propheten

Page 1


Erste Auflage 2002 / 600 Exemplare limitiert Inhalt Propheten / Kuhlmann, Raszewski, Knecht, Bender Herausgeber Deutsche Erstauflage

Hab & Gut GmbH Zeppelinallee 77 60487 Frankfurt/Main Deutschland Gedruckt in Deutschland Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung von Hab & Gut reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Anfragen stehen wir gerne zur Verfügung: Hab & Gut GmbH, Zeppelinallee 77, 60487 Frankfurt/Main, Germany www.habundgut-online.de


Mike Kuhlmann

Oliver Raszewski Christian Maria Knecht Andreas Bender Š propheten2002


Es gibt große Propheten wie Jesaja und kleine wie Hosea. Ob groß oder klein, der Prophet ist ein Seher, ein Mahner, ein Verkünder. „Gell, Papa“, sagt der fünf­jährige Justus, gerade von einer Reise durch Ägypten zurück­gekehrt, „gell, Papa, in der W ­ üste ist die Welt am größten!“ Justus und alle Kinder dieser Welt sind kleine Propheten und wenn sie erwachsen geworden sind, haben die meisten die G ­ abe des Sehens verloren. Die Wüste ist nur noch ein Teil der Welt, und die Welt ist nur eine Kugel. Das vorliegende Werk „Pro­pheten“ öffnet uns die Augen, lässt uns verstehen oder ­zu­mindest ahnen, was wir ­ver­lo­ren haben, und gibt uns H ­ offnung, weil nach uns immer wieder kleine Propheten ­geboren w ­ erden.


Propheten Eigentlich müsste das Geleitwort für dieses Werk ein Kind schreiben. Dann wäre es kurz, klar, wegweisend, verblüffend logisch, philosophischprophetenhaft. Das Ziel diese Werkes ist es, den kleinen Propheten dieser Welt ein Sprachrohr zu geben. Ein Werk, das große Kinderaugen zeigt und uns damit ihre Sicht der Welt vermittelt. Eine Arbeit, die kurze Sätze zitiert, von Kim oder Mustafa, die genauso gut von Seneca oder Descartes sein könnten. Propheten ist ein Projekt der Künstler Mike Kuhlmann, Oliver Raszewski, Christian Knecht und des Weltreisenden Andreas Bender, das uns eine neue Sicht der Dinge und der Welt vermitteln soll. So klar und so entwaffnend, so hoffnungserweckend aber auch so kritisch wie die großen Kinderaugen, in denen sie sich spiegeln. Ein Kind hätte all dies wahrscheinlich viel treffender und viel kürzer formuliert. Eben wie ein Prophet. Vertiefen Sie sich in dieses Buch, blättern Sie es durch und nehmen Sie es immer wieder in die Hand. Sie werden interessante Dinge entdecken und die Inhalte des einen oder anderen philosophischen Standardwerkes. Nur eben nicht aus dem Munde eines Philosophen, sondern aus den Augen eines Propheten.



Die Welt ist alles, was der Fall ist. (Ludwig Wittgenstein, 1889 – 1951)


Schulheft, Jaiphur, Indien 2002


1. Januar 2002: 6 196 141 294 Menschen teilen sich den Planeten Erde






Liebespaar, Addis Abeba



Jemen


Rangoon, Myanmar





Sanaa, Jemen




Leh/Ladakh, Indien (little tibet)


Zoologischer Garten. Rangoon, Myanmar




Wenn viele Kinder gleichzeitig essen, wird der Brei nicht kalt. Sprichwort, Kenia



“I’am the prophet!” Jaiphur, Indien



Muslim, Jemen


Buddha, Myanmar


Freundinnen, Rangoon, Myanmar



Freunde, Mekong, Kambodscha



Leh / Ladakh, Indien (little tibet)



Rummelplatz Bad Nauheim, Deutschland



Spielplatz, Kalkutta, Indien



Schwarz, Weiss. Kongo







Milchpulver, Ă„thiopien


Schulklasse, Ă„thiopien



Infrastruktur, Rangoon, Myanmar


Chongquing, VR China


Namche Bazaar, Nepal


Geschwister, Nepal




Wunschzettel an das Christkind: Kauf so viele Barbies, bis das Geld alle ist.



Reichenbach, Deutschland




Rangoon, Myanmar







Vorbilder, Jaiphur, Indien




Augenblick, Mumbay, Indien


Sanaa, Jemen






Generationen, Pakistan









Ich denke, also bin ich. (René Descartes, 1596 – 1650)



Wenn die Welt ein Dorf wäre …

… dann wären unsere Nachbarn Hunger-Kinder, Analphabeten, Buddhisten! Ihre Sprache würden wir nicht verstehen. Unsere Welt in Zahlen – vieles würde unsere Vorstellungskraft übersteigen. Die ame­ri­kanische Wissenschaftlerin Donella Meadows hat, um uns die Welt zu erklären, deshalb in ihrem Buch „Wenn die Welt ein Dorf mit nur 1001 Ein­wohnern wäre“ (Bombus-Verlag, München) zu e ­ inem Trick gegriffen. Sie erklärt uns die Welt am Beispiel eines Dorfes, das nur 1001 Einwohner hat. Von diesen 1001 Menschen wären (umgerechnet) 584 Asiaten, 124 Afrikaner, 95 Europäer, 84 Lateinamerikaner, 55 aus der früheren Sowjet­union, 52 Nordamerikaner, 6 AustraIier und ­Neuseeländer. 165 würden Chinesisch und Mandarin sprechen, 86 Englisch, 83 Hindi und Urdu, 64 Spanisch, 58 Russisch, 37 Arabisch. Der Rest spricht noch über 200 weitere Sprachen, darunter Deutsch. In diesem Dorf wären 329 Christen, 178 Muslime, 167 Atheisten, 132 Hindus, 60 Buddhisten, 45 Vertreter von Naturreligionen und Animisten, 3 Juden. 520 der Menschen im Dorf sind Frauen, 480 sind Männer. Es leben 360 Kinder im Dorf. 90 wachsen in totaler Armut auf, 30 sterben, bevor sie fünf Jahre alt werden. 75 Kinder müssen täglich schwer arbeiten. Jedes Jahr werden 31 Babys geboren, 10 Menschen sterben, 3 davon an ­Unterernährung, einer durch Krebs. Eine Person wäre HIV-infiziert.

330 Dorfbewohner haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Im Dorf gibt es 1890 Hühner, 310 Schafe und Ziegen, 230 Rinder, 150 Schweine und dennoch: über 600 Menschen leiden ständig unter Hunger. Mit den 31 Geburten und den 10 TodesfäIlen beträgt die Population des Dorfes im kommenden Jahr bereits 1021 Personen. In dem Dorf würden 200 Menschen genau 75 Prozent des Gesamtgeldes verdienen. 200 weitere teilten sich nur 2 Prozent der Gesamteinnahmen. 70 Menschen besitzen ein eigenes Auto. Die reichs­ten 200 haben mehr als 10000 Euro pro Jahr, die ärmsten 200 weniger als 1,50 Euro am Tag. Von den Menschen im Dorf hätten 760 Strom, 420 ein eigenes Radio, 240 einen Fernseher, 140 ein Telefon, 70 einen Computer. Von den 640 Erwachsenen in diesem Dorf wären die Hälfte Analphabeten, 310 Kinder gehen zur Schule, 70 nicht. Das Dorf verfügt über 6000 Morgen Land. 700 Morgen werden für die Ernte verwendet, 1400 Morgen als Weideland, 1900 Morgen sind Wald, 2000 Morgen sind Wüste, Tundra, ­Asphalt. Es gäbe fünf Soldaten, sieben Lehrer, aber nur einen Doktor.

BILD Frankfurt, 25. September 2002



Peter Handke


Im Morgengrauen die Hoffnung Als die Sonne glutrot im Osten aufging und ihr ­Feuer über den Atlantik warf, waren deine Umarmungen und verweinten Augen zur lebendigen ­Erinnerung geworden. Meine kleine Missi Baba, nur einen Nachtflug weit entfernt im Norden, hinter Wüsten, Meeren, Wolkengebirgen und dem Hindenburg-Damm habe ich dich zurückgelassen. Im gleißenden Sonnenlicht mit wehenden Locken standest du im Westwind der tosend-weißschäumenden Brandung am Strand von Abessinien. Auf dem 55. nördlichen Breitengrad, auf gleicher Höhe mit Nowosibirsk und Labrador, die Südspitze Grönlands nur unwesentlich höher. An diesem erschütternden, schönsten aller Strände, wo die Seele Achterbahn fährt und wo jeder Badeversuch den Organismus in den Orbit schießt, hatte ich dir ein letztes Mal in die Augen geschaut. Du hattest deine Arme um meinen Hals geschlungen, deinem Papa eine gute Reise gewünscht und ich habe dir zum Abschied die Tränen getrocknet. Die Wochen, Monate und Jahre mit dir haben mein Leben so sehr bereichert, ja sie sind eine einzige polyglotte Liebeserklärung an alle Kinder dieser Welt. Erinnerungen an weltumspannende Freundschaften und Begegnungen. Mit deinen zehn Jahren warst du auf allen Kontinenten, hast in Indien, Brasilien und Botswana mit Kindern gespielt. Was habe ich Tränen gelacht, als du in Kenia mit Affen um deinen Schnuller streiten musstest, als du im Taunus mit deiner chinesischen Freundin Gaugau eine Waschpulverspur bis tief in den Wald legtest, um einen Waschbären in unseren Garten zu locken. Erinnerst du dich, wie dir in Kaschmir bärtige Männer dunkelrote Kirschen über die Ohren hängten und dabei selber die größte Freude hatten? Wie du im Okavango-Delta mit deinem Mahout Kebafe auf dem Rücken eines Elefanten tagelang durch die wassergetränkten Savannen geritten bist? Wie oft hast du wohl an Sonntagen in Jamaica Hand in Hand unter lauter schwarzen Kindern dem Gospelgottesdienst gelauscht und habt ihr anschließend unter Palmen im Fluss auf der Farm gebadet?

­ rinnerst du dich an die jüdische Hochzeit, zu der E wir beide nach Sydney eingeladen waren oder an deinen letzten Geburtstag auf Bali, der Insel der 1000 Götter? In den Dörfern sahst du Szenen voller Anmut und Harmonie. Du hast erlebt, wie die Balinesen ihr Leben als einziges Fest begreifen. Sanfte Gamelan-Musik, der betörende Duft der üppigen Vegetation, geheimnisvolle Tempelfeste, spielende Kinder überall, das Tausenderlei an Farben – ein wahres Feuerwerk der Sinne. Dein Herz hüpfte vor Freude über so viel ungebremste Lebenslust. Eine Insel, die noch nicht von allen guten Geistern verlas­ sen zu sein schien. Ein Ort, wo die Träume Wahr­heit wurden, wo die Balance zwischen Mystik und Moderne mit tänzerischer Leichtigkeit gelungen schien. Nun wurde die Insel von einem furchtbaren Terroranschlag erschüttert und damit ist auch ein Funken deines instinktiven Vertrauens in die Welt gestorben. Fast immer warst du das einzige weiße Mädchen unter lauter farbigen Freunden und Spielkameraden und fühltest dich doch immer auf wunderbare Weise geborgen und willkommen in jeder noch so neuen Welt. So selbstverständlich und farbenblind, wie es nur Kindern und Weltbürgern gelingt. Was meinst du, wie lange würde es brauchen, bis alle Menschen mit dem Herzen wieder jung würden? Bis die Welt in den Händen derer liegt, die den Mut haben, ihre Träume zu leben. Es scheint mir an der Zeit, den Stimmen der Kinder zuzuhören. Sie wissen, dass ihre Begegnungen mit Menschen ihnen das wichtigste Anliegen sind. Sie wissen, dass Unrecht, das einem einzigen ihrer Spielkameraden widerfährt, eine Bedrohung für alle ist. Sie wissen, dass Liebe unter Menschen teilbar und niemals ausschließlich ist, dass wir Frieden nicht mit Waf­fen schaffen. Doch wissen sie auch, dass sich der Mensch im unersättlichen Drang nach Macht und Besitz immer mehr von seinem inneren Frieden und seiner inneren Heiterkeit entfernt? Wissen sie auch, dass Völker, die um ihre Freiheit kämpfen, immer ans Ziel gelangen? Wissen sie, dass wir ihren legi­ timen Anliegen zuhören müssen, um sie nicht aus unserer Welt zu verstoßen, um sie nicht zu bewaffnetem Widerstand zu verführen?




Ich erinnere mich an deine leuchtenden Augen und dein weißes Rüschenkleidchen, als du an Silvester 2000 am Strand von Copacabana unter Hunderttausenden weiß gekleideter Cariocas und ebenso vielen Kerzen zu Ehren der Meeresgöttin Yemanjá den Jahreswechsel als sinnliches Erdbeben er­leb­test. Die Feuerwerker und Pyromanen der um H ­ off­nung nie verlegenen Brasilianer katapultierten die Cidade Maravilhosa – die wunderbare Stadt – geradezu explosionsartig ins neue Jahr. Nur fünfzehn Minuten vor Mitternacht war am Posto 6, dem südlichen Ende der Copacabana, ein Helikopter mit Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso gelan­ det. Als die Rotoren stillstanden, empfingen ihn über 1 Million Menschen einstimmig mit dem Schlachtruf Filho da Puta – ­Hurensohn, immer wieder unter­ brochen von einem hypnotisierenden Trommelwirbel. Im Schimpfwort schwang eine unverkennbare ­Bewunderung mit. Zu mehr Stellungnahme gegen die politische Klasse im Palacio Planalto fühlt sich kaum ein Brasilianer befähigt. Brasiliens Unmut über Misswirtschaft und Korruption erschöpft sich stattdessen in immer neuen Samba-Rhythmen, versinkt in Strömen von Caipirinha und Chopp. Da sitze ich nun auf einem wackligen Balkon und schaue gedankenverloren auf den endlosen Horizont. In der Bucht, die einst gefürchteten Piraten während der Zeit des Sklavenhandels als Unterschlupf diente, tanzen die Fischerboote auf den Wellen. Männer entladen Thunfische und reichen sie einzeln von einem zum anderen. Die Inseln des Archipels, so möchte ich dir erzählen, liegen wie im Dämmerschlaf weit draußen im Atlantik. Ein paar Hundert Kilometer nur vor der Küste Afrikas, da, wo der Kon-­ tinent seinen ­dicken Bauch weit nach Westen streckt. An der schmalsten Stelle des Atlan­tiks. Fast scheint es, als müssten diese Inseln erst noch entdeckt werden. Aber sie waren alle schon hier, die großen Seefahrer: Bartholomeu Diaz, Chris­topher Kolumbus, Vasco da Gama, Alvares Cabral und James Cook. Selbst der englische Freibeuter und Seeheld Sir Francis Drake, den die Königin von Eng­land schon zu Lebzeiten für seine Verbrechen adelte, und der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt.

Malerische Dörfer, mal liegen sie eingeklemmt zwischen pechschwarzen Stränden und palmengesäumter Mondlandschaft, mal in tropisch wuchernden Tälern oder an steilen Vulkanflanken. Der brausende Atlantik brüllt gegen die Küste. In meiner kleinen Pension in Ponta do Sol auf der Insel Santo Antao droht das Meer auf die Veranda zu schwappen. Das Zimmer hat mir die hübsche Dorfschul­ lehrerin besorgt. Sie unterrichtet 48 Kinder von sechs bis zehn Jahren. Du könntest eines von ihnen sein. Es würde dir hier gut gefallen. Das Haus aus portugiesischer Kolonialzeit, mit verblichener ­Fassade und steilen Holztreppen, hat die letzten 250 Jahre nicht unbeschadet überstanden. Schon meinem Bett beißt der Rost die Beine ab und bis Mitternacht haben alle Käfer und anderen Krabbeltiere einen Namen. Deinen habe ich auch ver­ geben, an eine kleine, quicklebendige und gelb-rotschwarze Käferdame. Sie läuft auf meinem Zeitungsrand hin und her, nur um hin und wieder zur Lampe zu fliegen und dann wieder zurückzukehren. So, als wolle sie nur mal schnell die Batterien auf­ laden, für weitere zehn Seiten. Wobei sie immer wieder eine Hindernisetappe einlegt und über die Perforation stolpert. Um diese Uhrzeit spielen da draußen auf dem Kopfsteinpflaster noch die Kinder mit Konservendosen im Labyrinth der Gassen. Auf der hölzernen Veranda gegenüber turnt im fahlen Laternenlicht ein Mantelpavian mit seiner Dame über Geländer und Stühle. Ganz ungeniert geben sich die beiden ihrer animalischen Lust auf Familienzuwachs hin. Ich beobachte sie eine Weile und finde auf meine Frage dann doch keine Antwort. War es etwa der unnatürliche Geschlechtsakt, die Begegnung der Liebenden von Angesicht zu Angesicht, bei dem man sich auch noch küssen konnte, der die Affendame bewog, sich in der Zukunft mehr ihrem Geschlechtspartner als der Gruppe zu widmen? War die Folge daraus der aufrechte Gang, oder war es umgekehrt? Ich weiß es nicht. Du hast mich einmal gefragt, wann denn der erste Mensch lebte, der wusste, dass er nicht mehr Affe sei. Ich hatte versucht, mich in der theoretischen Erörterung so einfach wie möglich zu erklären; von


Adam und Eva würdest du schon noch früh genug erfahren. Da war vom Gletschermann des Similaun die Rede, vom Neandertaler und vom Pekingmenschen – und von Lucy, die vor 3,5 Mio. Jahren in Äthiopien lebte, schon aufrecht gehen konnte und vielleicht doch ein Mann war. Und ich hatte mit da­ rüber spekuliert und gelacht, ob der Mensch von heute vielleicht am Ende doch nur ein hoch intelligenter Affe sei, der komplizierte Gedankengänge beherrsche, weinen und lachen kann und gefährlichste Maschinen zu bedienen weiß. Von irgendwoher dringt immer Musik. Niemals scheinen die vibrierenden Musik-Kreationen des multikulturellen Inselstaats zu verstummen. Du würdest diese verführerischen Rhythmen erkennen, eine euphorisierende Mischung aus Reggae und Lambada. Die populären Musiker singen von Liebe und Sehnsucht, von Fernweh und Wiederkehr. Von nebenan klingt die melancholische Lyrik von Paulo Flores: Que importante nessa vida e ­saber dizer. Te amo, te quiero, te espero – wichtig im Leben ist allein zu wissen, wie man sagt „ich ­liebe dich, ich möchte dich, ich warte auf dich“. Überhaupt scheint sich hier am Schnittpunkt aller maritimen Handelsrouten die ganze Welt in den Armen zu liegen, hat sich im Liebestaumel der Kontinente der vielleicht schönste Menschenschlag eine eigene Nation geschaffen. Die Menschen hier sind unentwegt unterwegs, auf und zwischen den Inseln und in der ganzen Welt. Und alle denken sie unentwegt an ihre Inseln. Willst du mir glauben, dass es kaum einen Insulaner geben soll, der nicht seekrank würde? Als Weltbürger, als moderne Kosmopoliten repräsentieren ihre indischen, europäischen, polynesischen und kreolischen, brasilianischen und afrikanischen Gesichtszüge eine Gemeinschaft, deren Väter und Mütter in ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Fernweh und Wiederkehr auf diesen Inseln genetische Kapriolen schlugen. So wüsstest du, wo alle diese bunten Kinder herkommen. Eines kann schöner lachen als das nächste. Allen gemeinsam ist ihre Neugier und ihre aufrichtige Verehrung für Musik und Tanz. Sie sind weder schwarz noch weiß. Sie haben eine Hautfarbe in allen Farbschat-

tierungen von hell bis schokoladenbraun. Sie haben blonde, braune und schwarze Haare. Und manche haben sogar blondes Kraushaar oder Rastalocken. Wärest du hier, sie würden dich nie wieder gehen lassen. Und wenn doch, dann wärest du einer der vielen Menschen, die alle Tage wieder am Flughafen und im Hafen tränenüberströmt ihre Liebsten begrüßen oder verabschieden. Mit dir möchte ich hoffen, dass wir am Ende das bewahren, was wir alle lieben: die Vielfalt einer kunterbunten Völkergemeinschaft. Ich wünsche mir, dass du den Mut hast, den Verwaltern von Moral, Amt und Würden mit Fragen zu begegnen. Und dass du dann stark genug bist, den Weltanschauungen all jener zu widersprechen, die die Welt nie wirklich angeschaut haben, deren Herzen verschlossen sind und die uns in einer sich globalisierenden Welt die Vielfalt durch die Einfalt ersetzen. Verweigere dich jenen, die nicht anders denken und fühlen lassen, als es das Dogma befiehlt. Hinter ihrer Moral steht nicht selten ein maßlos egoistisches Interesse. Die Freiheit ist viel köstlicher als das Geschenk, wofür man sie hingibt. Es klingt zwar wenig, ist aber viel, weil es eine Wahrheit ist. Ich wünsche dir, dass du Verantwortung nicht nur für das übernimmst, was du tust, sondern ebenso für das, was du nicht tust. Lange bevor auch du schmerzlich erfahren müsstest, dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt. Ich möchte nicht von dir verlangen, dass du denkst wie ich. Doch möchte ich, dass du denkst. Und ich möchte dich einladen, mich auf einer Reise um die Welt zu begleiten, in einem Jahr, dass unsere Wahrnehmung über das Anderssein nachhaltig beeinflusst hat. Erst wenn es uns gelingt, in unserem Gegenüber allein die Schönheit der schöpferischen Vielfalt zu sehen, werden wir verhindern, dass wir zerstören, wenn wir finden, was wir suchen: den Frieden mit uns, der Welt und mit jenen Menschen, die abseits unserer Geographie und jenseits unseres Kalenders ihre eigene Welt und Heimat geschaffen haben. Andreas Bender











Albert Schweitzer


Aristoteles



Am Anfang war das Lachen. Ein Kinderlachen ist die wohl schönste Prophezeiung, die ­einem Menschen begegnen kann. Es ist die Prophezeiung einer unschuldigen Zukunft. In diesem Lachen ist eine Zukunft verborgen, die man als Erwachsener nicht mehr zu denken wagt. Es ist eine tatsächlich unschuldige Zukunft, gewissermaßen die unbedingte Zukunft. Aber die ist dem ­Lachen der Kinder vorbehalten. Kinder sind damit die Hüter ­einer Zukunft, die uns als Idealbild unser ganzes Leben be­ gleiten wird, ebenso klar und offen wie kompromisslos ist. Das Kinderlachen ist damit der Ansporn, etwas Sinnvolles mit seinem Leben anzufangen. Es ist jene Prophezeiung, die noch alles möglich macht und die trotzdem schon weiß, was sie will, es ist der Wille zum Leben. Aber warum können nur Kinder so lachen? Warum sind nur die Kinder die Propheten einer unbeschränkten Zukunft?

Weil wir Erwachsenen eine ­Erinnerung haben. Für Erwachsene ist der Blick nach vorne immer bestimmt vom Blick zurück. ­Anders gesagt, über die Zukunft zu denken setzt Erin­ nerung voraus. Die Erinnerung formt somit den Charakter der Zukunft. Die Erinnerung entscheidet darüber, wie wir die Zukunft sehen und was wir mit und aus der Zukunft machen. Und da jeder eine ganz persönliche und ganz und gar andere Erinnerung hat, so ist dementsprechend natürlich auch die Zukunft sehr individuell. Für ­Kinder ist die Zukunft eine bare Selbstverständlichkeit, deshalb gehen die Fragen der Kinder tiefer, sie gehen an das Wesentliche, weil sie noch nicht mit schon einmal erfahrenen Antworten belastet sind. Erwachsene versuchen, die indi­ viduellen Erinnerungen und Erfahrungen so weit als möglich deckungsgleich zu bringen, um entsprechend eine Über­ einstimmung für die Zukunft zu ­finden. Jeder kennt die dies­ bezüglichen Streitereien vor ­Gerichten, am Küchentisch, in Konferenzräumen, immer wird versucht, einen gemeinsamen Nenner zu finden, Gemeinsamkeiten zu definieren, allgemein

Gültiges zu formulieren, um ­eine tragfähige Zukunft zu gestalten. Aus der Erfahrung der Unterschiedlichkeit strebt man für die Zukunft Übereinstimmung an. Erinnerung und Zukunft kommunizieren miteinander. Anders gesagt: Vergangenheit ist jene Erinnerung, die die Zukunft als Hoffnung formuliert. Kinder haben noch keine Er­innerung in diesem Sinn, sie ­haben noch keine Vergangenheit. Deshalb ist für sie die Zukunft auch weniger Hoffnung als Glaube, ein blindes Ver­trauen in die Zukunft selbst. ­Daher mutet ihr Lachen auch so unschuldig an.


Unschuldig aus Mangel an Vergangenheit. Der Umkehrschluss mutet ein wenig riskant an: Wo viel Vergangenheit ist, da ist auch viel Schuld, jedenfalls viele Möglichkeiten dazu. Das hieße, Erwachsene erinnern in Schuld und planen in Hoffnung. Ein ­solcher Gedanke lässt die ganzen schönen Erinnerungen auftauchen, plötzlich sind alle Erinnerungen schön, der Urlaub am Strand, das letzte Abendessen mit Freunden sowieso, die letzte Nacht … Aber sind all die schönen Erinnerungen nicht doch bloß eine Art Zukunft, eine Hoffnung, dass sich derlei wie­ derholen ließe, dass andere es genauso angenehm empfunden und in Erinnerung behalten haben mögen, dass daraus eine gemeinsame Zukunft zu gestalten wäre? Denn gerade die schönen und gelungenen Dinge sind eine Hypothek auf die Zukunft. Gewissermaßen ein Schuldschein, ein Versprechen. Jeder, der etwas tut, egal was, hat Veränderung geschaffen, hat Bestehendes verändert. Und je länger wir tun und handeln, also verändern, um so größer wird unsere Vergangenheit.

Dem Veränderten gegenüber geben wir damit aber ein Versprechen, wir schul­den sozusagen dem Verän­derten etwas. So gesehen ist das Erkennen, dass das eigene Handeln mit der Zukunft zusammenwirkt, nicht mehr und nicht weniger als das Empfinden von Verantwortung. Verantwortung ist also das Bindeglied zwischen Erinnern und Hoffen. In diesem Sinne sind Kinder tatsächlich die wahren Propheten. Kinder haben noch keine Vergangenheit, sie haben daher auch keine durch die Vergangenheit kontaminierte Zukunft. Sie sind unschuldig. Ihr Blick nach vorne ist ein reines Blatt Papier. Genau genommen ­haben sie nicht einmal eine ­Zukunft, wie Erwachsene das Wort verstehen – sie sind ­vielmehr die Zukunft. Und die ­Zukunft beginnt mit einem ­Kinderlachen. Philipp Mosetter






„Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch euch aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ­ihnen eure Liebe schenken, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Heim geben, aber nicht ihren Seelen, denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht ­besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen. Ihr könnt euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern. Ihr seid der ­Bo­gen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden. Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit und er spannt euch mit seiner Macht, damit seine Pfeile weit und schnell fliegen. Laßt eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein. Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.“ Kahlil Gibran, der Prophet


„Ja, ein göttliches Wesen ist das Kind, solange es nicht in die Chamäleonsfarbe der ­Menschen getaucht ist. Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön. (…) Aber das ­können die Menschen nicht ­leiden. Das Göttliche muß ­werden, wie ihrer einer, muß erfahren, daß sie auch da sind, und eh es die Natur aus seinem Paradiese treibt, so schmeicheln und schleppen es die Menschen heraus, auf das Feld des Fluchs, daß es, wie sie im Schweiße des Angesichts sich abarbeite.“

Hölderlin, Hyperion






Tafel in einem Lehrerzimmer, Jaiphur, Indien





Mike Kuhlmann



„Man muss wissen, was man tut!“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 120 x 160 cm


„Immer wenn ich schlafe, bin ich gar nicht mehr da“, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 190 x 150 cm, Mike Kuhlmann 2001



„Du bist mein Lieblingsmensch“, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 130 x 150 cm, Mike Kuhlmann 2002


„Sind das nur Worte oder tust du das?“, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 130 x 150 cm, Mike Kuhlmann 2002




„Nicht einmal die Wahrheit stimmt“, Acryl, Mixed Media auf Leinwand, 160 x 140 cm, Mike Kuhlmann 2002



„Gut, dass ich nicht mehr weine“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 110 x 130 cm


„Erwachsene Menschen gehen arbeiten und verlieben sich“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 110 x 130 cm



„Immer wenn man etwas tut, passiert etwas“, Mike Kuhlmann 2001, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 160 x 200 cm


„Jetzt bin ich böse“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 130 x 150 cm


„Gibt es im Himmel eigentlich Süßigkeiten?“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 130 x 150 cm


„Mädchen haben eine Scheide und Jungen einen Penis“, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 220 x 200 cm, Mike Kuhlmann 2002




„Ein Quadrat ist ein Kreis mit vier Ecken“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 150 x 150 cm


„Wenn ich ein Hund wäre, würde ich den ganzen Tag bellen“, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 160 cm, Mike Kuhlmann 2001




„Wo schlafen denn die Fliegen nachts?“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 220 x 130 cm


„Ich bin da!“, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 220 x 200 cm, Mike Kuhlmann 2002




„Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“, Mike Kuhlmann 2002, Acryl Mischtechnik auf Leinwand, 120 x 140 cm



Oliver Raszewski


birthTM庐/1/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski


birthTM庐/2/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski



evolutionTM庐/1/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski



evolutionTM庐/2/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski


personalityTM庐/1/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski


personalityTM庐/2/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski


personalityTM庐/3/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski


personalityTM庐/4/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski



realityTM庐/1/2002 路 propheten 路 Oliver Raszewski



Christian Maria Knecht


„Human beings VI“, Acryl/Teer/Lack/Collage auf Holzkasten, 220 x 130 x 7 cm




„Human beings V“, Acryl/Lack und Collage auf Holzkasten, 180 x 140 x 7 cm


„Human beings II“, Acryl und Collage auf Holzkasten, 140 x 120 x 7 cm




„Human beings – Cross I“, Acryl/Teer/Collage und Montage aus Ästen auf Leinwand, 150 x 150 cm



„Human beings IV“, Acryl/Lack/Collage auf Holzkasten, 200 x 130 x 7 cm


„Human beings III“, Acryl/Collage auf Leinwand, 130 x 210 cm





Nachwort Mike Kuhlmann kam eines Tages zu mir. „Sie müssen das Geleitwort zu unseren Propheten schreiben.“ Als ich ihn verdutzt ansah, zeigte er mir einen noch nicht gedruckten, aber fertig gestellten Band mit Fotos, Kollagen und Kunstwerkablichtungen. Als studierender, aber nicht praktizierender Philosoph fiel meine Aufmerksamkeit aber mehr auf die kleinen Textpassagen, die recht unauffällig den einen oder anderen Bildrand zierten. „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Mit diesem einleitenden Satz begab sich Ludwig Wittgenstein in seinem 1921 erschienenen „Tractatus logicophilosophicus“ auf eine intellektuelle Reise zur Erkenntnis, nachdem das spekulative Denken endgültig aus dem Reich der abendländischen Philosophie vertrieben wurde. Ich denke an die drei Autoren, die sich auf den Weg zu einer fremden Kulturwelt machen. Konnten sie etwa in ihrer gewohnten Umgebung nicht mehr die passenden Motive für ihre künstlerische Suche nach dem Schönen, Wahren oder Guten finden? Ich glaube, dass uns der Blick für das Wesentliche verloren gegangen ist, weil wir immer nur an uns selbst denken. Doch gleichzeitig ist es so einfach, unser persönliches Sicherheitsdenken zu erschüttern. „Am 1. Januar 2002 teilten sich 6.196.141.294 Menschen den Planeten Erde.“ Ich gebe zu, dass mich diese Vorstellung ängstigt. Anderen Lesern ergeht es vielleicht auch so. Doch wovor fürchten wir uns eigentlich? Wir haben Angst um unsere Gesundheit, unsere Familie, unseren Arbeitsplatz. Wir fürchten uns vor Terroranschlägen, Naturkatastrophen und Atomkriegen. Unsere Ängste werden zusätzlich durch die Schreckensbilder von sinnlosen Gewalttaten heraufbeschworen, die die sozial Benachteiligten, Hungernden oder politisch Unterdrückten dieser Welt begehen. Eine Vorstellung, dass sich ein großer Teil der über sechs Milliarden Menschen zählenden Weltbevölkerung darunter befindet, wirkt nicht gerade beruhigend.

Doch die Angst dauert nur wenige Augenblicke. Der Sinn für die Ästhetik setzt sich durch. Ich sehe lauter schöne Kindergesichter. Ihr Anblick wirkt faszinierend und anregend. Die Künstler wollen uns die Kinder als die wahren Propheten zeigen. Doch was macht da das Bild eines alten Mannes aus Jaipur in Indien dazwischen? Ich blättere weiter durch, ohne den Sinn zu verstehen. Dann kommt wieder ein Zitat. „Ich denke, also bin ich.“ Es ist von Descartes aus seinen berühmten Meditationen. Ich denke an die Zeit, in der Descartes lebte. Die theologische Idee, dass sich der Kosmos um die Erde dreht, wird als falsch entlarvt. Wir sind nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern nur ein Planet im unendlichen Universum. Eine Vorstellung, die bei den Menschen von damals ungeheure Angst auslöste. Das Mittelalter dachte in den Kategorien des durch Gott geschaffenen Raums. Der ruhende Pol des Ganzen war die Welt, die man sich wie eine Diskusscheibe vorstellte. Indem die Erde zur Kugel wurde, die sich in irgendwelchen Bahnen drehte, war der Raum plötzlich nicht mehr überblickbar. Die Menschen fingen an, sich vor dessen Unendlichkeit zu fürchten. Den Auslöser für diesen „Horror vecui“ lieferten die Denker, indem sie die Existenz Gottes in Frage stellten. Denn ein endloser Raum widersprach der Idee der Schöpfung. Descartes zweifelte laut. Er erhob sogar den Zweifel zum Prinzip der Erkenntnis. Dadurch fand er wieder den Weg zu Gott. Denn er konnte alles denkend anzweifeln, doch nicht die Tatsache, dass er dachte. „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich.“ Die meisten von uns lesen den Satz selbstbezüglich. „ICH denke, also bin ICH.“ Für die Intellektuellen von heute stellt er sogar die Grundlage ihrer materiellen Existenz dar. Sie denken, um sich den Lebensunterhalt zu sichern. Unsere ganze Gesell-


schaft denkt nicht anders. Sie stellt das Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens und fühlt sich womöglich durch Descartes bestätigt. Welch ein Missverständnis!

haben sie aber in ihren Werken verschlüsselt. Warum taten sie das. Wäre es nicht viel einfacher gewesen, den hiesigen Menschen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen?

Was uns der Philosoph sagen wollte, heißt: „Ich DENKE, also BIN ich.“ Nur im Denken findet der Mensch den Zugang zur Erkenntnis. Wenn er denkt und sich dabei selbst vergisst, wird er der Wahrheit kund. Denn in diesem Zustand partizipiert er an der göttlichen Weisheit, die er nicht anzweifeln kann, auch wenn sein ichbezogenes Denken ihm das befehlen sollte.

Auf seiner intellektuellen Reise zur Erkenntnis kam Wittgenstein bei wahren und falschen Sätzen an. Er formulierte daraus sein Erkenntnisgebäude. Dieses hielt er aber für philosophisch nicht haltbar. Denn es befand sich außerhalb der Welt, die für ihn einzig und allein der Fall war. Deshalb verglich er es mit einer Leiter, die er „sozusagen wegwerfen muss, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.“

Ich vermute, dass die Autoren auf ihrer Reise eine ähnliche Denkerfahrung gemacht haben. Sie stießen dabei unweigerlich auf die wahren Propheten. Es sind die Kinder, die so sind, wie sie denken und auch so denken, wie sie sind. Denn für sie ist das Denken und Sein dasselbe. Bei diesem Satz handelt es sich übrigens um eine der ältesten Einsichten der abendländischen Philosophie. Der Altgrieche Parmenides hat sie einmal formuliert. Er bezog sie allerdings auf alle Menschen. Uns macht sie sich aber nur in den Gesichtern der Kinder bemerkbar.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ So lautet der letzte Satz des Tractatus logico-philosophicus. Die drei Autoren haben ihn in ihrem Werk nicht erwähnt. Ich bin mir aber sicher, dass sie ihn gedacht haben.

„Kindermund tut Wahrheit kund.“ Wer dies erkennen will, muss nur in die Gesichter der abgebildeten Propheten schauen. „Ja, ein göttliches Wesen ist das Kind“, sagte schon Hölderlin in seinem Hyperion. Und fügte hinzu: „... solange es nicht in die Chamäleonsfarben der Menschen getaucht ist.“ Die Kindergesichter sagen uns die Wahrheit, die wir als Erwachsene vergessen haben. Es gibt aber auch Ausnahmen. Der alte Prophet von Jaipur gehört dazu. Er blickt weise in den unendlichen Raum. Doch sein Gesicht lässt sich nicht entschlüsseln. Im Unterschied zu den Kindern behält er die Wahrheit für sich. Die drei Künstler haben von ihrer Reise eine ungeheure Fülle an Erkenntnissen zurückgebracht. Sie

Ryszard Lempart



propheten.com





Für alle, die wir lieben.

Unser besonderer Dank gilt allen, die uns bei der Erstellung der „Propheten“ mit Rat und Tat zur Seite standen. Ryszard Lempart, Christian Stöppler, Peter Braun, Michael Dietl, Frank O. Birkel, Philipp Mosetter, Thomas Hühsam, Peter Fischer, Michael F. Souvegnier, Thomas Hirche, Henning Haak, Eckhard von Kuczkowski, Rasem Nazzal, Hartmut Retzlaff, Wolfgang Jeblonski, Elisabeth Gottmann, Peter Niemann, ­Daniel Steindorf, Peter Huggler, Andreas Koschate, Heinz Zenk, Wolfram Heinisch, Markus Mertens, Dennis Beste, Mark Wenzel, Thomas Schütz, Michael Münzing, Johannes Heil, Gerald Zsorsch, Christof Blaesius, Thomas Rühle und Andrea Kuhlmann Herausgeber:

Zeppelinallee 77 D-60487 Frankfurt am Main Autoren / Künstler: Mike Kuhlmann Andreas Bender Christian Maria Knecht Oliver Raszewski Gestaltung / Layout: Mike Kuhlmann BUGin© Satz / Lithografie: MDDigitale Produktion / Michael Dietl, Maintal Druck und Verarbeitung: Braun & Sohn / Peter Braun, Maintal



Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.