerner Garagen


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entdeckt. Ein zweiteiliges Metallgatter, breit genug, um Autos durchzulassen, führte hinein. Drinnen der enträderte Wohnwagen - um den Komplex herum war Brache: die übliche Macchia wuchs, aber es gab nahebei, das machte es praktisch, einen Wasseranschluß, aus dem bisweilen sogar etwas kam. Das Rohr ragte mitten aus Trümmern, verzweigte sich in zwei weitere Rohre, die Hähne, vertikal aufgespießte Hahnenköpfe, ragten frei. Brem hatte die paar marodierenden Ostler, denen die Garagen immer mal wieder als Unterschlupf dienten, ziemlich rigoros, wie man sagte, abgeerntet. Den Milizen galt das Gebietchen für unbewohnt. In die vorderen, völlig aufgerissenen Baracken waren Mülle Schutt gestopft Matratzen Eimer ein verrottender Kühlschrank, dem die Vorderfront fehlte. Hier wohnte Brem. Er hätte zwar hinüber-, hätte nach Buenos Aires gekonnt, Skamander hatte ihm das Angebot unterbreitet, bei höchstem Sold und freier Wohnung der Schutzstaffel des Präsidenten vorzustehen. Aber Brem hatte nicht gewollt. Das konnte er sich leisten. Die Söldnerzeit hatte ihn wohlhabend gemacht, sein Geld war im Westen angelegt, es ließ sich gut von den Renditen leben. Noch in Kampfzeiten hatte er einen EWGler bestellt und mit dem seine Vermögensverwaltung besprochen, Krankenund Altersversorgung gesichert. So hatte er einen Mitarbeiter Bruno Leinsams kennengelernt. Einmal pro Woche tauchte er in einer Filiale der Prager Sparkasse von 1822 auf, hob etwas Geld ab, tätigte seine Besorgungen und rumpelte in seinem Armeejeep wieder davon. Um Geld also ging es ihm nicht. Vielleicht lehnte er die Wahrheitsimpfung genauso ab wie die Amazonen. Er nahm am AUFBAU OST! nicht teil, blieb gegenüber seinen Landsleuten höchst reserviert, tat nichts als zu sitzen oder durch die Gegend zu wandern, wurde hier gesehen, da, traf seine Kontaktleute, trank ein Bier mit ihnen, wanderte zurück in Jeans rotkariertem Hemd Weste, die graue Basecap auf dem kantigen Kopf; die olivgraue, beidseits knöpfbare OutdoorJacke aus Polyester und Nylon am Leib. Die Wangen, besonders die rechte, narbig wie verdorbene, kräuslig gewordene Erdbeermilch. In seiner Behausung gab es keine Papiere Unterlagen nicht mal das Versicherungszeug. Es gab Tisch zwei Stühle Pritsche. Keine Bilder Bücher nur Wäsche auf einem Bord, kantenscharf zusammengelegt. Herd paar Töpfe Geschirr. Auf der Arbeitsplatte immer ein Brot, darunter drei aus Mehrschichtstahl gefertigte Frosts oder Freyas unterschiedlicher Größe: mora laminated steel und MADE IN SWEDEN in die Klingen geschlagen. Ein Salzfaß. So lebte Brem in einer Zelle, mönchisch, kann man sagen. Doch die Schneiden der Messer zu skalpellener Schärfe geschliffen. Brem war besessen von Messern. Eines von denen, knapp 20 Zentimeter lang und pirolgelb das Heft, hatte er eines Tages nahe Enns in der Innenseite eines Scheunentors gefunden, da war es hinter ein Querbrett gesteckt worden. Der Arbeiter, der sich in die Ruine verkrochen hatte, wußte über seine Herkunft nichts zu sagen. Zwar in einer mit einem Brett bedeckten Senke, die er selbst in den Boden gegraben und die ihm als natürlicher Kühlschrank diente, neben den Lebensmitteln knappe 50 cm MP-5N nebst einer Kiste Munitionmagazine. Brem brauchte diese Waffe aber nicht, war ein Schleicher gewesen, der von hinten an seinen Gegner herankriecht, selbst mitten in feindlichen Fronten war er wie ein Gespenst aufgetaucht. Es fing plötzlich wundervoll zu duften an, schon hatte, daher Brems nom de guerre, sein Messer geerntet. Denn einen Luxus gab es im Wagen doch. Sechs Parfumflacons, die teuersten Duftwässer der Welt standen auf dem Bord neben Bekken und Kannenporzellan: HOMME DE PATOUT, KUSIA (Malz), QUAAS’AN und QUELQUES FLEURS von HOUBIGANT, LAGERFELD, KAVJANI von LAMOR. Es duftete, er schnitt, schon war Brem weg, es wurde nicht ein einziges Mal auf ihn geschossen, derart schnell war er immer gewesen. Den Duft hatte er mit Schändern gemeinsam, die rochen nach Astern, er aber nach herber, holziger Parfumerie. Präparat war einmal in Brems Klause gewesen und hatte davon in der Siedlung erzählt. Er erzählte ja sowieso

gern, erzählte auch Brem, bekam jede Woche ein paar Euro dafür. Erzählte ihm nun, übers Handy, von Erissohn und den Frauen und wie ihn eine von denen zurechtgewiesen. „Gut“, sagte Brem und klappte das Mobilchen zu. Er zögerte keine Sekunde, seine Bewegungen waren ohne Bruch: Wie er draußen dagesessen hatte auf dem zerfetzten Sessel vor dem Gatter und über eine Stunde ins Trümmerfeld geschaut, so ruhig stand er nun auf, das Scharnier quietschte, als er das Gatter hob, beide Seiten öffnete, aus seiner Garage die Jacke nahm, sich die Schirmmütze über den Kopf stülpte und zu seinem Jeep schritt, der zwischen den Garagen stand. Brem war so legendär, daß er nie den Zündschlüssel zog, niemand hätte das Fahrzeug angerührt. Auch Ostler mieden den Komplex. Von Devadasi und Schändern war die Gegend ja sauber. Während der knapp dreißig Minuten rumpelnden Fahrt blieb Brems Gesicht unbewegt. Als er auf die Straße bog, kam ihm ein Milizkonvoi entgegen, stoppte ihn. „Gelbes Messer“, sagte er und drehte, um den Motor auszustellen, den Zündschlüssel herum. „Oh“, antwortete der Soldat, er hätte fast salutiert. Brem verzog keine Miene. „Ich habe keinen Ausweis, aber Sie können meine Handfläche scannen.“ „Das ist nicht nötig, Sir.“ „Sie begehen einen Fehler.“ „Hier kennt Sie jeder.“ „Es gibt, wie Sie wissen, Holomorfenprogramme.“ „Nicht im Osten.“ „Sie sind sicher?“ Der Soldat kam ins Zögern. „Und es gibt Gestaltenwandler.“ „Einen. Den Emir Skamandros.“ „Sie sind sicher?“ „Es ist ein - Mutant. Keine Art.“ Etwas schärfer: „Sie sind sicher?“ „Das ist, was wir lernen.“ „Sie sollten einmal zu mir in die Ausbildung kommen.“ „Gerne, Sir.“ „Jetzt müssen Sie mich fragen, wohin ich fahre. Damit Sie Meldung erstatten können, wenn man Sie nach Auffälligkeiten befragt.“ „Sehr wohl, Sir. Wohin fahren Sie?“ „Nach Točná. Ich sehe mir einen Achäer an.“ Durchs Gesicht des Soldaten wehte kurz der Sadismus: „Viel Spaß, Sir.“ „Und der Handscan?“ „Wirklich, Sir...“ „Und Ihr Trupp?“ Wieder Zögern. „Sie müssen es nicht sagen, wenn es geheim ist.“ „Wir suchen fünf Leute, Sir. Sie sind abgängig seit mehreren Stunden.“ „Abgängig, so.“ „Verschwunden, Sir, wir haben nur den Jeep gefunden, nordöstlich, Höhe Ujezd.“ „Na dann viel Glück.“ „Danke, Sir. Guten Abend, Sir.“ Jetzt salutierte er doch. Brem startete den Motor und fuhr im Schrittempo an dem kleinen Konvoi vorbei. Sah hinter ihren Scheiben Fahrer und Beifahrer tuscheln. Erreichte zehn Minuten später die Siedlung, umfuhr sie aber und rollte in Točná von Norden her ein. Präparat erwartete ihn. Brem steckte ihm eine 10-EuroNote zu. „Wo find ich den Achäer?“ Präparat meinte vielleicht, in den Jeep zusteigen zu dürfen, deshalb zögerte er. „Nun wo?“ Präparat nannte Straße und Plätzchen. „Du schläfst dich aus“, sagte Brem, gab etwas Gas und rollte davon. Nahe am Ziel ließ er den Wagen stehen und ging zu Fuß weiter, trat unbemerkt in die Ansammlung, die sich vor der Achäerbühne ballte. Der Erissohn schwieg gerade, vielleicht dichtete er. Man wartete. Es war dämmerig geworden, über alles das fahle Licht der nüchternen Platzbeleuchtung geworfen. Nur auf dem Tisch, auf der Bühne, unter der Leselampe ein warmer, weil goldgelber Kegel. Keinerlei Illusionsspiel sonst, schon das war ungewöhnlich für fahrende Leute. Und ungewöhnlich waren, fand Brem, die Frauen. Er drückte sich durch die Ostler näher heran, die wichen schon seines Duftes wegen beiseite. Mitten in dem sein Instinkt. Man konnte Milizionäre täuschen, Ostler sowieso, aber er war an einen Gestaltenwandler gewöhnt. Noch immer ging sein Gespür mit dem um. Die Frauen waren ihm zu tuntig, das nahm er ihnen nicht ab. Nicht solchen Oberarmen. Nicht diesen Schultern. Fünf Soldaten vermißt, soso. Daß die fahrenden Frauen fünfe waren, mochte Zufall sein, aber manchmal stellt solch ein Zufall einen Zusammenhang sinnbildlich dar. Und dann der Achäer, Brem hatte zweidrei in den Zeiten vor ihrer Veraffung erlebt. Dieser Mann war kein Affe, der

war, wie die früher, Prophet. Als er aufsah, sah man in den Schlamm ruhender Strudel. Thetisstrudel, dachte Brem. Daß der Achäer komplett verrückt war, daran gab es keinen Zweifel, doch war es eine Verrücktheit mit Aura. Aufwühlend. Sogar Brem empfand den Sog. Diese Amazonennacken! Einzig die Goltzin fiel da heraus, magerhageres Weibchen, das hätte Gelbes Messer, hätte er es gefischt, aus Mitleid zurück in den Teich geworfen. Aber etwas bürstete Brem die Nackenhaare wider den Strich. Vielleicht lag es bloß an dem Buttermilchduft, der Brems Nase störte, wie sich der im KAVJANI verhakte. Auch die Goltzin sah herüber, auch in ihr der Instinkt. Da wurde sie Goltz in Brems Blick. Er erkannte den Polizeichef des Westens, kein Zucken, immer noch, seiner Mimik, nicht einmal, als er spürte, der Mann wisse, daß er erkannt sei. Auch Goltz zeigte keiner Reaktion, aber der Buttermilchduft wurde stärker. Für einen Augenblick gab es nur diese beiden, deren einer sich den anderen in seinem Kopf notierte, während er die Zusammenhänge erfaßte. Die verschwundenen Soldaten. Die Achäerfinte. Die Amazonen. Es gab ein Komplott, so geschwächt war der Westen. Auch daß Goltz klar war, daß und wie Brem kombinierte. So offen lag alles, darin konnte einer ungehindert spazieren. Behutsam nahm Brem seinen Blick aus Goltzens, ließ die Augen über Amazonen Wagen Achäer wandern, durchblickte die Ostler, die allmählich unruhig wurden: Weshalb fing der Achäer nicht an? Nun ja, die Fahrenden wollten ihre Kollekte. Thisea ging mit einem Beutelchen rum, in das die Leute ihren Obulus taten. Auch Brem gab. Nicht Münze, sondern Note. Thisea schaute verwundert vom Beutel hoch und Brem ins Gesicht. Anders als Goltz begriff sie nicht. Allerdings scheuchte es momenthaft in ihr die Kriegerin auf. Brem erwiderte ihren Blick aber nicht, sondern hatte den seinen wieder auf Goltzens, der horizontal wie ein Holzsteg stand, aufgelegt. Thisea wandte sich zum nächsten, wiedernächsten Ostler. Fast alle gaben; wer nicht gab, nicht geben konnte, dem war das peinlich. Sie lächelten entschuldigend. Weshalb rauben sich diese Leute nicht, was sie brauchen? Thisea hatte kein Verständnis dafür, so auch kein Mitleid. Nichts als eine dünne Verachtung. Den gefüllten Beutel stellte Thisea neben den linken Fuß des Achäers auf die Bühne. Sie nickte, bevor sie wieder ihren Platz an der Wagenseite einnahm, dem Achäer zu. Der sah zu Goltz, der das Gelbes Messers wegen nicht merkte, so daß sich der Achäer selbst entschloß und aus Eigenem aufstand. Aufstand und eine Hand hob. Dann begann er die Legende, doch so leise, daß ich die ersten Worte fast nicht vernahm: Die Tram, die mich soeben passierte, war zu laut.

Alban Nikolai Herbst lebt in Berlin. Romane, Erzählungen, Hörstücke, u.a. „Wolpertinger oder Das Blau“, „Eine sizilische Reise“, „In New York“, die „Anderswelt“Bücher. Zuletzt erschien der Erzählband „Selzers Singen“, Kulturmaschinen Berlin 2010. Grimmelshausenpreis 1997, Villa Massimo Rom 1998, Fantastikpreis 1999. 2007 Poetik-Dozentur der Universität Heidelberg. Mit DIE DSCHUNGEL.ANDERSWELT betreibt ANH eines der meistgelesenen literarischen Weblogs deutscher Sprache (albannikolaiherbst.twoday.net). Herbst wird am 9. Mai im Berliner Kaffee Burger, Torstraße 60, aus seinem neuen Buch vortragen.


Wo rohe Balken sinnlos walten Information ist nicht, wie sie sein soll. Egal ob Balken, Linien oder Torten: Es gibt gute und schlechte Diagramme, richtige und falsche. Um Zahlen richtig und gut darzustellen, braucht man Regeln. Und eine Haltung, die der Leser erkennt.

Gelb vor Neid

Bilder sind Vorbilder

Sicher unsicher

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Nur die Regeln brechen, die man kennt 0LW 'DWHQ ULFKWLJ XP]XJHKHQ LVW VFKZLH ULJ /RJLN ,QWXLWLRQ 0DWKHPDWLN 6NHS VLV KHOIHQ GDEHL 8QG 5HJHOQ 'LH PDQ PDQFKPDO EUHFKHQ DEHU GDYRU HUVW HLQ PDO NHQQHQ PXVV 8QVHU %Â URKXQG KDW VLH DXIJHVFKULHEHQ +LHU ZZZ EHOOD EXFK GH


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