Teddyaward 2014 Programme Magazine

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Im Schrank aus Zelluloid Sergej Eisenstein ist 90 Jahre nach der Uraufführung seines Meisterwerks PANZERKREUZER POTEMKIN immer noch einer der bekanntesten Regisseure der Welt und gilt als Vater der Filmtheorie. Dass er schwul war, wissen die wenigsten. Deswegen widmet ihm der TEDDY unter dem Motto „Respect your roots“ dieses Jahr besondere Aufmerksamkeit.

Atheist. Er ist klug, gebildet, hat den Kopf voller umstürzlerischer Ideen und spiegelt so seine Zeit: Tolstoi und die russischen Philosophen rufen eine neue Weltordnung aus, in der es freie Liebe, Bisexualität und Gedanken ohne Gott gibt, in der die Schönheit der Schöpfung und Gerechtigkeit über allem stehen und das Väterchen Zar irgendwie überflüssig ist. Mit 18 stellt sich Eisenstein politisch direkt gegen seinen Vater und schließt sich den Bolschewiki an, die kurze Zeit später, während der Oktoberrevolution, die Macht übernehmen werden. 1920 zieht er nach Moskau und beginnt mit dem und für das Theaterkollektiv Proletkult zu arbeiten. Drei Jahre später fängt er an, sich als einer der ersten Menschen weltweit, wissenschaftlich mit dem Medium Film auseinanderzusetzen und entwickelt eine eigene Filmtheorie. Die lautet verkürzt: Baut euch eure Welt, so wie ihr wollt, dass andere sie sehen. Oder etwas länger: Filmmontage heißt, die emotionale Kraft einer Szene speist sich nicht nur aus ihren einzelnen Bildern, sondern ist immer das Resultat ihres Zusammenspiels. Alle von Eisensteins Werken – und gut 95 Prozent des filmischen Schaffens bis heute – richten sich nach dieser Maxime. Das Zusammenspiel der Augenblicke entfernt etwas aus der kaum 20 Jahre alten erzählenden Filmwelt: ihren auch dokumentarischen Charakter. Es geht nicht mehr darum, was die Augen sehen können, nicht darum, was der Filmemacher aufnehmen kann, sondern darum, was er abbilden will und darum, was Kopf und Herz des Zuschauers daraus machen. Es geht um Blickwinkel, um Sehgewohnheiten, um Ausschnitte, um durch Objektive aufgenommene subjektive Sichtweisen. Es geht darum, Geschichten zu erzählen, statt Ereignisse abzubilden. Seiner fast 1400 Seiten starken Autobiografie YO – ICH SELBST stellt Eisenstein zwei Jahrzehnte später ein Zitat von Rémy de Gourmont voran: „Seine persönlichen Eindrücke zu Gesetzmäßigkeiten zu erheben – darin besteht das große Bestreben des Menschen, wenn er ehrlich ist.“ 1925 dreht er zwei Langfilme, STREIK und PANZERKREUZER POTEMKIN, die diesen Prinzipien folgen. POTEMKIN wird ein riesiger internationaler

Das ist der Film: 1930. Sommer. Laerdo, Texas, in der Wüste, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Sergej Eisenstein, 31 Jahre alt, breitschultrig, zu kahl für sein Alter und nach Chaplin der berühmteste Filmemacher der Gegenwart, grinst einem uniformierten Grenzposten als Antwort auf „Was ist das denn? Können Sie mir das erklären?“ mitten ins Gesicht und sagt: „Ich denke, es ist relativ offensichtlich, was das ist.“ Ist es. In Eisensteins Koffer befinden sich Karikaturen aus der Hand des Meisters, auf denen Jesus verunglimpft wird, und fantastische pornografische Zeichnungen, auf denen Männer sich gegenseitig ficken. Auf einem Bild ist ein Muskelprotz zu sehen, der einen jüngeren Mann mit dem Kopf nach unten hält, während er ihm einen bläst. Aus dem Trompetentrichter im Arsch des Jünglings quellen Noten. 76 Jahre später wird John Cameron Mitchell in SHORT BUS die amerikanische Nationalhymne aus dem frisch gevögelten Hinterteil von Jay Brannan ertönen lassen und dafür von Kritikern bejubelt werden. Da ist Eisenstein schon mehr als fünfzig Jahre tot. Aber zurück in die Wüste. Nach dem Fund werden der Filmemacher und seine Begleiter für 30 Tage in Laerdo festgesetzt. Eisensteins Visum ist abgelaufen und kein Reden und Flehen seiner amerikanischen Kontakte, zu denen neben Chaplin auch Marlene Dietrich, Josef von Sternberg und Mary Pickford gehören, hilft. Der Regisseur wird als „unerwünscht“ eingestuft und bekommt ein Transitvisum, mit dem er noch 30 Tage bleiben und dann über New York Richtung UdSSR ausreisen muss. Es wird auch Zeit. Stalin ist kurz davor, sich Sorgen um einen seiner liebsten Künstler zu machen. Ist der etwa ein Konterrevolutionär und durch seinen längeren Aufenthalt im Westen total verdorben worden? Und, wenn ja, wie konnte es nur dazu kommen? So: Sergej Michailowitsch Eizenshtein wird als Sohn eines erfolgreichen Architekten und einer Tochter aus wohlhabendem Hause am 23. Januar 1898 im lettischen Riga in ein unruhiges Jahrzehnt hineingeboren. Sein Vater ist Jude, seine Mutter russisch-orthodox, Eisenstein selbst wird orthodox erzogen, aber rebelliert als Kind und wird noch als Teenager www.cine-plus.de

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