DAS STARKMACHER-PRINZIP RESSOURCEN VON JUGENDLICHEN SICHTBAR MACHEN

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Erfahren, wie es heute in Deutschland um Jugendliche steht, die keine „Traumbiographie“ hinter sich haben; herausfinden, was in solchen Menschen an Talenten und verborgenen Reichtümern stecken kann und Mut fassen, selbst beim Heben dieser Schätze mitzuwirken: „Das Starkmacher-Prinzip“ gibt Einblick in ganz unterschiedliche Lebenswelten von Jugendlichen heute. Das Projekt „StarkmacherSchule“ stärkt gerade sozial benachteiligte Jugendliche in ihrer Persönlichkeit durch Musik, Tanz und wertschätzende Zuwendung. Sie entwickeln ganz neue Potentiale und entfalten Talente, die keiner in ihnen vermutet hätte, manchmal nicht einmal sie selbst.

KAPS & RÖSER (HRSG.)

Das Buch zeigt Methoden und pädagogische Grundlagen auf, entfaltet die Bausteine eines erfolgreichen Gesamtkonzepts für Schulen und Jugendeinrichtungen und lässt vor allem die Jugendlichen selbst zu Wort kommen.

DAS STARKMACHER-PRINZIP

MATHIAS KAPS & CHRISTIAN RÖSER (HRSG.)

ISBN 978-3-9816972-0-9

DAS STARKMACHER-PRINZIP RESSOURCEN VON JUGENDLICHEN SICHTBAR MACHEN



DAS STARKMACHER-PRINZIP RESSOURCEN VON JUGENDLICHEN SICHTBAR MACHEN


Herausgeber Mathias Kaps, Christian Röser (Hrsg.) Starkmacher e.V. Geschäftsstelle Mannheim Seckenheimer Hauptstraße 72, 68239 Mannheim Tel. +49 (0) 621 49602693, info@starkmacher.eu www.starkmacherschule.de, www.starkmacher.eu Redaktion Andrea Fleming und Sarina Pfauth, München Gesamtkoordination Frank Schmelzer Umschlaggestaltung & Layout Elfgen Pick GmbH & Co. KG, Augsburg Fotos wenn nicht anders vermerkt: Starkmacher e.V., Katharina Messmann, Mathias Kaps Druck 1. Auflage 2014 fgb, freiburger graphische betriebe gedruckt auf Condat Perigord in 135 g

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kompensiert Id-Nr. 1443291 www.bvdm-online.de

In den nachfolgenden Texten wird der besseren Lesbarkeit halber bei den personenbezogenen Bezeichnungen meist die männliche Form gewählt. Sie gilt aber grundsätzlich für beide Geschlechter. © Starkmacher.e.V. 2014 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck sowie elektronische Verarbeitung und Verbreitung nur mit Genehmigung der Herausgeber und Quellennachweis. Gefördert wird das Projekt StarkmacherSchule im Rahmen des XENOS-Programms „Integration und Vielfalt“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds. ISBN 978-3-9816972-0-9


MATHIAS KAPS & CHRISTIAN RÖSER (HRSG.)

DAS STARKMACHER-PRINZIP RESSOURCEN VON JUGENDLICHEN SICHTBAR MACHEN


>> GRUSSWORTE

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, als Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen habe ich gerne die Schirmherrschaft für das Projekt „StarkmacherSchule – Stark ohne Gewalt“ übernommen. Es ist ein großes und erstrebenswertes Ziel, dass Kinder und Jugendliche in einem gewaltfreien Raum glücklich aufwachsen können. Studien zeigen, dass Gewaltprävention insbesondere dann eine nachhaltige Wirkung hat, wenn sie früh bei den konkreten Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen ansetzt. So soll der Gewaltprävention schon früh in der Schule und in Vereinen ein fester Platz eingeräumt werden. In Nordrhein-Westfalen ist sie daher integraler Bestandteil von Schulentwicklung. Dem Lebensraum Schule kommt bei der Gewaltprävention eine besondere Bedeutung zu! Die Beispiele in diesem Buch zeigen, dass es sinnvoll ist, die eigenen Talente und Fähigkeiten zu erkennen; denn wer sich ihrer bewusst ist, kann sie gewinnbringend für sich und die Gesellschaft einbringen. Ebenso ist es gewinnbringend, Neues zu erfahren und zu erlernen; denn Menschen mit einer guten Bildung und Ausbildung sind stark im Leben. Ausschnitte in diesem Buch zeigen auch, wie wichtig es ist, sich der Gewalt im Alltag entgegenzustellen; denn wer hinschaut, kann reagieren und Grenzen setzen. Wenn es uns gelingt, Kinder und Jugendliche frühzeitig in ihren Lebenskompetenzen „stark zu machen“ und unterschiedliche Lebensstile und Bedürfnisse von Mädchen und Jungen sowie die unterschiedliche familiäre, soziale und kulturelle Herkunft von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen, haben wir eine gute Basis für eine „Starkmacher-Schule“ und ein glückliches Aufwachsen gelegt.

Sylvia Löhrmann Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen


Liebe Leserinnen und Leser, die Bevölkerung in Deutschland wird bis zum Jahr 2030 deutlich schrumpfen. Dieser Trend zeigt sich am stärksten bei Kindern und Jugendlichen: Die Zahl der unter 20-Jährigen wird bis dahin um ein Sechstel schrumpfen – während die der 65-Jährigen und Älteren um ein Drittel ansteigen wird. Junge Menschen werden also darauf vorbereitet werden müssen, für immer mehr ältere Menschen aufzukommen. Um diese jungen Menschen müssen wir uns noch besser kümmern, sie ernst nehmen und stark machen – nur so kann die Zukunft gelingen. Es liegt also an uns, möglichst früh Zeit und Energie in Erziehung und Bildung junger Menschen zu investieren, damit sie sich als Individuen gut entwickeln und den Gefährdungen durch Sucht, falsche Ideologien und Kriminalität widerstehen können. Neben den Eltern kommt dabei den Schulen die größte Bedeutung zu. Das Konzept der „StarkmacherSchule“ halte ich für besonders erfolgversprechend. Mit ihrem Engagement und Enthusiasmus können die Kompetenzen junger Menschen gezielt gefördert werden. Mit der Übernahme der Schirmherrschaft des Projekts „StarkmacherSchule“ an der Ludwig-Erhard-Schule in Pforzheim konnte ich bereits ein Zeichen setzen und zeigen, wie wichtig mir als Innenminister des Landes Baden-Württemberg und auch als Person die Jugend in unserer Gesellschaft ist. Ich bin begeistert von der Idee, die „Starkmacher“ in einem Buch zu Wort kommen zu lassen und damit den Blick auf die Welt der Jugend von heute und ihre Bedeutung von morgen zu öffnen und zu schärfen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Spaß beim Stöbern in diesem Buch und hoffe, dass Expertinnen und Experten ebenso wie Laien hier Ideen finden, wie wir gemeinsam mit Jugendlichen den Herausforderungen und Konflikten in unserem Umfeld erfolgreich begegnen können.

Reinhold Gall MdL Innenminister des Landes Baden-Württemberg

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STARKMACHEN ALS LEBENSHALTUNG VORWORT

Mathias Kaps ist von Beruf Lehrer, hat bis 2006 Mathematik und katholische Religionslehre unterrichtet, zuletzt an einem Gymnasium in Hannover. 2006 hat er gemeinsam mit Christian Röser den Starkmacher e.V. gegründet, für den er seitdem als Vorstand tätig ist. Im Projekt StarkmacherSchule hat er die Gesamtleitung.

Unsere Zeitungen sind voll von Beiträgen über Probleme und Schwächen in Schule und Erziehung. Bildung steht auf dem Prüfstand: Pisa, Umstrukturierung und Schul-Schließungen. Die Hauptschule gilt als Restschule. Viele Jugendliche bleiben ohne Ausbildungsplätze. Wie ist das möglich, wenn wir doch als reiches Land so viel Geld in das Bildungssystem investieren? Der vor kurzem verstorbene ehemalige Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, schreibt in seinem Buch „Minimum (2006)“: „… unsere Kinder haben weniger Freunde als frühere Generationen. So verändert sich nicht nur das Leben des Einzelnen radikal, sondern unsere Gesellschaft wird schleichend umprogrammiert; …. Mehr und mehr werden wir auf uns selbst gestellt sein, doch alleine können wir nicht überleben. In Zeiten, da das wertvollste Gut das soziale Kapital sein wird – wie werden wir neue Gemeinschaften bilden? … Wir sind auf das Minimum der sozialen Beziehungen nicht vorbereitet. Wir stehen plötzlich vor der Urfrage einer Gesellschaft: Was ist eine Familie? Wie entsteht Vertrauen? Wer hilft wem?“ Das sind spannende Fragen, finde ich. Mit Blick auf unsere Erfahrungen der letzten Jahre als Starkmacher-Verein würde ich daraus eine Aufgabe ableiten:


>> STARKMACHEN ALS LEBENSHALTUNG

WIR MÜSSEN ERFAHRUNGSRÄUME SCHAFFEN, IN DENEN MENSCHEN VERTRAUEN ERLEBEN KÖNNEN! Zielgruppe unseres Engagements sollten dabei nicht nur die Jugendlichen sein, die sicherlich in großen Umbruchsituationen leben und ihre eigene Position, ihren Platz im Leben finden müssen. Genauso wichtig aber sind die Lehrkräfte an den Schulen, die Sozialarbeiter in Jugend- und Bildungseinrichtungen, Jugendleiter und Pädagogen, die oft mit einer unerschütterlichen Leidenschaft und entgegen einer negativen Meinungswelle für die Belange von Jugendlichen ins Feld ziehen. Man mag über Lehrer denken, was man will, aber es ist wohl nicht zu leugnen, dass sie schnell für jede Kritik herhalten müssen, ja dankbare Sündenböcke für viele Probleme der Gesellschaft abgeben. Gerhard Schröder nannte sie die „faulen Säcke“ (DIE ZEIT Nº 26/1995 vom 23. Juni 1995) und dem würde sicher nicht nur ich vehement widersprechen. Viele meiner Kollegen sind über alle Maßen engagiert und doch werden z.B. gerade Hauptschullehrer von der Gesellschaft allein gelassen. Lehrer müssen neben der Wissensvermittlung immer mehr Erziehungsaufgaben übernehmen, die von Eltern oder Familie nicht mehr geleistet wird. Mich hat die Kapitulation des Kollegiums an der Berliner Rütli-Schule (Berliner Morgenpost, 21.08.11 Bildungsnotstand) nicht wirklich erstaunt, mich bestürzt allerdings die fehlende Kommunikationsfähigkeit an vielen Schulen. In meinen Kontakten mit Kollegen in den letzten Jahren spüre ich oft große Hilflosigkeit und manchmal auch eine gewisse Resignation. Vielen bleibt das niederschmetternde Gefühl, sich aufzureiben und keine Verbesserungen zu sehen. Und ich frage mich: Von wem soll unsere zukünftige Generation Vertrauen und Zuversicht lernen? Auf Schülerseite bleiben da nicht selten nur noch die Faust, das Mobbing und die Gewalt am Schulgebäude als Ausdruck der Ohnmacht und das alles ist für mich als ein großer Hilfeschrei zu deuten. Schon seit 2002 war ich mit einigen Freunden und Kollegen aus verschiedenen Bereichen der Jugendarbeit in Deutschland in regelmäßigem Austausch und wir waren uns einig, dass wir unsere gelungenen Projekte bündeln, uns über gute Ergebnisse und Schwierigkeiten überregional austauschen und vor allem: Gemeinsam neue Projekte angehen wollten! Daraus ist dann 2006 der Starkmacher e.V. geboren, der inzwischen seine Geschäftsstelle in Mannheim hat, einen Stamm von 5-7 festen Mitarbeitern und zahlreiche Partner und Helfer, die in unterschiedlicher Form mitgestalten.

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In den vergangenen acht Jahren seit der Gründung hat der Starkmacher viele kleinere und größere Projekte im Bereich Jugend und Politik, Jugendkultur und Gewaltprävention durchgeführt. Dazu gehört beispielsweise die StarkmacherSchule, die wir in diesem Buch ausführlich vorstellen. Sie hat sich aus dem Präventionsprojekt „Stark ohne Gewalt“ entwickelt. Heute geht es uns nicht mehr ausschließlich um die Schüler, sondern auch darum, die Lehrer zu unterstützen. Wir Starkmacher haben in den vergangenen Jahren mehr als 50 Schulen begleitet. Bei einigen war es mehr eine Trauerbegleitung, da Schulschließung bzw. Zusammenführung bevorstand. In allen Prozessen, die wir mit den Schulen durchlebt haben, ging es immer um die Analyse der Qualität all dessen, was getan wurde, und leider war der Blickwinkel dabei oft sehr defizitorientiert. Wir haben ein Bewusstsein für Fähigkeiten und Talente vermisst. Eine ganze Lehrergeneration scheint geprägt vom Streben danach, möglichst breite Allgemeinbildung zu vermitteln (siehe auch Wolfgang Klafki mit seiner bildungstheoretischen Didaktik, die auf den Ideen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik basiert). In einem Curriculum wird festgezurrt, was als Allgemeinbildung gilt, und muss dann von allen Wissensvermittlern eingehalten werden. Doch Kinder brauchen Weg-Begleiter, die sie an die Hand nehmen und ganzheitlich fördern. Nicht von der Sache her unterrichten, sondern vom Menschen her. Mit vielen meiner Kollegen bin ich der Meinung, dass es darum gehen muss, Schülern Räume zu eröffnen, um ihre Talente und Gaben zu entdecken und zu entfalten – das kommt im Schulalltag oft zu kurz. Im Zeitalter der Patchworkfamilien ist eine kontinuierliche Begleitung und Förderung oft nicht möglich: Die Eltern sind (oder fühlen sich) überfordert, Lehrer können die oft fehlenden soliden Lebens-Strukturen, das Gefühl von Verlässlichkeit und Vertrauen allein in der Schule nicht auffangen. Schule müsste hier neue Angebote schaffen, die Kinder zu fördern. Schule fördert oft nur den IQ (Intelligence Quotient), vergessen dabei den EQ (Emotional Quotient), ganz zu schweigen von dem SQ (spiritual quotient), AQ (attitudinal quotient), SQ (Social Quotient). Neuerdings spricht man auch vom fehlenden HQ (Humor Quotient). Nur alles zusammen ergibt den PQ (Personality Quotient). Neu ist dieser Gedanke nicht. Schule fördert oft nur den IQ. An Gymnasien gibt es zwar oft eine reiche Auswahl an Zusatzangeboten, die einzelne Talente und Fähigkeiten der Schüler fördern sollen. Doch Haupt-, Berufs und Sonderschüler bleiben oft auf der Strecke. Gleichzeitig


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stehen die Lehrkräfte unter einem enormen Druck, den Ansprüchen von Eltern, dem Ministerium und der Öffentlichkeit gerecht zu werden. Wir haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, dass unsere Starkmacher-Projekte gerade für diese Zielgruppen genau das Richtige sind. Das Starkmacher Prinzip muss bei mir beginnen. Nur wenn ich selber stark bin, kann ich auch andere stark machen. Das Projekt StarkmacherSchule schafft Erfahrungsräume, in denen Einzelne gestärkt werden sollen und die Erfahrung machen, dass Gemeinschaft förderlich, ja fast überlebensnotwendig ist. Für uns beginnt die Arbeit daher schon beim Erstkontakt im Rektorat sowie mit den Lehrerfachtagungen, in denen wir die Lehrkräfte ins Boot holen und unter anderem mit und im Heidelberger Kompetenz-Training schulen. Dass die Lehrer erst mal stark gemacht werden müssen, ist nicht für jeden, nicht einmal für die Zielgruppe, offensichtlich. Und stärken müssen wir dann auch die, die sich schon in der Schule an den Rand gedrängt fühlen. Das hatte auch Fabio verstanden, ein junger Farbiger, der nach der Starkmacher-Projektwoche sagt: „Ich habe gelernt, dass es auf der Bühne drauf ankommt mit dem Herzen eins zu sein. Und nicht alle gegen alle. Und wenn man was falsch macht, macht man einfach weiter, und die Anderen beachten einen gar nicht so“. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat diesen Bedarf erkannt und fördert deshalb StarkmacherSchule im Förderprogramm Xenos. Das Projekt wird unterstützt, weil es folgende Anliegen umsetzt: » Räume öffnen, um Jugendliche zu stärken und damit die Generation von morgen unterstützen » über kulturelle Angebote Jugendliche für europäische Werte, christliche Vorbilder und überzeugende Gesellschaftsmodelle sensibilisieren » jungen Menschen Chancen bieten, sich vor einem großen Publikum zu präsentieren und wertgeschätzt zu werden Mike, ein Hauptschüler schreibt uns: „Mir hat es wirklich gut gefallen. Ich finde es toll, was ihr alles leistet, um anderen das Thema ‚Stark ohne Gewalt‘ zu vermitteln. Ich war selbst in der Soundgruppe und fand es wirklich

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toll, dass man sich in kurzer Zeit sehr gut verstanden hat. Ich für meinen Teil habe sehr viel für mich ‚Neues‘ erlernt. Ich hoffe, ihr macht noch lange Zeit so weiter, weil es doch schon ein Erlebnis ist, aktiv bei einem Musical tätig gewesen zu sein. Wirklich RESPEKT, große Klasse.“ Ändern wir den Blick und helfen jungen Menschen, indem wir ihnen Ergänzungen zum bestehenden Bildungssystem bieten. Ein Hausmeister drückte es nach unserer Musicalveranstaltung so aus: „Ich habe gesehen, dass unsere Jugend gar nicht so schlecht ist, wie alle immer sagen!“ Das Starkmacher-Prinzip ist eine Lebenshaltung. Mit der Förderung im Xenos Programm durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) und das BMAS ist durch die Begleitung von Schulen in der Schulentwicklung ein Netzwerk für Bildung entstanden. Wir konnten an vielen Standorten in den letzten Jahren Schulen begleiten, und damit Jugendliche, Eltern und Lehrer stärken, ihre eigenen Ressourcen zu entdecken und zur Entfaltung zu bringen. Das hat sich in diesen Schulen positiv auf das Schulklima ausgewirkt. Alle Schulen, die sich auf diesen Prozess eingelassen haben, konnten erleben, dass ein als starr erlebtes System aufbricht und Jugendliche plötzlich positive Seiten aufzeigen, die niemand vermutet hätte. Dabei hat das Projekt in Deutschland begonnen, wurde dann aber schnell im europäischen Umland bekannt und angefragt und hat inzwischen auch in anderen Kontinenten Fuß gefasst! Prof. Dr. Christian Pfeiffer, bekannter Kriminologe und früherer niedersächsischer Justizminister, hat das Projekt 2002 kennengelernt und uns in vielerlei Hinsicht in unserer Arbeit unterstützt. Er drückte es so aus: „Sie verstehen es, ganz nach Antoine de Saint-Exupéry, ‚die Sehnsucht nach dem weiten Meer zu wecken‘. Starkmacher sind Menschen, die diese Sehnsucht in sich tragen und sie auch in anderen wecken können und Mut machen, Schiffe zu bauen, Rudern zu lernen, das Steuer in die Hand zu nehmen. Mit unserem Buch wollen wir Sie auf eine solche Reise mitnehmen.


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Das zeigen wir Ihnen:

Wo wir stehen: » Zur aktuellen Situation von Jugendlichen, die keinen leichten und direkten Zugang zum Bildungs- und Ausbildungssystem haben oder finden aus verschiedenen Perspektiven aus dem Starkmacher Netzwerk

Junge Menschen stark machen: » Was macht einen Menschen zum Starkmacher – wer steht im Fokus der Arbeit / des Engagements? » der pädagogisch-didaktische Grundansatz des Starkmacher e.V. » das Projekt StarkmacherSchule » Kooperationen und Synergien

Starke Jugend – starke Zukunft: » kleine und große Erfolgsgeschichten » Echos von Jugendlichen (aus Schulen, externen Einrichtungen, JVAs ...) » ein Ausblick

Lassen auch Sie sich anstecken! Schauen Sie sich um und engagieren Sie sich mit uns für junge Leute, die Ihre Ermutigung brauchen! Und jetzt erst mal: Viel Vergnügen, viele Impulse und Denkstöße beim Lesen!

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WO WIR STEHEN ZUR AKTUELLEN SITUATION VON JUGENDLICHEN IN DEUTSCHLAND

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EIN ÜBERBLICK DATEN UND FAKTEN ZU SOZIAL BENACHTEILIGTEN KINDERN UND JUGENDLICHEN IN DEUTSCHLAND

Sarina Pfauth ist Journalistin in München. Sie hat mehrere Jahre als Redakteurin für die Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung gearbeitet und ist selbst Mutter von zwei Kindern. Für das Starkmacher-Buch hat sie als Co-Redakteurin mitgearbeitet und unter anderem die Interviews für dieses Kapitel geführt.

Es könnte viel schlimmer sein. Es fallen keine Bomben. Es ist genug zu essen da. Jeder darf zur Schule gehen. Und viele, viele Kinder in diesem Land wachsen geliebt und geborgen auf. So schreibt Prof. Reinhard Joachim Wabnitz, der Vorsitzende der Sachverständigenkommission für den 14. Kinder- und Jugendbericht: „Für die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist Kindheit und Jugend eine gute Kindheit und Jugend.“ Doch er wendet ein: „Mit Blick auf eine keinesfalls kleine Minderheit der jungen Menschen ist dies jedoch vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit, sozialer Benachteiligungen und individueller Beeinträchtigungen, ungünstiger Bildungs- und Entwicklungschancen und Armut nicht so.“ Zur Realität in Deutschland gehört auch, dass es in diesem reichen, schönen Land Kinder und Jugendliche gibt, die Gewalt und Ausgrenzung erfahren und die massive soziale, materielle, emotionale Nöte durchleben. Denen eine hoffnungsvolle Perspektive fürs Leben fehlt. In diesem Buch soll vor allem diese Gruppe in den Blick genommen werden. Welche Kinder sind in Deutschland benachteiligt – und wie sieht diese


Benachteiligung konkret aus? Wie viele Kinder sind überhaupt davon betroffen? Was brauchen sie? Laut dem Bundesamt für Statistik leben in Deutschland derzeit 12,9 Millionen Kinder in Familien – die meisten davon zusammen mit ihren verheirateten Eltern (71 Prozent). 20 Prozent wachsen bei ihren alleinerziehenden Müttern oder Vätern auf. Fast ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen hierzulande ist von Armut gefährdet. Das bedeutet, dass ihre Familien weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens erwirtschaften. Zur sozialen Kluft in Deutschland schreibt der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Kinder- und Jugendbericht, dass neben dem finanziellen auch das soziale und kulturelle Kapital der Herkunftsfamilie die Zukunftsperspektive der Kinder entscheidend beeinflussen. Fast jedes dritte Kind in Deutschland komme aus einem Elternhaus, das entweder von Armut bedroht ist, in dem die Eltern keiner Erwerbstätigkeit nachgehen oder selbst keine ausreichenden Schulabschlüsse vorlegen können. Besonders häufig betroffen sind Migranten: Bei

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zehn Prozent der türkischen Kinder sind alle drei Risikofaktoren gleichzeitig präsent. Benachteiligte Kinder und Jugendliche in Deutschland laufen Gefahr, immer stärker von der sozialen Entwicklung abgehängt zu werden, warnt der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland 2013. Nachlassende motorische Fähigkeiten, ungünstige Erziehungsstile und übermäßiger Medienkonsum charakterisierten einen Großteil der jungen Generation. Kinder, die von ihren Eltern in der Schule nicht ausreichend unterstützt werden, holen diesen Rückstand später nur schwer wieder ein: Die Schulbildung entscheidet in Deutschland maßgeblich über den beruflichen Werdegang. So ist in nur vier Mitgliedstaaten der Europäischen Union der Zusammenhang zwischen Bildung und Arbeitslosigkeit noch ausgeprägter als in Deutschland, in 23 ist er schwächer, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Es soll bei dieser Betrachtung jedoch nicht nur um möglichst glatt laufende Karrieren im späteren Leben gehen. Prof. Wabnitz kritisiert im Kinder- und Jugendbericht, dass eben dies im öffentlichen Diskurs allzu oft geschehe: Kinder und Jugendliche würden zunehmend auf ihren Nutzen für die Gesellschaft reduziert, als künftige Arbeitsmarktteilnehmer und Beitragszahler zu den sozialen Sicherungssystemen. Er kritisiert, dass auch in der Diskussion um Bildung häufig der Erwerb arbeitsmarktrelevanter Kompetenzen im Vordergrund steht. Bildung umfasse aber mehr als kognitive Fähigkeiten. Kindheit sei mehr als Kompetenzerwerb. „Und Kinder sind mehr als nur öffentliche Güter“, wirft der Verfasser des Berichts ein. „Kindheit ist keine Phase, die ein Mensch möglichst schnell und effizient absolvieren soll, sondern eine Zeit der Entfaltung.“ Auch UNICEF kritisiert, dass das subjektive Lebensglück von Kindern in der deutschen


>> EIN ÜBERBLICK

Gesellschaft kaum eine Rolle spielt. Dabei seien Bindungen, Liebe und Zuneigung, stabile Beziehungen und das Gefühl, von anderen auch akzeptiert zu werden, die zentralen Voraussetzungen für die gelingende kindliche Entwicklung, erinnert Prof. Dr. Hans Bertram von der Humboldt Universität Berlin, Herausgeber des UNICEF-Berichts. Um das Lebensglück der deutschen Kinder ist es dabei nicht allzu gut bestellt. Etwa 15 Prozent der Mädchen und Jungen in Deutschland blicken negativ in die Zukunft. Nirgendwo sonst auf der Welt ist der Kontrast zwischen vergleichsweise guten objektiven Daten und der subjektiven Selbsteinschätzung der jungen Generation so groß. Auch die Daten der Weltgesundheitsorganisation unterstreichen laut einer Analyse von UNICEF, dass in Deutschland ein großer Anteil von Kindern nicht erfolgsorientiert, sondern misserfolgsängstlich sei. Im Extremfall ziehen sich die Kinder und Jugendlichen sogar ganz aus dem realen Leben zurück: „Bei Heranwachsenden, die über ein schlechtes Selbstkonzept verfügen und geringe Selbstwirksamkeitserfahrungen haben, besteht die Gefahr, dass sie Erfolge und Anerkennung im Extremfall nur noch im Virtuellen suchen“, so der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. Doch was genau würde der jungen Generation helfen, sie ermutigen? Um das herauszufinden, muss zunächst die Lebenswelt der Jugendlichen analysiert werden, die fundamental anders ist als die ihrer Eltern und Großeltern. Vieles hat sich geändert. Insgesamt nimmt die Selbstverständlichkeit, mit Kindern und Jugendlichen zusammenzuleben, ab. Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung wohnten im Jahr 2011 lediglich 36 Prozent der Bevölkerung als Elternteil oder Kind in einer Familie mit mindestens einem Minderjährigen. 15 Jahre zuvor lag dieser Anteil noch bei 43 Prozent. Verändert hat sich auch der familiäre Hintergrund der Kinder in Deutschland: Von den 85- bis 95-Jährigen haben nur 5,8 Prozent einen Migrationshintergrund, bei den 10- bis 15-Jährigen sind es knapp 30 Prozent. Der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Kinder- und Jugendbericht stellt außerdem fest, dass Kindheit und Jugend sich heute an anderen Orten abspielt als früher. Kindheit und Jugend spiele sich zunehmend in

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einem System verschränkter Verantwortlichkeiten ab, das von mehreren Akteuren – öffentlichen, zivilgesellschaftlichen und privaten – beeinflusst werde. Den Weg der jungen Generation kreuze dabei eine wachsende Zahl an pädagogischen Profis, die die Kinder betreuen, erziehen, beraten, unterrichten, trainieren und therapieren. Trotz der vielen Erzieher, Sozialarbeiter und Lehrer in diesem Land: Dem Sozialstaat ist es bisher nicht gelungen, herkunftsbedingte Benachteiligungen nachhaltig abzubauen. Im Gegenteil. Deshalb fordert der Bericht der Sachverständigenkommission die Kinder- und Jugendhilfe dazu auf, verstärkt Sorge dafür zu tragen, dass benachteiligte Kinder und Jugendliche Zugang zu fördernden Angeboten, Diensten und Einrichtungen erhalten. Zudem fordert der Kinder- und Jugendbericht eine Erweiterung des Bildungsbegriffs. Bildung sei im Sinne einer umfassenden, stetigen Verbesserung der Handlungsfähigkeit des Einzelnen zu verstehen, sie habe eine selbstbestimmte Lebensführung zum Ziel. Neben der Schule sollten deshalb Vereine und die Kinder- und Jugendarbeit am lokalen Bildungskonzept beteiligt sein. Eine Schlüsselfrage sei, wie gelingen könne, dass diese unterschiedlichen Institutionen trotz ihrer Eigenlogiken an gemeinsamen Zielen arbeiten. Ziel muss es also sein, die Kinder- und Jugendhilfe noch effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Geld wird schon jetzt in die Hand genommen, um die junge Generation fit für die Zukunft zu machen: Bund, Länder und Kommunen haben laut dem Statistischen Bundesamt im Jahr 2012 rund 32,2 Milliarden Euro für Kinder- und Jugendhilfe ausgegeben. Das waren 5,6 Prozent mehr Ausgaben als im Vorjahr. Der größte Batzen wird dabei für die Kindertagesbetreuung aufgewendet. Ein Viertel der Bruttoausgaben gaben die öffentlichen Träger für Hilfen zur Erziehung aus. Davon entfielen 4,5 Milliarden, also gut die Hälfte, auf die Unterbringung junger Menschen außerhalb des Elternhauses in Vollzeitpflege, Heimbetreuung oder Wohngruppen. Das Statistische Bundesamt meldete mit mehr als 42.000 Inobhutnahmen einen neuen Höchststand für das Jahr 2013. Weitere gut fünf Prozent der Gesamtausgaben wurden in Maßnahmen und Einrichtungen der Jugendarbeit investiert, zum Beispiel in außerschulische Jugendbildung oder in Jugendzentren. Erfolge dieser Hilfen sind gesamtgesellschaftlich auch festzustellen: Jugendliche in Deutschland werden beispielsweise immer friedlicher. Polizeiliche Kriminalstatistiken weisen allgemein auf ein


>> EIN ÜBERBLICK

Sinken der Jugendkriminalität und Jugendgewalt hin. Sich gewalttätig zu verhalten, sei uncool geworden, was der UNICEF-Bericht auch den inzwischen verbreiteten Programmen zur Gewaltprävention zuschreibt. Doch auch wenn es weniger geworden ist: Gewaltverhalten bei Jugendlichen ist immer noch ein gesellschaftliches Problem, wie die Interviews und Berichte im folgenden Kapitel zeigen. Darin wird die Situation von sozial benachteiligten Jugendlichen konkret beleuchtet: Wie leben Sie, was beschäftigt sie, was sind ihre Probleme? Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten – in Wohngruppen, als Schulsozialarbeiter, in einer JVA, als Lehrer –, erzählen von ihrem Arbeitsalltag und den Begegnungen, die sie mit Jugendlichen haben.

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„SCHULE IST FÜR MANCHE DIE EINZIG WERTZEIGENDE INSTITUTION“ INTERVIEW MIT EINEM SCHULLEITER

Die Walter-Gropius-Schule in Erfurt. An der großen technisch-gewerblichen berufsbildenden Schule lernen und arbeiten rund 2100 Schüler und 140 Lehrer. Die Schule hat drei Standorte, die Schüler kommen aus der Stadt Erfurt und dem ganzen Bundesland. Für ausgewählte Berufe besuchen auch junge Menschen aus anderen Bundesländern die Einrichtung. Der Schulteil der beruflichen Fördereinrichtung wendet sich Schülern mit spezifischen Benachteiligungen und Behinderungen in eher kleineren Lernverbänden zu und fördert diese Klientel durch sonderpädagogisch ausgerichtete Unterrichtsmethoden. Zu den Förderschwerpunkten gehören beispielsweise Lernen, körperliche und motorische Entwicklung, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung. Die Integration von Schülern mit Migrationshintergrund und unterschiedlichen Sprachniveaus gelingt hier durch individuelle Betreuung gut. Dr. Bernd Finke ist Abteilungsleiter Berufliche Fördereinrichtung der Walter-Gropius-Schule. Der 57-jährige Lehrer spricht im Interview über den Einfluss von Schule, die Zukunftsaussichten der Schüler und die Folgen von fehlendem Frühstück.

Herr Finke, was zeichnet Ihre Schüler aus? Es gibt eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Hervorheben möchte ich die hohe Lernbereitschaft von ausländischen Schülern, die aus Krisengebieten nach Deutschland kommen. Diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen müssen sich in einer neuen kulturellen Welt zurechtfinden und sind dabei für jede Hilfe dankbar. Ansonsten verhalten sich unsere Schüler genauso gut oder schlecht wie in anderen Schulformen.


Wofür interessieren sich die jungen Leute? Für Musik, Chatrooms, Facebook, PC-Spiele, I-Phone, DFB-Elf, coole Sprüche. Was sind ihre Stärken? Dass sie sich begeistern lassen für neue und tolle Unterrichtsideen und sich einsetzen für Projekte, von denen sie überzeugt sind – zum Beispiel das Schülerbistro und Sportwettbewerbe. Und ihre Schwächen? Mal die Pünktlichkeit, mal das Zuhören, manchmal auch den richtigen Ton zu finden. Was sind typische Alltagsereignisse oder –probleme an Ihrer Schule? Typisch sind häufig fehlende Schreibmaterialien oder vergessene Sportkleidung oder der ‚Drang‘ von Schülern, das Handy oder Smartphone im Unterricht nutzen zu wollen. Leider kommen auch manche Schüler ohne Frühstückbrote oder ohne eingenommenes häusliches Frühstück zur Schule. Das verursacht Unausgeglichenheit. Typisch ist auch: Ein Schüler, ich nenne ihn mal Kevin, kommt 10 Minuten zu spät zum Unterricht. Obwohl der Lehrer bereits im Unterrichtsgespräch ist, unterbricht es Kevin durch lautes Dazwischenreden und ignoriert auch die Kritik des Lehrers erst einmal. Der Konflikt verlangt eine sofortige Lösung. In den Medien wird immer wieder die mangelnde Ausbildungsreife von Schülern diskutiert. Würden Sie zustimmen und, wenn ja, woran mangelt es den Azubis? Die Medien, die diesen Mangel mit Recht ansprechen, sollten bedenken, dass gerade die Medienüberflutung den Jugendlichen die Orientierung erschwert – vor allem dann, wenn Elternhäuser nicht gegensteuern. Das kann Schule allein nicht ausgleichen. Ja, an Ausbildungsreife fehlt es, aber nicht generell. Wenn, dann mangelt es dabei häufig an der Einstellung zur Pünktlichkeit, an mathematischem Grundwissen oder einfachen allgemeinbildenden Kenntnissen oder Vorstellungen. Wie klappt der Übergang Schule - Ausbildung - Berufsleben in der Praxis? In der Regel gut. Wir nutzen das Netzwerk zwischen Agentur für Arbeit, dem Jobcenter und anderen Berufsbildenden Schulen, sodass die meisten

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unserer Schüler problemlos den Anschluss finden. Schwierig wird es dann, wenn Elternhäuser nicht kooperieren oder Absolventen, die das Schulziel nicht erreicht haben, sich trotz umfangreicher sozialpädagogischer Begleitung verweigern. Was hilft den Schülern im Schulalltag? Zeit zum Zuhören. Man hört dann von Problemen aus dem häuslichen Umfeld oder aus dem Freundeskreis, von Beziehungskrisen, Drogenkonsum oder Kriminalität, wo man als Lehrer betroffen ist. Sensibles Reagieren kann dabei schon Vertrauen und Zuversicht schaffen. Welchen Einfluss hat Schule auf Jugendliche? Sie ist generell eine sehr wichtige Bildungs- und Sozialisierungseinrichtung, für manche Jugendlichen aus sozialen Brennpunktfamilien wahrscheinlich die einzig wertzeigende Institution. Wie hat sich Ihr Beruf in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert? Ich arbeite seit 33 Jahren als Lehrer. Der Beruf wandelt sich ständig, nicht nur weil sich im berufsbildenden Bereich durch die technische Entwicklung auch die Bildungsinhalte ändern, sondern weil viele neue Strategien ausprobiert werden und gleichzeitig immer mehr Schüler Reifeverzögerungen aufweisen. Das schafft psychische Anspannungen. Was beschäftigt Sie persönlich am meisten im Hinblick auf Schüler und Schule? Bezogen auf die Schüler liegt mir die Entwicklung ihrer Selbstreflexion am Herzen. Wer sich realistisch-kritisch einschätzen kann, wird die richtigen beruflichen Wege und Antworten auf gestellte Fragen finden. Bezogen auf die Schule sind mir konstante Rahmenbedingungen in der Bildungs- und Schulstruktur wichtig. Schüler und Lehrer brauchen Sicherheit in ihrem sozialen Umfeld, sonst werden sie selbst unsicher. Welchen Rat geben Sie jungen Kollegen mit auf den Weg? Seien Sie stets kritisch und hinterfragen sie auch neue Bildungswege, vor allem dann, wenn bewährte Konzepte ersetzt werden sollen! Sehen Sie vordergründig den Schüler und nicht nur das wichtige Lehrplanwerk. Die Jugendlichen haben mitunter mehr Talente, als es auf den ersten Blick scheint. Auch wenn Schüler Ihnen gegenüber unangemessen reagieren, dann fragen Sie sich: Meint er wirklich mich oder ist sein Verhalten nur


>> SCHULE IST FÜR MANCHE DIE EINZIG WERTZEIGENDE INSTITUTION

eine Trotzreaktion auf andere Ereignisse, die ich gar nicht kenne? Wenn Schüler auf ausgeglichene Lehrerpersönlichkeiten treffen, werden sie sie als Vorbild wahrnehmen und der Unterricht führt eher zum Erfolg. Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Schüler? Durchaus positiv, denn sie stoßen auf eine Ausbildungs- und Arbeitswelt, die ihnen viele Chancen bietet. Vergessen sollten wir trotz mancher heutiger Probleme nicht, dass es auch einen Prozess gibt, der Reife heißt. Ich habe so manchen Schüler erlebt, der mich nach Jahren anspricht und dann einen tollen Job hat und bei dem privat alles prima läuft. Ich erinnere mich in solchen Fällen manchmal aber an einen damals auffälligen Schüler. Von so einem Wandel bin ich beeindruckt.

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„MAN KRIEGT DIE GANZE HERZLICHKEIT AB“ PROTOKOLL EINES SCHULSOZIALARBEITERS

Marco Kern ist Schulsozialarbeiter an der Ganztagshauptschule Herbertskaul in Frechen in Nordrhein-Westfalen. Er hat dort das StarkmacherSchule-Projekt intensiv begleitet und war bei der Übertragung des Konzeptes auf Brasilien als Trainer des Heidelberger Kompetenz-Trainings engagiert.

Man kann als Schule nicht alles aufholen, was jahrelang brach lag oder wenig gefördert wurde. Vieles wird schon im ganz jungen Alter geprägt, und es ist schwierig, das wettzumachen. Andererseits erleben wir Schüler, mit denen man viele Konflikte austrägt, sich rumärgert und aufreibt, aber spätestens auf dem Abschlussfest der Stufe 10 kommt es meist zur Versöhnung. Manchmal auch erst einige Zeit später, wenn wir zwei oder drei Jahre nach dem Abschluss erfahren, dass sie einen guten Weg gegangen sind. Sie haben zum Beispiel eine Ausbildung oder die weiterführende Schule erfolgreich abgeschlossen und führen ein weitgehend geregeltes Leben. Allein, dass schwierige Schüler nochmal zurück an die Schule kommen und von sich erzählen. Die Mühe scheint sich immer wieder auszuzahlen. Ich habe vor elf Jahren hier als Schulsozialpädagoge begonnen und war der erste und einzige meiner Art. Wir hatten damals 750 Schüler. Mein Arbeitsfeld war zu Beginn noch nicht genau definiert. Ich habe mich in allen Klassen vorgestellt und gesagt, dass ich für Schwierigkeiten und Probleme zuständig bin, die außerhalb des Unterrichts auftauchen – und schon am nächsten Tag standen die ersten Schüler in meinem Büro und haben mir ihre Geschichten erzählt. Teilweise aus Neugierde, aber auch mit sehr persönlichen Erzählungen. Die Schüler sind grundsätzlich sehr offen.


In der Regel kommen die Jugendlichen von selbst oder Lehrer schicken sie zu mir. Ich habe mein eigenes Büro in der Schule und bin täglich von acht bis 16 Uhr anwesend. Ich warte aber dort nicht, bis jemand kommt, sondern versuche präsent zu sein, sodass ich Schülern und auch Lehrern oft im Schulalltag begegne. So lerne ich die Schüler nicht nur in meinem Unterrichtsfach „Soziales Lernen“, sondern auch beim gemeinsamen Musizieren, beim Sport, oder in ungezwungenen Gesprächen auf dem Schulhof kennen. Darüber hinaus mache ich oftmals Hausbesuche und sitze bei den Familien im Wohnzimmer. Entweder geben mir Lehrer vorher Informationen, dass irgendwas nicht läuft, oder ich bekomme es auf andere Art und Weise mit. Zu Hause bekommt man einen ganz anderen Zugang zu den Schülern und ihren Familien. Bisher wurden meine Besuche immer positiv aufgenommen, obwohl ich oft unangekündigt vor der Tür stehe. Aber trotzdem lässt man mich rein und ist dankbar, dass jemand kommt und sich interessiert.

KONFLIKTPOTENZIAL DURCH SOZIALE NETZWERKE Die Themen sind wirklich breit. Es geht um Streit mit Mitschülern oder mit Lehrern sowie Konflikte zu Hause. Das geht von Liebeskummer bis zu schweren Straftaten im häuslichen Umfeld wie sexuellem Missbrauch, Alkoholmissbrauch, Gewalttaten. Es saß schon ein Jugendlicher mit verbundenen Pulsadern hier, der völlig hinüber war, weil seine Freundin ihn verlassen hat. Das gibt es. Und neulich ist eine Lehrerin freitagmittags einer weinenden Schülerin im Treppenhaus begegnet. Sie sagte, dass sie nicht mehr leben wolle. Da die Lehrerin in den Unterricht musste, brachte sie sie zu mir. Nach vielen Stunden Gespräch kam heraus, dass sie in der Grund-

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schulzeit innerhalb der Familie sexuell missbraucht wurde. Auch solche Geschichten gehören zum Alltag. Es ist aber nicht immer so intensiv. Es gibt normale Streitereien zwischen Schülern, bis hin zu Mobbing. Ich hatte auch schon ganze Schulklassen hier, die sich über Lehrer beschwert haben, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen oder weil sie über Tische und Bänke gehen und der Lehrer nichts dagegen macht. Durch die sozialen Netzwerke gibt es neues Konfliktpotenzial: Neulich wurde auf Facebook eine Gruppe gegründet: „Alle hassen Schülerin XY“, und die Hälfte der Klasse war Mitglied. Die Kinder finden das ganz normal: Ich finde den blöd, also mache ich so eine Gruppe. Aber ihnen ist nicht bewusst, wie öffentlich das ist und welche Auswirkungen damit verbunden sind. Meine Aufgabe ist es, ihnen das bewusst zu machen. Und gestern war zum Beispiel ein Mädchen aus der 7. Klasse bei mir, das völlig aufgelöst war: Sie hatte einem Schüler der Stufe 10 ein explizites Foto von sich geschickt, und der hatte es umgehend an einige Freunde weitergeleitet. In der Schule wurde bereits darüber gesprochen. Ich habe beide an einen Tisch geholt, ein vertrauliches Gespräch geführt, den Schüler gebeten, das Bild zu löschen und auch seine Freunde darum zu bitten. Das Thema beruhigte sich anschließend.

EIN DRITTEL WÄRE SCHLAU GENUG FÜRS GYMNASIUM In Frechen gibt es Stadtteile, da ist die Welt noch in Ordnung. Aber wie in allen Städten gibt es auch soziale Brennpunkte: Viele Alleinerziehende, Arbeitslosigkeit, einen hohen Anteil an Migranten und vernachlässigte Kinder, die wenig Unterstützung erfahren. Dennoch habe ich festgestellt, dass sich insbesondere Familien mit Migrationshintergrund gut um ihre Kinder kümmern und deren Zukunft im Blick haben. Schwierigkeiten gibt es aber oftmals mit unserem Bildungssystem, oder mit den kulturellen Unterschieden. Wir haben in der fünften Klasse einen Einstufungstest von Schulpsychologen, zu dem ein motorischer Test und ein IQ-Test gehören. Vor zwei Jahren war das Ergebnis, dass ein Drittel der Schüler vom IQ her eigentlich das Gymnasium besuchen müsste, aber aus verschiedenen Gründen landen sie


>> MAN KRIEGT DIE GANZE HERZLICHKEIT AB

an der Hauptschule. Das fand ich sehr verblüffend. Warum sie dann hier sind? Weil sie unter anderem nicht ausreichend gefördert werden und aus bildungsfernen Schichten kommen. Weil sie viele Auffälligkeiten im emotionalen Bereich haben, die sie daran hindern, ihr Potenzial auszuschöpfen. Wir haben großartige Talente, das merken wir immer wieder, wenn wir kreative oder musische Projekte durchführen. Wie das Starkmacher-Projekt. Da sitzt ein Schüler im Fremdsprachen-Unterricht immer in der letzten Reihe und beteiligt sich kaum am Unterricht. Dann ist die Band Gen Rosso da, die nur auf Englisch kommunizieren kann, und plötzlich hört man vollständige englische Sätze von den Jugendlichen. Aber auch sehr schüchterne Schüler, die im Musical auf der Bühne förmlich aufblühten.

HAUPTSCHÜLER SIND KEINE BESONDERE SPEZIES Wie unsere Schüler drauf sind? Hauptschüler sind keine besondere Spezies. Das sind Jugendliche mit ganz normalen Interessen, die Jugendliche in dem Alter haben. Die Schüler sind zwischen elf und 18 Jahre alt, sie beschäftigen sich mit Musik, Tanz, machen Musik, sind in Sportvereinen, sie verbringen viele Stunden in sozialen Netzwerken. Unsere Schüler findet man weniger beim Geigenunterricht in Musikschulen, weil das zu teuer ist oder zu Hause der Zugang zu solchen Instrumenten fehlt. Deshalb haben wir im Ganztag verstärkt Angebote im musischen wie auch kreativen Bereich. So kommen die Musikschulen eben in die Schule, sodass die Schüler davon profitieren können. Wir haben zurzeit ca. 430 Schüler. Der Kontakt zwischen allen Beteiligten ist schon ein besonderer. Man sieht sich jeden Tag, und die Schüler sind sehr ehrlich und offen. Manchmal weiß man mehr über die Schüler als die Eltern. Heute früh begegneten mir Schüler, die mich anlächelten, mir die Tür aufhielten und mir einen guten Morgen gewünscht haben. Das Gute ist: Wenn die Schüler wissen, dass man auf deren Seite ist und sie nicht von oben herab behandelt, dann sind sie dankbar und herzlich. Und was ich grundsätzlich sehr schätze ist, wie authentisch sie sind. Wenn sie gut drauf sind, kriegt man die ganze Herzlichkeit ab, und zwar direkt. Und wenn sie schlecht drauf sind, spürt man das ebenso ungefiltert. Die sagen: Oh, Herr Kern, sie haben ganz schön viele Falten bekommen. Opa! Man spürt aber auch ganz deutlich ihre Freude und Begeisterung, beispielweise

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bei dem Projekt „StarkmacherSchule“. Wenn sie auf der Bühne stehen und vor Freude strahlen, dann weiß ich, warum ich diesen Job so gerne mache! Auch wenn er mir die ein oder andere Falte verpasst ... Man kriegt diese ganze Bandbreite ungefiltert und unverfälscht präsentiert. Da läuft selten was hintenrum. Das ist großartig.

GEBORGENHEIT UND GRENZEN Was eine gute Schule ausmacht? Ein engagiertes und aufgeschlossenes Kollegium, das über den Tellerrand blickt. Eine offene Schule, die mit dem lokalen Umfeld, der Industrie und anderen Institutionen zusammenarbeitet. Das ist für uns hier schon selbstverständlich. Ich glaube, das sind Dinge, die Früchte tragen. Ich glaube nicht, dass beispielsweise ein einzelnes Projekt zum Thema Gewaltprävention alles richten kann. Aber eingebunden in ein durchdachtes Konzept macht das Sinn. Wir haben zum Beispiel in der fünften Klasse „KESS“, da geht es in zwei Doppelstunden pro Woche um Körperwahrnehmung, Entspannung, Szenisches Spiel. In der Stufe 6 haben wir „Soziales Lernen“, das ist mein Unterrichtsfach. In der Stufe 7 ein Coolness-Training und in der Stufe 10 das Heidelberger Kompetenz Training. Auch gegenüber außerschulischen Projekten, wie zum Beispiel „Starkmacherschule“ sind wir sehr aufgeschlossen. All das trägt zu einer guten Schule bei. Das Wichtigste ist aber ein positives Schulklima! Unter einem positiven Schulklima verstehe ich, wenn sich Lehrer und Schüler wohl fühlen. Dazu gehört, dass die Schüler sich aufgehoben fühlen, aber auch Grenzen gesetzt bekommen. Ich habe festgestellt, dass sie klare Strukturen sehr zu schätzen wissen. Ich bin immer im Spagat zwischen Erwartungen von Schülern und Lehrern, und alle müssen meine Arbeit und meine Person irgendwie gut finden. Die Schüler kommen nicht, wenn sie mich nicht mögen, und ich kann für sie nichts ausrichten, wenn die Lehrer meine Arbeit nicht zu schätzen wissen. Aber bis jetzt funktioniert das ganz gut. Gefreut hat mich zum Beispiel die gestrige Rückmeldung eines ehemaligen Schülers, der nun eine weiterführende Schule besucht: „Die neue Schule ist schon ok, aber hier waren wir immer wie eine Familie.“


„FIT MACHEN FÜR DIE GESELLSCHAFT“ INTERVIEW MIT EINER EXPERTIN FÜR JUGENDHILFE Christine Straube ist Diplompsychologin und leitet die Jugendund Familienhilfe der Malteser Werke in Nordrhein-Westfalen. Der Jugendhilfeträger engagiert sich in Nischengebieten und kümmert sich ambulant und in Wohngruppen um Jugendliche mit psychiatrischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten. Spezialisierte Angebote bietet er beispielsweise für Jugendliche mit Drogenabhängigkeit, sexuell übergriffige Kinder und verhaltensauffällige Kinder mit Lernschwächen. Straube ist verantwortlich für rund 150 Mitarbeiter.

Frau Straube, wovon träumen die Jugendlichen, mit denen Sie zu tun haben? Sie wünschen sich, normal zu sein. Ich bin immer wieder erstaunt, wie konservativ sie in ihren Wünschen sind. Sie wollen eine heile Familie haben. Einen Job, auch wenn das für sie oft in weiter Ferne ist. Eine schöne Wohnung für sich. Eine heile Welt. Wie sieht die Realität dieser Kinder und Jugendlichen aus? Die Jugendlichen haben im Laufe ihres kurzen Lebens in der Regel relativ ausgeformte psychiatrische Störungen entwickelt, in verschiedenen Bereichen. Sie bringen alles Mögliche mit: starke Bindungs- und Entwicklungsstörungen, soziale Störungen, Störungen des Sozialverhaltens mit einer Störung der Emotionen kombiniert. Persönlichkeitsstörungen. An Diagnosen findet man da alles. Wie äußern sich diese Störungen? Ganz unterschiedlich. Die Kinder haben in den eigenen Familien oder den

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Settings, in denen sie aufgewachsen sind, Strategien entwickelt, die in ihrem Leben erst einmal funktionieren: Sie verletzten andere oder sich selbst, reagieren aggressiv. Dadurch gelingt es ihnen, mit dem zu überleben, was ihr inneres Erfahren ist. Aber wenn man in der Schule erfolgreich sein will und gesellschaftlichen Stand haben möchte, ist das nicht tragbar. Was haben die Kinder und Jugendlichen erlebt, bevor sie in eine Ihrer Wohngruppen einziehen? Wir haben Jugendliche, die schon eine längere Drogenkarriere hinter sich haben, die auf der Straße gelebt oder sich prostituiert haben, die lange nicht mehr zur Schule gegangen sind. Manche haben schon eine lange Jugendhilfe-Karriere hinter sich. Andere kommen direkt aus ihrer Familie. Die Bildungsschichten sind ebenfalls völlig unterschiedlich: Manche Jugendliche kommen aus einfachen Familien, andere aus höheren Bildungsschichten. Können Sie Gemeinsamkeiten in den Biografien erkennen? Häufig sind in den Familien die Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen verschwommen. Oft lebt nur ein Elternteil mit den Kindern zusammen, und die Kinder können nicht so richtig Kinder sein, sondern werden als Partnerersatz genutzt und bekommen Verantwortlichkeiten auf die Schultern gelegt, die sie nicht verkraften können.


>> FIT MACHEN FÜR DIE GESELLSCHAFT

Was kann das konkret bedeuten? Oft übernehmen die Kinder viel Verantwortung für sich oder auch für ein Elternteil. Häufig haben sie Bindungsabbrüche erlebt. Manchmal haben die Eltern selbst eine psychiatrische Erkrankung. Einer unserer Jugendlichen hat beispielsweise auf die Suizidalität seiner Mutter reagiert, indem er auffällig wurde. Aus der Sicht des Jugendlichen war das sinnvoll – er hat damit seine Mutter aktiviert, die sich nun Sorgen um ihr Kind gemacht und alles Mögliche in die Wege geleitet hat. Was machen sie mit den Jugendlichen, die zu Ihnen kommen? In unseren Wohngruppen geht es darum, den Jugendlichen einen Ort zu geben, an dem sie so sein dürfen, wie sie sind. Ziel ist, dass sich die psychiatrische Erkrankung stabilisiert, und das bedeutet, dass die Jugendlichen ihre Symptome erst einmal einfach haben dürfen. Dass man die Erkrankung akzeptiert, wie sie ist, und versucht, damit umzugehen. Die Stabilisierung soll es ermöglichen, einen Alltag zu implementieren. Was gehört zu diesem Alltag? Wir versuchen, dass die Jugendlichen wieder zur Schule gehen. Das ist manchmal schwierig, weil sie zum Teil ein Jahr oder länger nicht mehr im Unterricht waren. Deshalb werden sie im kleinen Rahmen beschult. Wenn kognitive Leistungen aufgrund der Erkrankung schwierig sind, bieten wir den Jugendlichen praktische Tätigkeiten an, beispielsweise im Restaurantbetrieb. Nach und nach versuchen wir, einen normalen Alltag hinzukriegen – aber jeder macht, wie er kann. Die Jugendlichen sollen nicht an unseren Erwartungen scheitern. Wir haben keine einheitlichen Regeln für Arbeitszeit, Geld oder das Treffen von Freunden. Das wird mit jedem einzeln ausgemacht. Es ist unsere Stärke, dass wir sehr individualisiert arbeiten. Wie lange leben die Jungen und Mädchen in ihren Wohngruppen? Idealerweise bleiben die Jugendlichen zwei Jahre bei uns. Es gelingt aber nicht immer, sie so lange zu halten; manchmal kann man die Jugendlichen selbst oder den Kostenträger nicht überzeugen. Manche Jugendliche sind so speziell in ihrer Erkrankung, dass sie ihre ganze Jugend bei uns verbringen. Wie erleben Sie die Jugendlichen im Alltag? Sie haben eine innere Not. Typisch ist eine Ambivalenz zwischen ganz hoher Bedürftigkeit, dann sind sie ein Häufchen Elend und ganz zerbrochen und brauchen emotional so viel wie kleine Kinder. In der nächsten Minute

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flippen sie aus und sind aggressiv. Und manchmal sind sie auch einfach normal und lustig. Sehr wechselhaft. Was hilft den Jugendlichen? Ihnen hilft, dass sie angenommen sind, wie sie sind. Es kommt niemand und sagt: Du bist falsch. Die Jugendlichen können an Symptomatiken mitbringen, was sie haben. Die einzigen Grenzen sind akute Suizidalität und Fremdgefährdung. Und das hilft, anzukommen und bereit zu werden, daran zu arbeiten. Es hilft ihnen auch Struktur, aber eine Struktur, die sie schaffen können. Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie bei Ihrer Arbeit? Im Alltag ist es oft schwer, mit der Symptomatik der Jugendlichen zurechtzukommen. Sie haben es raus, die Grenzen der Mitarbeiter herauszufinden – und über diese Grenzen hinweg zu trampeln. Sie sind in Kontexten aufgewachsen, in denen beispielsweise Gewalt herrschte daheim oder wo die Beziehung sehr verletzlich war. Deshalb testen sie die Mitarbeiter: Ist das ernst gemeint, bin ich dir wichtig? Bist du ehrlich? Wie kann das aussehen? Ein Klassiker ist, dass ein Jugendlicher, der den ganzen Tag über keinen Kontakt gesucht hat und um den man sich dann Sorgen macht, fünf Minuten vor Feierabend kommt und mit einem sprechen will. Er erzählt dann, dass er sich gerade unheimlich selbst verletzt hat. Das passiert immer wieder, und meist fünf Minuten vor Feierabend. Wie reagieren Erzieher in so einem Fall richtig? Es ist oft eine Gratwanderung, zu entscheiden, ob der Jugendliche im Moment eigentlich Aufmerksamkeit genug bekommt oder sie jetzt tatsächlich braucht – und ob man sie ihm geben kann oder will. Für die Mitarbeiter ist es schwer, eine professionelle Distanz zu wahren und nicht immer über die eigene Grenze hinauszugehen. Es geht dabei nicht nur um den Feierabend – es geht auch um psychische und körperliche Grenzen. Die Mitarbeiter sollen diese Grenzen achten und den Jugendlichen trotzdem ernst nehmen, der ja tatsächlich innere Not hat. Das im Alltag hinzubekommen und nicht daran zu zerbrechen, ist eine große Herausforderung.


Wie schafft man das? Dazu braucht es fachliche Kenntnis und Berufserfahrung und die Fertigkeit, die Erfahrungen und Bilder nicht jeden Tag mit nach Hause zu nehmen. Wir Mitarbeiter erzählen ganz viel und überlegen oft gemeinsam Strategien, wie man mit den Jugendlichen und dem, wie sie sind, umgehen kann. Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit? Unser Anspruch ist es, die Jugendlichen so fit wie möglich für die Gesellschaft zu machen. Schön an der Arbeit ist, wenn wir Jugendliche stärken und dass wir es schaffen, vielen eine Perspektive zu eröffnen. Nicht allen, aber vielen. Es ist toll zu sehen, wenn die Jugendlichen lernen, sich mit ihrem Schicksal und ihrer Vergangenheit zu arrangieren. Anstrengend an meinem Job ist, dass man oft über Geld reden muss. Aber was man jetzt nicht in die Jugendlichen investiert, bezahlt die Gesellschaft später. Wie gehen Sie damit um, wenn die Jugendlichen sich nicht helfen lassen wollen? Das sehe ich nicht so pessimistisch: Vielleicht ist es einfach nicht der richtige Zeitpunkt im Leben, und sie brauchen noch eine Runde. Schwierig für mich ist, wenn es an Rahmenbedingungen scheitert, wenn zum Beispiel der Kostenträger nicht mitmacht. Wir hatten einen Jugendlichen, den wir über lange Zeit betreut haben, der eine Ausbildung bei uns gemacht hat und ganz gut zurechtkam. Als er in eine eigene Wohnung zog, wollten wir ihn in geringerem Maß weiterbegleiten und ihm zu einem Job verhelfen – der Kostenträger lehnte ab, weil der junge Mann mittlerweile zu alt war für die Jugendhilfe, psychiatrisch war er schlicht gesagt nicht krank genug. Es gab einfach niemand, der die Hilfe bezahlt hätte. Mittlerweile sitzt er arbeitslos und völlig vereinsamt in seiner Wohnung, er hat es leider nicht selbst geschafft. Es ist sehr traurig, wenn der Erfolg, den so jemand hatte, aufgrund von solchen Umständen wieder zerstört wird. Warum machen Sie diesen Job? Aus meinem Glauben und der Überzeugung heraus, dass es der richtige Ort für mich ist, weil die Jugendlichen total bedürftig sind. Vielleicht trägt meine Arbeit dazu bei, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.

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„DIE SEHNSUCHT NACH GEBORGENHEIT“ EIN HEIMLEITER BERICHTET

Christoph Flegel ist Sozialarbeiter. Er leitet die Don Bosco Katholische Jugendhilfe, eine große Jugendhilfeeinrichtung des bischöflichen Stuhls in Osnabrück. Sie bietet ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfe an: Wohngruppen, betreutes Wohnen, Erziehungsbeistandschaften, Tagesgruppen, ambulante Hilfen, eine Inobhutnahmestelle für Kinder, die in Not geraten sind. Er hat drei Steckbriefe ausgefüllt – von Heranwachsenden, die ihm in seinem Alltag begegnen. Sie illustrieren, wer die jungen Menschen sind, die sich hinter dem Begriff „sozial benachteiligte Jugendliche“ verbergen.

STECKBRIEF: MEHMED Alter: 16 Jahre Familie: Seine Eltern starben eines gewaltsamen Todes in Liberia, Hirtenfamilie, keine Geschwister Tätigkeit: Schüler Wohnsituation: Jugendwohngruppe der Don Bosco Kath. Jugendhilfe Interessen und Hobbys: Lernen, Lernen, Lernen, Fußball, Spiele, Gesellschaft Charakter und Eigenschaften: freundlich, hilfsbereit, aufmerksam Typisch für ihn: regelmäßiges Gebet (5 Mal am Tag/Abend mit entsprechender Körperhaltung, Mehmed ist Moslem Prägende Erfahrungen: Tötung der Eltern, Flucht, traumatische Erlebnisse, Angst, Aufnahme im Heim, dennoch oder gerade eine tiefe Verwurze-


>> DIE SEHNSUCHT NACH GEBORGENHEIT

lung in seinem Glauben, Glaube an einen guten Gott, der für alle Menschen da ist. Dankbarkeit, nun hier zu sein und Hilfe zu finden. Stärken: Durch seine offene, freundliche Art ist er beliebt und gern gesehen. Die anderen Kinder suchen seine Nähe. Er ist ein sympathischer Jugendlicher. Schwächen: Mehmed kann schlecht Kritik äußern, Konflikte gestalten. Damit kann man ihm eine Freude machen: Offene Ansprache, gemeinsame Aktivitäten, Interesse an seiner Religion ... Perspektive: Mehmed möchte in Deutschland bleiben und den Beruf des Gas- und Wasserinstallateurs erlernen. Mehmed ist, trotz allem Elend, welches er erfahren hat, ein großes Geschenk für uns und ‚lebendiges Glaubenszeugnis‘ für einen liebenden Gott

STECKBRIEF: JESSICA Alter: 17 Jahre Familie: Mutter arbeitet als Raumpflegerin, alleinerziehend, 2 Geschwister (davon ein Kind mit Behinderung) Tätigkeit: Schülerin Wohnsituation: lebt seit vier Jahren in einer Wohngruppe der Don Bosco Kath. Jugendhilfe Interessen und Hobbys: Musik, Gitarre spielen, Tanz Charakter und Eigenschaften: freundlich, hilfsbereit, musikalisch, kontaktfreudig Typisch für sie: Der Satz ‚Warum? Das verstehe ich nicht, das will ich wissen!‘ Prägende Erfahrungen: massive körperliche Übergriffe in der Familie, kein Schutz, Vertrauensverlust, Beziehungsprobleme, psychisch labil Stärken: musikalisch, kontaktfreudig, unternehmungslustig, begeisterungsfähig Schwächen: Durchhaltevermögen, tragfähige Beziehungsgestaltung, geringe emotionale Stabilität Damit kann man ihr eine Freude machen: Musik, Einbinden in Aktivitäten, Zeit zum Zuhören und für Unterstützung Perspektive: Eigene Familie. Berufswunsch: Altenpflegerin.

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Jessica kämpft und ringt für ihre Zukunft. Sie möchte ihre leidvollen Erfahrungen verarbeiten und sich eine Perspektive aufbauen.

STECKBRIEF: NILS Alter: 12 Jahre Familie: Eltern arbeitslos und beide psychisch erkrankt, 4 Geschwister Tätigkeit: Schüler Wohnsituation: Wohngruppe der Don Bosco Kath. Jugendhilfe Interessen und Hobbys: Schach, PC, Fahrradfahren, Schlagzeug, Charakter und Eigenschaften: Intelligent, begabt, introvertiert, wenig Vertrauen, oft traurig Typisch für ihn: Zieht sich sehr häufig in sein Zimmer zurück Prägende Erfahrungen: Mangelnde Versorgung, emotionale Vernachlässigung Stärken: Inzwischen gute schulische Leistungen, gute kognitive Fähigkeiten, super Schachspieler, Nils lässt sich über ‚Medien‘ (z.B. gemeinsames Fahrradfahren) inzwischen auf Kontakte/Beziehungen ein Schwächen: Kontaktscheu, fasst nur schwer Vertrauen, meidet Gemeinschaft Damit kann man ihm eine Freude machen: Schachspielen, Anerkennung, gemeinsames Fahrradfahren, gemeinsam am PC sitzen, Kontakt zu seiner Familie Perspektive: Stabilisierung der Gesundheit der Eltern?, Hoffnung auf Rückkehr in seine Familie Nils ist eine wahre ‚Schatzkiste‘, die entdeckt werden will.

INTERVIEW: CHRISTOPH FLEGEL, HEIMLEITER Herr Flegel, welche Nöte haben die Familien, mit denen Sie zu tun haben? Das beginnt mit Problemen, die nur relativ wenig Hilfestellung erfordern: Da gibt es Eltern, die sich überfordert fühlen, weil z.B. die Kinder nicht auf sie hören. Oder Eltern, die krank sind und die Kinder nicht versorgen können. In solchen Fällen bieten wir in der Regel ambulante Hilfen an. Es reicht aber auch so weit, dass unter Umständen Kinder und Jugendliche vernachlässig werden, es geht um Misshandlungen und Missbrauch oder


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darum, dass Jugendliche Gefahr laufen beispielsweise in Kriminalität oder Drogenkonsum abzurutschen. Aus welchem Umfeld kommen die Kinder? Wir haben aus fast allen Bereichen der Gesellschaft Kinder und Jugendliche bei uns, sicherlich mit unterschiedlichen Problematiken. So betreuen wir Jugendliche und Heranwachsende, die massive Beziehungsprobleme innerhalb ihrer Familie haben; da geht es oft um Loslösung und konstruktive Kontakt- und Beziehungsgestaltung. Aber es gibt inzwischen zunehmend Familien, die mit der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder einfach überfordert sind. Aus ihrer Not heraus greifen sie zu destruktiven Erziehungsmethoden. Diese Kinder und deren Familien haben in der Regel einen höheren pädagogischen und therapeutischen Bedarf. Was brauchen diese jungen Menschen? Letztendlich ist bei allen Kindern und Jugendlichen eine Sehnsucht nach einer intakten Familie, nach Geborgenheit, nach Schutz vorhanden. Und eigentlich suchen sie das in ihrer eigenen Familie. Manchmal können die Kinder, die zu uns kommen, das daheim nicht erfahren. Und unser Auftrag ist es, diese Kinder und Familien zu unterstützen, sie ernst zu nehmen, sie in ihrer Einmaligkeit anzunehmen, bei ihnen Ressourcen und Fähigkeiten zu entdecken, diese zu fördern und ein Stück Wegbegleiter auf dem Weg zum eigenverantwortlichen Leben zu sein. Haben sich die Problemlagen, die Ihnen täglich begegnen, in den vergangenen Jahren geändert? Ja. Ich bin seit rund 30 Jahren in dieser Einrichtung. In den vergangenen zehn oder 15 Jahren haben sich allein schon die Fallzahlen bei uns verdoppelt. Wir nehmen viel mehr Kinder und Jugendliche als früher auf. Und wir merken eine Veränderung in der Gesellschaft. Was ändert sich – oder ist schon anders geworden? Wesentliche ‚Säulen‘ , haltgebende Faktoren, in der Gesellschaft und in vielen Familien gehen verloren. Familien brechen auseinander, dadurch geht oft familiärer Schutz und Halt verloren. Soziale Bezüge sind nicht mehr gegeben. Wir beobachten einen Verlust von Werten und Normen. Oft fällt auch die materielle Sicherheit weg, gerade bei Alleinerziehenden. Wir sehen einen Mangel an Gesundheit, insbesondere psychische Erkrankungen nehmen zu. Die Themen sind anders, aber vor allem deutlicher und stärker geworden.

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Es gibt immer mehr Familien, die überfordert sind, ihre Kinder zu erziehen und zu begleiten. Woran liegt das konkret? Es gibt meines Erachtens keinen eindeutigen Grund, sondern eine Anzahl von Faktoren. Die Gesellschaft verändert sich, Schwerpunkte, Werte, Einstellungen und Erfordernisse unterliegen einem Wandel. Und vieles davon trägt zu dieser Entwicklung bei. Wie bereits erläutert, hat sich das System Familie verändert. Heutige Anforderungen und familiäre Situationen bedingen immer mehr eine veränderte Versorgungs- und Erziehungssituation für die Kinder. Organisationen, Vereine und Kirchen, die äußere und innere Struktur geben können, hatten früher einen höheren Stellenwert. Heute werden diese weniger genutzt und sind aus dem Alltag von vielen ganz verschwunden. Andere Einrichtungen übernehmen zunehmend stellvertretend Funktionen der Familie. Auch ein veränderter Mediengebrauch hat inzwischen eine höhere Bedeutung und Einfluss. Wie sehen Sie die Zukunft für Kinder und Jugendliche in Deutschland? Ich versuche, trotzdem positiv in die Zukunft zu blicken – ohne zu verschweigen, dass sich in der Gesellschaft Dinge ändern, auf die wir hinweisen müssen. Zum Beispiel? In unserer Gesellschaft wird großer Wert auf Bildung gelegt. Das ist gut und richtig. Aber meines Erachtens wird der Aspekt Beziehung vernachlässigt: Das, was die Kinder schon in frühester Kindheit an Geborgenheit, Sicherheit und an Schutz brauchen. Da wird man nochmal genauer hinschauen müssen. Ich habe die Hoffnung, dass es zunehmend Impulse und Erkenntnisse gibt, die darauf positiven Einfluss haben werden. Zusätzlich dürfen wir den Blick nicht nur auf Deutschland richten. Jeder kennt z.B. die Flüchtlingssituation und die Krisenherde in Europa und weltweit. Auch in unserer Einrichtung betreuen wir Kinder aus anderen Nationen, Kulturen und Religionen. Täglich wird uns vor Augen geführt, dass wir mehr Verantwortung für ‚das Ganze‘ für die‚ ganze Menschheitsfamilie‘ übernehmen müssen.


„ICH SCHAUE AUF DAS POTENZIAL“ PROTOKOLL EINES GEFÄNGNISSEELSORGERS

Günter Berkenbrink ist katholischer Gefängnisseelsorger in der JVA Wuppertal-Ronsdorf. Seit 16 Jahren arbeitet er im Knast. Obwohl die Arbeit mit den Inhaftierten oft kräfteraubend und zuweilen auch frustrierend ist, möchte er sein ganzes künftiges Berufsleben noch hinter Gittern verbringen. Berkenbrink ist 53 Jahre alt und verheiratet. Er erzählt aus seinem Berufsalltag.

Wenn man uns Erwachsenen alles wegnehmen würde, was uns im Leben lieb und wichtig ist: Menschen, Zeit, Geräte, Kleidung, das, woran wir uns halten können, und zwar von jetzt auf gleich – wie würden wir damit umgehen? In jedem Fall wäre es eine äußerst grenzwertige Erfahrung. Ich bewundere, wie viele unserer Jugendlichen diese Krise irgendwie überleben. Ich arbeite seit drei Jahren in der JVA Wuppertal-Ronsdorf einem neu errichteten Gefängnis für 510 männliche Jugendliche aus Nordrhein-Westfalen. Viele unserer Jungs sind durch das, was sie vorher erlebt haben, leidenserprobt. Es ist für manche eine Lebensleistung, dass sie überhaupt noch da sind. Andererseits gibt es ja auch einen Grund dafür, dass sie hier sind: Häufig waren oder sind sie im Umgang mit Menschen draußen überhaupt nicht zimperlich. Sie haben wenig Empathie für ihre eigenen Leid-Erfahrungen, und oft auch wenig Empathie für andere Menschen. Was das für Jugendliche sind? Woher sie kommen? Es sind junge Männer im Alter zwischen 14 und 24 Jahren, mit sehr unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen, aus sehr verschiedenen

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Ländern. Viele Jugendliche kommen aus desolaten Familiensituationen. Das Thema abwesende Väter ist ein großes Thema. Das Thema Gewalt in der Familie ist ein großes Thema. Mangelnde schulische und berufliche Bildung ist fast durchgehend ein Problem. Es verbindet sie auch der Konsum von legalen und illegalen Drogen. Und sie sind oft heimatlos. Entweder buchstäblich, weil sie aufgrund von Kriegen oder Armut nicht in den Ländern bleiben konnten, in denen sie geboren und aufgewachsen sind. Oder weil ihre Eltern einfach entschieden haben, in ein anderes Land zu gehen, das ihnen fremd ist. Oder es sind junge Deutsche, die in Heimen und Einrichtungen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind. Sie alle sind meist durch die sozialen Netze und alles, was Jugendhilfe versucht zu leisten, durchgerasselt. Und sie alle finden sich nun von jetzt auf gleich in einem System wieder, das ihnen zumindest am Anfang fremd ist. Und das vielen von ihnen Angst macht.

DER MIKROKOSMOS JUGENDGEFÄNGNIS Vollzugsalltag steht und fällt mit der Frage: Habe ich etwas zu tun? Es gibt im Gefängnis Leute, die einen Job haben, zur Schule gehen, eine berufliche Ausbildung machen oder zumindest an einer niederschwelligen Maßnahme teilnehmen. Es gibt ein breites Angebot, teilweise aber zu wenig Jugendliche, die in der Lage sind, es auch zu nutzen. Wenn man etwas zu tun hat, rückt man um sieben Uhr aus zur Schule oder zur Arbeit. Diese Häftlinge haben unter Umständen einen ausgefüllten Tag. Wer einen Job hat, bekommt auch etwas Geld und kann sich für ungefähr 80 Euro im Monat etwas kaufen: Tabak, Nudeln, Thunfisch, sowas. Wer nichts zu tun hat, bekommt dreimal am Tag seine Mahlzeiten. Morgens


>> ICH SCHAUE AUF DAS POTENZIAL

um sechs Wecken, Lebendkontrolle, Frühstücksausgabe, Möglichkeit, Post und Anträge auszugeben. 12 Uhr Mittagessen, nach 16 Uhr Abendkostausgabe, Freistunde, Ende. Eventuell abends Umschluss, das heißt, man kann jemanden besuchen oder an Gruppen teilnehmen, in Nordrhein-Westfalen haben Jugendliche im Jugendvollzug Anspruch auf vier Stunden Sport. Wochenenden sind für alle schwierig, da passiert gar nichts: Aufschluss um neun, eventuell hat man Sport oder geht zum Gottesdienst. Das war‘s. Einschluss um 16.30 Uhr, und dann Tür zu bis am nächsten Morgen. Da hat man viel Zeit zum Nachdenken.

GEWALT ALS MITTEL DER WAHL Jugendgefängnis ist ein Raum, der von viel Gewalt durchsetzt ist, nicht nur körperlicher Gewalt, sondern auch deren Androhung. Junge Straftäter haben viele Erfahrungen mit Gewalt, oft schon aus dem Elternhaus. In ihrem Milieu ist Gewalt das Mittel der Wahl: Man setzt sich durch, indem man prügelt. Das bringen viele mit, wenn sie hierher kommen. Im Umgang mit einem einzelnen Erwachsenen geben sich die Jugendlichen ganz viel Mühe: Da sind sie höflich und freundlich und sehr zuvorkommend. Wenn man 500 männliche Jugendliche mit ähnlichen Problemlagen wie hier zusammensperrt, dann sind sie oft nicht nett. Dann sind sie aggressiv und gewalttätig, laut, sie provozieren sich und es geht um Rang, Stellung und Besitz. Ich als Gefängnisseelsorger führe Einzelgespräche mit denen, die danach fragen. Die Einzelgespräche unterliegen der Verschwiegenheit, für mich gilt das Beichtgeheimnis. Ich biete auch religiöse Gesprächsgruppen an, bringe Menschen von drinnen und draußen zusammen und ermögliche denen von draußen einen Blick hinter die Mauern. Wir Gefängnisseelsorger feiern jedes Wochenende und an Feiertagen Gottesdienste, haben Kontakt zu Angehörigen der Gefangenen und sind Seelsorger für die Bediensteten im Gefängnis. Der Schwerpunkt ist aber das Führen von Gesprächen mit Jugendlichen, die hier in Haft sind. „Erfolg ist keine Vokabel Gottes“: Ich weiß nicht, von wem das Zitat stammt, aber ich finde es ganz gut. Es geht in der Seelsorge erst einmal darum, diese jungen Menschen zu begleiten und ihnen zu helfen, dass sie

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möglichst unfallfrei an Leib und Seele hier durchkommen. Wir reden nicht über Resozialisierung, hier geht es erst einmal ums Überleben. Sie müssen zunächst das bewältigen, was gerade passiert. Es ist Gott sei Dank die Ausnahme, aber es gibt immer wieder Jugendliche, die sich im Vollzug entscheiden, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Es geht darum, Schadensbegrenzung zu betreiben, und das ist in diesem System schon sehr schwierig. Für mich ist es ein Erfolg, wenn einer bereit ist, das Leben so anzuschauen, wie es ist. Das kann sehr schmerzhaft sein. Unsere Jungs sind nicht als Täter auf die Welt gekommen, sie sind ganz oft Opfer gewesen von Verwahrlosung, von Lieblosigkeit, von Heimatlosigkeit, von materieller oder anderer Armut in der Welt, in die sie hineingeboren worden sind. Ein Seelsorger schaut immer auf das Potenzial, das Gute und die Ressourcen, aber man muss sich den Dingen des Lebens auch stellen. Es sind eben nicht nur arme Jungs, die immer Pech gehabt haben im Leben. Man kann nicht für den Rest seines Lebens andere beschuldigen, sondern muss irgendwann einsehen: Ich habe eine Verantwortung für mein Handeln und meinen Konsum. Und manches von dem, was die Jungs angestellt haben, hinterlässt bei anderen Menschen tiefe Wunden und Spuren, die sie ihr Leben lang nicht vergessen werden. Damit konfrontiere ich die Jugendlichen. Es geht bei den Gesprächen auch darum, wie das Leben in Zukunft gelingen kann. In der Justizvollzugsanstalt, in der ich zuvor gearbeitet habe, habe ich mich hauptsächlich um Erwachsene gekümmert, und im Unterschied zu denen haben die Jugendlichen unglaublich viel Energie und sind tendenziell optimistisch. Trotzdem ist das Thema Zukunft schwierig. Sehr schwierig. Klar gibt es hier Jugendliche, die einen Schulabschluss schaffen und eine Berufsausbildung abschließen. Und manche von ihnen sagen auch: Das hätte ich draußen niemals geschafft. Aber eine Berufsausbildung alleine verhindert noch nicht, dass sie wieder straffällig werden. Die allermeisten kehren in das Milieu zurück, aus dem sie gekommen sind. Für ein geordnetes, glückliches Leben bräuchten sie Menschen, die es gut mit ihnen meinen, auf die sie sich verlassen können und die ihr Leben selbst einigermaßen im Griff haben. Die sagen: Ich bin für dich da. Und denen sie vertrauen können. Aber ganz viele von ihnen haben das eben nicht. Vor Kurzem hat mich ein entlassener Jugendlicher angerufen mit der erschütternden Nachricht: „Ich habe Probleme. Und Sie sind immer noch der


>> ICH SCHAUE AUF DAS POTENZIAL

Einzige, mit dem ich reden kann. Im Gefängnis habe ich immer einen Antrag geschrieben, und dann kamen Sie. Hier draußen ist das ganz anders.“ Er hat es bis jetzt einfach nicht geschafft, Anschluss zu finden. Gefängnis per se soll resozialisieren, aber im Alltag entsozialisiert es. Längst nicht alle Jugendlichen, die hier leben, bekommen überhaupt regelmäßig Besuch. Erlaubt sind vier bis fünf Stunden im Monat. Und das ist schon viel – im Erwachsenenvollzug ist es noch weniger Besuchszeit. Telefonate sind nur sehr begrenzt möglich, und im Zeitalter von Skype, Whatsapp, Facebook sagt der Vollzug: Sie können ja einen Brief schreiben. Die Kontaktmöglichkeit zu den Menschen, die man liebt und die einem vielleicht einen Halt geben könnten, werden durch die Inhaftierung dermaßen reduziert, dass es ganz schwierig ist, überhaupt eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Die Partnerschaften von Jugendlichen sind eh fragiler und kurzfristiger als die von Erwachsenen, und natürlich gehen die Mädchen

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oft von der Fahne. Wir haben viele hier, die schon Väter sind. Das ist ein Halt für die jungen Männer, aber genau wie ihre eigenen Väter sind auch sie abwesend, weil sie im Knast sitzen. Das setzt sich über die Generationen fort. Unsere Jugendlichen haben bürgerliche Ideale wie Familie und einen Arbeitsplatz, aber vom bürgerlichen, gesellschaftlichen Leben fühlen sie sich ausgeschlossen. Nicht dazugehörig. Das hängt natürlich auch mit einer Bildungs- und Armutsproblematik zusammen, den Eintrittskarten für Sucht und Jugendkriminalität. Wenn wir in Deutschland das Thema Bildung nicht in den Griff bekommen, Sprachkompetenz, Lesekompetenz, Frühförderung in Kindergarten und Schule, dann sind das verlorene Generationen. Und ich glaube, als verlorene Generation kommen sich unsere Jungs auch vor. Es gab früher mal eine Reklame: Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Davon träumen die Jugendlichen hier. Aber es ist schon sehr schwierig für sie, überhaupt einen Antrag beim Arbeitsamt auszufüllen. Sie müssen nach der Entlassung ein Konto eröffnen, sich bei der Krankenkasse anmelden, sie müssen zum Einwohnermeldeamt. Da haben sogar gebildete Menschen Mühe. Wenn sie keinen Wohnsitz haben, kriegen sie keinen Personalausweis, wenn sie keinen Personalausweis haben, kriegen sie keine Arbeit. Da sind tausend Fallstricke, weil sie das alles nicht gelernt haben und in dieser Kunstwelt Gefängnis auch nicht lernen. Jugendvollzug schreibt keine großen Erfolgsgeschichten. Viele sagen: Ein System, das so viel Geld kostet und so viele Misserfolge produziert, sollte man nicht weiter am Leben erhalten. Die Alternativen muss man natürlich gut bedenken. Die Bevölkerung wäre wohl nicht begeistert, Boulevardzeitungen und Privatsender würden Sturm laufen. Aber wenn eine Firma fortlaufend Konkurs anmelden würde, würde man sie normalerweise dichtmachen. Das Gebäude, in dem ich sitze, hat rund 179 Millionen Euro gekostet, hier arbeiten circa 400 Menschen im Schichtbetrieb. Das kostet richtig Geld, jeden Tag. Und am Ende bringt es doch eher wenig – den Jugendlichen und der Gesellschaft.


„WER RESPEKT ERFÄHRT, GIBT IHN WEITER“ DROGENENTZUG AUF DER FAZENDA DA ESPERANCA

Das alte Abtshaus. Dahinter Ställe, die lange leer standen. Das Dorf, viel Wald, ein Weiher. Der Weg hierher, in die beschauliche Ländlichkeit des Ostallgäus, war weit für die meisten, die hier wohnen. Manche haben viele Kilometer um den Globus zurückgelegt, andere eine weite Reise durch die hässlichen Seiten des Lebens unternommen, durch Niederlagen und viele Rückschläge.

Auf Gut Bickenried nahe Kaufbeuren wohnen junge Männer, die versuchen wollen, ihrem Leben eine Wendung zu geben. „Fazenda da Esperanca“ heißt dieser Ort, „Hof der Hoffnung“. Es kommen ausgeschlossene und vernachlässigte Menschen, Drogen- und Alkoholabhängige, Spielsüchtige, Hoffnungslose, Niedergeschlagene. Hier, in einer der mehr als 80 Fazendas weltweit, wollen sie sich selbst wiederfinden. Das ist das Ziel dieser Einrichtung: Dass die Drogenabhängigen nicht nur die Drogen loswerden, sondern dass sie stabile Persönlichkeiten werden, ein neues, selbstverantwortliches Leben lernen. Nicht „Patienten“ heißen die jungen Männer deshalb hier, sie nennen sie „Rekuperanten“ – von lateinisch „sich selbst wiedergewinnen“. Die Fazenda ist mehr als eine Wohngruppe oder eine Drogenreha, sie ist eine Lebensgemeinschaft von engagierten Mitgliedern der katholischen Gemeinschaft „Familie der Hoffnung“, die vor rund 30 Jahren in Brasilien entstanden ist. Ein junger Mann hatte damals die Not der Drogenabhängigen gesehen und gemeinsam mit einem Priester angefangen, Kontakt zu ihnen aufzubauen, ihnen Hilfe anzubieten und schließlich mit ihnen zusammenzuleben. Daraus entstand eine Bewegung rund um den Globus. Heute leben weltweit etwa 3000 Suchtkranke in den Fazendas, in der Regel sind sie zwischen 18 und 35 Jahre alt.

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Die Geschichte der Fazenda in Bickenried begann im Jahr 2007: 19 „Missionare“, junge Männer aus anderen Fazendas und Freiwillige aus Brasilien, Mexiko und Deutschland renovierten das ehemalige Abtshaus der Abtei Irsee und bereiteten einen Ort zum Leben und Arbeiten vor. Einer von ihnen war Luiz Fernando Braz, Grafikdesigner. Ein junger Mann mit braungewelltem Haar und dunklem Dreitagebart. Mitgekommen war er damals vor allem, weil er Schnee sehen wollte. Mehr als der Schnee beeindruckte ihn die Arbeit, die hier entstand. Er blieb. Heute leitet der 30-Jährige Brasilianer die Fazenda in Bickenried. „Wir bieten eine Therapie an, die drei Säulen hat“, erläutert er das Konzept: „Gemeinschaft leben, in der sich jeder angenommen fühlt, in der wir versuchen, zusammen als Familie zu leben.“ Die zweite Säule ist die Arbeit. „Normalerweise werden Drogenabhängige von der Gesellschaft als Abfall betrachtet. Hier versuchen wir, ihnen zu zeigen, dass sie etwas wert sind und auch etwas zur Gesellschaft beitragen können.“ Die dritte Säule sei die Spiritualität. Jeden Tag beten die Bewohner zusammen und denken gemeinsam über ein Bibelwort nach. Finanziert wird das Projekt über Stiftungen und Spenden. Das hat bislang immer funktioniert, kostet Luiz und die anderen Unterstützer der Fazenda aber viel Kraft und Nerven. „Im Haus müsste dringend die Duschen der Jungs renoviert werden, aber das Geld fehlt bis jetzt, und das ist anstrengend“, sagt Luiz. „Aber es klappt immer irgendwie, da habe ich großes Gottvertrauen gelernt.“ Wer auf einer Fazenda leben will, muss sich mit einem Motivationsschreiben bewerben und den strengen Lebensregeln dort zustimmen: Man darf hier nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, es gibt keinen Fernseher, man darf das Gelände alleine nicht verlassen. Geschlafen wird in Doppel- oder Dreibettzimmern. Der Tag ist durchgetaktet. Aufstehen um sechs Uhr, gemeinsames Frühstück um 6.30 Uhr, gemeinsame Morgenandacht, Arbeit in


>> WER RESPEKT ERFÄHRT, GIBT IHN WEITER

kleinen Gruppen – im Garten, im hofeigenen Café und Gästehaus, auf einer der immer vorhandenen Baustellen auf dem Hof. Abends sitzen die jungen Männer oft zusammen und reden oder spielen, oder sie gehen joggen. Um zehn Uhr ist Bettruhe. Die klaren Vorgaben helfen den Rekuperanten, wieder ins Leben hineinzufinden: „Struktur ist das, was viele überhaupt nicht mehr haben, wenn sie zu uns kommen“, erzählt Luiz. „Und wir machen vieles zusammen, hier zieht keiner alleine sein Ding durch.“ Das gilt auch für ihn als Mitarbeiter: „Ich bin 24 Stunden da, der einzige Unterschied ist, dass ich einen Computer habe und dass ich das Gelände verlassen kann, wenn ich will.“ Was sind das für junge Männer, die hier mit ihm leben? „Die Menschen, die zu uns kommen, sind sehr aggressiv. Sie haben gelernt, dass sie ungeliebt sind, und sie haben schon viel gelitten. Für sie ist das Leben, das mir normal erscheint, komisch – Respekt voreinander zu haben zum Beispiel.“ Luiz hat in seinem Alltag jedoch immer wieder erlebt, dass gelebte Nächstenliebe auch sehr harte Schalen knacken kann: „Ich habe mit einem Neonazi zusammengelebt, und irgendwann hat er nachts bei mir geklopft und gefragt: Warum machst du das? Ich hasse dich, weil du Ausländer bist. Warum behandelst du mich gut? Ich habe ihm geantwortet: Weil du ein Teil von unserer Familie bist und ich dich mag und du viele Talente hast. Er konnte das nicht verstehen. Aber langsam hat er sich verändert. Er hat angefangen, anderen das Bett zu machen. Etwas abzuwaschen. Kleine Dinge. Er hat angefangen, mit den Brasilianern zu sprechen und ihnen Deutschunterricht zu geben. Er wurde ein anderer Mensch. Wer Annahme und Respekt erfährt, gibt das irgendwann automatisch weiter.“ Die meisten Rekuperanten stammen aus zerbrochenen Familien. „Viele kommen auch mit Missbrauchserfahrungen zu uns“, sagt Luiz. Bei anderen, erzählt er, hatten die Eltern zwar Geld, aber keine Zeit. Die Kinder mussten selbst klarkommen. Manche der Abhängigen gerieten erst spät auf die schiefe Bahn: Sie stammen aus guten Familien, haben sogar studiert und einen Beruf erlernt, doch irgendwann ist ihr Leben gekippt. Die Therapie auf der Fazenda ist auf ein Jahr ausgelegt, in dem die jungen Männer wie eine Familie zusammenleben. Danach müssen sie sich im Alltag bewähren. Doch nicht immer halten die Rekuperanten durch, erzählt Luiz: „Wir arbeiten mit Menschen, und Menschen haben einen freien Willen. Einige brechen ab, gehen weg, werden rückfällig. Das ist für mich im-

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mer schwer: Das sind Menschen, die leiden, die abhängig sind, die wissen, dass ihnen das schadet, und sie haben nicht die Kraft, ihr Leben zu ändern. Dabei sind sie ja mit diesem Ziel hergekommen.“ Wie einer das aushält mit all den schwierigen Charakteren und Geschichten? Das sei nicht leicht, gibt Luiz zu. „Es ist anstrengend. Deshalb bitte ich Gott immer um Kraft und Freude, die ich weitergeben kann.“ Und immer wieder klappt das auch. Wie bei Fabian. Der lebte als Punk mit bunten Haaren in Berlin auf der Straße und stammte aus einer sehr schwierigen Familie. „Als Fabian zu uns kam, war er 23 Jahre alt und voller Wut“, erzählt Luiz. „Er hat oft Gläser kaputt gemacht oder irgendetwas gegen die Wand geschleudert. Ich habe mit ihm in einer Bäckerei gearbeitet, und er hat pausenlos geschimpft. Er wollte seinen Aufenthalt oft abbrechen.“ Mit der Zeit aber habe sich viel in seinem Leben getan: Der Kontakt zu Mutter und Bruder wurde intensiver und positiver. Er schaffte es, das Jahr auf der Fazenda abzuschließen. Zurück in seiner alten Umgebung wurde er rückfällig, hatte aber den Mut, wieder zur Fazenda zu kommen. Er wollte nun gerne weit weg und ging für ein Jahr nach Brasilien. Für Fabian war das eine schwierige Erfahrung, aber er hielt durch. Zurück in Deutschland entschied er sich für einen sozialen Beruf. Fabian betreut heute schwer erziehbare Jugendliche. Er hat nebenbei einen Schulabschluss gemacht und ist jetzt in Ausbildung. „Er hat sein Leben im Griff.“


„DIESE JUGENDLICHEN SIND BEGNADET IM ÜBERLEBEN“ INTERVIEW ZUR POLITISCHEN BILDUNG VON SOZIAL BENACHTEILIGTEN Angelika Barth ist Referentin der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg. Sie verantwortet den Fachbereich Jugend und Politik. Ihre Aufgabe ist es, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, an der Gesellschaft teilzuhaben: zu verstehen, wie Politik und Gesellschaft funktionieren, sich an Diskussionen zu beteiligen, ihren eigenen Interessen Wort und Gehör zu verschaffen. Barth soll Jugendliche dabei unterstützen, sich zu informieren und zu engagieren.

Frau Barth, wie beteiligt man Jugendliche an der Gesellschaft? Ein großer Teil meiner Arbeit ist die Unterstützung von Jugendgemeinderäten, einer in Baden-Württemberg relativ ausgeprägten Form der kommunalen Jugendbeteiligung. Das Modell ist angelehnt an den richtigen Gemeinderat und die Jugendlichen haben dabei eigene Themen, Betätigungsfelder und Projekte, in die sie sich einmischen und einbringen. Diese Form der Jugendbeteiligung ist aber relativ elitär – klassischerweise trauen sich vor allem Gymnasiasten, zu kandidieren, Sitzungen in einem Rathaus abzuhalten und beim Bürgermeister etwas einzufordern. Wie kann Beteiligung sonst noch aussehen? Immer wieder betreue ich Projekte, die vor allem die stark benachteiligten Jugendlichen in den Blick nehmen. Man fängt bei diesen Heranwachsenden an einem anderen Punkt an als bei den Jugendgemeinderäten, die Inhalte und Lernziele sind elementarer. Aber eigentlich mache ich da immer noch politische Bildung. Die Themen bleiben Teilhabe an dieser Gesellschaft, Interessen vertreten und sich als Teil des Ganzen zu fühlen.

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Können Sie ein Beispiel nennen? Mit den Starkmachern hatte ich ein großes Projekt mit jungen Männern, die alle Hafterfahrung hatten, Drogenerfahrungen, Gewalterfahrungen, die aus miserablen sozialen Verhältnissen kamen und denen völlig der Halt im Leben weggebrochen ist, wenn sie ihn denn je hatten. Unser Ziel war, die Jugendlichen zu befähigen, für sich eine Lebensperspektive zu entwickeln. Sie sollten eine Vision für sich gewinnen, was es außer Autoknacken im Leben noch gibt und wie man seinen Lebensunterhalt anders als mit Drogendealen bestreiten kann. Es hat mit politischer Bildung zu tun, wenn ich mit ihnen erarbeite, wie sie sich verantwortlich fühlen könnten für sich selbst und ihre Umgebung. Was ist soziale Benachteiligung – und wo fängt sie an? Sie hat in vielen Fällen mit der Familie zu tun, weil die das Vorbild für den eigenen Lebensentwurf ist. Auch wenn der Lebensentwurf von Jugendlichen von dem Bild der Eltern abweicht, was ja gerade in der Pubertät normal ist, sollten Eltern immer noch Halt geben. Das tun sie bei sozial benachteiligten Jugendlichen eben nicht. Meist ist bei diesen Jugendlichen auch keine Erfahrung damit da, wie sie in Krisensituationen mit sich selbst und ihrer Umwelt umgehen. Dass sie persönliche Fähigkeiten haben, die ihnen Lösungsoptionen bieten. Dass es noch andere Wege gibt, als sich wegzuducken – also Drogen zu nehmen, abzuhauen und auf der Straße zu leben, Gewalt auszuüben. Dass sie diese anderen Wege kennen oder es jemanden gibt, der ihnen zeigt, wie sie aus einer Krise herauskommen. Welche Krisen können das sein? Klassiker im Jugendalter sind erste Misserfolge in der Schule, unglückliche Liebe, das kann alles Mögliche sein. Was trägt sonst noch zu sozialer Benachteiligung bei? In der Regel hat sie immer auch mit Einkommen und Geld zu tun. Das unterste Fünftel der Einkommensstufen sind auch die Menschen, die sich am wenigsten für Politik interessieren, am wenigsten beteiligt sind, am wenigsten Schulerfolge haben. Die Armutsbedrohung und der Mangel an Teilhabe in der Gesellschaft sind am unteren sozialen Rand immer noch stark miteinander verknüpft, obwohl zum Beispiel das Schulsystem sich sehr demokratisiert hat. Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn ein relativ großer Teil von Jugendlichen nicht wirklich an der Gesellschaft beteiligt ist?


Das eine Problem ist, dass sich die Situation tradiert und häufig von einer Generation zur nächsten weitergetragen wird – eben weil das Elternhaus so prägend ist. Das andere ist, dass sich der Mangel an Teilhabe auch in einem Milieu verfestigt und sich dadurch Parallelgesellschaften entwickeln. Was meinen Sie mit Parallelgesellschaften? Als Jugendliche einmal bei einem Starkmacher-Projekt eine Stadtführung gemacht und mir ihr Mannheim gezeigt haben, bin ich erschrocken und dachte: Was ist das für ein Mannheim? Das kenne ich nicht! Diese Jugendlichen bewegen sich in Bereichen, von denen die restliche Bevölkerung überhaupt nichts mitbekommt. Das sind Milieus und gesellschaftliche Zusammenhänge, die nichts mit dem zu tun haben, was wir normal finden. Und in denen das, was wir für normal halten, als ganz außergewöhnlich gilt. Das ist eine gefährliche Entwicklung, weil die Gesellschaft da auseinanderdriftet und sich ein gesellschaftlicher Teil entwickelt, der sich nicht mehr zugehörig fühlt und auch nicht mehr verantwortlich. Welche Folgen hat ein solcher Rückzug ins Milieu? Er bedingt ein besonderes Verhalten: Alles, was wir als verantwortungsvol-

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les Leben, legales Leben, nachhaltiges Leben, Zusammenleben verstehen; was wir an Werten in der Gesellschaft entwickelt haben, das gilt für diese Gruppen nicht, weil sie sich anders definieren. Und sich eben nicht verantwortlich fühlen für andere und das, was um sie herum passiert. Diese Gruppen setzen ganz andere Prioritäten. Da geht es zum Teil ums nackte Überleben. Politik und Politiker sind da ganz weit weg. Erleben Sie bei den Jugendlichen aus diesen Kontexten denn überhaupt Interesse an Ihren Angeboten? Ja! Es braucht einen ersten Schritt, einen geeigneten Türöffner. Aber wenn die erste Kontaktaufnahme geschafft ist, erlebe ich eine große Offenheit und auch eine große Sehnsucht nach Stabilität, nach Normalität. Wünsche, die aus unserer Sicht ganz banal oder ganz spießig sind. Es ist erstaunlich, wie erstrebenswert das gesellschaftlich konventionell Normale für die Jugendlichen ist. Die wenigsten würden sagen: Das ist mein Traum, so in der Illegalität oder der Kriminalität mein Leben zu fristen. Im Gegenteil. Sie wünschen sich, es auch zu schaffen und ein bürgerliches Leben zu führen. Heiraten, eine Familie gründen. Sie denken: Wieso soll das bei mir nicht gehen? Ja, wieso denn nicht? Dass es in vielen Fällen trotz des Wunsches nicht klappt, liegt an den mangelnden eingeübten Fähigkeiten, an Mangel an Unterstützung, wenig Rückhalt, Rückfall in alte Muster. Ein bürgerliches Leben ist für viele von ihnen fast unvorstellbar weit weg. Was können diese Jugendlichen denn? Welches Potenzial steckt in ihnen? Sie sind begnadet im Überleben. Darin, flexibel auf Situationen zu reagieren. Das mag nicht immer der konventionelle und legale Weg sein, aber sie haben enorme Fähigkeiten, in ihrem Bereich zu netzwerken, rauszufinden, wie man an Dinge rankommt, die man braucht, wohin man sich wenden kann. Die Schwierigkeit ist, dass sie ihre Fähigkeiten nur in einem bestimmten Radius einsetzen. Sobald sie diese Komfortzone verlassen müssen, werden sie unsicher oder machen einen Rückzieher. Eine Hemmschwelle gibt es insbesondere bei Kontakten, die gefühltermaßen nicht zu ihrem Milieu gehören. Vielleicht ist es oft auch nur das Gefühl: Ich bin da nicht anerkannt. Woher kommt das? In der Regel haben sie genau das schon oft erlebt. Sozial benachteiligte


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Jugendliche erfahren bei Behörden viel Geringschätzung, viel Zurückweisung und Unfreundlichkeit, und das prägt natürlich. Da macht man lieber den Rückzieher. Aber in ihren Kreisen wissen sie sehr wohl, an wen sie sich wenden müssen und wie sie den Tag überleben. Wir hatten in unserem Programm beispielsweise einen Jugendlichen, der seit sechs oder sieben Jahren auf der Straße gelebt hat – als Teenager gehört da was dazu! Es erfordert auch Fähigkeiten, in der Kriminalität zu überleben. Die kann man fragwürdig finden, aber wenn die Jugendlichen in der Lage wären, diese Energien und Fähigkeiten in die Legalität zu bringen, wären sie wahrscheinlich in vielen Dingen ziemlich gut. Wenn sie frei wünschen könnten: Wie sollte sich die Gesellschaft in Deutschland ändern? Ich würde mir viel umfassendere, längerfristige Konzepte wünschen. Wo die Jugendlichen in verschiedenen Stufen über mehrere Jahre hinweg in ihrem Leben begleitet werden. Bislang scheitert das meist am Geld. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass alle, die mit Jugendlichen konfrontiert sind, die in prekären Situationen leben und aus schlechten sozialen Verhältnissen kommen, einen empathischeren und wertschätzenderen Umgang üben. Weil es enorm trägt. Ein Teil des Problems ist, dass sich die Jugendlichen nicht angenommen fühlen und selbst nicht mehr an sich glauben. Ich werde nicht vergessen, dass einer der Jugendlichen in einem Seminar gesagt hat: „Wir sind doch eh der Abschaum der Gesellschaft.“ Wenn ich das von mir selbst behaupte, dann sagt das ganz viel über die Erfahrungen aus, die ich in meinem Leben gemacht habe. Das sollte niemand von sich denken! Mir geht es nicht darum, dass sie mit Samthandschuhen angefasst werden, wenn sie kriminell werden. Natürlich muss man da den richtigen Weg finden, aber mit Augenmaß: Die Jugendlichen sollten auch andere Erfahrungen machen dürfen. Hängt eine gute Zukunft vor allem von guter Bildung ab? Natürlich ist Bildung ein entscheidender Faktor, aber diese Jugendlichen scheitern in der Schule oft, weil das Drumherum nicht funktioniert. Wenn zu Hause die Mutter trinkt und der arbeitslose Vater prügelt, dann kann das Bildungssystem sein wie’s will: Das kann die Schule nicht

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auffangen, dieses Kind wird sich nicht aufs Lernen konzentrieren können. Und wenn ich unsere Jungs anschaue, haben die alle Elternhäuser, die null Interesse daran hatten, dass ihr Kind schulisch Erfolg hat. Wenn niemand morgens sagt: Aufstehen, Schule! Oder: Eine Vier ist kein Weltuntergang!, sondern wenn da gar nichts kommt, dann kann die Schule das nicht lösen. Natürlich ist Bildung ein großer Faktor – aber es fehlt an viel mehr als an Bildung. Haben sich die Problemlagen in den vergangenen Jahren verändert? Benachteiligte gab es schon immer, und wenn man den Blick auf die letzten 300 Jahre richtet, hat sich die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Elite und sozial Schwachen eher verkleinert. Das Lamento lautet oft: Die Schere geht immer weiter auseinander – ich bin nicht sicher, ob das so ist. Aber jedes Jahrzehnt hat so seine Schwierigkeiten, und die prägen sich besonders in den benachteiligten Gruppen aus. Beispielsweise hat sich der Drogenkonsum in den vergangenen 30 Jahren stark verändert. Heute gibt es kaum mehr Heroin-Junkies. Dafür ist Chrystal Meth ein großes Problem. Durch die neuen Drogen ist auch der Konsument ein ganz anderer geworden. Die Verwahrlosung von Christiane F. gibt es heute bei Jugendlichen in der Form kaum mehr – dafür gibt es andere Formen. Wie sehen Sie die Zukunft der sozial benachteiligten Jugendlichen in Deutschland? Meine Hoffnung ist, dass diese Gesellschaft sich noch viel mehr daran gewöhnt, dass es viele ethnische Hintergründe mit vielen verschiedenen Bedürfnissen gibt. Dass Ausgrenzung und Benachteiligung seltener werden. Ich würde mir noch viel mehr Menschen und gerade Jugendliche im Berufseinstieg wünschen, die einen Migrationshintergrund haben und die


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sichtbarer werden in unserer Gesellschaft, als Politiker, Lehrer, Polizistinnen, Anwälte, Richterinnen – in allen Varianten des öffentlichen Lebens. Warum? Weil sie die Entscheidungen und die Richtung, in die sich die Gesellschaft bewegt, prägen könnten. Es hätte auch eine unglaubliche Vorbildwirkung: Wenn aus Sicht der Jugendlichen, die vermeintlich oder real benachteiligt sind, klar wird, dass Menschen mit einer ähnlichen Biografie ganz normal Karriere machen. Ich würde mutmaßen, schon ob der schieren Zahl der Migranten in Deutschland muss es so kommen. Noch nie gab es so viele Jugendliche, die Erfahrung mit Zuwanderung in ihrer Familie haben, und auch das prägt ein Land. Sie denken also positiv? Es ist eine Frage des historischen Blicks. Und man darf nicht zu kurz gucken. Wenn man weiter blickt, darf man, glaube ich, optimistisch gestimmt sein. Wir haben auch schon viel erreicht als Gesellschaft.

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WAS WIR TUN DER STARKMACHER UND SEINE ERFAHRUNGEN


WAS WIR TUN DER STARKMACHER UND SEINE ERFAHRUNGEN

Im vorangegangenen Kapitel haben Menschen, die alle nah an sozial benachteiligten Jugendlichen dran sind, von ihrem Alltag, ihren Eindrücken, ihren Erlebnissen erzählt. Sie haben ihre Zweifel, ihren Frust und ihre Hoffnungen zum Ausdruck gebracht. Sie haben die Welt beschrieben, wie sie in einem Teil der Gesellschaft ist. Die Frage, die sich stellt, ist: Was tun? Was hilft den betroffenen Jugendlichen weiter? Gibt es denn überhaupt wirksame Hilfe? Hoffnung? Wir als Starkmacher haben eine Erfahrung immer wieder gemacht, von der auch Angelika Barth von der Landeszentrale für politische Bildung im Interview berichtet: „Ein Teil des Problems ist, dass sich die Jugendlichen nicht angenommen fühlen und selbst nicht mehr an sich glauben.“ Wir versuchen, mit unserer Arbeit den Jugendlichen andere, bessere Erfahrungen zu ermöglichen. Im folgenden Kapitel wollen wir beschreiben, wie wir das tun und warum wir es tun, wie wir es tun. Neben persönlichen Geschichten erklären wir den pädagogischen Ansatz des Starkmachers und geben einen Einblick in die praktische Umsetzung der Projekte und die Zusammenarbeit mit unseren Partnern.


PLATZ MACHEN FÜR DAS GUTE WAS MACHT EINEN MENSCHEN ZUM STARKMACHER?

Christian Röser ist Mitbegründer und stellvertretender Vorsitzender des Starkmachers. Schon während seines Studiums der internationalen Agrarwissenschaften stieg er im Jahr 2000 in die Bildungsarbeit ein. Neben Seminaren im Bereich des Projektmanagements hat er Weiterbildungsseminare vor allem im Themenfeld des interkulturellen Lernens entwickelt und umgesetzt. Unter anderem waren dies auch die Begleitseminare für den europäischen Freiwilligendienst des EU-Programms „Jugend in Aktion“. Für die deutsche Nationalagentur dieses Programms hat er im Anschluss bis 2010 im bundesweiten Projektmonitoring gearbeitet. Im StarkmacherSchule-Projekt arbeitet er in der Strategie- und Projektentwicklung und ist als Trainer in der Schulvernetzung in engem Kontakt mit Multiplikatoren und Partnern.

100 Gäste in einem Nebensaal des Mannheimer Kunsthauses – das gehobene Bildungsbürgertum Mannheims überwiegt. 20 Minuten lässt der Redner des Abends auf sich warten. Ungeduldiges Gemurmel und Unruhe, als er endlich kommt. Dann Stille, gespannte Aufmerksamkeit und mit seiner besitzergreifenden Präsenz erfasst er den Saal. Eine Stunde später: Betroffenheit, Rührung, Menschen, mit Tränen in den Augen. Eine Traube von Menschen um den Redner, mit dem sie zumindest einige persönliche Worte wechseln wollen. Auf dem Weg zum Auto habe auch ich meine Emotionen nur schwer unter Kontrolle – ein eigenartiges Gefühl hat mich ergriffen: Als habe mir jemand mein Schicksal enthüllt, mir meine tiefste innere Sehnsucht gezeigt. Und ich bin offensichtlich nicht der Einzige, der den Saal an diesem Abend verlässt mit dem Wunsch, seine Talente und Fähigkeiten einzusetzen, mit dem eigenen Leben, der

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eigenen Arbeit im Einklang mit sich selbst Sinnhaftes zu tun, etwas, das über das Materielle und Vergängliche hinaus bleibt. Der Redner dieses Abends vor knapp 10 Jahren war Royston Maldoome, einer der Mitbegründer von Dance United in London. Mit seinem Tanz, seiner Arbeit holt er seit vielen Jahren Menschen in Afrika aus dem Elend und entfacht in ihnen die Leidenschaft für das Tanzen. Er bildet sie in einem harten mehrjährigen Training zu professionellen Tänzerinnen und Tänzern aus. Viele von ihnen gehen zurück, um diese Gabe des Tanzens weiterzugeben an andere junge Menschen, die noch im Elend leben, und ihnen so Brücken in eine selbstgestaltete lebenswerte Zukunft zu bauen. So hat Maldoome eine Spirale des Guten geschaffen. Er spricht an diesem Abend in einfachen Worten, erzählt aus seinem persönlichen Leben, schildert, wie Menschen in seiner Tanzschule ihr tiefes inneres Ich entdecken und entfalten. Und seine Zuhörer fragen sich spontan: Und ich? Was mache ich aus meinem Leben und meiner Begabung? Welche Begabung habe ich überhaupt? Ich zumindest habe mir diese Fragen damals gestellt. Ich habe mir vorgestellt, wie ich in 30 Jahren wohl zurückblicken werde auf mein eigenes Leben: Werde ich meine Talente und Fähigkeiten genutzt haben, innere Fülle erleben? Royston Maldoome hat sich entschieden, sein Talent mit anderen zu teilen, hat sich unter schwierigen Bedingungen für andere eingesetzt. Für mich war das nicht nur bewundernswert, sondern auch nachahmenswert. In letzter Konsequenz ist es diese Haltung, die mich zum Starkmacher geführt hat. In meinem Tun hier, im Austausch mit den vielen Menschen vor allem auch in diesem Projekt erfahre ich die Sinnhaftigkeit, die für mich an diesem Abend bei Royston Maldoome so stark spürbar war. Ich erlebe Menschen, die sich ganz einbringen mit ihren Fähigkeiten und Talenten, mit ihrer ganzen Person. Dieses Projekt und unsere Arbeit im Starkmacher hat uns immer wieder die Gewissheit geschenkt, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort das Richtige zu tun. Steve Jobs hat in seiner beeindruckenden Rede vor der Stanford University seine Lebensformel in drei wesentliche Punkte gefasst. Einer davon ist der Grundsatz und seine Empfehlung an die Studenten auf dem Weg ins Arbeitsleben: „Tu, was du liebst“. Im Rückblick ist es das, was von Anfang an die verbindende Idee aller im Starkmacher aktiven Menschen ist: Wir glauben an das Gute im Menschen und in unserer Gesellschaft. Wir wollen


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angesichts der Krisen unserer Zeit nicht ratlos im Nichtstun abstumpfen und frustriert werden. Wir können die Krisen nicht lösen, mit denen uns die Nachrichten jeden Tag aufs Neue herausfordern. Wir können aber angesichts des Leids und der vielen tödlichen Konflikte auch nicht zynisch werden oder angesichts der eigenen Ohnmacht wegschauen. Aber jeder Einzelne von uns kann in seinem Umfeld die Beziehungen zu seinen Mitmenschen ernst nehmen und sie so gestalten, dass wir uns gegenseitig im Guten bestärken. Wir glauben daran, dass jeder einen wertvollen Beitrag für unser Zusammenleben geben kann, und es gilt Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Talente und Fähigkeiten ans Licht holen. Selbstwirksamkeit zu erfahren, gibt uns die Kraft, in unserem Bestreben nach einer besseren Welt nicht nachzulassen. Wir glauben daran, dass wir im Engagement für unser unmittelbares Umfeld unseren Beitrag auch zur Lösung der großen Krisen unserer Zeit leisten. Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, die uns zur Verfügung stehen, und das ist immer einfacher, wenn wir gemeinsam auf dem Weg sind.

WEITERGEHEN, WENN ES WEH TUT Wer das Wagnis eingeht, Dinge verändern und gestalten zu wollen, trifft zwangsläufig auf Hindernisse und erzeugt Spannungen. Unser ressourcenorientierter Ansatz ist oft eine Herausforderung. Wir machen diese Erfahrung immer wieder neu beim Start in die Projektwoche des Projekts StarkmacherSchule. Montags wissen die vielen Jugendlichen nicht, was Mittwochabend auf sie zukommt. Sie werden herausgefordert, in kurzer Zeit eine sehr große Leistung zu bringen. Bisher war es fast immer so, dass die Jugendlichen sich an einem bestimmten Punkt mit den Anforderungen überfordert fühlten. Bleibt die Option, die Anforderungen zu verringern. In genau dem Punkt setzt jedoch der Lernprozess ein. Aus unserer Erfahrung heraus wissen wir, dass die Jugendlichen eine geniale Aufführung hinbekommen können. Wir glauben an ihr Können und fordern sie heraus, genau in diesem Moment des Zweifels an sich selbst weiterzugehen. Der Vorteil ist die Gemeinschaft in dem Moment. Die Jugendlichen haben Fähigkeiten in sich entdeckt, an die sie nicht geglaubt haben. „Man sah ein Leuchten in den Augen der Jugendlichen, und das alleine war die ganze Mühe schon wert“. Dieses Resümee zog Alfred Hovestädt, inzwischen verstorbener Pressereferent des Diözesan-Caritasverbandes für

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das Erzbistum Köln und Mitbegründer des ersten Starkmacher-Projekts „Stark ohne Gewalt“, nach der allerersten Projektwoche im oberbergischen Lindlar. Man muss dazu sagen, dass diese erste Tournee, wie alle die danach kamen, auch besondere Schwierigkeiten mit sich brachte. Bei jeder Projektwoche gilt es, jeden ganz bewusst immer wieder mit neuen Augen zu sehen, dem Gegenüber die Chance zu geben, seine positiven Seiten zeigen zu können, auch wenn sie manchmal unter einer harten Schale verborgen sind. Dabei sind Konflikte, die aufkommen, Frustrationen und scheinbare Ausweglosigkeit mögliche Sprungbretter, die – positiv gelebt und angegangen – eine neue Qualität der Arbeit, aber vor allem auch der Beziehungen ermöglichen. Voraussetzung dafür ist allerdings, die eigenen Vorstellungen hintanstellen zu können, eigene Positionen zumindest zu überdenken, die Kunst des Vergebens zu üben und bereit zu sein, immer wieder neu anzufangen. Die Beziehung zum jeweiligen Gegenüber bekommt dadurch einen ganz neuen Stellenwert, wird wichtiger als der Erfolg, materielle Sicherheit oder Geld. Diese Erfahrung des Überwindens der Herausforderungen gehört untrennbar zur Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und der Erfahrung von echter Lebensfreude dazu.

WISSEN, WO WIR HERKOMMEN Wir Starkmacher erleben uns als Teil eines großen Puzzles. Wir machen im Projekt StarkmacherSchule und auch in anderen Projekten immer wieder die Erfahrung, dass wir die Welt ein Stückchen besser machen können, und wir sind umso erfolgreicher, je mehr Menschen sich mit all ihren Talenten und Fähigkeiten, also mit ihren Puzzlestücken einbringen. Deswegen setzen wir von Anfang an auf enge Beziehungen zu Einzelpersonen und Einrichtungen und arbeiten inzwischen mit vielen geschätzten Partnern zusammen. Wir erleben immer wieder, wie auch wir durch diese Partnerschaften immer wieder neu inspiriert werden. Oft müssen wir das Rad nicht neu erfinden, wenn sich gute Synergien anbieten. Manchmal sehen wir von außen in einer Stadt, an einem Standort viel Potenzial, viele gute Ideen und engagierte Leute, die aber allein oder als einzelne Organisationen nur wenig bewegen können. Wir setzen uns ein, um Netzwerke zu schaffen, die richtigen Mitspieler an einen gemeinsamen Tisch zu bringen.


>> PLATZ MACHEN FÜR DAS GUTE

Der Starkmacher hatte nie einen Masterplan, wir haben nie am grünen Tisch definiert, wer wir sind und wo wir hinwollen. Wir leben im Jetzt und haben die Menschen im Blick, mit denen wir gerade jetzt in Kontakt sind. Nicht selten sind die Zuschauer von heute unsere Partner für morgen. Nur wer im Frieden mit sich selbst ist und um seine eigenen Talente und Fähigkeiten weiß, kann sich wirklich für die Mitmenschen einsetzen. Für viele von uns ist unser christlicher Glaube eine Quelle zum Auftanken und unsere Ressource. Es freut uns jedoch, dass die Idee des Starkmachens, der Wunsch, sich dafür einzusetzen, dass jeder sich am großen Puzzle beteiligen kann, Kreise auch bei anders oder gar nicht gläubigen Menschen gezogen hat und zieht. Für mich ist eine wichtige Basis, dass jeder Mensch von Gott geliebt und gewollt ist, und das befähigt mich, auf meinen Nächsten offen, empathisch und interessiert zuzugehen. Der Gedanke der Nächstenliebe, des Vertrauens, Zutrauens und der Wertschätzung ist jedoch universell und verbindet über den eigenen persönlichen Glauben hinweg die Starkmacher.

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ARBEIT MIT SUPERHELDEN DER PÄDAGOGISCHE ANSATZ VON STARKMACHERSCHULE

Anne Kaiser ist Diplom Sozialarbeiterin und seit Gründungsbeginn beim Starkmacher. Sie baute das pädagogische Konzept von „Stark ohne Gewalt“ aus und entwickelte die inhaltlichen und pädagogischen Hintergründe für das Projekt StarkmacherSchule. Neben der beratenden Begleitung im Bereich Schulvernetzung ist sie verantwortlich für die Gesamtkoordination der Teilprojekte im Projekt StarkmacherSchule.

Jeden Morgen wacht in Afrika eine Gazelle auf. Sie weiß, sie muss schneller laufen als der schnellste Löwe, um nicht gefressen zu werden. Jeden Morgen wacht in Afrika ein Löwe auf. Er weiß, er muss schneller als die langsamste Gazelle sein, wenn er nicht verhungern will. Es ist egal, ob man ein Löwe oder eine Gazelle ist. Wenn die Sonne aufgeht, musst du rennen.1 Wer erfolgreich sein will, wer in Wohlstand und Gesundheit leben will, der muss etwas leisten. Dies ist eine typische Haltung der deutschen Gesellschaft

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Backhaus, Klaus u. Bonus Holger (Hrsg.): Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, Stuttgart, 3. Auflage 1998


>> ARBEIT MIT SUPERHELDEN

gegenüber Jugendlichen. Nichtstun, Abwarten oder gar andere vorschicken, um Herausforderungen anzugehen, führt nicht zum Erfolg. Um Leistung erbringen zu können, benötigt man eine gewisse Grundmotivation, die animiert, sich anzustrengen, über Grenzen zu gehen und Ziele zu erreichen. Um diese Grundmotivation ausbilden zu können, sind Erfolgserlebnisse und Zutrauen seitens des Umfelds notwendig. Gleichzeitig ist der Schulalltag geprägt von dem Wunsch nach Defizitminimierung und von Verbesserungsbotschaften, anstatt den Fokus auf bestehende Erfolge, Fähigkeiten und Entwicklung zu legen. „Benachteiligte“ Jugendliche, etwa Jugendliche aus bildungsfernen Schichten haben es schwer, den Übergang in den Arbeitsmarkt erfolgreich zu gestalten und sich somit Chancen auf eine erfolgreiche Zukunft zu eröffnen. Sie schaffen es nicht, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und empfinden in vielen Fällen Perspektivlosigkeit und Frustration. Beides bildet einen Nährboden für Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und sogar Rassismus. Gleichzeitig spüren sie, dass sie wegen ihrer Bildungsdefizite ausgeschlossen werden, und erleben diesen Mangel als persönliches Versagen. Folgen sind eine demotivierte Haltung gegenüber Schule und Arbeitsmarkt und die Unklarheit: Wozu soll ich mich anstrengen? Ebenfalls wird deutlich, dass durch mangelnde Zusammenarbeit der verantwortlichen Instanzen junge Menschen teilweise ziellos vermittelt und „weitergeleitet“ werden, ohne Rücksicht auf ihre Erfahrungen und Entwicklung. Es muss mehr unternommen werden, insbesondere im Rahmen der allgemeinen und beruflichen Bildung, um die Arbeitsmarktchancen junger Menschen zu verbessern und sie gleichsam zu befähigen, Verantwortung für ihr eigenes Leben und berufliches Fortkommen zu übernehmen und sich gesellschaftlich zu engagieren. Wie das geht? Es gilt, zu motivieren und dort anzusetzen, wo Erfolgserlebnisse garantiert sind: bei den persönlichen Stärken.

DAS MENSCHENBILD DES STARKMACHERS „In jedem von uns steckt sehr viel mehr, als er selber weiß“ (Robert Jungk). Wir vom Starkmacher e.V. sind überzeugt, dass in jedem Menschen, unabhängig von Herkunft und Bildung, Stärken vorhanden sind, die es zu entdecken, zu fördern bzw. zu aktivieren gilt. Oft sind es Umstände, persönliche Rahmen-

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bedingungen, Erziehungsstile, gesellschaftliche Normen oder ein unsicheres Selbstbild, die es Kindern und Jugendlichen erschweren, eigene Fähigkeiten und Talente wahrzunehmen, als solche zu definieren und diese zu nutzen. Dabei gehen wir von einem Menschenbild aus, das die Potenziale in den Fokus nimmt. Der Mensch ist entwicklungsfähig, grundsätzlich kreativ und handlungsinteressiert. Er ist fähig, eigene freie Entscheidungen zu treffen und sich in einer Gemeinschaft zu orientieren und einzubringen. Dabei verfügt er über individuelle Ressourcen und hat bestimmte Bedürfnisse, die er befriedigen möchte. Unter Ressourcen verstehen wir Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten, die dem Nutzer dazu dienen, seine persönlichen Ziele zu erreichen. Jeder Mensch hat wertvolle Ressourcen. In unseren Projekten und Initiativen setzen wir den Schwerpunkt auf die Stärken und Ressourcen. Es ist uns wichtig, das Positive zu unterstreichen und bewusst zu machen. Wir wollen uns nicht auf Mängel konzentrieren und Defizite definieren, sondern das bereits vorhandene Können ausbauen und weiter entwickeln. Wir sind überzeugt, dass die persönlichen Ressourcen für die Bewältigung alltäglicher und besonderer Anforderungen bzw. Lebensaufgaben von zentraler Bedeutung sind, letztlich hängt die psychische und physische Gesundheit sowie das individuelle Wohlbefinden davon ab, ob diese Ressourcen verfügbar sind und zum Einsatz kommen.2 Um Ressourcen zu aktivieren bzw. Menschen in der Weiterentwicklung ihrer Ressourcen zu unterstützen, bauen wir auf einen Ansatz der Ermutigung. Ermutigung bildet die Basis einer erfolgreichen persönlichen Entwicklung. Sie setzt voraus, das Gegenüber in einer gleichwertigen Beziehung zu bejahen und annehmen zu können. Unser Menschenbild ist geprägt von Respekt, Vertrauen, Zutrauen und Wertschätzung. Ermutigung ist nicht alleine für Kinder und Jugendliche, sondern auch im Umgang mit Erwachsenen von großer Bedeutung: „Ermutigung ist die Kraft, die das natürliche Wachstumspotenzial zur Entwicklung bringen kann. (…) Ermutigung weckt Hoffnung, stärkt die

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Ulrike Willutzki, Tobias Teismann, Ressourcenaktivierung in der Psychotherapie, Fortschritte der Psychotherapie: Hogrefe, Göttingen 2013, Seite 3


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Zuversicht, gibt Sicherheit, fördert Mut, hilft Durststrecken zu überwinden.“3 Wir sehen uns als Begleiter und Unterstützer von Jugendlichen und Erwachsenen auf ihrem Weg, ihre Ziele zu erreichen, den Alltag erfolgreich und mit innerem Wohlbefinden zu bewältigen und sich selbst als starke Persönlichkeit und Macher ihres Lebens wahrzunehmen. Frei nach dem Motto: Man ist nur dann ein Superheld, wenn man sich selbst für super hält.

EIN KONZEPT ENTSTEHT Vorläufer des Projekts StarkmacherSchule ist das Projekt „Stark ohne Gewalt“, das im Zeitraum 2006 bis 2011 kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Es begann als Gewaltpräventionsprojekt, das gezielt SchülerInnen dabei unterstützte, eigene Stärken zu entdecken, um diese – und nicht Gewalt – im Sinne der Konfliktlösung und persönlichen Zielerreichung einzusetzen. Diese Idee des „Starkmachens“ zeigte große Erfolge bei den Teilnehmern. Gleichzeitig bestand die Problematik einer langfristigen Nachhaltigkeit. Durch verschiedene evaluierende Untersuchungen wurde deutlich, dass man das System, in dem SchülerInnen leben, einbeziehen muss, wenn man Nachhaltigkeit garantieren will. Dieses „System Schule“ bilden LehrerInnen, Netzwerkpartner der Einrichtung und die Eltern. Wir erlebten Lehrer, die – fixiert auf die Umsetzung des Lehrplans – selbst unter Druck standen und ihre eigenen Stärken aus dem Blick verlieren: Kollegien, die als Gemeinschaft Potenziale haben und diese nicht nutzen, Netzwerkpartner, die Interesse zeigen, aber nicht wissen, wie eine erfolgreiche Kooperation gestaltet werden kann; Eltern, die eher auf Leistungsergebnisse als auf Persönlichkeitsentwicklung setzen; und ein System Schule, das Symptome bekämpft und reagiert, anstatt sich auf einen Prozess der gemeinsamen Profilentwicklung einzulassen, mit dem sich Lehrer wie Schüler identifizieren können. So wurde das Projekt „Stark ohne Gewalt“ ein Teilprojekt eines großen Schulentwicklungsprojekts namens „StarkmacherSchule“.

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Jürg Fink, Die Kraft der Ermutigung, Grundlagen und Beispiele zur Hilfe und Selbsthilfe: Huber, Bern 2007, Seite 51/52

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ZIELE StarkmacherSchule will Jugendliche stark machen, damit sie erfolgreich und gewaltlos ihre Ziele erreichen. Dazu stärkt es das soziale schulische Netzwerk der Schüler und gibt Methoden und Werkzeuge an die Hand. Es unterstützt und fördert Schulen, ihre Lehrer, aber vor allem die Schüler darin, ihre individuellen Stärken und Talente noch besser zu entwickeln und für ihr berufliches wie privates Leben nutzbar zu machen. Dabei ist besonders der Übergang von der Schule ins Ausbildungs- und Berufsleben im Blickpunkt. Es geht um ganzheitliche Persönlichkeitsstärkung und Coaching. So stellt das Projekt eine Ergänzung zur klassischen Schulbildung dar. Dabei sind wir gezielt der Frage nachgegangen: Was macht einen jungen Menschen stark? Welche Indikatoren definieren eine starke Persönlichkeit? Ernst Fritz-Schubert beschreibt in seinem Buch „Schulfach Glück“ Merkmale starker Jugendlicher, basierend auf den Untersuchungen der Resilienztheorie. Unter Resilienz versteht man die psychische Widerstandsfähigkeit von Menschen, deren psychische Robustheit und Stressresistenz, um den Herausforderungen im Alltag erfolgreich entgegenzutreten und sie zu bewältigen. „Der Begriff Resilienz umfasst die Fähigkeit eines Menschen, mit Druck und Belastung fertigzuwerden, die täglichen Herausforderungen zu bewältigen, sich angesichts von Enttäuschungen oder unerfreulichen und traumatischen Erfahrungen rasch wieder zu fangen, klare und realistische Zielvorstellungen zu entwickeln, Probleme zu lösen, gut mit den Mitmenschen zurechtzukommen, sich selbst und anderen mit Respekt zu begegnen.“4 Nach der Resilienztheorie zeichnen sich Jugendliche mit einer starken Persönlichkeit dadurch aus, dass sie:5 » … über Selbstbewusstsein verfügen Sich mit seinen Fähigkeiten und Grenzen wahrnehmen, zu wissen, auf welche Ressourcen man in bestimmten Situationen zurückgreifen kann,

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Robert Brooks/Sam Goldstein, Das Resilienz-Buch: Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken, Klett-Cotta, Stuttgart 2007, Seite 21

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Ernst Fritz-Schubert, Schulfach Glück: Wie ein neues Fach die Schule verändert, Herder, Freiburg 2008, Kapitel 9, Seite 60-65


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welche persönlichen Grenzen überwindbar und weiterzuentwickeln sind, und welche Grenzen statisch bestehen, sind Grundlagen, sich seiner selbst bewusst zu sein. Man kennt seine eigenen Bedürfnisse, erkennt seine Emotionen, nimmt sie wahr und steuert sie. Man weiß, wie man in bestimmten Situationen funktioniert, sich verhält bzw. reagiert. Ähnlich wie die Bedienungsanleitung einer Waschmaschine vorgibt, in welchem Zustand die Wäsche je nach Wahl des Programms aus der Maschine kommt, kennen Menschen mit einer starken Persönlichkeit ihre persönliche Bedienungsanleitung. » … selbstständig handeln können Ein starker Jugendlicher übernimmt Verantwortung für sein Tun und Handeln, trifft Entscheidungen und ist bereit, auch Konsequenzen in Kauf zu nehmen und mit diesen zu leben. Er ist bereit und offen, gewohnte Grenzen zu überschreiten und Neues zu wagen, immer mit dem Ziel, sich selbst weiterzuentwickeln und zu lernen. Er hat eine Meinung und äußert diese, geht in Konfrontation und Diskussion mit seinem Umfeld, strebt an, persönlich zu wachsen in der Auseinandersetzung mit seinem Umfeld. » … die ihre Ressourcen kennen und diese im Sinne der Problemlösungsfähigkeit nutzen können Jedes Wachsen und Lernen ist von Situationen bedingt, die herausfordern. Es gilt, diese erfolgreich zu bewältigen. Täglich steht der Jugendliche bzw. der Mensch vor unzähligen Problemen, die es zu lösen gilt. Wer über eine starke Persönlichkeit verfügt, stellt sich diesen Herausforderungssituationen mit dem sicheren Wissen, WIE man diese Herausforderung angeht und WELCHE Ressourcen zur erfolgreichen Bewältigung zur Verfügung stehen. » … die einen positiven, emotionalen Bezug zu ihrem engen Umfeld haben Hierzu gehört eine emotionale gute Beziehung zu Eltern und Bezugspersonen aus dem nahen Umfeld, die dem Jugendlichen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Der Jugendliche erlebt die Gewissheit, von Menschen umgeben zu sein, von denen er Wertschätzung, Vertrauen und Liebe erfährt. Er kann somit Verantwortungsbereitschaft, Mitgefühl und soziales Empfinden entwickeln. Gerade positive Emotionen sind ausschlaggebend für erfolgreiches Lernen, Entwicklung und Wachstum. Die Psychologieprofessorin Barbara L. Fredrickson

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hat im Rahmen der Entwicklung der positiven Psychologie den Einfluss und die Wirkung positiver Gefühle auf das menschliche Verhalten, die Psyche und die Gesundheit untersucht. Auf der Basis ihrer Untersuchungen entwickelte sie die Broaden-and-build-Theorie. Negative Emotionen wie Angst lösen im Körper durch entsprechende Hormonausschüttung die Überlebensinstinkte aus und lenken den Fokus auf Flucht oder Angriff, schränken dabei aber jegliche neurologischen Prozesse auf diesen Fokus ein und ermöglichen keinerlei Lern- und Entwicklungsbereitschaft. Positive Emotionen wirken in die gegenteilige Richtung: Eine positive Grundeinstellung führt zu einer entsprechenden Bewusstseinserweiterung. Das intensive Erleben positiver Emotionen erweitert das Wahrnehmungs- und Verhaltensrepertoire (Broaden-Effekt), indem sich auf neurologischer Ebene neue Synapsenverbindungen ausbilden. Menschen werden aufgeschlossener und kommen besser mit Schwierigkeiten zurecht. Folge dieser Bewusstseinserweiterung ist das Ausbilden von dauerhaften persönlichen Ressourcen (Build-Effekt), beispielsweise in Bezug auf Beziehungen, soziale Netzwerke, Wissen und Können, sowie Resilienz. Durch die ausgebildeten Ressourcen entstehen neue Erfolgserlebnisse, die wiederum positive Emotionen erlebbar machen, das Wahrnehmungsrepertoire erweitern und neue Ressourcen ausbilden. Es entsteht eine Aufwärtsspirale, die eine motivationale Basis für Tätigkeiten legt, da ein wiederholtes Erleben von positiven Emotionen wiederum motivierend wirkt. „Positive Gefühle und Offenheit bedingen sich gegenseitig und wirken wie Katalysatoren füreinander.“6 Ausgehend davon, wie man nun eine starke Persönlichkeit definiert und welche Indikatoren für ihre Formung maßgeblich entscheidend sind, stellt sich für uns Begleiter von Jugendlichen die Frage: Wie sieht unser Beitrag dazu aus und wie können wir den Entwicklungsweg hin zu einer starken Persönlichkeit positiv beeinflussen? Robert Brooks und Sam Goldstein zeigen in ihrem Werk „Das Resilienz-Buch“ Aspekte auf, die man verinnerlichen sollte, wenn man andere Menschen auf dem Weg zu einer starken Persönlichkeit begleitet.7

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Barbara L. Fredrickson, Die Macht der guten Gefühle: Wie eine positive Haltung ihr Leben dauerhaft verändert, Campus Verlag, Frankfurt 2009, Seite 87

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Robert Brooks/Sam Goldstein, Das Resilienz-Buch: Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken, Klett-Cotta, Stuttgart 2007, Kapitel 1, S. 21-39


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» Bezugspersonen Um sich wohlzufühlen, brauchen Menschen andere Menschen in ihrem engen Umfeld, die ihnen wertschätzend und respektvoll begegnen, ihnen Vertrauen vermitteln und empathisch entgegentreten. Mit ihrer Liebe geben sie anderen das Gefühl weiter, als Mensch in ihrem eigenen Wert geschätzt und willkommen zu sein. Bezugspersonen kommunizieren klar und hören aktiv zu. Dies müssen nicht zwangsläufig Eltern sein, das können auch Personen aus dem engen Umfeld/ Verwandtschaft und Schule sein. Die Erfahrungen mit Bezugspersonen, die Respekt und Wertschätzung vermitteln, legen die Basis, dass Jugendliche nicht nur sich selbst wertschätzen, sondern auch anderen wertschätzend und respektvoll begegnen. » Vertrauen in die eigene Person und folglich in die eigenen Fähigkeiten Die Jugendlichen erleben sich mit ihren Stärken und Schwächen wahrgenommen und respektiert: „Mir wird etwas zugetraut, ich habe etwas zu bieten, ich kann was und dies wird wahrgenommen“. Sie erleben nicht nur, dass ihr Können wahrgenommen, sondern auch als Bereicherung für die Gemeinschaft und das Umfeld gesehen wird. Verantwortungsbewusstsein, Mitgefühl und soziales Gewissen werden geweckt, indem die Jugendlichen die Gelegenheit bekommen, sich zu beteiligen. Die Jugendlichen erleben sich als akzeptiert, so wie sie sind, und können dadurch realistische Erwartungen und Zielvorstellungen entwickeln. » Vorbilder mit Modellcharakter für eigene Verhaltens- und Beziehungsmuster Jugendliche brauchen die Chance, sich in Beziehungsabläufen zu üben – positiven wie negativen. Dazu ist Modellverhalten von großer Wichtigkeit. Wie werden Konflikte ausgetragen, wie läuft die Kommunikation ab? Dadurch lernen Jugendliche, wie sie Probleme lösen können, wie man Entscheidungen trifft und Kommunikation aktiv und empathisch gestaltet werden kann. Sie erleben Regeln und Vorschriften, die das Selbstwertgefühl und die Selbstdisziplin fördern.

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» Raum zum Ausprobieren und Grenzen erfahren Jugendliche benötigen Übungsfelder, in denen sie sich ausprobieren dürfen und wo sie erleben, dass man Erfolg haben kann, wenn man Grenzen überschreitet. Sie brauchen Übungsraum, der auch Scheitern und mehrmaliges Versuchen zulässt und sie die Erfahrung machen lässt, die Grenzen der anderen zu akzeptieren und zu respektieren. Jugendliche erleben Erfolge durch das Identifizieren eigener Stärken. Sie erkennen, dass man aus Fehlern lernen kann. Sie erleben Sicherheit und Zutrauen.

BEFRIEDIGUNG DER GRUNDBEDÜRFNISSE Klaus Grawe geht in seiner Konsistenztheorie der Frage nach: Was sind die spezifischen psychischen Grundbedürfnisse des Menschen, deren Erfüllung gewährleistet sein muss, damit er sich wohlfühlen und gut entwickeln kann?8 Daraus definierte er die folgenden vier Grundbedürfnisse:

A. Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle Jeder Mensch entwickelt ein individuelles Modell der Realität, an dem er sein Verhalten und seine Erfahrungen ausrichtet. Er versteht sich in „seiner“ Welt und hat die Sicherheit, auf ein bestimmtes Verhalten eine erwartete Reaktion zu erleben. Er erfährt sich kompetent und selbstständig, sich in der Welt zu bewegen, und macht die Erfahrung eigener Kontrollmöglichkeiten. „Je nach den Lebenserfahrungen, die das Individuum bezüglich seines Kontrollbedürfnisses (vor allem in seiner frühen Kindheit) macht, entwickelt es eine Grundüberzeugung darüber, ob Voraussehbarkeit und Kontrollmöglichkeit besteht, ob es sich lohnt, sich einzusetzen und zu engagieren und inwieweit das Leben einen Sinn macht.“9 B. Bedürfnis nach Bindung Hierbei wird primär das Bindungsverhalten zwischen Mutter und Kind in

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Klaus Grawe, Neuropsychotherapie: Hogrefe, Göttingen 2004, S. 183-300

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Klaus Grawe, Neuropsychotherapie: Hogrefe, Göttingen 2004, Seite 231


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den ersten Lebensmonaten als ausschlaggebend für die Entwicklung der individuellen Bindungserwartungen im späteren Leben aufgeführt. Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu Mitmenschen und Nähe, den Wunsch nach einem Ort, an dem er sich aufgehoben fühlt, verstanden wird, an dem man um sein Wohlergehen besorgt ist. C. Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung/-schutz Der Jugendliche erlebt sich selbst von einer positiven Seite und macht die Erfahrung, auch von anderen positiv wahrgenommen zu werden. Er erlebt sich als wertvoll und bereichernd in seinem Tun, kompetent und geliebt von den anderen. Hierbei handelt es sich um ein spezifisch menschliches Bedürfnis. Dazu gehört das Bewusstsein seiner selbst als Individuum und die Fähigkeit zu reflexivem Denken. Ausschlaggebend für die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist die Entwicklung des Selbstbildes und des Selbstwertgefühls. D. Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung Hierzu gehört das Bestreben, erfreuliche und angenehme Erfahrungen herbeizuführen und anzustreben, und unangenehme Erfahrungen zu vermeiden, das Ziel eine erfolgreiche Lust-Unlust Bilanz zu erreichen. Erfreuliche und angenehme Erfahrungen sind aber nicht zwingend mit einem grundsätzlichen Lustgefühl, Glück bzw. der Abwesenheit von Schmerz verbunden. Es geht vielmehr um Gefühle wie innere Zufriedenheit, Stolz, Genugtuung, Mitgefühl, im Reinen mit sich sein. „Es ist das Ziel, das angestrebt wird, nicht das Gefühl, das vielleicht eintreten wird, wenn das Ziel erreicht ist.“10 Die Erfüllung dieser psychologischen Grundbedürfnisse ist die Bedingung dafür, dass der Mensch ein Leben in psychischer Gesundheit und Wohlbefinden führen kann. Wohlbefinden wiederum bedeutet, psychische Leistungsfähigkeit und physische Gesundheit. Im Umkehrschluss wird bei Verletzung der Grundbedürfnisse das Wohlbefinden geschwächt und werden andere Wege, wie beispielsweise Gewalt, gesucht, um diese zu befriedigen.

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Klaus Grawe, Neuropsychotherapie: Hogrefe, Göttingen 2004, Seite 301

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In der Konzeptentwicklung des Projekts StarkmacherSchule werden nun gezielt Methoden und Ansätze gewählt, die dazu dienen, die psychologischen Grundbedürfnisse im Schul- und Projektalltag ernst zu nehmen und Angebote zur deren Erfüllung zu schaffen. Ziel ist dabei eine erfolgreiche Unterstützung zur Ausbildung einer starken Persönlichkeit. Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer Ansätze sind auch die Ergebnisse der Ursachenforschung, die Albert Wunsch11 in seinem Buch „Abschied von der Spaßpädagogik“ darlegt. Er untersuchte dabei die heutige Situation unserer Gesellschaft und stellt interessante Hypothesen auf. Sie bilden die Grundlage, um eine Handlungsebene für die Projektarbeit zu erarbeiten.

Sichtbar wird, dass, auf der Basis der Grundbedürfnisse, mit unseren verschiedenen Ansätzen Erfahrungsräume geschaffen werden, in denen sich starke Persönlichkeiten ausbilden können.

ZIEL

STARKE PERSÖNLICHKEIT

Positive Konfliktlösung

Gemeinschaftsleben METHODEN / ANSÄTZE Respekt und Sensibilität

Eventerleben

Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe

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Bedürfnis nach Bindung

Anerkennung und Selbstwerterhöhung

Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstschutz

Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Albert Wunsch, Abschied von der Spaßpädagogik, Für einen Kurswechsel in der Erziehung: Kösel-Verlag, München, 4. Auflage 2007


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Sichtbar wird, dass, auf der Basis der Grundbedürfnisse, mit unseren verschiedenen Ansätzen Erfahrungsräume geschaffen werden, in denen sich starke Persönlichkeiten ausbilden können. StarkmacherSchule arbeitet mit Schülerinnen und Schülern im Eventerleben Gerade diesem Eventwunsch kommt das Programm entgegen, indem Schülerinnen und Schüler durch Einnehmen einer neuen Rolle zu Protagonisten an einer öffentlichen Aufführung werden, die sie in den Mittelpunkt stellt und sie sich selbst neu erleben lässt. Gemeinsam mit professionellen Künstlern entwickeln sie Elemente für eine Bühnenshow und führen diese vor großem Publikum auf. Dabei wird mit umfangreichem professionellem technischem Equipment gearbeitet. Zwei LKWs mit Material und die gesamte Bühnentechnik müssen auf- und abgebaut werden. StarkmacherSchule macht Respekt und Sensibilität erlebbar Im „Stark ohne Gewalt“-Programm werden Schüler und Schülerinnen für das Thema „Stärke und Gewalt“ sensibilisiert. Die Unterrichtsreihe zu Beginn des Programms beschäftigt sich inhaltlich mit dem Thema. Mit dem „Heidelberger Kompetenz-Training“ werden gezielt Empathiefähigkeit und Wahrnehmung trainiert. In der Projektwoche geht es für jeden Jugendlichen darum, auch die anderen in ihrem Sein, ihrem Können und Nichtkönnen, mit ihren Bedürfnissen und Talenten anzuerkennen und einen Weg zu finden, sich selbst positiv einzubringen. Ferner werden die SchülerInnen herausgefordert, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken und so im Umgang mit dem anderen sensibler zu werden. Aus langjähriger Erfahrung wissen wir, dass gerade diese Momente der wechselseitigen Wertschätzung besonders herausfordernd sind und eine neue Dimension des Miterlebens des anderen ermöglichen. StarkmacherSchule lässt SchülerInnen Anerkennung und Selbstwerterhöhung erfahren Der Einzelne erlebt Anerkennung und lernt, sie auch für andere Jugendliche zu empfinden und auszudrücken. Jugendliche erfahren, dass sie für die anderen wichtig sind. Die eigenen Fähigkeiten bekommen Wert. Die Zusammenarbeit in den Workshops setzt voraus, dass sich jeder dem anderen

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zuwendet. Der Einzelne wird als Teil des Ganzen wichtig und ist unverzichtbar. So erleben die Jugendlichen ihre eigene Stärke neu. Die Profikünstler von Gen Rosso und auch die Lehrkräfte, die Workshops anbieten, nehmen jeden Einzelnen in den Prozess der Workshoparbeit hinein, erkennen kreative Vorschläge an und fordern aktives Tun im Sinne der Stärkenaktivierung. Der Jugendliche erlebt sich dadurch als angenommen und wertgeschätzt. StarkmacherSchule fördert Anerkennung und Angenommensein in Gemeinschaft Niemand kann sich aussuchen, mit wem er am Ende auf der Bühne steht. Hineingestellt in ein Team, erlebt jeder die Notwendigkeit, sich dem anderen zuzuwenden, und erfährt, wie andere sich auch ihm zuwenden. Diese neuen Erfahrungen und Entdeckungen der anderen brechen alte Handlungsstrategien auf. Zudem ist es für alle Beteiligten eine zutiefst positive Erfahrung, dass sich Profis auf Schülerinnen und Schüler einlassen und mit ihnen Neues gestalten mit Ergebnissen, die nicht planbar sind. Gemäß ihren Fähigkeiten und Talenten wird im Miteinander etwas Neues kreiert. So erleben die Jugendlichen, wie sie als Gemeinschaft Leben gestalten. Sich in der Gruppe als einen wichtigen Teil zu erleben und im positiven Sinne vom anderen abhängig zu sein, stärkt die Jugendlichen. Ist oft der Einzelne mit der von ihm angestrebten Rolle überfordert, so kann er sich hier gemäß seinen Fähigkeiten einsetzen und die anderen als für ihn notwendig und stützend erleben. Die Andersartigkeit wird als Reichtum erfahren und der Einzelne fühlt sich in der Geborgenheit der Gemeinschaft sicher und stark. Teamfähigkeit wird gestärkt. StarkmacherSchule unterstützt positive Konfliktlösung, Positionierung und Prosozialität Eine dreitägige gemeinsame intensive Arbeitszeit läuft nie ohne Konfliktmomente ab. Situationen, in denen man alles hinwerfen möchte, in denen es gegen die eigenen Wünsche und über die eigenen Kräfte oder gefühlsmäßige Motivation hinausgeht, sind nach Erfahrung aller im Team von „StarkmacherSchule“ unvermeidlich, ja man wartet sogar darauf. Gerade der gemeinsame Start zu Beginn der einzelnen Tage, die Aufforderung, bis zum Ende mitzuarbeiten und aufeinander zu achten, wird zur Chance, nachhaltige positive Konfliktlösungsmomente zu erleben. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Musical, insbesondere mit dem Handeln von Charles und Jordan, den Hauptfiguren des Musicals, die sich dem Konflikt stellen, sich


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positionieren und bewusst handeln, wird hier miteinander ins gemeinsame konkrete Leben übersetzt und übertragen. Ferner wird in der abschließenden Unterrichtsreihe mit den SchülerInnen die Positionierung in Alltagssituationen eingeübt. Diese Positionierung dient der Orientierung und Ausbildung von Werten. Ein wichtiger Aspekt ist, dass auch Charles und Jordan in der Musical-Story Freunde hatten, mit denen sie ihre Gedanken teilen und diskutieren konnten, um zu einer Position zu kommen, die ihren Werten entsprach. Die Weitergabe der gewonnenen Erkenntnisse ist eine wichtige Aufgabe eines jeden Menschen, um sich in konkreten Situationen für den Mitmenschen einzusetzen.

STARKMACHERSCHULE WILL ERLEBEN SCHAFFEN Wir setzen unseren Methodenschwerpunkt auf emotionale Erfahrungen. Wir möchten bewusst ein Zusammenspiel zwischen intellektuellen und emotionalen Erfahrungen ermöglichen und dabei sowohl das sogenannte Intentionsgedächtnis sowie das Extentionsgedächtnis aktivieren. Das Intentionsgedächtnis ist für die bewussten, logisch-analytischen Denkprozesse zuständig; in ihm werden Pläne und Absichten gespeichert und geplante Handlungsschritte vorbereitet. Das Extentionsgedächtnis umfasst dagegen das ausgedehnte assoziative Netzwerk, das alle biografischen Erfahrungen, Bedürfnisse, Normen und Ziele einer Person enthält. Beim Extentionsgedächtnis handelt es sich um ein hochintelligentes System, das für alle menschlichen Handlungs- und Entscheidungsprozesse unabdingbar ist. Da in der Gesellschaft das Intentionsgedächtnis meist im Vordergrund steht und geschult wird, setzt StarkmacherSchule den Schwerpunkt auf emotionale Erfahrungen, um eine Ergänzung zum klassischen leistungsorientierten Schulalltag zu gewährleisten.

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STARKMACHERSCHULE EIN GANZHEITLICHES KONZEPT FÜR SCHULEN UND JUGENDEINRICHTUNGEN

Andrea Fleming ist freie Journalistin in München und betreut seit vielen Jahren die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Starkmachers. Als Redaktionsleitung dieses Buches gibt sie einen Überblick über das gesamte Projekt mit den wichtigsten Bausteinen.

„StarkmacherSchule“ ist ein Projekt zur Schulentwicklung mit dem Ziel, Schulen zu unterstützen und zu fördern. Es begleitet Lehrer, aber vor allem Schüler dabei, ihre individuellen Stärken und Talente noch besser zu entwickeln und für ihr berufliches wie privates Leben nutzbar zu machen. Dabei ist besonders der Übergang Schule-Beruf im Blickpunkt, bei dem das Projekt durch ganzheitliche Persönlichkeitsstärkung und Coaching eine Ergänzung zur klassischen Schulbildung darstellt. Drei Teilprojekte bilden dabei zusammen einen ganzheitlichen Ansatz, der die emotionale wie kognitive Ebene anspricht und trainiert. » Teilprojekt 1: das Heidelberger Kompetenz-Training » Teilprojekt 2: die Projektwoche „Stark ohne Gewalt“ » Teilprojekt 3: Schulvernetzung, starke Schule – starke Partner Ziel von StarkmacherSchule ist es, das Netzwerk Schule zu stärken und sowohl Lehrer wie auch Jugendliche zu befähigen, ihre Stärken und interkulturellen Fähigkeiten zu erkennen und nutzbar zu machen und besonders in Situationen von Stress und Druck darauf zurückgreifen zu können. Gleichzeitig werden dem System Schule Methoden und Inhalte zum ressourcen-


orientiertem Arbeiten vorgestellt und umgesetzt, um Einrichtungen im Prozess zu einer „Schule, die stark macht“ zu begleiten. Damit wird der Übergang von der Schule in die Berufswelt verantwortungsvoll unterstützt und erleichtert. Das Projekt ist bewusst in multikulturellen und sozial schwachen Jugend-Milieus angesiedelt: in Berufs-, Förder-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen und bei Trägern der Jugendhilfe. Denn gerade benachteiligte Jugendliche sind oft nicht nur formal schlecht qualifiziert, sondern haben nicht selten erhebliche Defizite in den Schlüsselkompetenzen. Das führt zu denkbar schlechten Startchancen im Berufsleben! Als Ergänzung zum klassischen Schulalltag setzt das Projekt bei den emotionalen Kompetenzen an: Benachteiligte Jugendliche werden in ihrer persönlichen Entfaltung und Entwicklung gefördert, sie lernen, sich sozial einzugliedern, aktiven Bürgersinn zu entwickeln und finden leichter den Weg in die Beschäftigung.

STARKMACHER SCHULE – DIE TEILPROJEKTE 1. Das Heidelberger Kompetenz-Training (HKT) Das Heidelberger Kompetenz-Training zur Entwicklung mentaler Stärke wurde mit dem Ziel entwickelt, Menschen zu befähigen, Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Auf dem Weg zu diesem Ziel folgt der HKT-Prozess vier Schritten: » Ziele nach Zielkriterien exakt formulieren und die Zielerreichung mental erleben können. » Die Zugangswege zur Konzentration kennen und sich konzentrieren können.

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» Seine Stärken kennen und diese bewusst aktivieren können. » Lösungsstrategien für mögliche Störungen formulieren und Möglichkeiten der mentalen Abschirmung anwenden können. Das Training führt dabei zum Aufbau einer positiven Problemlösehaltung und stärkt die Überzeugung, aus eigener Kraft seine Ziele zu erreichen. Zunächst werden ein Team von Lehrern und später auch ausgewählte Klassen gecoacht und in der Anwendung des HKTs geschult. Ziel ist es, an jeder Schule Multiplikatoren einzuweisen, die dann die erlernten Techniken innerhalb der Schule weitergeben können. Die Musical-Projektwoche ist ein ideales Trainingsfeld, um die eigene mentale Stärke unter Beweis zu stellen. Nach der Projektwoche geht es in der Phase der Ressourcenübertragung darum, die erlernten Kompetenzen auf den Alltag und den zukünftigen Berufsweg zu übertragen.

2. Die Projektwoche „Stark ohne Gewalt“ Idee und Ziele Kern der Projektphase, die an jedem Standort gemeinsam mit Schülern und Lehrern durchgeführt wird, ist die Aufführung eines Musicals mit dem Titel „Streetlight“ in Zusammenarbeit mit der internationalen Band Gen Rosso. Es erzählt die wahre Geschichte von Charles Moats, einem jungen Afroamerikaner, der im Chicagoer Ghetto Ende der 60er-Jahre zwischen die Fronten eines Bandenkriegs gerät und sich entscheidet, auf Gewalt zu verzichten. Auch wenn er selbst sein Leben nicht retten kann, markiert sein Schritt einen Wendepunkt in der Geschichte, und Charles durchbricht eine gefährliche Spirale. Zusammen mit der Profiband Gen Rosso erarbeiten bis zu 250 Schüler eine Woche lang das Musical „Streetlight“. Im Kontext Schule bekommen sie die Möglichkeit, Talente zu entdecken und gemeinsam auf einer großen Bühne einem breiten Publikum zu präsentieren. Durch Arbeit am Musical, den Kontakt zu den Profikünstlern aus verschiedenen Länder der Welt und die Teamarbeit mit Mitschülern anderer Klassen, erleben die Schüler, wie ihr Selbstwertgefühl gestärkt wird; sie lernen, bisherige Grenzen zu überwinden, und entdecken sich als Team. Das berührt sie auf einer emotionalen, aber auch


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kognitiven Ebene und stärkt sie nachhaltig im Leben, in der Schule und auch für das Berufsleben. Ziel ist es, den Jugendlichen zu zeigen, dass sie eigene Stärken haben und dass es tatsächlich Handlungsmöglichkeiten gibt, um auch einer unterschwellig aggressiven Atmosphäre im Klassenverband und im Freundeskreis entgegenzuwirken, Position zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen.

3. Starke Schule – Starke Partner: Netzwerkarbeit Nicht nur Schüler und Lehrer, auch die Schule als Ganzes soll gestärkt werden. Es geht darum, die Stärken der Schule und ihre Netzwerke zu analysieren und auszubauen. Außerdem sollen Synergieeffekte für einen gelungenen Übergang von der Schule ins Ausbildungs- und Berufsleben bewusst gemacht oder geschaffen werden. Dazu wird gezielt die Wirksamkeit der Musicalauftritte genutzt, um Firmen und Ausbildungsstellen für die Stärken zukünftiger Auszubildender zu sensibilisieren. Zudem werden im Rahmen von „Starke Schule – Starke Partner“ nationale und internationale Kongresse organisiert, bei denen die Möglichkeit besteht, sich mit weiteren Partnern und andern Schulen auszutauschen und zu vernetzen. So wurden im Laufe des Projekts beispielsweise ein Fachkongress mit Vertretern aus den Kollegien, ein Ehrenamtskongress und ein Expertenkongress organisiert, um den verschiedenen Akteuren eine Plattform zum Austausch zu bieten.

PROJEKTABLAUF Der Ablauf ist an allen Standorten ähnlich: » Multiplikatorentraining von Vertretern der Schulkollegien mit der Methode des Heidelberger Kompetenz-Trainings » Planungstreffen zur Bildung eines Vernetzungsteams im Kollegium » Lehrerfachtagung mit Informationen zum Projekt und seinen Hintergründen

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» etwa sechs bis acht Wochen inhaltliche Vorbereitung der Schüler im Unterricht – auch fächer- und jahrgangsübergreifend. Die Themen: Empathie, Toleranz und gegenseitige Wertschätzung, Entwicklung und Einsatz eigener Kompetenzen » und Fähigkeiten sowie die Auseinandersetzung mit Stärke und Gewalt » Projektwoche mit der internationalen Band Gen Rosso an der Schule » Workshops mit den Musikern und mit Lehrern » Aufführung des Musicals „Streetlight“ » Feedbackrunde mit Schülern und Lehrern und Vertretern von Gen Rosso und den Projektpartnern » Nachbereitung im Unterricht mit dem Schwerpunkt auf prosozialem Handeln und der Stärkung der eigenen Positionierung » „runder Tisch“, um Schüler und Ausbildungsstellen in Dialog zu bringen » Training der Abschlussklassen mit dem Heidelberger Kompetenz-Training und anschließend Ressourcenübertragung » „Soziales Seminar“ wird als Blockseminar an ausgewählten Schulstandorten angeboten » Selbstverpflichtung der Schule durch Entwicklung eines Konzepts als StarkmacherSchule, in dem die Implementierung bzw. Umsetzung des ressourcenorientierten Ansatzes sichtbar wird » Verleihung einer Plakette zur StarkmacherSchule » Vernetzung der StarkmacherSchulen auf nationaler Ebene


WENN LEHRER IHRE STÄRKEN ENTDECKEN … LEHRERFACHTAGUNGEN VON STARKMACHERSCHULE Zum Einstieg in das Projekt findet etwa 12 bis acht Wochen vor der Projektwoche in der Schule für das Kollegium eine ein- oder zweitägige Fachtagung statt, die von erfahrenen Team-Mitgliedern des STARKMACHER e.V. geleitet wird. Das Projekt, sein Ablauf, die pädagogischen Methoden und das Unterrichtsmaterial werden vorgestellt. Anschließend haben die Lehrkräfte die Möglichkeit, selbst in Workshops – wie beispielsweise Tanz, Film, Theater oder Ähnliches – zu arbeiten und die Ergebnisse dieser Teamarbeit am Ende der Tagung zu präsentieren. In den Workshops der Fachtagung erleben sich die Lehrerinnen und Lehrer in ganz neuen Rollen – daraus können sich unerwartete Teamerfahrungen ergeben. Zwei Beispiele:

FÜHRUNG, HALTUNG UND DIALOG BEGINNT IM HERZEN Mit Tango-Tanzen nonverbal kommunizieren lernen „Wer gehen kann, kann auch Tango tanzen!“ Mit diesen Worten gewinnt die Kölnerin Anja Stiel auch schon mal echte Tanzmuffel für ihren Tango-Workshop. Der „Tango argentino“, um den es bei ihr geht, wurde 2009 von der UNESCO als immaterielles Kulturgut ausgezeichnet und gehört seitdem zum Weltkulturerbe. Der Kontakt Eine wichtige Entdeckung machen die Teilnehmer gleich zu Beginn: Hier (wie auch sonst im Leben) steht und fällt alles mit dem Kontakt zum Partner. „Der Tango argentino gibt keine festen Schrittfolgen vor, alles läuft

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über die Kommunikation zwischen den Tanzpartnern. Wichtig dabei sind eine aufrechte Körperhaltung und die Bereitschaft, das eigene Herz zu öffnen. Äußerlich drückt sich das meist aus im tiefen Einatmen, im Zurücknehmen der Schultern und dem Öffnen des Brustkorbs“, erklärt Anja Stiel ihren Schülern. Die Klarheit – das Gehen Außerdem charakterisiert den Tango ein sehr entschiedenes, zielstrebiges Gehen, eine große Klarheit. Die Teilnehmer finden sehr schnell die unterschiedlichen Nuancen beim Führen und Folgen heraus und haben in ersten kleinen Übungstänzen Gelegenheit, das auszuprobieren. Die Partner wechseln zwischen Führen und Folgen und lernen dabei, dass es um die Qualität des Kontaktes geht, nicht darum, wer besser führt oder folgt. Lerneffekte Wichtige Erkenntnisse dabei sind: Es braucht nur wenig Technik, ein großes Herz und Offenheit, damit der Partner folgt. Doch ohne klare Signale funktioniert es nicht: Wer sich versteckt, verunsichert auch das Gegenüber. Die Übertragung auf den Unterricht liegt nahe: Damit Schüler der Lehrkraft folgen, muss klar sein, wo es hingeht. Und der Tanz lehrt: Das funktioniert sehr gut mit viel Herz, aber nie mit Macht und Druck! Übung macht den Meister und ... Lust auf mehr! Wenn diese Grunderkenntnisse im Herzen angekommen sind, geht es eigentlich nur noch darum, den Blick zu weiten: Von sich selbst auf den Partner, dann auf die anderen Paare. Die Paare lernen, die Tanzfläche einzuschätzen, und nehmen die Musik als allumfassendes Element wahr, in das sie eintauchen können und das sie mit allen verbindet.


>> WENN LEHRER IHRE STÄRKEN ENTDECKEN …

Die Lehrer schätzen die Wertschätzung und Anerkennung, mit der Anja Stiel Rückmeldung gibt. Sie rückt Stärken und Gelungenes ins Licht und gibt konstruktive Tipps, was verändert werden kann, damit es einfacher wird. Die Lehrer finden sich mehr oder weniger bewusst in der Rolle der Schüler wieder und erleben, wie gut Wertschätzung und Anerkennung tut. Sie erleben selbst, wie sich dadurch Lernräume eröffnen, in denen mit Liebe und Lust gelernt wird. Fast immer verlassen die Teilnehmer mit einem tief entspannten, breiten Lächeln den Raum, sind gelöst und ausgeglichen. „Mein schönstes Feedback gab mir eine Lehrerin des StarkmacherSchule-Projektes nach dem Workshop“, erzählt Anja Stiel. Die Frau habe ihr am Schluss gesagt: „Mein Herz war schon richtig vernagelt, jetzt kann ich es wieder spüren!“

DEN CLOWN IN SICH ENTDECKEN Olav Keith ist Clown. Von Beruf. Seit 15 Jahren spielt er beim „Cirque Artikuss“, leitet die Initiative mit einem Partner. Bei den Lehrerfachtagungen der StarkmacherSchule bietet er einen Clownworkshop an. „Wir haben eine Grundregel in der Arbeit als Clowns: Wir sind alle gleich, wir begegnen einander und dem Publikum auf Augenhöhe“, erklärt der Wahl-Berliner. In der konkreten Workshop-Praxis heißt das: Man duzt sich. Hier zählt nicht, wer Chef, Abteilungsleiter oder Fachlehrer ist. Nach ein paar Theater-Spielen und Übungen, um sich kennenzulernen und warm zu werden, geht es im zweiten Teil darum, sich selbst und die anderen Mitspieler bewusst wahrzunehmen, sensibel zu werden für den eigenen Körper und sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Olav Keith lässt seine Schüler dann ihre „Geburt“ als Clown erleben: Jeder Teilnehmer bekommt eine rote Nase und entdeckt die Welt wie zum ersten Mal. Erste kleine Improvisationen geben Gelegenheit, mit den anderen in Kontakt zu treten und kleine Szenen als Clown umzusetzen. Schließlich wird ein gemeinsames Stück erarbeitet und den anderen Kollegen vorgespielt. Im Clownworkshop geht es nicht um pädagogische Konzepte, um Ziele, die zu erreichen sind oder didaktische Wege dahin. „Hier muss jeder ins kalte

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Wasser springen“, sagt Olav Keith. „Die rote Nase ist dabei ein kleines, aber sehr wichtiges Utensil. Wir machen den Teilnehmern Mut, den Clown in sich zu entdecken. Die Lehrkräfte haben hier die Chance, in eine andere Rolle zu schlüpfen und so manche Maske fallen zu lassen. Olav Keith nennt das „aus dem Inneren schöpfen“. Er stellt fest, dass spontanes und damit authentisches Herumprobieren und Improvisieren – mit allen Fehlern und Schwächen, die das beinhaltet – besser beim Publikum ankommt als künstlich aufgesetzte Unbeholfenheit oder Tolpatschigkeit. Der Clown wird dadurch sympathisch und liebenswert, dass er seine Schwächen zeigen kann. Die Lehrkräfte erleben, wie gut es tut, wenn sie Menschen um sich haben, die mit Wohlwollen auf das eigene Tun blicken, die mitlachen statt auslachen. Und der feine Unterschied zwischen Schadenfreude und echter Lebensfreude ist offensichtlich, den muss man nicht mit Worten erklären. Diese Grundhaltung können die Lehrkräfte unmittelbar auf ihre Arbeit mit den Schülern übertragen. Sie bildet die Basis für die Arbeit in den Projektworkshops, bei denen sich die Lehrer mit eigenen Ideen und Angeboten einbringen.


START IM UNTERRICHT SCHULINTERNE VORBEREITUNG

Die Vorbereitungsphase Die Lehrer bereiten die Projektwoche bereits über mehrere Wochen in ihrem Unterricht thematisch und inhaltlich mit ihren Schülern vor. Dafür steht ihnen eine umfangreiche, stetig wachsende Sammlung an erprobtem Unterrichtsmaterial zur Verfügung. In dieser Phase können interessierte Lehrer eigene Ideen für Workshops und Aktionen entwickeln, die sie während der Projektwoche anbieten. Neben den Workshops der verschiedenen Bandmitglieder von Gen Rosso ergänzen sie das Angebot für die Schüler. Andere sorgen im Rahmen der Projekttage als Ansprechpartner für die Musiker und Techniker, als Übersetzer und in der Organisation für einen möglichst reibungslosen Ablauf innerhalb der Schule.

Der Unterricht Die Themen Stärke, Verantwortung und soziales Handeln lassen sich in nahezu jedem Fach aufgreifen. Den Ideen der Lehrer sind keine Grenzen gesetzt. Das dabei gesammelte Material steht allen Schulen zur Verfügung. Es enthält neben einem Handbuch und Kopiervorlagen auch alle Musical-Texte auf Englisch und Deutsch, Noten, Musik und Filmmaterial und vieles mehr. Für die fächerübergreifende Vorbereitung im Unterricht hat sich ein Zeitraum von etwa zwei Monaten bewährt. Dieser inhaltlichen Arbeit in den Klassen geht die Lehrerfachtagung voraus. Die verfügbaren Arbeitsmaterialien enthalten Gestaltungsvorschläge und Arbeitsblätter zu folgenden Bausteinen: Vorstellung des Musicals, Lebensperspektiven und Träume, Empathie, Aggression/Gewalt/Stärke, prosoziales Verhalten und Positionierung.

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„WIR WISSEN, DASS SIE ES KÖNNEN“ PROTOKOLL EINER PROJEKTWOCHE

Katharina Messmann und Teresa Parlasca sind Koordinatorinnen der Projektwochen von StarkmacherSchule. Immer wieder stehen sie auf der Bühne, um ganze Schulen zu motivieren, sind Brücke in der Kommunikation zwischen Gen Rosso, den Projektpartnern, den Schülern und Lehrern. In einer Art Tagebuch erzählen sie von Eindrücken aus den schon oft zitierten Projektwochen der StarkmacherSchule.

Menschen stark machen und ihre Talente zum Strahlen bringen, indem wir ihnen Großes zutrauen und auch zumuten, weil wir wissen, dass sie es können – das gilt nicht nur für die Jugendlichen, das gilt auch für jedes Mitglied im Starkmacher-Team, und zwar jede Woche neu.


Sonntag: Es ist der vierte Sonntag im November. Heute beginnt die fünfte und letzte Projektwoche „Stark ohne Gewalt“ in diesem Herbst. Früh morgens geht es los am Starkmacher-Büro in Mannheim. Im Bulli sitzt schon unser Starkmacher-Team, gutgelaunt und neugierig-vorfreudig geht's los in Richtung Projektstandort. Meine Rolle ist die der Gesamtleitung, und somit bin ich das Bindeglied zwischen der Band Gen Rosso, der Schule, der Halle und allen weiteren Partnern. Seit Beginn der Projektplanung an diesem Standort waren wir mit den unterschiedlichsten Leuten in Kontakt, haben nicht nur Hallen für die Bühne vermessen und Genehmigungen von Ämtern, Sicherheitsbehörden und Erziehungsberechtigten eingeholt, sondern uns vor allem mit einer ganzen Schule, SchülerInnen wie LehrerInnen auf den Weg gemacht, ein Schulklima zu schaffen, das Stärken hervorhebt und Großes zutraut und die Beziehungen in den Mittelpunkt stellt. Jetzt geht es ins Finale: Am Ende dieser Woche wird das Musical „Streetlight“ aufgeführt. Im Hotel angekommen, setzen wir uns mit dem Team zusammen. Ich bin wieder einmal beeindruckt von der Vielfalt unserer Teamer, die aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten zu uns gestoßen sind. Die meisten sind Studenten, eine Lehramtsanwärterin, ein Chemiestudent, der gerade aus seinem Laborsemester kommt und sogar ein IT-Unternehmensberater, der sich extra für diese Projektwoche Urlaub genommen hat. Sie alle stellen eine Woche ihrer Freizeit ehrenamtlich zur Verfügung, um hier für die Schüler und Gen Rosso unterstützend da zu sein und anzupacken, wo es nötig ist. Gemeinsam steigen wir in die konkrete Vorbereitung auf die Projektwoche ein:

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Wir gehen noch einmal die Übersetzer-Regeln durch, ich verdeutliche die Wichtigkeit unserer Haltung als Team, erkläre, dass unsere Aufgaben vielfältig sind (übersetzen, Bühne aufbauen, Plakate aufhängen, Stand betreuen), und wir gehen noch einmal den Zeitplan und die Sicherheitsbestimmungen durch. Am Ende des Treffens ist die Stimmung voller Vorfreude. Für 20 Uhr haben wir die Lehrkräfte in unser Hotel eingeladen, um gemeinsam in das Abenteuer zu starten. Sie sind pünktlich da. Die Schulleiterin und ein paar LehrerInnen sind gekommen. Neugierig sind sie alle, manche vorfreudig, manche skeptisch. Bis zuletzt haben sie sich sehr reinhängen müssen, Überstunden und Nerven investiert, um alles zu organisieren, KollegInnen und SchülerInnen zu motivieren und rechtzeitig fertig zu werden. Und sie alle haben die große Frage: Werden wir das wirklich schaffen? An zwei Vormittagen ein so großes Musical auf die Beine zu stellen? Deshalb ist es gut, an diesem Sonntag in ungezwungener Runde die Möglichkeit zu haben, dass Lehrer, Gen Rosso und Starkmacher sich kennenlernen können. Die Schüler haben sehr feinfühlige Antennen für die Stimmung unter uns und beobachten uns genau. Ein positives Klima unter uns führt direkt zu einem positiven Gesamtklima an der Schule, und natürlich macht eine freundliche Atmosphäre die Woche doppelt so schön! Die Vertreter der Schule, Gen Rosso und unser Team stellen sich vor. Valerio von Gen Rosso fragt die Schulleiterin, wie sie denn der Woche jetzt entgegenblickt. „Das Starkmacher-Team hat mir ein Wunder versprochen,“ sagt sie freundlich. „Darauf verlasse ich mich und bin gespannt, wie das passieren soll.“ Dunkel erinnere ich mich, das mal gesagt zu haben. Habe ich zu viel versprochen? Wenn ich mich in dieser Runde hier umsehe, all diese engagierten und offenen Menschen sehe, habe ich die leise Ahnung, nein, ich bin mir sicher: Diese Woche wird Wunder-voll werden! Der Spanisch-Lehrer unterhält sich fasziniert und munter


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mit Emanuele und die Schulleiterin überrascht mich mit ihrem ziemlich guten Urlaubs-Italienisch. Der Montag kann kommen! Montag: Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg zur Schule. Im Starkmacher-Bulli läuft Musik und das Team ist freudig aufgeregt – für einige ist es die erste Erfahrung als Übersetzer. Wir fahren auf den Schulhof und packen aus. Die Teamer gehen in die Halle, um die Plakate mit dem heutigen Tagesmotto aufzuhängen, Gen Rosso überprüft noch schnell die Technik, ich lasse mir unseren Aufenthalts- und Pausenraum zeigen. Er ist liebevoll dekoriert und sogar der Kaffee und einige Brezeln sind schon da. Als ich den Schulhof überquere, um zur Turnhalle zu kommen, sind schon viele jüngere Schüler da, die sich vor der Eingangstür drängeln und schubsen. Ein paar Gruppen Größerer stehen betont cool in einiger Entfernung und verschränken die Arme. „Ich hab überhaupt keinen Bock auf diese Scheiß-Aktion“, motzt einer, und ich muss lächeln. Ein typischer Projektmontag. „Einen wunderschönen guten Morgen und herzlich willkommen zum Projekt StarkmacherSchule“, schmettere ich euphorisch (viel euphorischer, als ich mich fühle) ins Mikro. „Seid ihr schon wach?“ „Nööööö!“, schallt es mir entgegen. Darauf bin ich vorbereitet: „Das werden wir jetzt schnell ändern, wir haben nämlich Großes mit euch vor! Nur zwei Tage Workshop, und am Mittwoch steht ihr bereits auf einer großen Bühne vor 1000 Leuten, um eure Talente zu zeigen!“ Ein Raunen geht durch die Runde: Sich vor 1000 Leuten auf einer Bühne zu zeigen, mit irgendwelchen Liedern und Tänzen, die sie gar nicht kennen … Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Dann kommt Gen Rosso mit einem Hip-Hop zu laut aufgedrehter Musik. Ich schaue in die Gesichter der Schüler. Sie warten ab, was passiert, aber ein bisschen cool finden sie es doch, und den meisten sieht man eine kleine Erleichterung an. Als die Band sich und ihre Aufgaben dann vorstellt, jubeln schon einige Schüler, als ihr Workshop genannt wird. Wir stellen das Montags-Motto „Don’t stop giving“ vor, und der Brasilianer Adelson

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erzählt den Schülern eine Erfahrung aus seinem Leben dazu. Wie immer bin ich erstaunt über die plötzliche Stille. Gebannt hören die Schüler zu. „Jeder hat etwas zu geben“, schließt Adelson seine Geschichte, „ihr könnt eure Freundschaft geben, ein nettes Wort, oder eure Hilfe, wenn jemand anders den Tanzschritt noch nicht verstanden hat. Versucht das in eurem Workshop heute mal umzusetzen!“ Diese Aufforderung gilt auch für mich und das Starkmacher-Team. Die Schüler haben schon vor der Projektwoche ihre Workshops gewählt. Einige werden direkt ins Musical eingebunden sein und tanzen, singen oder schauspielern, andere gestalten das Bühnenbild, sorgen für das Catering oder dokumentieren die ganze Woche mit Film und Foto. Und auch von einigen LehrerInnen gibt es tolle Angebote für die Schüler: Aikido, Reiten oder Trommeln. Als alle in den Workshops verschwunden sind, gehe ich in den Aufenthaltsraum. Ein paar Workshopleiter haben im Eifer des Gefechts ihre Schlüsselbänder und die Mottokarten liegen lassen und so gehe ich los, um die Workshops zu besuchen und sie ihnen vorbeizubringen. Nach einer halben Stunde kommt der Hausmeister der Turnhalle, den ich von der Hallenbesichtigung wiedererkenne, im Schlepptau die Schulleiterin mit besorgtem Gesichtsaudruck. „Diese Gen Rossos haben einen Riesen-Vorhang, der als Hintergrund-Bühnenbild aufgehängt werden soll. Das war so nicht abgesprochen! Ich weiß nicht, ob das Material feuerfest ist und wenn die Kontrolle kommt, gibt’s Ärger!“ Ich kann ihn beruhigen, unser Vorhang ist aus schwer entflammbaren Material. Die Schulleiterin wirft mir einen erleichterten Blick zu. Der Hausmeister zieht wieder ab – noch recht skeptisch. Beni von Gen Rosso kommt strahlend aus seinem Orchester-Workshop in die Pause. Er erzählt von einem Jungen, der eine Schalmei mitgebracht hat. Beni will jetzt die Pause nutzen, um schnell eine eigene kleine Partitur für diesen Jungen mit seinem außergewöhnlichen Instrument zu schreiben. Als ich die Übersetzer frage, wie es ihnen geht, sagt eine, sie habe im Vorfeld einige Befürchtungen gehabt. Sie habe noch nie übersetzt und hatte Sorge, an ihre Grenzen zu kommen. „Manchmal habe ich interessiert


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zugehört, bis Dennis mich anschaute und ich merkte, ich muss übersetzen! Dann musste ich noch mal nachfragen. Aber es macht viel Spaß und die Stimmung ist gut.“ Als es zwischendurch zu unruhig wurde, habe Workshopleiter Dennis innegehalten und eine ernste Ansprache über Respekt gehalten. Das hat Wirkung gezeigt, die Schüler fühlen sich ernst genommen. Im Workshop „Brasilianischer Tanz“ von Adelson läuft es wie immer recht turbulent. Die Schüler sind laut, aber sie lernen, er motiviert sie und sie machen ihre Sache toll. Und Adelson selbst lässt sich von der Lautstärke überhaupt nicht stressen. In der Arbeit mit der interkulturellen Band Gen Rosso erlebe ich immer wieder die Vielfalt der Persönlichkeiten, der Methoden und Gewohnheiten. Sich darauf einzulassen, bedeutet immer auch ein Weiterkommen und die eigenen Grenzen zu überwinden. Um 12:30 Uhr sind die Workshops zu Ende und alle Lehrer, Teamer und Gen Rosso treffen sich zu einem Feedback in der Aula. Die Aufsichts-Lehrerin aus dem Schauspielworkshop ist begeistert. „Am Anfang waren alle schüchtern und skeptisch, aber der Workshopleiter hat sie so gut motiviert. Sie sind richtig kreativ geworden, haben eigene Szenen entwickelt und kommen gut voran. Ich glaube, sie freuen sich alle auf morgen.“ Auch aus dem Hip-Hop-Workshop kommt eine positive Rückmeldung. Der Lehrer ist beeindruckt vom Durchhaltevermögen seiner Schüler und von ihrem Können. Und Ponsiano, der Workshopleiter, ergänzt: „Das ist eine tolle Truppe und sie leben das Motto. Heute Nachmittag treffen sich eine Achtklässlerin und zwei Zehntklässlerinnen. Die Jüngere kann schon alle Schritte und gibt jetzt den Größeren Nachhilfe.“ Als die Lehrer erfahren, wer diese Achtklässlerin ist, sind sie erstaunt. Dieses Mädchen ist im ganzen Kollegium bekannt für seine Verhaltensauffälligkeit und das Stören im Unterricht. Dienstag: Es ist ein verregneter Novembermorgen, und wir stapfen über die Pfützen hinweg vom Parkplatz in die Turnhalle zum gemeinsamen Start mit allen. Die Veränderung ist schon jetzt spürbar und nicht zu übersehen. Im Vergleich zu gestern sind die Schüler von den Hallenwänden abgerückt und sitzen nun mit Muskelkater, aber motiviert und erwartungsvoll in der Mitte der Halle. Um die Stimmung noch etwas zu steigern, macht Gen Rosso

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einen Aufwärm-Tanz, bei dem alle mitmachen müssen. Während meine Schultern im Takt wippen, sehe ich, dass auch die Lehrer mitmachen. Das ist ein schönes Bild. Heute ist das Motto „For one another“. Emanuele erzählt dazu persönliche Beispiele. Er zeigt den Schülern verschiedene Möglichkeiten auf, wie man im Alltag füreinander leben kann. Dann entlassen wir sie in die Workshops. Alle wissen: Jetzt wird es ernst! Der letzte Workshop-Tag. Beim Rausgehen höre ich eine Schülerin, die voller Angst zu ihrer Freundin sagt: „Das schaffen wir doch nie! Ich kann die Schritte noch gar nicht alle!“ Ich mache ihr Mut und sage, dass sie es auf jeden Fall schaffen werden, wenn sie nur als Team zusammenarbeiten. Das ist nicht so dahingesagt. Sie schaffen es immer. Dafür sorgt Gen Rosso, die ihre Choreografien anpassen an das Können der Schüler, aber die Schüler auch an ihre Grenzen bringen und darüber hinauspushen mit viel Zutrauen. Fehler dürfen gemacht werden, wie im echten Leben. Wichtig ist, dass man nicht stehen bleibt, sondern weitermacht. Ich gehe heute einmal durch alle Workshops und bin beeindruckt vom Können der Schüler. Die Lehrer fiebern mit in den Workshops, einige tanzen sogar mit. Lehrer und Schüler sind hier echt in einem Boot. Die Lehrer sprechen den Schülern Mut zu, feuern sie an und leiden mit, wenn es schwierig wird – und sie sind selber aufgeregt. Als wir später wieder in der Reflexionsrunde sitzen, werden sehr schöne Erlebnisse erzählt. Die Schüler haben sich noch einmal mehr angestrengt. Die Atmosphäre in der Schule ist ganz anders, überall strahlende Gesichter auf den Fluren. Die Gesichter der Lehrer zeigen Zufriedenheit. Alle freuen sich auf den großen Tag! Für uns ist der Dienstag noch nicht vorbei: Gen Rosso und das Team gehen in die Turnhalle, wo die aufgebaute Bühne steht. Die Workshops Sound und Light haben mit den Schülern zusammen die Tower hochgezogen, die Kulissen aufgebaut und die Lichter angebracht. An uns ist es jetzt, die Werke des Workshops Bühnengestaltung auf der Bühne unterzubringen, unsere Plakate aufzuhängen und den Verkaufs- und Info-Stand aufzubauen. Gen Rosso macht noch den Sound Check. Da kommt Ciro aufgeregt zu mir: „Kathi“, ruft er schon von weitem, „der Hausmeister sagt, wir dürfen die Bühnengestaltungswerke nicht auf der Bühne anbringen!“


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Ciro leitet den Workshop Bühnengestaltung, in dem die Schüler Pappkartons bemalen und vier große Stoffbahnen besprühen, die nachher auf der Bühne die Ghetto-Szene darstellen – ohne diese wäre die Bühne so gut wie gar nicht dekoriert. Ich suche den Hausmeister und finde ihn mit verschränkten Armen vor der Bühne. Er ist verärgert und erklärt mir, dass diese Bühnenelemente aus Pappe bei einem Brand definitiv eine Gefahr für die Schüler darstellten und somit auf keinen Fall auf die Bühne kämen. Ich sage ihm, dass die Schilder unbedingt auf die Bühne müssen, da sie von den Schülern selbst angefertigt wurden und die einzige Chance darstellen, dass etwas von diesen Schülern im Musical zu sehen ist. Er schüttelt, schon während ich rede, den Kopf. Ciro kommt dazu und redet mit Engelszungen auf den Mann ein. Er erzählt ihm von einem Schüler, der ganz stolz war, dass sein Vater kommt und sein Werk auf der Bühne sehen wird. Den Hausmeister berührt das und er macht uns ein Angebot. Wenn wir alle Schilder mit Feuerschutzspray behandeln, dürfen wir sie aufhängen. Eine Lehrerin bietet sich an, sofort in den Baumarkt zu fahren und das Spray zu besorgen. Dankbar stimme ich zu. Unsere Projektwochen funktionieren immer nur, weil alle Beteiligten alles geben. Ich gehe mich beim Hausmeister bedanken. Am Abend hängen die Schilder auf der Bühne, die Plakate an den Wänden, der Sound ist gecheckt und alles ist bereit für den großen Tag. Heute fallen alle früh ins Bett. Starkmachen kostet Kraft. Mittwoch: Heute ist der große Tag, aber bis zur Aufführung ist noch ein gutes Stück zu schaffen. Den ganzen Tag über werden die SchülerInnen kommen, jeweils in Workshop-Gruppen unterteilt, und circa eine Stunde Probezeit auf der Bühne haben.

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Der erste Workshop erscheint pünktlich. Im Eingang werden die Jugendlichen langsamer und starren ehrfürchtig die Bühne an. „Wooooow“, entfährt es einem – mit so einer großen Bühne hatten sie nicht gerechnet. Die Bühne ist 14 m breit und 8 m tief, 7 m hoch ragen die Türme bis unter die Decke. Scheinwerfer, Riesenboxen, ein Mischpult mit unzähligen Knöpfen und durch das Mikro schallt Benis Stimme: „Herzlich willkommen dem Theaterworkshop! Kommt gleich nach vorne, ihr seid sofort dran!“ Die Schüler erschaudern und bewegen sich zögerlich auf die Bühne zu. Die Lehrerin schiebt von hinten, und von vorne kommt ihnen unsere stolze Übersetzerin entgegen und nimmt ihren „verrückten Haufen“, wie sie ihn liebevoll nennt, überschwänglich in Empfang. Als dann noch Joseph von Gen Rosso kommt und gut gelaunt High-Fives verteilt, entspannen sich die Schüler sichtlich. „Hey! No worries“, sagt er ihnen, „You’re gonna be great. Keine Angst. Ihr seid super!“ Die Schüler folgen ihm auf die große Bühne. Darauf wird so konzentriert gearbeitet, dass sie das Lampenfieber schnell vergessen. Während sie noch proben, kommt schon die nächste Gruppe und setzt sich erstmal auf ihre Plätze. Staunend beobachten sie das Können ihrer Mitschüler, und als diese fertig sind, klatschen sie begeistert. Und schon sind sie selbst dran. Die Übersetzer und Aufsichtslehrer machen den Schülern Mut, helfen ihnen bei schwierigen Schritten und sitzen stolz im Publikum, wenn die Musik läuft und die Szene rollt. Die Proben laufen gut. Die Schüler geben ihr Bestes und die Lehrer kommen aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Am Nachmittag ziehe ich mich zurück um die Moderation für den Abend zu planen. Plötzlich geht die Tür auf und ein Teamer kommt herein. Die Feuerwehr sei da wegen der Sicherheit der Bühne. Etwas nervös nähere ich mich von hinten der Gruppe, bei der auch schon der Hausmeister steht. Er redet und fuchtelt in Richtung Bühne. Endlich verstehe ich, was er sagt: „… die Pappe da, ja, die haben die Schüler gemacht. Ganz toll, wie das wirkt, ne? Ja, und wir haben die mit


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Feuerschutzspray behandelt und alles abgesichert, kein offenes Feuer auf der Bühne. Die Notausgänge sind frei und die Gangbreite ist eingehalten. Sollte so weit alles gut sein.“ Die Feuerwehrleute betrachten fasziniert die tanzenden Schüler auf der Bühne, und einer wendet sich kurz dem Hausmeister zu. Er klopft ihm auf die Schulter und sagt, das sähe doch alles sehr gut aus. Sogar Hausmeister gehen in so einer Woche über ihre Grenzen hinaus. In der Tat: Es werden alle gebraucht! Um 18 Uhr steht bereits eine lange Schlange von Gästen auf dem Parkplatz, der Einlass beginnt. Die Spannung ist spürbar, die Atmosphäre warm und wohlwollend. Auf der großen Leinwand laufen Bilder, die der Doku-Workshop während der ganzen Woche geschossen hat, und zeigen auch die Schüler, die nicht auf der Bühne sein werden. Jedes Bild erzählt von der harten Arbeit, die dahintersteckt, dem Mut der Schüler und dem großen Teamgeist. Und dann gehen die Lichter aus, in der Halle wird nur noch aufgeregt geflüstert, und dann dröhnt die Sound&Light-Show der Schüler mit wilden Soundeffekten und Disko-Lichtern los. Das Publikum jubelt. In einem bunten Vorprogramm präsentieren die Schulworkshops ihre Ergebnisse. Und das Publikum ist schwer beeindruckt von der Kreativität und Ausstrahlung der Schüler und Lehrer dort auf der Bühne. Nach einer kurzen Pause beginnt dann das Musical „Streetlight“. Die Schüler stehen neben Gen Rosso auf der Bühne – sie stehen ihnen in nichts nach. Immer wieder sehe ich aus den Augenwinkeln Schülergruppen aus dem Publikum hinter die Bühne schleichen, um dann als Musiker, Gangster, Schauspieler oder Tänzer im Musical mitzuwirken und die Szenen mit Leben zu füllen. Nach dem Auftritt kommen unsere Teamer ihnen entgegen, jubeln ihnen zu und versuchen gleichzeitig, sie im Zaum zu halten. Mit strahlenden Augen boxen sich die Schüler gegenseitig in die Seiten. „Oh Gott, ich hab mich voll vertanzt!“, „Leonie sah total cool aus!“, „Hast du gesehen, wie mir die Tüte runtergefallen ist?“, „Ey, Mann, ich war so aufgeregt, Alter!!!“ Die Lehrer und unsere Übersetzer rennen mit stolz geschwellter Brust um sie herum und versuchen, sie leise zurück an ihre Plätze im Saal zu bringen. Die Schulleiterin sitzt ganz vorn und lebt jede Szene mit. Ab und zu stößt sie die Kollegin neben sich an und flüstert: „Schau mal, der Lukas! Wer hätte gedacht, dass der sowas kann!! Schau mal, die kleine, schüchterne Jessica steht mitten auf der Bühne auf einer Tonne und spielt Gitarre!“

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Am Ende gibt es sogar noch eine Zugabe und die Zuschauer geben Standing Ovations. Als die Show vorbei ist, sind alle begeistert. Alle freuen sich auf die zweite Show am Donnerstagmorgen. Jetzt nur schnell ins Bett! Donnerstag: Um 9 Uhr morgens geht es in der Halle wieder los. Die Schüler sind schon alle da und freuen sich sehr, es heute etwas weniger nervös noch einmal besser machen zu können. Das ist immer so: Bei der zweiten Show sind die Schüler gelassener und können alles mehr genießen. Um halb zehn kommen die Gäste rein. Diesmal sind vor allem die benachbarten Schulen eingeladen. Dadurch ist die Stimmung aufgeheizt, fast jeder kennt jemanden auf der Bühne. Es ist eine Sache, vor den Eltern zu spielen. Vor Gleichaltrigen aber braucht es noch mal besonderen Mut. Der Hausmeister winkt vom anderen Ende des Saals und zeigt auf eine kleine Filmkamera in seiner Hand und dann auf die Bühne; anscheinend will er heute die Show filmen. Ich hebe den Daumen und lächle erstaunt. Diese Show ist noch schöner als die erste und alles läuft reibungslos. Beim letzten Lied macht sich dann Erleichterung breit, Freude und Stolz über die glücklichen Gesichter im Publikum. Nach dem Konzert können sich die Schüler schwer losreißen, viele machen noch Fotos vor der Bühne und einige bleiben sogar zum Abbau. Da gibt es Stahlkappenschuhe, Helme und Handschuhe für alle; und alle Teamer und auch ein paar Schüler helfen Gen Rosso, die Bühne abzubauen und in die LKW zu laden. Freitag: Ein letztes Mal fahren wir in die Schule und treffen uns mit den Lehrern. In einer großen Runde reflektieren wir gemeinsam die Woche. Selbst die, die am Anfang skeptisch waren, sehen zufrieden aus. Eine erinnert sich gut an ihre große Skepsis am Anfang. Dann habe sie jedoch am zweiten Tag das veränderte Schulklima in den Gängen wahrgenommen. Schüler lachten und probten Tanzschritte, Lehrer erzählten sich gegenseitig begeistert von den Talenten der Schüler, und gerade die sonst im Hintergrund stehenden Schüler wuchsen über sich hinaus. Das habe sie sehr glücklich gemacht. Manche Workshops, die von Lehrern angeboten wurden, hätten


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sich gewünscht, noch mehr Kontakt zu Gen Rosso zu haben. Da geht es nicht um Starkult! Die besondere Art von Gen Rosso, Beziehungen zu leben, scheint allen gut zu tun. Die meisten haben die schöne Atmosphäre in der Woche auch im Kollegium genossen und möchten diese weiter ausbauen. Viele sind beeindruckt von den neuen Methoden, die sie bei Gen Rosso gesehen haben, und möchten diese auch in ihrem Alltag umsetzen. Danach trifft Gen Rosso sich noch einmal mit den Schülern in den Workshops, damit auch diese die Woche reflektieren können und nach dem Höhenflug auf der Bühne wieder ein bisschen geerdet werden. Im Broadwayworkshop fragt Dennis: „Was hat euch am besten gefallen?“ in die Runde. „Dass ich so viele Leute kennengelernt habe“, sagt ein Junge, „ich habe jetzt viel mehr Freunde, mit denen ich die Pause verbringen kann. Sogar aus der Klasse über mir!“ Ein Mädchen erzählt, sie habe sich stark gefühlt auf der Bühne, weil sie nicht alleine war. Dennis erinnert die Jugendlichen daran, wie sie an ihre Grenzen gestoßen sind und diese dann gemeinsam überwunden haben. „An Schwierigkeiten wachsen wir im Leben, wir dürfen nur nicht aufgeben“, schließt er. „Ihr seid wertvoll und wichtig. Vertraut darauf und lebt mit dem Mut und der Freude, dass ihr für Großes geschaffen seid.“ Jetzt ist es Zeit, den Staffelstab zu übergeben. Das Motto heute ist „I’ll be there” – Ich bin dabei! Auch wenn die Woche jetzt zu Ende geht, hört das Starkmacherprojekt heute noch lange nicht auf. Im Musical ist es Jordan, der sich nach dem Tod seines besten Freundes für das Gute entscheidet, aus der Gang austritt und sich fest vornimmt, für Charles weiterzumachen und sich ab jetzt auch für Frieden einzusetzen. Hier sind es die Jugendlichen selbst, die es nun in der Hand haben, das, was wir in der Woche gemeinsam aufgebaut haben, weiterzutragen. Michele erzählt den Schülern seine Erfahrung mit diesem Motto, und diesmal ist es so still, dass nicht einmal ein Räuspern zu hören ist. Er sagt ihnen: „Indem ich andere glücklich machen wollte, wurde ich selbst glücklich.“

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Die ganze Turnhalle singt gemeinsam „I’ll be there“ und danach werden Fotos gemacht, Autogramme gesammelt und alle verabschieden sich. Auch unsere Teamer sind ein wenig traurig, dass alles schon vorbei ist, wollen aber unbedingt wieder einmal mit dabei sein. Auf der Rückfahrt im Bulli sind alle erschlagen, aber zufrieden. Ich sitze hinten und lehne meinen Kopf ans Fenster. Aus den Boxen klingen Lieder des Musicals, einige Übersetzer singen ausgelassen mit. Ich fühle mich sehr, sehr müde, aber sehr, sehr glücklich – wie immer nach so einer Woche. Es ist schwer zu erklären. Jeder geht in einer Projektwoche völlig über die eigenen Kräfte und Grenzen hinaus, aber gerade da passiert etwas. Und ich merke auch, dass es nicht an meiner Leistung liegt, sondern dass diese Woche mehr ist, als die Summe ihrer Teile. Wie versprochen: ein kleines Wunder!


KOOPERATIONSPARTNER WILLKOMMEN!

StarkmacherSchule will Lehrer und Schüler stärken und fördern und nimmt dabei nicht nur den Bildungsaspekt in den Blick, sondern arbeitet mit einem ganzheitlichen Ansatz. Auf dieses Ziel hin arbeiten Musiker und Pädagogen, Techniker und Sozialarbeiter, Unternehmen und Arbeitsvermittler in einem engmaschigen Netzwerk zusammen. Ausgangspunkt waren die Initiativen des Starkmacher-Vereins und die Pädagogische Hochschule Heidelberg, inzwischen umfasst das Netzwerk aber weitere vier strategisch wichtige Partner und sucht die Kooperation mit Experten aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen.

Auf den nachfolgenden Seiten stellen sich die Partner mit ihren Stärken und Fachkompetenzen vor und machen deutlich, an welchen Stellen und mit welchen Projektbausteinen sie das Konzept der StarkmacherSchule bereichern. Mit allen Partnern ist eine sehr wertschätzende Beziehung gewachsen. Man bereichert sich gegenseitig, nutzt die Kompetenzen der anderen, um der Zielgruppe ein möglichst dichtes Netz anzubieten, von dem sich auch eine bisweilen schwierige Klientel getragen und gefördert fühlt.

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ZIEL IM BLICK – DAS HEIDELBERGER KOMPETENZTRAINING (HKT)

Wolfgang Knörzer ist Professor für Sportwissenschaft und Sportpädagogik. Er lehrt am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. In diesem Text stellt er das Heidelberger Kompetenz-Training vor, das er mit dem Team seines Lehrstuhls entwickelt hat und das ein wichtiger Baustein von StarkmacherSchule ist.

PROBLEMSTELLUNG Viele Kinder und Jugendliche geraten in schulischen Drucksituationen ebenso wie in sportlichen Wettkampfsituationen in Angst und Stress und können dadurch ihr Potenzial nur begrenzt abrufen. Die meisten Schüler besitzen mangelhafte, oft sogar gar keine mentalen Strategien und Kompetenzen, um ihr Wissen und Können in herausfordernden Situationen, wie Klassenarbeiten, Präsentationen und Prüfungen, gezielt und systematisch abrufen zu können. Inhaltlich bereiten sie sich durchaus sorgfältig auf die bevorstehende Herausforderung vor. Was sie jedoch zusätzlich brauchen, sind Fähigkeiten und Strategien, um in der richtigen inneren Haltung das Gelernte auch in der Praxisanwendung optimal einsetzen zu können. Hierauf, so zeigt unsere jahrelange Erfahrung, werden weder Schüler noch Studierende systematisch vorbereitet. Es bleibt mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob es ihnen gelingt, dann gut zu sein, wenn es darauf ankommt, oder ob sie scheitern. Vor dem Hintergrund dieser Problemstellung entwickeln wir seit 2005 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg das Heidelberger KompetenzTraining (HKT) zur Entwicklung mentaler Stärke. Das Trainingskonzept verfolgt das Ziel, über den Aufbau bzw. die Stärkung mentaler Selbststeue-


>> ZIEL IM BLICK

rungskompetenzen Menschen in ihrem Ziel- und Bedürfnisbefriedigungsstreben zu unterstützen (verkürzt und plakativ wird dies im HKT als „Entwicklung mentaler Stärke“ bezeichnet). Der Grundgedanke, Menschen in ihrer Persönlichkeit zu stärken, folgt dabei der Tradition des „Empowermentansatzes“ wie er in der psychosozialen und pädagogischen Praxis diskutiert wird (vgl. Hintermair 2011). Seit Januar 2012 ist das HKT fester Bestandteil von “StarkmacherSchule”. Das Projekt unterstützt benachteiligte Jugendliche darin, soziale und interkulturelle Kompetenzen aufzubauen und Zusammenhalt, Empathie, sowie die individuelle Beschäftigungsfähigkeit zu fördern. Das Heidelberger Kompetenz-Training (HKT) bildet einen zentralen Baustein in diesem Prozess, indem es Lehrer und Schüler – sowohl für das Musical als auch im Transfer auf die berufliche Praxis – mental unterstützt. Die Schüler lernen durch das HKT, sich herausfordernde und gleichzeitig bewältigbare Ziele zu setzen, und werden in der Zielerreichung und ihrer Selbstwirksamkeit nachhaltig gestärkt. So kann das durch die Erfolgserfahrungen neu gewonnene Selbstvertrauen in den Alltag integriert und auf berufliche Herausforderungssituationen angewendet werden.

ENTWICKLUNGSLINIE Als Basis für die Entwicklung des HKTs diente das Programm „Sportler mental stark machen“ dessen Ziel es ist, durch systematisches Mentaltraining die Persönlichkeit so zu entwickeln, dass jugendliche Sportler stark genug werden, ihre Leistungsmöglichkeiten umfassend auszuschöpfen, Dopingversuchungen zu widerstehen und parallel zur leistungssportlichen Entwicklung ein zweites Standbein aufzubauen (vgl. Knörzer et al., 2006). Bei der Implementierung des Mentaltrainings in verschiedenen Schulen, in denen die jugendlichen Leistungssportler unterrichtet wurden, zeigte sich, dass das Mentaltraining auch von den Klassenkameraden der jugendlichen Sportler positiv aufgenommen wurde. Diese konnten ihre Erfahrungen aus dem Mentaltraining vor allem in Klassenarbeits- und Prüfungssituationen erfolgreich umsetzen. Auf diesen Erfahrungen aufbauend wurde ein spezielles Trainingsprogramm für Schüler entwickelt, das „Heidelberger Kompetenz-Training (HKT) zur Entwicklung mentaler Stärke“, und seit 2006 in verschiedenen Schulen implementiert.

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THEORETISCHER HINTERGRUND Die Weiterentwicklung des HKT erfolgte auf der Grundlage der Konsistenztheorie von Klaus Grawe (2004). Diese zeigt basierend auf den Erkenntnissen der neueren neurowissenschaftlichen und psychologischen Forschung die Möglichkeit auf, mittels Befriedigung zentraler psychischer Grundbedürfnisse zugleich und integrativ die psychische Leistungsfähigkeit, das psychische Wohlbefinden/Gesundheit und die psychische Entwicklung nachhaltig zu fördern. Einen besonderen Stellenwert erlangen dabei übergeordnete potenziale Ressourcen, die als Schlüssel- oder Metaressourcen zugleich mehrere Grundbedürfnisse befriedigen können. Diese greift das Heidelberger Kompetenz-Training (HKT) auf, indem gezielt und systematisch solche Kompetenzen geschult und trainiert werden, die den Status von Metaressourcen im Sinne der Konsistenztheorie einnehmen (vgl. Knörzer 2008; Rupp 2009). Übergreifendes Ziel des HKT ist es Menschen zu befähigen, Inkongruenzen ressourcenorientiert zu lösen. Der Begriff der Inkongruenz wird hier im Sinne Klaus Grawes gebraucht: „Der Begriff der Inkongruenz … meint Abweichungen zwischen den Wahrnehmungen der Realität auf der einen Seite und aktivierten Zielen, Erwartungen und Überzeugungen auf der anderen Seite“ (Grawe, 2004, S. 237). Grawe weist ausdrücklich darauf hin, dass das, was er als Inkongruenz bezeichnet, oft als Stress bezeichnet wird. Grawes Konstrukt der Kongruenz trifft jedoch exakter das, was mit der Zielsetzung des HKT gemeint ist, nämlich Menschen dabei zu unterstützen, die Diskrepanz zwischen aktuellem Wahrnehmen und Erleben und angestrebten Zielen erfolgreich zu überwinden. Inkongruenzen sind notwendige Voraussetzungen für Weiterentwicklung. Damit diese möglich ist, benötigt man Strategien und Kompetenzen, um Inkongruenzen zu lösen. Fehlen in einer Inkongruenzsituation jedoch die Mittel, diese zu lösen, so kann es leicht zu starken Stress- und Angstreaktionen kommen. Weiterentwicklung wird verhindert, sogar nachhaltig vermieden.


>> ZIEL IM BLICK

Das HKT stellt eine Möglichkeit dar, Inkongruenzsituationen kontrollierbar zu machen. Um diese zu erreichen, folgt der HKT Prozess vier Schritten: 1. Ziele formulieren. 2. Sich konzentrieren. 3. Seine Stärken aktivieren. 4. Die Zielintention abschirmen. Symbolisch lässt sich dies im „HKT-Baum“ darstellen:

INTENTIONSABSCHIRMUNG

INTENTIONSABSCHIRMUNG

ZIELE

KONZENTRATION

STÄRKE INTENTIONSABSCHIRMUNG

STÄRKE STÄRKE

INTENTIONSABSCHIRMUNG

Abb.1: Der HKT-Baum als symbolische Darstellung des HKT-Prozesses

Das Ziel, das es zu erreichen gilt, wird symbolisch in die Krone des Baumes gesetzt (z.B. die gute Arbeit oder die gelungene Präsentation). Die Stärken werden als Wurzeln dargestellt, die aktiviert werden müssen, damit die Zielerreichung gelingt.

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Im Stamm, der die Konzentration symbolisiert, werden die Stärken zum Ziel hin gebündelt. Schließlich wird der ganze Baum symbolisch durch eine Art Schutzhülle gegen Störungen von außen abgeschirmt. Jeder HKT Prozess enthält diese vier Schritte, die wir als Teilziele auf dem Weg zur Erreichung des übergeordneten Ziels verstehen. Der Weg zum Ziel führt demnach immer über die vier Teilziele, ist aber in seinem genauen Verlauf nicht eindeutig festgelegt. Als methodische Grundlage für alle HKT-Prozesse dienen folgende Prinzipien: Erstes HKT-Prinzip: Jeder HKT-Prozess ist so ausgerichtet, dass er auf dem Weg zum übergeordneten Ziel der erfolgreichen Bewältigung von Herausforderungssituation die vier Teilziele erreicht. Mentale Prozesse laufen gleichzeitig auf einer bewussten und unbewussten Ebene im Zusammenspiel kognitiver und emotionaler Anteile ab. Zweites HKT-Prinzip: Jeder HKT-Prozess ist so ausgerichtet, dass sowohl digitale (logisch-rationale) wie auch analoge (körperlich-emotionale) Denk- und Erlebensprozesse berücksichtigt werden. Zur Evaluierung der HKT-Teilziele wurden diese exakter ausformuliert: » Ziele nach Zielkriterien exakt formulieren und die Zielerreichung mental erleben können.


>> ZIEL IM BLICK

» Die Zugangswege zur Konzentration kennen und sich konzentrieren können. » Seine Stärken kennen und diese bewusst aktivieren können. » Lösungsstrategien für mögliche Störungen formulieren und Möglichkeiten der mentalen Abschirmung anwenden können. Das HKT-Modell mit seinen vier Trainingsphasen hat sich in den vergangenen Jahren als tauglich für die Anwendung in unterschiedlichen pädagogischen Praxisfeldern erwiesen. Im Rahmen verschiedener Wirksamkeitsstudien wurde das HKT evaluiert, sowohl im Hinblick auf seine Auswirkung auf die Selbstwirksamkeitsüberzeugung als auch auf die Entwicklung der Fähigkeit, motivationale Ziele besser umsetzen zu können. Die Breite der Anwendungsfelder zeigt, dass es gelungen ist, mit dem HKT ein Modell zu entwickeln, das es Menschen ermöglicht, in ihrem Bereich Strategien und Kompetenzen zu entwickeln, um Herausforderungssituationen erfolgreich zu meistern.

Nähere Informationen finden sich auch unter www.ph-heidelberg.de/hkt. Dieser Text ist gekürzt entnommen aus: Marchwaka, M. (Hrsg.) (2013): „Gesundheitsförderung im Setting Schule. S. 249-258, Wiesbaden: Springer VS. Literatur Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Hintermair,M. (2011): Empowerment als konzeptioneller Orientierungsrahmen für eine gesundheitsförderliche Lebensführung. In: Knörzer, W. & Rupp, R. (Hrsg.) (2011): Gesundheit ist nicht alles – was ist sie dann? Gesundheitspädagogische Antworten. Hohengehren: Schneider Verlag, S. 46-56 Knörzer, W., Amler, W., Bernatzky, P. & Breuer, S. (2006). Sportlerinnen und Sportler mental stark machen – kompetenzorientierte Dopingprävention in der Praxis, in: Knörzer, W., Spitzer, G. & Treutlein, G. (Hrsg.), Dopingprävention in Europa – Grundlagen und Modelle. Erstes Internationales Fachgespräch 2005 in Heidelberg. Aachen: Meyer & Meyer, S. 242-248. Knörzer, W. (2008): Kompetenzorientierte Prävention. „Life Skills Education“ mit dem Heidelberger Kompetenztraining (HKT) zur Entwicklung mentaler Stärke. In: Becker/Carlsburg/Wehr (Hrsg.): Seelische Gesundheit und gelungenes Leben, Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 107-114 Knörzer, W., Amler, W.Rupp, R. (2011): Mentale Stärke entwickeln. Das Heidelberger Kompetenztraining in der schulischen Praxis, Weinheim: Beltz Verlag Rupp, R. (2009). Das Heidelberger Kompetenztraining (HKT) zur Entwicklung mentaler Stärke. Eine theoretische Fundierung des Modells auf der Basis der Konsistenztheorie Grawes. München: GRIN Verlag.

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AUF DER BÜHNE DES LEBENS DER PARTNER GEN ROSSO Die internationale Band Gen Rosso hat einen zentralen Part im GesamtProjekt StarkmacherSchule: Sie kommt für eine Woche in die Schule oder Jugendeinrichtung und erarbeitet gemeinsam mit Schülern und Lehrern das Muscial „Streetlight“. Beni Enderle ist Musiker, Komponist und künstlerischer Leiter der Band und beschreibt das Besondere, das „Geheimrezept“ der Gruppe.

Gen Rosso International Performing Arts Group entstand 1966 in Loppiano bei Florenz auf Initiative von Chiara Lubich, Gründerin der Fokolar-Bewegung und Trägerin des UNESCO-Preises für Friedenserziehung. Sie schenkte einer Gruppe von jungen Männern ein rotes Schlagzeug. Daher der Name „Gen Rosso“: Gen = New Generation, „rosso“ = rot auf Italienisch. Seitdem verbreitet die Band mit ihrer Musik weltweit die Botschaft von Frieden, Völkerverständigung, Solidarität und Geschwisterlichkeit. Sie legt der eigenen künstlerischen Arbeit das christliche Gedankengut zugrunde, aber eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen ist von entscheidender Wichtigkeit. Immer geht es darum, die versteckten Reichtümer der Völker und Kulturen zu erschließen: von Europa über Kenia bis China, von der buddhistischen Welt Thailands bis zur muslimischen Tradition im Nahen Osten, in Marokko und den USA, von Australien über Brasilien, Kuba nach Südafrika. Immer geht es darum, gemeinsam an der einen Menschheitsfamilie mitzubauen. Seit mehr als 40 Jahren ist diese internationale Truppe von Sängern, Musikern, Tänzern, Schauspielern und Technikern unterwegs. Mehr als 50 Länder hat sie bereist. Die Mitglieder wechseln immer wieder: mehr als 200 sind seit der Gründung durch die Band gegangen, und ihnen allen verdanken wir wichtige Schritte in unserer Entwicklung.


Heute sind wir 18 Leute aus neun Ländern: aus Brasilien, Demokratische Republik Kongo, Tansania, Argentinien, Schweiz, Polen, Italien, Spanien und von den Philippinen. Das Programm von Gen Rosso umfasst seit vielen Jahren Konzerte in Theatern, Sportstadien, auf offenen Plätzen und in Turnhallen. Außerdem arbeiten wir mit Jugendlichen in Workshops. Der künstlerische Reichtum der Gruppe entsteht aus den unterschiedlichsten kulturellen Wurzeln; denn wir alle stammen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen. Aus demselben Reichtum ist auch das Musical „Streetlight“ hervorgegangen. Doch mit „Streetlight“ hat etwas ganz Neues begonnen! „Streetlight“ ist ein Musical der besonderen Art; es passt in kein Schema und bricht mit allen klassischen Klischees: Mehr als 12 verschiedene Musikstile sind miteinander verwoben und erzählen die Geschichte von Charles Moats, einem Jugendlichen aus Chicago. In seinem Leben spiegeln sich die Werte, auf denen eben auch das Leben und die Arbeit von Gen Rosso basieren: Frieden, Gewaltlosigkeit, Solidarität und Geschwisterlichkeit. Bei einer Begegnung mit Mathias Kaps 2005 hier in Deutschland entstand die Idee, aus dem Musical ein Schulprojekt zu entwickeln, in das Schüler und Jugendgruppen methodisch und didaktisch von Anfang an einbezogen sind und das auf das pädagogische Grundanliegen der Bildungssysteme in Europa und darüber hinaus abgestimmt ist. Wir arbeiten dabei eng mit den Kultus-, Justiz- und Arbeitsministerien zusammen, auch mit anderen lokalen und überregionalen Partnern, und können dadurch immer wieder all die Schätze und Reichtümer ans Licht holen, die in den Jugendlichen angelegt und allzu oft verborgen sind. Gen Rosso profitiert dabei von der eigenen kulturellen Vielfalt und Kommunikationsfähigkeit und auch dem persönlichen Engagement jedes Einzelnen und nutzt die Kraft und Universalität, die der Sprache der Musik zutiefst inne liegt. Diese Verbindung von Kunst und Bildung, Emotion und Erziehung, Performance und lebendiger Wissensvermittlung gibt wichtige Antworten auf die Herausforderungen unserer Gesellschaft.

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Immer wieder wird uns die Frage gestellt: „Was macht ihr anders, dass ihr bei den Jugendlichen so gut ankommt?“ Die Antwort ist so einfach wie komplex: Wir nehmen die Mädchen und Jungen als einzigartige Geschenke und als großartige Menschen in den Blick. Für viele von ihnen ist das eine ungewohnte Erfahrung. Die gegenseitige Wertschätzung und der respektvolle Umgang miteinander liegen uns in jeder Situation am Herzen, ob in den Begrüßungsrunden am Morgen, bei der Arbeit in den Workshops oder auf der Bühne. Das überträgt sich automatisch auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler. Sie fühlen sich als Person angesprochen, ernst genommen und gestärkt, und wollen auch im Umgang miteinander diese Haltung umsetzen. Damit wird zwischenmenschliche und interkulturelle Kompetenz gefördert und praktisch angewandt und oft jeder Art von Gewalt im schulischen und außerschulischen Umfeld die Grundlage entzogen. Wo Kommunikation stirbt, wird Gewalt geboren. Dieser Kreislauf findet ein Ende, wo Kommunikation gefördert wird. Und wo Kommunikation gefördert wird, entsteht Kompetenz und Qualität im gesellschaftlichen Bereich. Mit vielen jungen Menschen, mit den Lehrkräften von Schulen und Einrichtungen und mit unseren Partnern bleibt ein reger Kontakt. Drei Beispiele aus der Welt der Schüler seien hier genannt. Es sind Feedbacks, Antworten, von denen eine allein schon genügen würde, um uns in unserer Mission und in unserer Arbeit immer neu anzuspornen: Am Ende der Aufführung in Euskirchen kommen drei Jungs auf uns zu und begrüßen uns mit Begeisterung. Wir erkennen zwei von ihnen wieder. Vor fünf Jahren, während eines unserer ersten Projekte in Deutschland, hatten sie in den Workshops „Soundtechnik“ und „Lighting“ mitgemacht. Die Aufführung von „Streetlight“ war ein unvergessliches Erlebnis für sie gewesen. „Was tut ihr denn jetzt so?“, fragt sie unser Soundtechniker. „Wir haben


>> AUF DER BÜHNE DES LEBENS

eine kleine Firma gegründet und machen Service für Ton, Licht und Veranstaltungstechnik“, antwortet Oliver, einer von ihnen. „Wir wollten es euch sagen. Ihr seid nämlich schuld daran!“ Während einer unserer Projektwochen in Tschechien ist im Workshop „Rhythm and guitars“ auch Robin dabei, ein junger Roma. Er tut sich besonders schwer, konzentriert und kontinuierlich zu arbeiten. Wir hören, dass er aus einer großen Familie kommt und es daheim nicht leicht hat. Am Ende lässt er sich aber auf das Abenteuer des Projekts ein und steht auf der Bühne. Nach zwei Jahren sehen wir Robin wieder. Er erzählt José Manuel, dem Workshopleiter von „Rhythm and guitars“, dass das Erlebnis „StarkmacherSchule“ sein Leben vollständig verändert hat. Er hat sich entschieden, Sozialarbeit zu studieren, und arbeitet jetzt in einer Einrichtung für benachteiligte Jugendliche. Alvaro Prian lebt in der spanischen Stadt Cartagena. Er ist 17 und ist mitverantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit seiner Schule. Nach unserem gemeinsamen Projekt schreibt er: „Es gibt Dinge, die man erlebt hat und die einen in ihren Bann gezogen haben – aber man vergisst sie wieder. Dieses Erlebnis bleibt unvergessen. Wenige Tage haben genügt, um zu merken, dass wir hier auf der Bühne des Lebens gestanden haben. Ich denke, dass die Leute, die an dem Projekt aktiv teilgenommen haben, sehr stolz auf sich sein können. Im Verlauf dieser Tage haben sie entdeckt, was es sich im Leben wirklich zu tun lohnt. Diese Erfahrung hat uns im Innern verändert und uns auf ein einziges Ziel ausgerichtet: stark zu sein. Dafür danken wir euch!”

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„ JEDER HAT ETWAS ZU ERZÄHLEN“ PARTNER 18FRAMES 18frames produziert Filme und arbeitet crossmedial in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen: Von der Smartphone-App über die Einbindung von bewegten Bildern in Internetauftritte oder digitale Film-Portale. Der Schwerpunkt liegt auf Dokumentarfilmen, aber auch Musik-Clips und Image-Filme gehören zum Portfolio. Auftraggeber sind dabei vorwiegend Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen oder Organisationen aus dem sozialen Bereich. „Wir sind sozusagen ein medialer Starkmacher – unsere ideellen Ziele und auch der Arbeitsstil der Wertschätzung, des großen Interesses an Beziehungen sind sich sehr ähnlich“, fasst 18frames Mitbegründer Tobias Greber seine Arbeitsphilosophie zusammen.

„Mich hat das Projekt StarkmacherSchule von Anfang an fasziniert – ich habe es lange sozusagen ‚von außen‘ mitverfolgt und fand es immer schade, dass es in einem gewissen Binnenraum bleibt, die Wirkungen nie wirklich nach außen drangen“, sagt Tobias Greber. Sein Ziel: Er will die Wirkung, die das Projekt auf die Schüler hat, durch einen Film auch auf die Zuschauer übertragen. Der Starkmacher-Film, an dem er seit zwei Jahren arbeitet und der zum Ende des Jahres 2014 fertig werden soll, ist eines der größten Projekte der Hamburger Filmemacher bisher. „In jedem Menschen steckt nicht nur eine spannende Geschichte, jeder Mensch hat – wenn eine Basis des Vertrauens vorhanden ist – auch etwas zu erzählen“, davon ist Tobias überzeugt. Er und seine Kollegen wollen Menschen, die von der Gesellschaft übersehen oder überhört werden, mit ihrem Medium Film ein Gesicht und eine Stimme geben. Der Zuschauer soll in eine persönliche Beziehung mit den Protagonisten treten können, soll nicht nur einen Einblick in das Leben von Menschen bekommen, die ihm sonst fremd sind, sondern auch ihre Motivationen, ihre Enttäuschungen und ihre Erfolge von innen her nachvollziehen können.


Der Starkmacher-Film begleitet drei Jugendliche: einen Tschechen, einen Deutschen und einen Brasilianer. Er geht der Frage nach, welche Wirkung das Projekt des Starkmachers auf Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen, kulturellen und bildungspolitischen Hintergründen hat. Die Filmemacher begleiten die Jugendlichen dabei über einen Zeitraum von drei Jahren und nehmen den Zuschauer in deren Lebenswelt, ihr Scheitern und ihre Erfolge mit hinein. Im letzten Teil ist dann eine reale Begegnung der drei Protagonisten geplant, die noch mal eine gemeinsame Projektwoche in Deutschland erleben. Neben einer Kurzfassung, die auch als Unterrichtsmaterial in Schulen und Jugendeinrichtungen eingesetzt werden kann, träumen Tobias und seine Kollegen auch von einer längeren Kinofassung, die den Stoff einem wirklich breiten Publikum zugänglich machen soll. Gefragt nach seinem persönlichen Highlight in der Arbeit für die StarkmacherSchule muss Tobias nicht lange überlegen: In Brasilien hat er durch die Dreharbeiten ein junges Mädchen von der Straße kennengelernt, die schon alles hinter sich hatte, was Tobias sich nur in seinen schlimmsten Albträumen vorstellt: vom Drogenmissbrauch über Vergewaltigung und Folter hat sie alles in ihrem kurzen Leben schon durch und bewegt sich wegen schwerer Missbildungen auf einem Brett rollend vorwärts. Ihr großer Traum, ihre Leidenschaft ist das Theaterspielen, regelmäßig besucht sie ein paar Jahre eine kleine Theatergruppe. Inzwischen hat sie den Absprung aus der Drogenszene geschafft, ist clean und hat nun mit 23 Jahren

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>> JEDER HAT ETWAS ZU ERZÄHLEN

beim Starkmacher-Projekt mitgemacht. Die Arbeit im Theater-Workshop hat ihr viel gegeben, auch wenn die Tanzszenen weit über ihre körperlichen Kräfte hinausgingen. „Wir durften sie während der Projektwoche filmen und hatten den Eindruck, sie holt in dieser Woche alle Träume ihrer Kindheit nach“, erzählt Tobias noch selbst ganz bewegt. „Am Schluss hat sie uns im Interview anvertraut, dass sie in dieser Woche das erste Mal das Gefühl hatte, als Mensch wertvoll zu sein, und unglaublich stolz sei, sich selbst nicht mehr als abstoßend zu empfinden“. Als Außenstehende mit besonderem „Beobachterstatus“ erleben die Filmemacher von 18frames die Projekt-Aktiven außerordentlich engagiert und extrem kreativ, wenn es darum geht, in brenzligen Situationen schnell und pragmatisch Lösungen zu finden: „Da wachsen alle über sich hinaus: vom Hausmeister bis zum Schulleiter, vom Kabelträger bis zum Musical-Star“, beschreibt Tobias. Auch für ihn selbst und sein Team waren die Dreharbeiten während der Projektwochen eine Art Workshop: „Durch das Projekt haben wir gelernt, immer wieder ein neues Maß zu finden, wie nah wir ‚dran‘ sein müssen, ab wann unser Gegenüber sich vielleicht belagert fühlt, wann auch wir mal kürzer treten müssen und Ausruhen dran ist“ – ein Lerneffekt, der sicher durchaus übertragbar ist.


ÜBERREGIONALE VERNETZUNG

Johannes Epping ist im Starkmacher für die Vernetzung der Partner auf nationaler und internationaler Ebene tätig. Er beschäftigt sich außerdem mit der Übertragbarkeit der Produkte des Starkmachers auf andere Kontexte. Eines seiner Tätigkeitsfelder ist auch die Vernetzung der Sozialprojekte mit der Wirtschaft. Von einem Vernetzungskongress im Rahmen von StarkmacherSchule berichtet er.

Bei den Vernetzungskongressen geht es darum, die gemeinsam erarbeiteten Ansätze vorzustellen, die Ergebnisse des Projektes zu diskutieren und stetig zu verbessern und sie einem immer größeren Nutzerkreis zur Verfügung zu stellen. Die Verstetigung von Projektergebnissen – also die Nutzung der gewonnenen Erfahrungen über die Projektlaufzeit hinaus, ist ein wichtiges Anliegen. Das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ ist in aller Munde und inzwischen schon fast zur Worthülse verkommen. Auch im Bereich der projektorientierten Sozialarbeit wird viel Wert auf Nachhaltigkeit gelegt, auch wenn die Forderung erst einmal paradox klingt, sind doch Projekte per Definition immer auf einen festgelegten Zeitraum begrenzt. Das betrifft natürlich im Kern die Finanzierung, mit der jede Projektarbeit steht und fällt. Kann man da überhaupt sinnvolle Ergebnisse zur Nachhaltigkeit von Projekten erwarten? Das Projekt StarkmacherSchule lud Partner und Experten ein, sich in der Begleitung von Jugendlichen auf dem Weg ins Berufsleben zu vernetzen und regional enger zusammenzuarbeiten. Dafür veranstaltet der Verein in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung und dem Diözesan Caritasverband für das Erzbistum Köln Tagungen für Netzwerkpartner, Vertreter der Schulen und Experten, die das Projekt StarkmacherSchule mit ihrer fachlichen Expertise unterstützen.

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„Es geht darum, dass die beteiligten Projektpartner und Experten in einen Austausch kommen, damit von den erreichten Zielen und den positiven Ergebnissen an den einzelnen Standorten möglichst viele profitieren“, fasste Teresa Parlasca, die das Treffen im Rahmen von StarkmacherSchule vorbereitet hatte, ihre Ziele für den Kongress zusammen. Es waren viele Vertreter von unterschiedlichen Organisationen gekommen, die wie das Projekt StarkmacherSchule am Übergang von Schule zu Beruf wirken. Überraschend war dabei die enorme Bandbreite an verschiedenen Arbeitsstrukturen, Ansätzen und Trägern. Bevor freie Arbeitsgruppen eröffnet wurden, stellte der Vertreter von „Xenos Panorama Bund“ verschiedene Formen von Nachhaltigkeit in Projekten vor: 1. Transfer von (Teil-)Produkten oder Methoden, also beispielsweise die Durchführung eines erprobten Konzepts an einem anderen Standort. 2. Transferanbahnung, also die Vorbereitung von Institutionen durch Vermittlung von Know-how und Erfahrungen für den eigentlichen Transfer. 3. Verstetigung – im Klartext heißt das, ein Träger findet eine projektunabhängige Finanzierung für seine Methoden.


>> ÜBERREGIONALE VERNETZUNG

Insbesondere die Reaktion der Teilnehmer auf die Erklärung zur Verstetigung ihrer Projekte zeigte, dass hier für viele Träger und Fachkräfte das absolute Wunschziel liegt: Die Möglichkeit, mit einer erprobten Methode über einen längeren Zeitraum arbeiten zu können – offensichtlich für viele teilnehmende Träger weit von der Realität entfernt. Dementsprechend groß war der Bedarf an Gesprächen und Austausch zur Frage, wie man die Projektverstetigung erreichen kann. Auf dieser Basis entwickelte sich über die zwei Tage ein sehr intensiver und spannender Austausch. Ein wichtiger Aspekt dabei war auch die Rolle, die Unternehmer und Unternehmen in diesen Projekten spielen könnten. In zwei Workshops wurden konkrete Ansätze erarbeitet. Konkret ging es um die Frage, welche Ansätze und Ideen es gibt, Mittel für die Verstetigung von Projekten einzuwerben und eine Trägerschaft unabhängig von Projektförderungen zu ermöglichen. Im zweiten Workshop ging es darum, wie man Unternehmer überzeugen kann, Jugendlichen mit Schwierigkeiten einen Ausbildungsplatz anzubieten. Interessante Perspektiven für die Zukunft wurden schließlich sichtbar, als einige Projekte und Angebote vorgestellt wurden, die sich z.T. durch die Zusammenarbeit der Netzwerkpartner entwickelt haben oder als Schlüsselkompetenz einer Partnerorganisation auch anderen Mitgliedern des Netzwerkes zugänglich gemacht werden sollen. Netzwerke bringen auch in der StarkmacherSchule Gewinne für alle Seiten.

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„MUT MACHEN ZUR AUSBILDUNG“ NETZWERKARBEIT IM HINTERGRUND

Stefan Rost ist Leiter der katholischen Realschule in Bad Honnef. Er hat mit seiner Schule die StarkmacherSchule genutzt, um einen wichtigen Schritt in der Schulentwicklung zu tun: Er will die Arbeit mit externen Partnern ausbauen und damit den Schülern neue Perspektiven für einen Übergang ins Ausbildungs- und Berufsleben eröffnen.

Die Tage hatten eine Wirkung wie Öl, das man ins Feuer gießt: Das Schulmotto „Hier gewinnt das WIR“ war in den Tagen überall präsent und hat das Schulklima nachhaltig geprägt. Insgesamt waren 420 SchülerInnen und 25 Lehrkräfte involviert

CHANCE ZUR ERWEITERUNG DER BERUFSWAHLORIENTIERUNG Doch Schulleiter Stefan Rost sieht im Bereich der Berufswahlorientierung für seine Schule Handlungsbedarf. Manche Schüler wären besser beraten, wenn sie nach dem Realschulabschluss eine passende Ausbildung anfingen, statt die Entscheidung für einen zukünftigen Beruf durch Wechsel auf weiterführende Schulen im Grunde nur hinauszuschieben. Deshalb suchte Rost schon seit einiger Zeit nach geeigneten Kooperationspartnern für seinen Plan: „Wir würden den Schülern gern verschiedene Fachrichtungen als Ausbildungsmöglichkeiten vorstellen, um ihnen Mut zu machen, sich schon früher für eine Ausbildung zu entscheiden“.


>> MUT MACHEN ZUR AUSBILDUNG

Das Projekt StarkmacherSchule sah Rost daher nicht nur als einmaliges Event, sondern er witterte die Chance, durch die Vermittlung der Starkmacher neue Perspektiven für seine Schüler zu eröffnen. „Wir hatten bereits Kooperationspartner für den technischen und für den kaufmännischen Bereich sowie für den Dienstleistungssektor. Uns fehlte ein Kooperationspartner für die sozialen Berufe“. Mit dem Starkmacher im Boot gingen nun auch die Türen auf zum Caritas-Verband im Rhein-Sieg-Kreis. Schnell stand die Idee im Raum, eine Partnerschaft zwischen der Erzbischöflichen Realschule und dem Altenheim Marienhof in Bad Honnef, einer Einrichtung der Cura Katholische Einrichtungen im Siebengebirge GmbH, aufzubauen. Die Kooperation in diesem Bereich verfolgt zwei Ziele: » sie soll Begegnungsmöglichkeiten zwischen Alt und Jung schaffen: niederschwellige Aktionen für Kontakte zwischen Senioren und Realschülern » sie soll Gelegenheit zur Berufsorientierung für Schulabgänger eröffnen: Ausbildungsmöglichkeiten im sozialen Bereich aufzeigen (Altenpflege, Logopädie, Physiotherapie, ...) Die Zusammenarbeit der Schule mit den drei Partnern wird in Bad Honnef professionell begleitet und unterstützt durch KURS (Kooperation der Unternehmen der Region und Schulen), einer Gemeinschaftsinitiative der Bezirksregierung Köln und der IHK in Köln/Aachen und Bonn sowie dem Rhein-Sieg-Kreis. Die Schulleitung und die Kooperationspartner haben sich schon mehrfach getroffen und gemeinsame Pläne geschmiedet: » jährliche Betriebspraktika der neunten Klassen im Altenheim (zwei Plätze für jeweils drei Wochen lang) » ein Schnuppertag in einer bestimmten Abteilung in Anlehnung an den Girls & Boys-Day für geeignete SchülerInnen » in der achten Klasse im Rahmen des Politikunterrichts werden Berufe im Alten- und Pflegebereich vonseiten des Altenheims vorgestellt

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>> MUT MACHEN ZUR AUSBILDUNG

» in den zehnten Klassen werden Weiterbildungsmöglichkeiten nach dem Realschulabschluss vorgestellt: Dafür kommen neben den Vertretern eines Gymnasiums und eines Berufskollegs nun auch die drei Kooperationspartner ins Haus und stellen mögliche Ausbildungsberufe vor » Für die sechsten Klassen wird es ab dem nächsten Schuljahr kurzweilige und niederschwellige Angebote geben, um die Bewohner und das Leben im Altenheim aus der Nähe kennenzulernen. Wunsch wäre, dass dies eine regelmäßige Einrichtung wird mit Spielenachmittagen, Erzählcafés oder Plätzchenbacken im Advent wie auch Gegenbesuchen der Senioren in der Schule bei Schulfesten, Kulturevents und Gottesdiensten „Die Betreuerin von ‚KURS‘ musste uns bremsen, denn wir hätten noch viel mehr Ideen gehabt: z.B. Experten-Interviews in Fächern wie Religion, Geschichte, Sozialkunde zu Themen wie Wirtschaftswunder, deutsche Teilung, Lebensschutz und Kosten des Sozialstaats“, sprudelt Stefan Rost weiter. Aber die Fachfrau empfahl, zunächst mit maximal drei Vorhaben zu beginnen und sich für das erste Jahr nicht zu viele Projekte gleichzeitig vorzunehmen. „Schule muss sich weiterentwickeln“ – davon ist Schulleiter Stefan Rost überzeugt. Er ist froh, dass durch die Vermittlung des Starkmacher-Vereins für die berufliche Zukunft seiner Schüler nun auch im sozialen Bereich ein kompetenter Berater an seiner Seite steht.


NEUE WEGE ZUR SOZIALINTEGRATION DER DIÖZESAN-CARITASVERBAND FÜR DAS ERZBISTUM KÖLN UND DAS PROJEKT „STARK OHNE GEWALT“ BZW. „STARKMACHERSCHULE“: DIE GESCHICHTE EINER ZUSAMMENARBEIT

Bernhard Suda ist Referent des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln und hat vor allem an der jüngsten Weiterentwicklung des „Sozialen Seminars“ für die StarkmacherSchule mitgearbeitet – ein weiterer Baustein, der die Nachhaltigkeit des Gesamtprojekts sichert.

Ein erster Kontakt zur Band Gen Rosso und zu den Akteuren des Starkmacher e.V. entstand im Jahr 2005 auf dem Weltjugendtag in Köln. Dr. Helmut Loggen, stellvertretender Direktor des Diözesan-Caritasverbandes Köln, war von der Band und ihrer Musik sehr beeindruckt. Schnell kam der Gedanke für ein gemeinsames Musikprojekt. Caritas-Pressesprecher Alfred Hovestädt (†) und Mathias Kaps (heute Vorsitzender des Starkmacher e.V.) entwickelten gemeinsam mit Gen Rosso die Idee zum Projekt „Stark ohne Gewalt“. Die erste Projektwoche fand 2006 in Lindlar statt – ein Riesenerfolg!

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Mit dem Diözesan-Caritasverband Köln wurde „Stark ohne Gewalt“ konzeptionell weiterentwickelt. Der Verband übernahm die Aufgabe, die Kontakte zu Schulen im Erzbistum Köln zu vermitteln und zu pflegen, und fand weitere lokale Kooperationspartner. Ein anderer Schwerpunkt lag in der Öffentlichkeitsarbeit. In Absprache mit dem Starkmacher e.V. hat die Caritas Pressekonferenzen organisiert und die Presse vor Ort betreut. Nicht zuletzt hat sie das kostenintensive Projekt mitfinanziert. „Stark ohne Gewalt“ wurde größer und professioneller und der Diözesan-Caritasverband Köln fester Partner des Starkmacher-Vereins. Zum Projektende 2014 kann der Verband stolz Bilanz ziehen: Im Erzbistum Köln haben über 30 Projektwochen mit einer Beteiligung von mehr als 40 Schulen stattgefunden. Mit dabei waren auch verschiedene Caritas-Einrichtungen der Jugendhilfe und Justizvollzugsanstalten. Weit über 10.000 Schülern konnte – allein im Erzbistum Köln – die Teilnahme ermöglicht werden. Aus „Stark ohne Gewalt“ wurde ab dem Jahr 2012 „StarkmacherSchule“ und das ursprüngliche Musical-Projekt wuchs zu einem ganzheitlichen Schulentwicklungsprojekt mit Vor- und Nachbegleitung. Der Diözesan-Caritasverband Köln übernahm die Verantwortung für das „Soziale Seminar“ als Anschlussangebot für einige beteiligte Schulen.

CARITAS-ANGEBOT „SOZIALES SEMINAR“ Einige Schulen im Erzbistum Köln hatten die Chance, im Rahmen der „StarkmacherSchule“ auch am „Sozialen Seminar“ teilzunehmen. In einem Zeitrahmen von bis zu sechs Monaten sollten die Schüler die Möglichkeit erhalten, die in der Projektwoche „Stark ohne Gewalt“ gemachten Erfahrungen zu reflektieren und das erworbene Wissen zu stabilisieren. Ein weiterer Schwerpunkt der Sozialen Seminare lag in der Vermittlung von politischen und sozialen Grundfragen, der Schulung sozialer Urteilsbildung und der Stärkung von Eigenverantwortlichkeit. Damit sollten Schlüsselqualifikationen geschult und die Lernmotivation der Schüler gefördert werden. Nicht zuletzt sollten die Schüler der Jahrgangsstufe 8 bis 10 mit ihren neu erworbenen Sozialkompetenzen auf den Übergang von Schule in Ausbildung vorbereitet werden.


>> NEUE WEGE ZUR SOZIALINTEGRATION

Der Diözesan-Caritasverband Köln hat eigens für das Projekt StarkmacherSchule ein Konzept für die Sozialen Seminare entwickelt und den Lehrerkollegien auf einer vorbereitenden Tagung vorgestellt. Die Schulen konnten dabei selbst entscheiden, ob die Sozialen Seminare im Klassenverband, einer AG oder einer Tagesveranstaltung außerhalb der Schule durchgeführt werden sollten. Zum Beispiel: Wochenseminar Stufe 9 einer Ganztagshauptschule Eine Ganztagshauptschule entschied sich für ein Wochenseminar zum Thema „Lebensperspektive“ für die Schüler der Jahrgangsstufe 9. Gemeinsam wurde an wichtigen Schlüsselfragen gearbeitet: Was ist mir wichtig im Leben? Welche Werte und Prinzipien sind mir im Umgang mit anderen Menschen wichtig? Ein weiteres Thema waren die Erfahrungen der Schüler bezüglich der eigenen Selbstwirksamkeit. Dabei geht es darum, Einfluss zu nehmen auf die eigene Situation, sich als Mitgestalter der Gesellschaft zu erleben. In Einzelarbeit, Austausch und Diskussion wurden dazu Handlungsoptionen und Alternativen erarbeitet. Die Schüler haben erfahren, dass es auch in schwierigen Situationen Handlungsmöglichkeiten gibt. Im letzten Teil des Seminars wurden die Schüler ermutigt, eigene kleine Schritte zu gehen und selbst neue und für sie relevante Informationen zu sammeln. Bezogen auf die eigene Berufsorientierung hieß das: Was will ich konkret in der nächsten Zeit dafür tun? Die Schüler der Ganztagshauptschule waren sehr engagiert, interessiert, motiviert und offen. Die Schüler – zusammengesetzt aus verschiedenen Klassen der Stufe 9 – wuchsen im Verlauf der Woche als Gruppe zusammen und entwickelten einen sehr sozialen und guten Umgang miteinander. Sie haben mehr Selbstvertrauen bekommen und konnten zunehmend bewusster mit ihren Stärken und Schwächen umgehen. Durch die im Seminar gemeinsam erarbeiteten Themen haben die Schüler wahrgenommen, dass man sie ernst nimmt und sie mitbestimmen konnten, was und wie etwas erarbeitet werden kann. Wir von der Caritas haben festgestellt, dass die Schüler selbstbewusster in das Schulsystem zurückgehen und ihre Stärken in den Gruppenprozessen an der Schule positiv einbringen und auch als informelle Gruppe positiv im Sozialgefüge der Schule mitwirken.

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Für die Schule war es eine neue und positive Erfahrung, außerhalb der Schule, mit externen Referentinnen und Referenten, an der Persönlichkeitsentwicklung und der Stärkung der Selbstkompetenz der Schüler zu arbeiten. Zum Beispiel: Seminar im Klassenverband der Klasse 10 einer Hauptschule Die Klasse 10 einer Hauptschule nahm teil an einem Seminar zum Thema „Knigge – angemessenes Verhalten gegenüber Erwachsenen“. Im ersten Seminarteil wurden Grundlagen des „guten Benehmens“ besprochen. Es ging um die Bedeutung des ersten Eindrucks, der Verhaltensweisen, wie z.B. der Pünktlichkeit, des Duzens/Siezens. Diese Grundlagen wurden in konkreten Einstiegssituationen reflektiert, erörtert und mit praktischen Übungen bearbeitet. Im zweiten Seminarteil wurden zunächst diese Grundlagen des „guten Benehmens“ vertieft. Die Schüler erhielten die Aufgabe, in Kleingruppen grundlegende Werte wie Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Rücksichtnahme und Toleranz zu erarbeiten. Im dritten Seminarteil wurden die gemeinsam erarbeiteten Regeln in verschiedenen Übungseinheiten praktisch erprobt. Die Beteiligung und Resonanz der Schüler bei diesem Seminar war überraschend gut. Die Schüler haben für sich sehr deutlich herausgearbeitet, dass für sie gutes Benehmen in beruflichen Zusammenhängen und auch darüber hinaus einen Wert hat, auch wenn es in ihrem bisherigen Alltag nicht so eine große Bedeutung spielte. Die Schüler haben sich in den drei Seminareinheiten sehr engagiert beteiligt und haben auch durch ihr Reflexionsvermögen und ihre Diskussionsfreude sehr beeindruckt. Es war für alle Beteiligten eine sehr positive Erfahrung und ein Ansporn für den weiteren Lebensweg.


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FAZIT Die Sozialen Seminare haben dazu beigetragen, dass neue Wege für die Sozialintegration und die gesellschaftliche Teilhabe der Schüler erprobt werden konnten. Die Caritas wurde als außerschulischer Partner wahrgenommen und konnte mit ihren Angeboten ergänzend zum schulischen Lernen beitragen. Zwischen einzelnen Schulen und der Caritas im Erzbistum Köln entstanden vor Ort neue Kooperationen. Nach Beendigung des Projektes ist beispielsweise über die Vermittlung eines Caritasverbandes eine Kooperation zwischen einer Realschule und einem Altenheim verbindlich vereinbart worden. Schülerinnen und Schüler der Realschule werden sich im Altenheim ehrenamtlich engagieren und darüber hinaus auch ihre Schulpraktika dort durchführen können. Die Caritas freut sich, Teil dieser gesamten Entwicklung geworden zu sein. Kinder- und Jugendhilfe ist eine Kernaufgabe der Caritas und durch dieses Projekt ist es gelungen, gerade auch benachteiligte junge Menschen zu fördern und ihre Stärken und Talente sichtbar zu machen.

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DEN WEG WEITERGEHEN SOZIALINSTITUT KOMMENDE DORTMUND

Das Sozialinstitut Kommende Dortmund begleitet den Starkmacher schon seit einigen Jahren in diversen Projekten und hat das Projekt „Stark ohne Gewalt“ schon mehrfach in die Diözese Paderborn geholt. Der stellvertretende Direktor Detlef Herbers hat u.a. am Konzept der Folge-Angebote für Schulen und Jugendeinrichtungen mitgearbeitet, die in der StarkmacherSchule involviert waren. Die Kommende Dortmund sichert damit die nachhaltige Wirkung des Projektes.

„Echt nobel von denen, sich mit uns Kleinen abzugeben!“ Ein merkwürdiger Satz aus dem Mund der 16-jährigen Nathalie, Gesamtschülerin aus Dortmund. Er drückt auf ganz eigene Weise mit viel Respekt aus, was das Projekt „Stark ohne Gewalt“ bei den Teilnehmern auslöst. Das ist detaillierter an anderer Stelle schon beschrieben. Aber wie geht es danach weiter? Diese frustrierende Erfahrung der Kleinheit, die in Nathalies Satz mitschwingt, die lähmende Selbststigmatisierung von sozial benachteiligten Jugendlichen überwinden zu helfen, ist eines der Motive, warum die Kommende Dortmund, das Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn, seit 2007 die Projekte „Stark ohne Gewalt“ und „StarkmacherSchule“ unterstützt. Seit 2008 ermöglicht das Sozialinstitut jährlich einer Haupt- oder Gesamtschule die Teilnahme an den Projekten und begleitet sie dabei. Als Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn wurde die Kommende Dortmund 1949 gegründet, um den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands von den Motiven und Anliegen der Katholischen Soziallehre her mit zu gestalten. Zur Tradition des vielfältigen Bildungsangebots gehört seit vielen Jahrzehnten auch die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Hauptschulen. Um diese Arbeit auszuweiten und Projekte wie „Starkmacher Schule“


personell und finanziell stemmen zu können, wurde 2009 eigens die Kommende-Stiftung „beneVolens. Jugend fördern – Zukunft gestalten“ gegründet. Für die Kommende Dortmund ist das Projekt „Stark ohne Gewalt“ ein Einstieg in eine langfristige Zusammenarbeit mit Schulen. Neben dem, was die Projektwoche und das Heidelberger Kompetenz-Training für sich schon Wertvolles leisten, sind die Schulen durch die ausgelöste Begeisterung ermutigt, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. „Starkmacher Schule“ öffnet der Kommende Dortmund sozusagen ein breites Tor einer langfristigen Kooperation, in der das einmalige Event eine nachhaltige Wirkung entfalten kann. Wie geht es also nach dem Projekt weiter: Ein Erfolgsmodell ist das Soziale Seminar an Haupt- und Gesamtschulen unter dem Titel „selbstbewusst – kompetent – solidarisch“. In dem Jahreskurs trainieren die Jugendlichen, die freiwillig an den Seminaren teilnehmen, ihr Sozialverhalten, üben berufliche Schlüsselqualifikationen wie Kommunikation und Teamfähigkeit ein, setzen sich mit Grundwerten des Zusammenlebens wie Menschenrechte, Demokratie, Toleranz, Freiheit und Solidarität, aber auch religiösen Haltungen auseinander. Überhaupt ist das Interesse an den Weltreligionen bei den Schülern zurzeit sehr groß. Und es kommt zu spannenden Debatten zwischen, typisiert gesagt, sich areligiös gebenden deutschen Jungen und frommen Muslima. Am Ende steht bei fast allen der Respekt voreinander und das solidarische Miteinander. Überhaupt ist dies die häufigste Rückmeldung auf die Frage nach dem persönlichen Lernerfolg: Ich habe gelernt, andere Meinungen zu akzeptieren. Aber auch: Ich kann jetzt selbstbewusst meine Meinung vertreten. Wichtig geworden ist den Schülern aber auch die Erfahrung, dass es gemeinsam in Solidarität und Respekt vor dem anderen besser geht. Die Schulleitungen und Lehrer melden gleichzeitig zurück, dass sich das Sozialverhalten und auch die Schulleistungen der Schüler, die am Sozialen Seminar teilnehmen, verbessern. Auch deswegen schätzen sie die Zusammenarbeit mit der Kommende sehr. Die außerschulische Jugendbildung mit ihren ganz anderen Möglichkeiten ist eine gute Ergänzung der schulischen Arbeit. Solche Kooperationen machen daher viel Sinn, gerade in der Arbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen.

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>> DEN WEG WEITERGEHEN

Das Soziale Seminar wird durch weitere Angebote ergänzt. Ein wichtiges Modul ist das Angebot zur Suchtprävention. Drogenkonsum ist ein großes Problem, gerade von Schulen in benachteiligten Stadtteilen. Die gemeinsamen Tage mit ehemals drogenabhängigen Jugendlichen auf einem drogentherapeutischen Bauernhof haben eine nachhaltige Wirkung. Im Globalisierungsseminar, einem anderen Beispiel, lernen die Schüler nicht nur die Mechanismen und Folgen des Welthandels kennen, sondern auch die Situation der Menschen in den armen Ländern der Welt. Dieses Wissen lässt sie nochmal anders über ihre eigene Lebenssituation, auch ihrer Chancen in unserer Gesellschaft nachdenken. Am Ende des Sozialen Seminar bekommen die Schüler ein ausführliches Zertifikat ihrer Teilnahme, dass sie dann auch mit viel Stolz entgegennehmen. Manch einer freut sich einfach, den Jahreskurs durchgehalten zu haben. Auch dies eine positive Selbsterfahrung, die viel über sonstige Lebenserfahrungen dieser jungen Menschen aussagt. Anliegen und Ziel aller Angebote der Kommende sind ähnlich derer im Projekt „Starkmacher Schule“: die Jugendlichen unterstützen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und selbstbestimmt ihr Leben gemeinsam mit anderen in die Hand zu nehmen. Ihnen dazu das nötige Rüstzeug an Wissen und Orientierung mit auf dem Weg zu geben, aber vor allem ihnen Lernorte zu ermöglichen, in denen sie ihre eigenen Fähigkeiten im Miteinander entdecken können. Nathalie hat dann auch weitergemacht. Sie hat am Sozialen Seminar „selbstbewusst, kompetent, solidarisch“ im Anschluss an die Projektwoche teilgenommen: manchmal widerspenstig und eigensinnig, aber hoch interessiert und engagiert. Ihren Weg wird sie, nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen gehen.


STARTHILFE FÜR DEN EINSTIEG INS BERUFSLEBEN

Mit Beginn des Projektes StarkmacherSchule wurde auch die Initiative Joblinge als Partner und Teilprojekt integriert. Im Oktober 2012 war eine Gruppe von Jugendlichen der Joblinge-Initiative in Berlin in die Projektwoche rund um das Musical Streetlight involviert. Jana Siegmund aus Berlin und Anja Reinhard aus München geben Einblick in die Arbeit der JOBLINGE.

Bei JOBLINGE engagieren sich Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam, um benachteiligte junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. In einem sechsmonatigen, intensiven Programm erlernen die „Joblinge“ momentan in 12 Städten Deutschlands zunächst in Gruppenprojekten wichtige Sozial- und Jobkompetenzen, erhalten Orientierung über die eigenen Stärken und passenden Berufe, bevor sie dann in JOBLINGE-Partnerunternehmen Praxiserfahrung sammeln. Die Jugendlichen erhalten die Chance, sich ihren Ausbildungsplatz aus eigener Kraft zu „erarbeiten“ – unabhängig von Schulnoten und klassischen Bewerbungsgesprächen. Während der gesamten Zeit werden sie nicht nur von den hauptamtlichen JOBLINGE-Mitarbeitern begleitet, sondern jedem Teilnehmer steht auch ein „persönlicher“, ehrenamtlicher und geschulter Mentor mit Rat und Tat zur Seite. Zu Besuch in den Räumen der Joblinge in München Schwabing: Lina ist heut spät dran, es gab Ärger mit der S-Bahn. „Aber der Weltuntergang ist fast fertig“, verkündet sie strahlend, als sie den Computerraum der „Joblinge“ betritt. Lina gehört zu 30 Jugendlichen, die am ersten Oktober im sechsmonatigen Joblinge-Projekt bei der Münchner Joblinge gAG begonnen hat. Lina Dick hat sich mit zehn ihrer Kollegen für einen Crash-Kurs in Journalismus entschieden. In den vergangenen vier Wochen ist die 22-Jährige dafür unter anderem zur Spezialistin für das Thema Weltuntergang

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geworden, hat recherchiert zum Maya-Kalender, der das Ende der Welt für den 21. Dezember 2013 prophezeit hatte. Jetzt surft sie in verschiedenen Bilderdatenbanken im Internet, um noch ein paar passende Fotos zum Artikel zu finden. Ihr Fernziel ist ein Jurastudium; mit der Hilfe der „Joblinge“ möchte sie zunächst den Einstieg in eine Ausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellte schaffen. Am Computer neben ihr feilt Christian Gschwendner noch an seinem Artikel zum Thema Spielsucht. Der 20-Jährige würde gern Physik studieren und hat sein Nahziel zunächst einmal auf eine Ausbildung zum Chemieoder Physik-Laboranten festgelegt. Warum er über Spielsucht schreibt? Ein Grinsen huscht über sein Gesicht: „Da kenn ich mich aus! Und jetzt hab‘ ich viel nachgelesen, woran man erkennt, ob jemand schon wirklich abhängig ist, und was man dagegen tun kann. Da gibt’s Material ohne Ende, wir haben den Artikel schon dreimal gekürzt und müssen nochmal ran, wir haben nur zwei Seiten Platz.“ Die Zeitungsgruppe hat die Aufgabe, in zwei Monaten eine eigene Zeitung zu machen, die „Join“. Auf 28 Seiten wählen die jungen Leute Themen, über die sie schreiben wollen, ziehen los für Interviews und Recherchen und lernen unter Anleitung einer Journalistin, wie man Themen interessant aufbereitet, wie ein Text auch für Außenstehende gut lesbar wird; sie müssen Zeitvorgaben einhalten, sich ihre Arbeitsschritte selbst einteilen und Termine organisieren. In der Mitte des Raums steht eine Pinnwand mit 28 weißen Seiten, auf denen Titel und Autoren der geplanten Artikel stehen. Lina gehört zu den Ersten, die ihren fertigen Artikel gegen die weißen Seiten austauschen kann. „Ein solches Erfolgserlebnis ist enorm wichtig und ist eine Art Etappensieg innerhalb unserer Arbeit“, erklärt Standortleiterin Anja Reinhard. Alle Jugendlichen, die hier gefördert werden, haben schon eine lange Odyssee an vergeblichen Bewerbungsversuchen hinter sich. Anja Reinhard ist vom Konzept der Projektarbeit überzeugt: „Im gemeinsamen Arbeiten lernen wir die Jugendlichen sehr gut kennen und können schnell einschätzen, wo ihr Potenzial liegt. Der nächste Schritt ist dann die Vermittlung eines Praktikums, da arbeiten wir inzwischen mit einem großen Netzwerk an Unternehmen aus dem Groß- und Einzelhandel, aber auch aus dem Dienstleistungs- oder Verwaltungssektor. Idealerweise findet das Praktikum in einem Unternehmen statt, das der Jugendliche vorher identifiziert hat als Plan A, B oder C seiner Wunschliste.“


Immer mehr Unternehmen lassen sich dabei auf diese Kooperation mit den Joblingen ein und lernen dadurch Jugendliche kennen, die sich ihren Ausbildungsplatz zum Teil mühsam erarbeiten. Nicht jeder kann mit einem Traumzeugnis aufwarten, und manch einer hat bisher nie gelernt, was es an Startkompetenzen in der Arbeitswelt braucht. Die Initiative Joblinge arbeitet deshalb ganz bewusst nach ähnlichen Regeln wie eine Firma: Es gibt feste Arbeits- und Pausenzeiten, es gilt eine gewisse Kleider- und Verhaltensordnung, es werden Tages- und Wochenziele festgesteckt, über die jeder Bewerber regelmäßig Rechenschaft ablegen muss. Die Projekte der einzelnen Joblinge-Standorte sind sehr unterschiedlich: Die Münchner haben mit der eigenen regelmäßig erscheinenden Zeitung ihrem Image bei den Kooperationspartnern ein Gesicht gegeben. Die Berliner Joblinge haben sich im Musicalprojekt der StarkmacherSchule positiv präsentiert. Die Mitarbeiter dort am Standort fanden eine Schule als Kooperationspartner, die Location für das Abschlusskonzert, und waren eine Art Schaltzentrale für viele Fragen der Organisation. Etwa 15 Jugendliche, die zu dem Zeitpunkt gerade das Joblinge-Programm absolvierten, waren eingebunden in einige der Workshops der StarkmacherSchule. Sie engagierten sich in einzelnen Workshops, assistierten den Lehrkräften und brachten sich in organisatorische Aufgaben mit ein. „Für unsere Joblinge war das eine ganz neue Erfahrung. Sie waren jetzt zum Teil den Lehrern als Assistenten zugeteilt als eine Art Zwischenglied zwischen Lehrern und Schülern, mussten sich in diese ungewohnten Rolle auch selbst erst hineinfinden!“, erzählt Jana Siegmund, Koordinatorin Jugendliche und Mentoren der Joblinge gAG Berlin. Die Jugendlichen waren zum Teil im Catering involviert oder im Tanz-, Chor- oder Zeitungs-Workshop aktiv. „Wir haben die Joblinge vorher gut eingeführt, durch das Bildund Video-Material hatten sie schon eine recht konkrete Vorstellung, was da mit dem Projekt auf sie zukam, und sie haben sich dann erstaunlich schnell in den ungewohnten Ablauf und die ganz neuen Rollen hineingefunden. Und Spaß gemacht hat es allen“, zieht die Berlinerin Bilanz.

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Lina und Christian in München ziehen am Ende ihres Projekts positive Bilanz: Sie sind froh, dass sie so professionelle Unterstützung bekommen, für sie ist das durchstrukturierte Gerüst eine Hilfe: „Ich hab schon viel versucht, hab zwei Praktika hinter mir, aber es hat nie zur Ausbildung gereicht. Jetzt hoffe ich, dass ich hier endlich den Einstieg finde“, sagt Lina und Christian fügt hinzu: „Es ist schon toll, wie wir hier vorbereitet werden, über die Projektarbeit und Praxiserfahrung im Unternehmen – ich hoffe, damit habe ich dann bessere Chancen.“


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DAS WAR’S RÜCKMELDUNGEN ZUM PROJEKT STARKMACHERSCHULE


DAS WAR’S RÜCKMELDUNGEN ZUM PROJEKT STARKMACHERSCHULE Im vorangegangenen Kapitel haben wir die Arbeit des Starkmachers vorgestellt, das pädagogische Konzept und das dahinter stehende Menschenbild beleuchtet, die Strukturen und Vernetzungen erklärt. Die Frage ist: Lohnt der Aufwand? Was bringt ein so aufwendiges und großes Projekt den Kindern und Jugendlichen konkret? Macht der Starkmacher nur in der pädagogischen Theorie stark – oder auch in der Praxis? Einen Eindruck von dem, was nach einer Starkmacherwoche in den Köpfen und Herzen der Jugendlichen und ihrer Eltern, Betreuer und Lehrer übrig bleibt, liefern die vielen Rückmeldungen, die der Starkmacher bekommt. Manches Feedback ist institutionalisiert, nach den Aufführungen von „Streetlight“ geben Schüler und Lehrer in Gesprächsrunden Auskunft über das, was sie erlebt haben und mitnehmen. Anderes wird spontan in Gesprächen geäußert oder kommt als E-Mail, Facebook- oder Gästebucheintrag beim Starkmacher an. Am bewegendsten für die Mitarbeiter ist es, Jugendlichen nach Jahren wieder zu begegnen und dabei zu merken: Der Same, der gesät wurde, ist aufgegangen. Was investiert wurde, hat sich gelohnt. Etwas bleibt. Was das sein kann? Im folgenden Kapitel haben wir kurze Feedbacks und kleine Geschichten rund um StarkmacherSchule gesammelt.


STARKE ZAHLEN UND FAKTEN

Von 2006 bis 2014 hat der Starkmacher e.V. mit dem Projekt „Stark ohne Gewalt“ gemeinsam mit der internationalen Band Gen Rosso in Deutschland, Tschechien (zusammen mit dem Partner „Trialog“) und in Brasilien (zusammen mit dem Partner „Fazenda da Esperanca“) » 29.068 Jugendliche aktiv in Workshops eingebunden » 2386 Pädagogen in Fachtagungen geschult und stark gemacht » 111 Schulen, 8 Jugendhilfeeinrichtungen und 6 Gefängnisse haben am Projekt teilgenommen » 153 Konzerte haben die Jugendlichen aufgeführt » 153.522 Menschen haben im Rahmen des Projektes in diesen Ländern das interaktive Musical „Streetlight“ mit Jugendlichen auf der Bühne gesehen. Gen Rosso hat das Projekt aber auch in anderen Ländern wie Philippinen, Italien, Bosnien, etc. mit anderen Partnern weitergetragen. Schirmherren waren in Deutschland unter anderem » MdEP Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Parlaments » Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen » Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen » Frau Brigitte Lösch, Vizepräsidentin des Landtags von Baden-Württemberg » Reinhold Gall, Innenminister des Landes Baden-Württemberg » Prof. Dr. Christian Pfeiffer » Dr. Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof Köln » Friedrich Weber, Landesbischof der ev. Luth. Landeskirche Braunschweig » Deutsche UNESCO Kommission e.V.

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„EINE SEELE KANN HEILEN“ ERFAHRUNGSBERICHT EINES BETROFFENEN JUGENDLICHEN

Mark ist 27 Jahre alt und stammt aus Leipzig. Im Jahr 2014 macht er ein Praktikum beim Starkmacher e.V.

Ich bin im Osten Deutschlands aufgewachsen und meine Familie ist sehr oft umgezogen. Daher war ich immer überall „der Neue“. Was ich früh lernte, waren Ehrgeiz und das Streben nach Aufmerksamkeit. Ich etablierte für mich ein Selbstbild des „begabten Arschlochs“, was irgendwie auch zu meiner inneren Zerrissenheit passte. Und ich war von Minderwertigkeitskomplexen geplagt. Diese Mischung brachte mir schon früh viele Schwierigkeiten – vor allem in der Schule. Ich galt als störend, gewalttätig, aufsässig, oberflächlich, provozierend und manipulativ. Gleichzeitig war ich aber immer einer der Klassenbesten. Ich begann in der Grundschule zu rauchen. In der sechsten Klasse hatte ich dann den ersten Kontakt mit Drogen. Zusammen mit meinen Freunden kiffte ich am Abend des letzten Schultages vor den Sommerferien. Mit 13 konsumierte ich zum ersten Mal Crystal Meth, die folgenden zwölf Jahre sollte es mein täglicher Begleiter, bester Freund und zum Schluss einzige Lebensgrundlage sein. Diese Droge passte scheinbar perfekt zu mir. Sie ermöglichte mir, meine Komplexe zu überwinden und dennoch (zumindest anfangs) Leistung zu bringen. Ich fühlte mich erhaben. Nach und nach kamen alle möglichen anderen Drogen dazu. Ich baute körperlich und mental immer mehr ab. Trotzdem schaffte ich mein Abitur und schrieb mich anschließend in Chemnitz für Wirtschaftswissenschaften ein. Ich war sehr erfolgreich und begann nach dem zwei-


>> EINE SEELE KANN HEILEN

ten Jahr bereits selber an der Uni zu unterrichten, als jüngster Übungsleiter. Ich hatte vor, nach dem Studium als Politikberater zu arbeiten. Doch es kam anders. Ich schmiss mein Studium, wurde kriminell und kam 2012 wegen eines Einbruchs in Untersuchungshaft. Der Anwalt ging von einer langjährigen Haftstrafe aus. Er meinte, dass ich nur eine Chance hätte, dem zu entgehen: Ich müsste vor der Verhandlung auf Therapie kommen. So lernte ich die Fazenda da Esperanca kennen. Fazenda war so anders als alles, was ich je erlebt hatte. Es ging um Liebe, Vergebung, Toleranz. Die anderen Typen dort schienen das tatsächlich zu glauben und zu leben. Das war mir unheimlich, berührte mich aber irgendwie. Ich habe in diesem Jahr eine Menge über mich erfahren und den Schlüssel zu meiner Heilung entdeckt. Auch wenn eine Sucht nicht heilbar ist, so kann doch eine Seele heilen. Und eine heile Seele ist die Grundvoraussetzung dafür, glücklich zu werden. Natürlich bin ich noch lange nicht am Ziel. Und nur weil man clean ist, bedeutet das nicht, dass man automatisch sein ganzes Leben clean bleibt. Es gibt keine Lebensimpfung, die für immer immunisiert. Ich habe die Starkmacher 2012 kennengelernt. Das Praktikum dort war eine der ersten Etappen auf meinem Weg zurück in die Gesellschaft. Ich habe diese Chance bekommen und genutzt. Die Projektwochen, die ich nicht (nur) als Teilnehmer, sondern auch als Vorbereiter, Assistent und Übersetzer begleiten durfte, gaben mir – bei allen Anstrengungen – sehr viel zurück. Sie waren abwechslungsreich, emotional, ergreifend. Ich habe Beziehungen geknüpft, die mich heute noch begleiten. Ich habe ein Stück Familie in der Welt gefunden. Ich habe gelernt, auf Situationen zu reagieren und Herausforderungen zu meistern. Dieses Wissen begleitet mich auch weiterhin. Und die Shows und das Feedback der Kids mit ihren leuchtenden Augen waren der Lohn für mein Engagement. Ein Erlebnis ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Bei der Projektwoche in Erfurt war ich im Workshop Bühnengestaltung. Die meisten der Berufsschüler dort hatten den Kurs nur gewählt, weil sie damit einen Bühnenauftritt zu umgehen hofften. Als die Gruppe einen kleinen Teil im Musical übernehmen sollte, waren alle geschockt. Während der Auftritt noch erklärt wurde, verließen bereits die Ersten den Raum. Am Ende der Erläuterungen waren von unseren fast 40 Teilnehmern im Workshop Bühnengestaltung noch vier anwesend, die sich dann auch bereit erklärten, ihren

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Bühnenauftritt zu realisieren. Somit wussten wir am Abend der Show nicht einmal, wie viele Schüler unserer Gruppe überhaupt erscheinen würden, geschweige denn, ob sich jemand auf die Bühne trauen würde. Es gab für die Schüler keine Teilnahmepflicht, da alle volljährig und nicht mehr schulpflichtig waren. Doch nach und nach trudelten unsere Workshop-Teilnehmer ein. Unter den Schülern herrschte aber immer noch einstimmige Ablehnung. Aber ich legte mich noch einmal ins Zeug und motivierte und erklärte und zog alle Register. Ich ging dann der Gruppe voraus – auch um zu zeigen, dass ich mich nicht herausnehme oder sie alleine lassen würde. Diese Schritte bis zum Rande der Bühne waren unglaublich hart für mich. Ich wusste nicht, ob mir jemand gefolgt war, oder ob nur ich vorlief und letztendlich allein an der Bühne stehen würde. Als ich neben der Bühne ankam, wartete ich einen Moment und drehte mich um. Dann schlug mir das Herz plötzlich bis zum Hals, denn fast alle der Schüler waren mir an die Bühne gefolgt. Ich war überglücklich und völlig baff.


I’LL BE THERE GESCHICHTEN UND ERLEBNISSE

Was bleibt? Das bleibt: Wir haben Geschichten und Erlebnisse gesammelt, die den Bandmitgliedern, den Starkmachern oder den Organisatoren und Mitwirkenden vor Ort nicht mehr aus dem Kopf gehen. Erlebnisse mit Jugendlichen, Lehrern, Erziehern, Eltern, Musical-Besuchern. Eine Sammlung von Momentaufnahmen, die einen Eindruck geben von dem, was StarkmacherSchule möglich macht.

FRIEDEN IM KLASSENZIMMER Meinolf Wacker, Pastor in Kamen und Mitorganisator des Streetlight-Musicals an der Hauptschule vor Ort, schreibt: „Einige Tage nach der Starkmacherwoche an der HS Kamen erzählte mir der Rektor der Schule Folgendes: Einer der Lehrer hatte auf dem Schulhof einen Schneeball abbekommen. Relativ schmerzhaft. In der sich anschließenden Unterrichtsstunde ist er dann echt ausgerastet. Es war einfach zu viel! Die Situation in der Klasse muss richtig bedrückend gewesen sein. Und dann begann ein Mädchen auf einmal das Lied von Gen Rosso zu singen: „I’ll be there!“ - „Ich bin dabei!” Alle anderen stimmten ein. Und dann ging’s in anderen Klassen weiter: „I’ll be there!” Es kehrte wieder Frieden ein – in dem Klassenraum und in den Herzen der Einzelnen!”

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GANZ GROSS Christoph Flegel, Leiter der Don Bosco Katholischen Jugendhilfe in Osnabrück, erzählt: „Bei uns in der Einrichtung ist bis heute viel hängen geblieben – bei den Mitarbeitern und bei den Kindern. Einige Jugendliche erzählen immer noch von dieser Projektwoche und den positiven Bildern, die hängen geblieben sind. Dabei ist die Aktion schon fünf Jahre her! Das Thema der Starkmacher war, junge Menschen stark zu machen, um in der Welt bestehen zu können. Das ist auch unser Thema hier: den Kindern und Jugendlichen ihre Einmaligkeit, ihre Stärken und Ressourcen deutlich zu machen. Die Woche mit den Starkmachern war sehr wichtig für uns, um diese Haltung zu verstärken. Eine Geschichte ist mir besonders hängen geblieben: Ein Neunjähriger kam kurz nach der Aufführung zu mir und sagte: ‚Ich habe das Gefühl, dass ich um zehn Zentimeter gewachsen bin.‘ Letztendlich war es ein inneres Wachstum, und es ist ausgesprochen vielen so gegangen. Diese Aktion hat uns alle ein ganzes Stück nach vorne gebracht.


>> I´LL BE THERE

„ICH WAR DIR WICHTIG!“ Im Workshop „Bühnengestaltung“ tut sich ein Siebzehnjähriger offensichtlich sehr schwer, sich in die Gemeinschaft einzufügen und sich kreativ oder konstruktiv an der Arbeit zu beteiligen. Er gerät dadurch immer wieder in Auseinandersetzungen mit Workshopleiter Ciro von Gen Rosso. Erscheint er morgens nicht zum Workshop, lässt Ciro bei ihm zu Hause anrufen, um ihn einzubestellen. Der Trainer versucht mit allen Mitteln, ihn zum Mitmachen zu bewegen. Immer wieder gibt es Stress. Auch Ciro kommt dabei an seine Grenzen, ist enttäuscht, weil er keinen Zugang zu dem Jungen bekommt, keine Beziehung aufbauen kann. Der Jugendliche scheint gegen alles zu rebellieren und zeigt nur Missachtung und Unmut. Am letzten Tag steht der Junge vor ihm und überreicht ihm eine Kette. Eine Geschichte, die er am ersten Tag gehört hat, hatte ihn sehr bewegt: Ein junger Mann in einem Gefängnis in Burundi hatte dem spanischen Gen-Rosso-Mitglied José am Ende eines Konzerts einen Ring geschenkt: Weil er selbst das Gefängnis wohl nicht mehr verlassen würde, wollte er, dass stattdessen wenigstens der Ring als Teil von ihm mit José um die Welt reist. Den Siebzehnjährigen aus Ciros Workshop hat diese Geschichte getroffen, und am Ende der Woche will er Ciro nun ein Zeichen dafür mitgeben, dass seine Bemühungen nicht spurlos an ihm vorbei gegangen waren. Zum ersten Mal in seinem Leben habe jemand an ihn geglaubt. „Du hast nicht locker gelassen, wolltest, dass ich dabei bin. Ich glaub‘, das war das erste Mal, dass ich für jemanden wichtig war!“ Ciro habe ihn nicht fallen lassen, auch wenn er ihm allen Grund dazu gegeben hätte. Und deswegen wolle er, dass jetzt auch seine Kette als Teil von ihm mit Ciro weiter um die Welt reist.

„DANKE FÜR DEN GLÜCKLICHSTEN ABEND SEIT JAHREN!“ Ein Sanitäter kommt nach dem Konzert auf ein Mitglied des Starkmacher-Teams zu und sagt: „Eigentlich war ich gar nicht eingeteilt für heute Abend. Aber ein Kumpel von mir konnte nicht und hat mich gefragt, ob ich einspringe. Begeistert war ich nicht, hab‘ aber zugesagt. Jetzt kann ich gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass ich hier war!“ Er habe vor ein paar Jahren seine Frau verloren und seitdem keine wirkliche Freude mehr erleben können. „Das war seit Jahren einer der glücklichsten Abende, die ich erlebt habe!“

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SIE KANN DOCH WAS Eine Lehrerin aus Dortmund sagt nach der Starkmacher-Woche: „Diese Schülerin, die da auf der Bühne aus sich raus geht und Show macht, ist bei mir im Mathe-Unterricht eine völlige Niete und unscheinbar. Nun sehe ich zum ersten Mal richtige Talente bei ihr und stelle fest, dass ich meine Sichtweise wirklich ändern muss.“

GROSSER KLEINER Marco Kern, Schulsozialarbeiter in Frechen, erzählt: „Die Lehrer wussten nach dieser Woche: Jetzt weiß ich wieder, warum ich meinen Job gerne mache! Meine Lieblingsgeschichte ist die von Philipp. Heute ist er in der zehnten Klasse, damals war er in der fünften und sehr klein für sein Alter. Er saß auf einem Stuhl, bei dem er mit den Füßen nicht auf den Boden kam. Philipp war neu an der Schule und auch seine Körperhaltung drückte aus: Ich bin klein, fast unsichtbar. Keiner wusste, dass er gut Gitarre spielt. Er war dann im Workshop Band, und als ich in den Raum kam, zeigte er gerade den Zehntklässlern, wie verschiedene Akkorde gegriffen werden. Die saßen da und hörten zu und ließen sich von diesem Knirps die Sache erklären. Später stand er auf der Bühne vor 1000 Leuten, machte einen großartigen Auftritt und war plötzlich in der ganzen Schule bekannt. Dieser Schüler ist im wahrsten Sinne des Wortes gewachsen. Sogar seine Körperhaltung hat sich verändert. Er war plötzlich viel präsenter und hat sich ganz anders in der Schule bewegt. Allein für diesen Schüler hat sich das Projekt gelohnt!

RAUS AUS DER DROGENSZENE Angelo G. hat schon früh Probleme mit Drogen, rutscht immer tiefer in die Szene ab, steigt schnell zum Dealer auf und gerät schon bald in Konflikt mit dem Gesetz. Ein Freund überredet ihn, bei einem Starkmacher-Projekt mitzumachen. Er engagiert sich in einem Hip-Hop-Workshop. Das ist seine Musik, sein Medium und seine Songs sind gut! Doch was ihn noch viel mehr


fasziniert ist das Klima, er mag die Leute, die sich da für ihn interessieren, ihn in ihre Gemeinschaft aufnehmen, auch wenn er schon viel Mist gebaut hat in seinem kurzen Leben. Angelo beschließt, aus der Drogenszene auszusteigen: Er macht einen Entzug und will ein neues Leben beginnen. Er überzeugt seine Mutter, aus der Stadt wegzuziehen, damit er sich nicht mehr herunterziehen lässt von seinem früheren Umfeld. Während der ganzen Zeit bricht der Kontakt zu den Starkmachern nicht ab: Sie besuchen ihn, schreiben ihm, machen ihm Mut, nicht aufzugeben und den harten Weg zu gehen, den er eingeschlagen hat. Heute hat Angelo einen Ausbildungsplatz und wurde sofort in den Betriebsrat gewählt, weil er sich für seine Altersgenossen einsetzen will. Er engagiert sich in sozialen Projekten und ... schreibt weiter eigene Songs! Hier ist sein „Starkmacher-Song“: Ich geh‘ nicht allein! Mein Herz spricht viele Worte, was sagt deins? Meins sagt: Nie wieder aufgeben, immer wieder weiterlaufen. Immer wieder weiter rauf, immer neue Ziele setzen. Ich danke dem Starkmacher und meiner Mutter, die mir geholfen haben, mir selber zu helfen, den Kopf hochzuhalten, an die anderen zu denken. Ich gehe meinen Weg und ich weiß nicht, wo‘s hingeht, wie sich die Welt dreht oder wer mitgeht. Doch die eine Frage steht schon fest: Ich gehe nicht alleine und ich geb‘ euch den Rest. Diese eine Frage steht schon fest: Ich geh‘ nicht allein!

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JUBEL IM GEFÄNGNISHOF Günter Berkenbrink, Gefängnisseelsorger der JVA Wuppertal-Ronsdorf, erzählt: „Ich habe von den Starkmachern eine ungeheure Wertschätzung und Sympathie für die Jugendlichen wahrgenommen und eine Unbefangenheit, mit der sie auf sie zugegangen sind. Ich habe immer noch viele starke Bilder im Kopf: Bei uns haben zwei Jugendliche mit der Band Musik gemacht, und am Ende wusste man nicht mehr, wer Täter und wer Künstler ist, sie waren in dem Moment alle Künstler. Ich habe Jugendliche erlebt, die in ganz kleinen Bereichen Verantwortung übernommen haben: Licht, Ton, oder das Hin- und Herschleppen von Dingen, und die stolz darauf waren. Viele unserer Jugendlichen haben sonst wenig Erfolg in ihrem Leben. Ibrahim galt als extrem schwierig. Aggressiv. Drei Tage besonders gesicherter Haftraum. Aber er durfte mitmachen. Tanzen. Ein Mensch wie verwandelt. Und stolz! Die Professionalität der Starkmacher gepaart damit, dass das Team multikulturell und international ist – das kam bei unserer multikulturellen Gefängnisgemeinde gut an. Ich glaube, auch die Künstler haben das Bild am Ende nicht so schnell vergessen: Als sie mit ihrem Tross aus dem Gefängnishof gefahren sind, standen überall jubelnde und winkende Jugendliche an den Zellenfenstern. Das war ein lauter und herzlicher Abschied. Grüße aus dem Knast!

POSITIV DURCHGESCHÜTTELT Dr. Bernd Finke, Abteilungsleiter Berufliche Fördereinrichtung der Walter-Gropius-Schule Erfurt, Schulteil Am Rabenhügel, erzählt: „Das Musical ‚Streetlight‘ war zweifellos ein Erlebnis, das mich sehr berührt hat. Hängen geblieben sind zum einen die Bedenken über die Größe und die Realisierbarkeit des Projekts nach der Projektvorstellung, zum anderen die tollen Erfahrungen in der Vorbereitungs- und Durchführungsphase. Wie sich Schüler einbrachten und riesigen Spaß bei den Aufführungen hatten, war erstaunlich. So manchen Schüler, den ich im Unterricht eher als träge wahrnahm, tanzte, trommelte oder versuchte sich an akrobatischen Nummern und wuchs förmlich über sich hinaus. Ich spürte ihre große Freude über das Erreichte, an das sie selbst nicht geglaubt


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hatten. Ich staunte über das sich entwickelnde Selbstbewusstsein unserer Schüler. Da trauten sich Schülerinnen auf die Bühne, die nicht unbedingt Modelmaße erreichten, und sie wurden durch ihren persönlichen Ausdruck von allen geschätzt. Bemerkenswert war für mich auch das wachsende Gemeinschaftsgefühl von den Workshops an bis hin zum Auftritt. Die Dynamik in den Workshops, die Koordination zwischen Schulleitung, Ämtern der Stadt, Lehrern und Schülerfirma zur Durchführung der Projektwoche, war beeindruckend. Noch Tage nach den Aufführungen wirkten die Eindrücke nach. Musik des Musicals erklang im Schulhaus, Fotos wurden an die Wände geheftet, und immer wieder kam die Frage: „Wann können wir das nächste Projekt machen?“ Für das neue Schuljahr werden manche Unterrichtsstunden das Thema aufgreifen und den Grundgedanken „Stark ohne Gewalt“ mit vielfältigen Transferbeispielen untersetzen. Das Projekt hat unsere gesamte Schule im Positiven durchgeschüttelt.“

„DU SCHAFFST DAS!“ Luiz Fernando Braz, Leiter der Fazenda da Esperanza Gut Bickenried, einer Einrichtung für junge Suchtkranke im Allgäu, erzählt: „Es war eine wunderschöne Erfahrung, zu sehen, dass unsere Jugendlichen viel mehr können, als sie denken. Wir hatten einen jungen Mann, der sonst immer gesagt hat: Ich kann nichts. Immer wenn er eine Aufgabe bekommen hat, hat er solche Sätze gesagt: Ich kann das nicht. Ich schaff es nicht. Er hatte sich den schwierigsten Workshop ausgewählt, Hip-Hop. Der Lehrer fragte: Kann jemand ein Solo machen? Dieser Junge hat sich aus Spaß gemeldet und dann schnell einen Rückzieher gemacht: Nein, ich kann das nicht. Der Hip-Hop-Lehrer hat dann sehr hart mit ihm geredet und gesagt: Du schaffst das! Der Jugendliche hat es tatsächlich geschafft und super gemacht bei der Veranstaltung. Er war sehr stolz. Später hat er sogar vor 500 Leuten von dieser Erfahrung erzählt, und bei uns übernimmt er nun mehr Verantwortung und nimmt Sachen in die Hand. Dieses Projekt hat vielen unserer Jugendlichen geholfen. Sie haben es sehr ernst genommen. Und es hat unser Zusammenleben, unsere Gemeinschaft gestärkt – nach dem Konzert haben die Jugendlichen viel mehr zusammen gemacht.“

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DAS WAR MEGA! ECHOS VON JUGENDLICHEN, ELTERN, LEHRERN UND FÖRDERERN VON STARKMACHERSCHULE

In Gesprächen, E-Mails, Gästebucheinträgen und Feedbackbögen haben sich viele der Jugendlichen, die bei StarkmacherSchule mitgemacht haben, über das Projekt und ihre Erfahrungen damit geäußert. Auch ihre Eltern, Lehrer und Betreuer haben erzählt und aufgeschrieben, was sie erlebt haben während der Projekttage – und danach. Ein Einblick.

„Ich hatte in einem Tanzworkshop Aufsicht und versuchte in der letzten Reihe mitzumachen. Ich gab schnell auf, weil das zu schwer und zu schnell für mich war. Umso größer war meine Überraschung, dass die Schüler das nicht nur problemlos, sondern auch sehr professionell umsetzten. Das sind Personen, die ich aus dem Schulalltag als weit unterlegen kenne – und nun können sie etwas besser als ich.“ //Eine Lehrerin aus Dortmund „Ich musste keine Angst haben, einen Fehler zu machen, weil es nicht ums Perfektsein ging, sondern einfach um den Moment.“ //Christine, Schülerin „Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es war ein wahres Seelenfeuerwerk, das die Schüler und Schülerinnen ausgelöst haben.“ //Ein Vater in einer Mail an das Lehrerkollegium der Hauptschule in Kamen


„Ich hätte mir nicht zugetraut, vor so vielen Menschen zu stehen, ohne gleich wegrennen zu wollen.“ //Sarah, Schülerin „Das Schönste am Starkmacher ist für mich die Erfahrung, dass den Schülern nicht etwa Kraft gegeben wird, die sie vorher nicht hatten. Vielmehr entdeckt jeder seine eigenen Stärken und Talente. Nicht nur die Kinder haben bei diesem Projekt ein paar tolle Tage, auch für das StarkmacherTeam ist das eine wertvolle Erfahrung.“ //Lena (ehrenamtliche Starkmacherin) „Die Starkmacher lernte ich im Zusammenhang mit dem Musical „Streetlight“ und der Performance von Gen Rosso kennen. Ich konnte zuerst gar nicht glauben, was ich sah: Schülerinnen und Schüler, die begeistert, hoch motiviert und schon fast professionell ihre Talente präsentierten. Mancher wusste bis zur Zusammenarbeit mit den Starkmachern vielleicht gar nicht, was an Stärken und Fähigkeiten in ihm schlummerte. Diese starke Entdeckung wünsche ich allen Jugendlichen, die sich ausgegrenzt oder chancenlos fühlen. Liebe Starkmacher: Danke und macht unbedingt weiter!“ //Ansgar Puff, Weihbischof in Köln „Ich würde sagen, dass jeder so ein Projekt verdient hat.“ //Michael, Schüler „Fantastisch, was die Schülerinnen und Schüler in so kurzer Zeit erarbeitet haben und mit welchem Selbstbewusstsein sie auf der Bühne standen. Besonders herausragend fand ich, dass wirklich jede Schülerin und jeder Schüler eine wichtige Rolle, sei es vor oder hinter der Bühne, eingenommen hat und somit die gesamte Schule gemeinsam beteiligt war.“ //Karsten Bach, stellv. Schulleiter der LVR-Johann-Heidsiek-Schule Düsseldorf, Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation

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„Letzte Woche war die schönste Woche meines Lebens.“ „Stark ohne Gewalt“ //Blogeintrag eines Schülers „Stark ohne Gewalt ist für mich: Berge zu versetzen und Dinge zu erreichen, die einem auf nonverbalem Wege nicht mal im Traum eingefallen wären!“ //Annika Klump, ehrenamtliche Starkmacherin „Gewalt geschieht nicht nur weit weg in den Kriegs- und Krisengebieten der Welt, sondern erschreckend nah auf unseren Straßen, auf Spielplätzen, in Schulen, in Familien. Früh anzufangen und jungen Menschen zu helfen, sich mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen, mit Gewalt umzugehen und Gewalt nicht mit Gewalt zu begegnen, ist ein guter Weg. Ich danke allen, die mit dem Projekt StarkmacherSchule einen Beitrag zu einem guten Miteinander ohne Gewalt und in gegenseitigem Respekt leisten.“ //Rainer Maria Kardinal Woelki „In unseren Gesprächen ist dieser Abend ein großes Thema. Alle sind noch wie verzaubert. Christopher singt noch häufig die Lieder. Alle Kinder haben in sehr kurzer Zeit Großes geleistet und werden noch lange daran zurückdenken. Die Künstler waren unglaublich herzlich zu den Kindern. Vielen Dank, dass sie diese Projektwoche möglich gemacht und uns einen unvergesslichen Abend geschenkt haben.“ //Irene Gresens, Mutter eines Schülers „Ich persönlich empfinde das Projekt als wirkliche Bereicherung meiner beruflichen Tätigkeit und werde mich später im Schaukelstuhl daran sicher immer sehr gerne erinnern.“ //Eine Lehrerin aus Köln „Zum Halbjahr ging ein Kollege in Ruhestand. In seiner Abschiedsrede erwähnte er, dass in seinem 40-jährigen Schulleben die Projektwoche mit Starkmacher und Gen Rosso das beeindruckendste Ereignis war.“ //Eine Lehrerin aus Aschendorf/Papenburg „Das Projekt hat mir viel Spaß gemacht, und dass man seine Fähigkeiten zeigen konnte, die man in der Schule sonst nicht zeigen kann.“ //Adonai, Schüler


>> DAS WAR MEGA

„Stark ohne Gewalt ist für mich, anderen vertrauen zu können und auch dem Nächsten Vertrauen zu schenken. Es ist, sich auf andere zu verlassen und auch für den Nächsten da zu sein.“ //Matteo Riatti, ehrenamtlicher Starkmacher „Ich habe Schüler erlebt, die ich desinteressiert erlebe oder die im Unterricht sehr still sind. Auf der Bühne fand eine Verwandlung statt.“ //Ein Lehrer aus Dortmund „Ich fand es einfach toll, dass wir so etwas miterleben durften.“ //Pelin, Schülerin aus Böblingen „Mein Einsatz in diesem Projekt hat mir gezeigt, dass Aggressionen und gesellschaftliche Probleme schon im ganz Kleinen beginnen und wir das ‚Gegenmittel‘ eigentlich unbegrenzt zur Verfügung haben: nämlich Anerkennung und Toleranz. Heute versuche ich, diese Dinge viel öfter zu teilen und dadurch ein friedlicheres Miteinander zu gestalten.“ //Miriam Defaa, ehrenamtliche Starkmacherin „Der Leiter hat das genial gemacht, wie er den Schülern Freiräume gab und gleichzeitig Grenzen setzte. Wir hatten ja wirklich Haudegen in unserer Gruppe, und ich war überzeugt, dass es in zwei Tagen unmöglich ist, das Workshopziel zu erreichen. Und jetzt schauen Sie mal, wir haben so tolle Ergebnisse, ich bin begeistert und stolz auf meine Schüler. Das hätte ich ihnen gar nicht zugetraut!“ //Eine Lehrerin aus München „Wir haben spielend gelernt, wir haben Spaß gehabt und das Wichtigste, wir haben für einen guten Zweck gekämpft.“ //„Stark ohne Gewalt“-Blogeintrag eines Schülers „Ich habe von der Woche mitgenommen, dass man an sich glauben und Neues wagen soll.“ //Svenja, Schülerin „Wir haben als Lehrerinnen und Lehrer in dieser Woche viel dazugelernt. Die Begegnungen mit den Künstlern, die Freundlichkeit im Umgang mit den Jugendlichen werden uns in unserer pädagogischen Arbeit weiterhin motivieren. Freundlichkeit im Umgang und Leistungsanforderungen

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schließen einander nicht aus. Das haben wir schon immer gewusst, wurde uns in den Tagen des Projektes aber noch einmal nachdrücklich vor Augen geführt.“ //Eine Lehrerin aus Bordesholm „Ich hätte mir alles nicht zugetraut, weil in zwei Tagen eine Show aufzubauen ist echt schwer. Aber ich bin echt stolz, dass ich es geschafft habe.“ //Patrick, Schüler „So wächst eine Schule, so wachsen Schüler und Lehrer zu einer Gemeinschaftsschule zusammen. Mehr davon!“ //Ein Lehrer aus Bordesholm „Die Schülerinnen und Schüler haben ein hohes Maß an Anerkennung und Wertschätzung erhalten. Sie haben erfahren, dass sie wichtig sind und stolz auf ihre Leistungen sein können. In den Workshops wurde hart gearbeitet. Das Training erforderte Disziplin und Leistungsbereitschaft. Wir denken, dass die Schülerinnen und Schüler erfahren haben, dass sie Talente haben und diese durch konsequentes Training verbessern können. Die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Schularten hat dabei keine schwerwiegende Rolle gespielt. Meist war sie gar nicht erkennbar. Ich muss sagen, die Arbeit hat sich für alle gelohnt. //Frau Volkers, Direktorin Hans Brüggemann Gemeinschaftsschule Bordesholm „Stark ohne Gewalt ist für mich ‚positiven Lebensgeist‘ einatmen und sich in familiäre Atmosphäre fallenlassen, selbst wenn man zum ersten Mal dabei ist. Es ist schön zu sehen, dass JEDER Talente hat, die er teilen kann, und es ist genial dabei zu erleben, wie die Schüler sprudeln vor Begeisterung, wenn sie nach dem Auftritt von der Bühne kommen! Danke, dass ich dabei sein durfte!“ //Franzi, ehrenamtliche Starkmacherin „Überglücklich können wir über eine gelungene Woche berichten. Wir haben voller Stolz mit Gen Rosso zwei erfolgreiche Musicalvorstellungen auf die Bühne gebracht.“ //Die Schüler der Hauptschulen Ohligs und Höhscheid in einem Brief


>> DAS WAR MEGA

„Oh, Gen Rosso war so geil! Ich bin jetzt viel besser in der Schule, weil ich habe jetzt gelernt, dass es sich nicht lohnt, Gewalt anzuwenden.“ //Falko im „Stark ohne Gewalt“-Blog „Sternstunden im Lehrerdasein.“ //Ein Lehrer der Hauptschule Herbertskaul, Frechen „Mir hat es gefallen, zu tanzen und mal zu erleben, dass Menschen auch ohne Gewalt ein tolles Leben führen könnten. Das Musical war für mich eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde. Dieses Musical hat mir mein Selbstvertrauen und mein Selbstbewusstsein wiedergegeben.“ //Melanie, Schülerin aus Böblingen „Stark ohne Gewalt ist für mich vergleichbar mit dem sprechenden Hut bei Harry Potter. Zunächst hat man vielleicht etwas Angst, ihn sich aufzuziehen. Aber dann entdeckt er in dir nie geahnte Talente, Fähigkeiten, Begabungen. Das Projekt macht kleine Augen, die zunächst nur mich im Blick haben, zu großen Augen. Plötzlich nehme ich auch denjenigen neben mir wahr. Es macht aus kleinen Ohren, die nur auf mich hören wollen, große Ohren, die den Reichtum des anderen entdecken. Es macht aus kleinen Herzen große Herzen, die offen sind für die Welt um mich herum. Für jeden hat der Hut etwas ganz Besonderes in seinem Inneren verborgen. Hab Vertrauen zu ihm!“ //Johannes P., ehrenamtlicher Starkmacher „Ohne Unterschiede auf Nationalitäten, Glauben und Behinderungen stellten sich alle Beteiligten erfolgreich als eine Einheit dar. Die Wirkung auf das Publikum blieb nicht aus! Einige Eltern weinten vor Freude und Ergriffenheit darüber, dass sich ihre Kinder so stark präsentieren konnten. Hoffentlich bleibt dieser Geist weiter in Ihrem Schulleben und darüber hinaus in unserer Gesellschaft erhalten.“ //Khosrow Massih, Musical-Besucher

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„Die Erfahrung war toll, dass wir alle eine große Familie sind, egal von welcher Kultur.“ //Max, Schüler aus Böblingen „Hi Bart. Ich habe nicht gedacht, dass wir es so gut schaffen, zu tanzen, aber Du hast uns gezeigt, wie toll wir miteinander arbeiten können. Und Du hast recht, dass das nicht das Ende ist, sondern der Anfang. In der Woche hast Du mit Gen Rosso gezeigt, wie stark wir sind. Ich der Woche habe ich sehr viel Mut und Stärke bekommen.“ //Adelina im Gästebuch „starkohnegewalt“ „Ich bleibe stark. Werde in Zukunft bei Prügeleien an das Musical denken und andere darauf hinweisen.“ //Katrin im Gästebuch „starkohnegewalt“ „Im wahren Leben wäre ich gerne Charles Moats oder ein anderes Bandmitglied. Sie waren sich sehr sicher, was sie mit ihrer Zukunft anfangen wollten und waren davon überzeugt, die Welt zu verändern, ohne Gewalt.“ //Helen, Schülerin „Ich habe mich berühmt gefunden, weil jeder mit mir reden wollte.“ //Tijen, Schülerin „Die Kinder haben in diesen Tagen etwas gelernt, was im Leben mindestens so wichtig ist wie Lesen, Schreiben und Rechnen: Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten.“ //Andreas Erpenbach, Musical-Besucher „Es war genial. Jetzt weiß ich, wie ich mich entspannen kann, wenn ich Stress habe.“ //Kristina, Schülerin „Ich hätte mir nicht zugetraut, dass ich den Umgang mit Tontechnik so schnell verstehe und dass mir das so viel Spaß machen würde. Mir hat gut gefallen, dass wir mit einem professionellen Mischpult arbeiten konnten und dass wir alles von einem richtigen Tontechniker erklärt bekommen haben.“ //Sören, Schüler


>> DAS WAR MEGA

„Man kann das Ganze nicht in Worte fassen, ich fands einfach super mega geil. Noch nie habe ich so etwas Geiles erlebt.“ //Mirko, Schüler „Für unsere Schüler wird diese Woche ein Leben lang unvergesslich bleiben.“ //Wolfgang Mohr, Rektor der Kaplan-Kellermann-Realschule in Euskirchen „Vor Jahren haben wir sie klein und schüchtern eingeschult – und erleben sie heute Abend als lässige und coole Schauspieler, Tänzer, Musiker vor großem Publikum – großartig! Toll, wie auch die Band gelernt und am Ende des Musicals mitgebärdet hat. So hat jede Seite der anderen etwas geben können.“ //Silke Nierobisch, Lehrerin an der Schule für Hören und Kommunikation in Düsseldorf „Mahir war so von den Socken, dass er trotz erheblicher Erschöpfung ohne Punkt und Komma auf dem Heimweg schwärmte und auch noch in diesen Tagen, und das will in seiner Pubertätsphase was heißen! Aus Mahirs Berichten boten die Künstler einen intensiven Identifikationsprozess an, innerhalb weniger Tage. Meine Hochachtung!“ //Konny Köthe, Betreuerin eines Schülers mit Hör- und Lernbehinderung.

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WIE WEITER? EIN FAZIT VON MATHIAS KAPS UND CHRISTIAN RÖSER

WAS MACHT UNS STARK? Auf 150 Seiten haben wir einen Überblick gegeben, wie wir mit unseren Projekten junge Menschen aus schwierigen sozialen oder wirtschaftlichen Kontexten zusammenarbeiten und fördern, sie ermutigen und sie auf ihrem Weg ins Leben begleiten. Dabei ist die Arbeit in Netzwerken eine wichtige Säule unserer Arbeit und prägt auch unser tägliches Arbeiten im Team. Unsere Stärke liegt darin, dass wir uns auch als Kollegen gegenseitig stark machen. Im Miteinander kommen uns die guten Ideen, fallen uns Menschen ein, die wir um Unterstützung bitten können, haben wir den Mut, auch neues Terrain zu betreten. Wir erleben immer wieder, dass uns Menschen über den Weg laufen, die eine hohe Fachkompetenz in bestimmten Gebieten mitbringen und diese Talente bei uns einbringen wollen. Vielleicht haben auch Sie etwas zu geben, das andere stark macht?

UNSERE EINLADUNG AN SIE: WERDEN SIE STARKMACHER! Was ist ihr Platz auf dieser Welt? Was ist ihre Gabe, ihr Talent und ihre Fähigkeit, die sie geben und verschenken können? Wir sind überzeugt, dass auch Sie ein wichtiges Puzzleteil für die Welt sind. Sie werden gebraucht,


um sie ein kleines bisschen besser zu machen, um in unserer Gesellschaft positive Zeichen zu setzen und sie mit einer optimistischen Sicht auf die Jugend zu prägen. Wir würden Sie gern kennenlernen, erfahren, was Sie persönlich stark macht, wie Sie andere Menschen in ihrem Umfeld stark machen. Schreiben Sie uns, steuern Sie Ideen, Ihre Zeit, Ihre Kontakte bei – lassen Sie sich einbinden ins Starkmacher-Netzwerk! Und wenn Sie möchten: Helfen Sie uns, indem Sie uns bei unseren Projekten als ehrenamtliche Helfer unterstützen, oder engagieren Sie sich als Hauptamtliche in einem unserer Projekte. Natürlich freuen wir uns auch über jede finanzielle Unterstützung, denn ohne die wäre unsere Arbeit natürlich unmöglich. Hartmut Rosa, Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, beschrieb in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT eine Besonderheit, die die Spezies Mensch auszeichne mit dem Begriff „Resonanz“. Menschen seien in der Lage, Kontakt zueinander aufzunehmen, sich in andere hineinzuversetzen und eine Sensibilität für ähnliche „Wellenlängen“ zu entwickeln: „Resonanz meint einen Zustand, in dem ich mich berührt oder bewegt fühle, aber zugleich auch die Erfahrung mache, selbst etwas oder jemanden berühren oder bewegen zu können. Interessanterweise fühlt man sich gerade dann am ehesten im Einklang mit sich selbst“. (Die Zeit N° 34 vom 14. August 2014) Das beschreibt ziemlich gut die Erfahrung, die wir als Starkmacher machen und zu der wir Sie einladen. Setzen wir gemeinsam unsere Talente und Fähigkeiten füreinander ein, wecken wir die innere Fülle bei anderen und erfahren sie dadurch selbst.

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INHALT Starkmachen als Lebenshaltung Vorwort Mathias Kaps, Vorstand Starkmacher e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . .6 Ein Überblick Daten und Fakten (Sarina Pfauth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 „Schule ist für manche die einzig wertzeigende Institution“ (Dr. Bernd Finke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 „Man kriegt die ganze Herzlichkeit ab“ (Marco Kern) . . . . . . . . . . . . 24 „Fit machen für die Gesellschaft“ (Christine Straube) . . . . . . . . . . . . 29 „Die Sehnsucht nach Geborgenheit“ (Christoph Flegel) . . . . . . . . . . 34 „Ich schaue auf das Potenzial“ (Günter Berkenbrink) . . . . . . . . . . . . 39 „Wer Respekt erfährt, gibt ihn weiter“ (Luiz Fernando Braz) . . . . . 45 „Diese Jugendlichen sind begnadet im Überleben“ (Angelika Barth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Was wir tun – Der Starkmacher und seine Erfahrungen . . . . . . . . . 58 Platz machen für das Gute (Christian Röser). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Arbeit mit Superhelden – Der pädagogische Ansatz von StarkmacherSchule (Anne Kaiser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 StarkmacherSchule – Ein ganzheitliches Konzept für Schulen und Jugendeinrichtungen (Andrea Fleming) . . . . . . . . . 78 Wenn Lehrer ihre Stärken entdecken … – Lehrerfachtagungen (Anja Stiel, Olaf Keith) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Start im Unterricht – Schulinterne Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 87


„Wir wissen, dass sie es können“ (Katharina Messmann, Teresa Parlasca) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Kooperationspartner wilkommen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Ziel im Blick – Das Heidelberger Kompetenztraining (Wolfgang Knörzer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Auf der Bühne des Lebens (Benedikt Enderle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 „ Jeder hat etwas zu erzählen“ (Tobias Greber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Überregionale Vernetzung (Johannes Epping) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 „Mut machen zur Ausbildung“ (Stefan Rost) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Neue Wege der Sozialintegration (Bernhard Suda) . . . . . . . . . . . . . . 121 Den Weg weitergehen (Detlef Herbers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Starthilfe für den Einstieg ins Berufsleben (Andrea Fleming). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Das war’s – Rückmeldungen zum Projekt StarkmacherSchule. . . . . . . . . . . . . . . . 136 Starke Zahlen und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 „Eine Seele kann heilen“ (Mark). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 „I‘ll be there“ – Geschichten und Erlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 „Das war Mega!“ Echos und Feedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Wie weiter? Ein Fazit (Mathias Kaps und Christian Röser) . . . . . . . 156

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Erfahren, wie es heute in Deutschland um Jugendliche steht, die keine „Traumbiographie“ hinter sich haben; herausfinden, was in solchen Menschen an Talenten und verborgenen Reichtümern stecken kann und Mut fassen, selbst beim Heben dieser Schätze mitzuwirken: „Das Starkmacher-Prinzip“ gibt Einblick in ganz unterschiedliche Lebenswelten von Jugendlichen heute. Das Projekt „StarkmacherSchule“ stärkt gerade sozial benachteiligte Jugendliche in ihrer Persönlichkeit durch Musik, Tanz und wertschätzende Zuwendung. Sie entwickeln ganz neue Potentiale und entfalten Talente, die keiner in ihnen vermutet hätte, manchmal nicht einmal sie selbst.

KAPS & RÖSER (HRSG.)

Das Buch zeigt Methoden und pädagogische Grundlagen auf, entfaltet die Bausteine eines erfolgreichen Gesamtkonzepts für Schulen und Jugendeinrichtungen und lässt vor allem die Jugendlichen selbst zu Wort kommen.

DAS STARKMACHER-PRINZIP

MATHIAS KAPS & CHRISTIAN RÖSER (HRSG.)

ISBN 978-3-9816972-0-9

DAS STARKMACHER-PRINZIP RESSOURCEN VON JUGENDLICHEN SICHTBAR MACHEN


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