West-Ost-Journal

Page 1

WoJ 19. Jg. - 1/2013 Januar/Februar/märz issn 0947-52731

1 kaPitEl/ ruBrik

themA

TITEL

WEst-ost-Journal

1 2013 JAnuAr FebruAr märz

Angekommen. Die Integration der Vertriebenen in Deutschland 03 ausstEllung

06 BuchvorstEllung

18 vortrag

Flucht und Vertreibung von 12 bis 15 Millionen Deutschen bis weit nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die größte Zwangsmigration in der europäischen Geschichte. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen war rückblickend ein Erfolg, der zu den größten Leistungen Deutschlands nach 1945 zählt. Der Weg dahin war jedoch von einer Vielzahl menschlicher Härten, Leid der Betroffenen ...

Abraham Lincoln, dem 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika (1861-1865), wäre es am liebsten gewesen, wenn man Jefferson Davis über die Grenze der USA hätte entkommen lassen – er wollte nur nichts davon wissen, jedenfalls nicht offiziell. Davis, das war der Mann, der die Konföderierten Staaten von Amerika als Präsident geführt hatte. Nach der Wahl Lincolns zum US-Präsidenten ...

»So wird man die Menschen der baltischen Völker, wenn sie nicht geschichtsmüde geworden, […] nie verkennen können: als Kinder Europas aus dessen geschichtsträchtigem Osten, dem […] noch Kräfte des Herzens, des Gemütes, des Glaubens eigen sind, ohne die zu leben sich eigentlich nicht ziemt und nicht lohnt. […] Und alles, was ich am Ende dieser Betrachtung in einer ungewissen Gegenwart ...

seite 03

seite 06

seite 18

WWW.gerHart-Hauptmann-Haus.de


02 Editorial

Inhalt 3

Angekommen. Die Integration der Vertriebenen in Deutschland

5 Auch ein Angekommener – Arno Surminski liest 06 Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das »Dritte Reich« 08 Demokratiefeindschaft von rechts und der Untergang der Weimarer Republik - In Erinnerung an den 90. Todestag Walther Rathenaus 10 Auch ein Schlesier – Heinz KeSSler, Stalingrad und das Nationalkomitee Freies Deutschland 11 »Freiheit, die ich meinte« Helga Grebings Erinnerungen an Berlin und andere Stationen ihres Lebens 13 Meine Lieblingsnovelle von Werner Bergengruen – Leserinnen und Leser wählen aus! 14 Eine Reizfigur – zum tschechischen politischen Diskurs über Edvard Beneš 15 Unser Europa: Alle reden nur vom Geld, wir reden vom Wert 16 Vor 70 Jahren – die Schlacht von Stalingrad in historischer Perspektive 17 Eine Reise durch die Zeit mit Liedern und Chansons von Edmund Nick und Erich Kästner 18 Kinder Europas aus dessen geschichtsträchtigem Osten – Die Geschichte der baltischen Staaten vom Mittelalter bis 1939 20 »Aussöhnung als Aufgabe« Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion 21 Eine kulturhistorische Studienreise 22 Gerhart Hauptmann und Bad Lauchstädt – Gabriel Schillings Flucht 23

Kultur- und Begegnungs-

abend

24 »Von der Heide. Illustrierte Monatsschrift für Kultur und Leben« als historische und literaturwissenschaftliche Quelle zugänglich

Liebe Leserinnen und Leser,

unser Programmjahr 2012 stand im Zeichen der Erinnerung an den 300. Geburtstag König Friedrichs II., »des Großen« von Preußen, und unser »Namenspatron« Gerhart Hauptmann wurde genau halb so alt, nämlich 150 Jahre. Wir haben beide Daten ausgiebig gewürdigt – und wurden durch Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Teilnahme an vielen Veranstaltungen belohnt. Das Jahr 2013 hält nicht minder bedeutende Erinnerungsdaten bereit, so dass an Anknüpfungspunkten für weitere interessante Veranstaltungen mit hochkarätigen Referentinnen und Referenten kein Mangel besteht. Daher legen wir Ihnen hiermit ein gut gefülltes Programm für das erste Quartal des neuen Jahres vor – und freuen uns auf Ihre Besuche in unserem Haus in alter Treue und Zuverlässigkeit. Im Mai 2013 wird das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) 60 Jahre alt – im Juni 2013 steht unser Haus in Düsseldorf seit 50 Jahren allen Interessierten offen. Beide Daten sind eng miteinander verknüpft, denn ohne die gemäß § 96 BVFG gesetzlich geforderte Pflege von Kultur und Geschichte des historischen deutschen Ostens stünde dieses Haus wohl kaum so im Herzen der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt. Neben dem beständigen Auftrag, eine lebendige Erinnerungskultur an den einstigen deutschen Osten zu wahren und die kulturellen Beziehungen zu unseren ostmittel-, ost- und südosteuropäischen Nachbarn zu pflegen (was im vereinten Europa noch ungleich größere Bedeutung gewonnen hat), regelte das BVFG in vieler Beziehung das weitere Geschick von damals zunächst rund 8 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen und später noch das mehrerer Hunderttausend (Spät-)Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Gesetz berührte mithin unmittelbar die Biographien von noch immer etlichen Millionen Menschen, die unter uns leben – und damit auch das Leben ihrer Nachkommen. Allemal Grund genug, an die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sowie die wichtigsten Wirkungen des BVFG zu erinnern. Wir tun dies zunächst mit der ab Januar 2013 in unserem Haus präsentierten Ausstellung »Angekommen«, welche sich der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in Nachkriegsdeutschland widmet. Es handelt sich um die erste von insgesamt drei Wanderausstellungen der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, welche wir 2013 und 2014 in unserem Haus zeigen werden. Wir freuen uns, dass zur Eröffnung der Ausstellung Frau Erika Steinbach MdB, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und zugleich Vorsitzende der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, zugegen sein wird (vgl. S. 4). Zur Ausstellung bieten wir ein vielfältiges Rahmenprogramm an. Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten seit 1944/45 sind nicht zu trennen vom von deutscher Seite begonnenen Zweiten Weltkrieg. Daher erinnern wir auch an den bevorstehenden 70. Jahrestag des Endes der Schlacht um Stalingrad Anfang Februar 1943. In Stalingrad ging nicht nur die 6. deutsche Armee unter und es starben dort während der Kämpfe seit dem Sommer 1942 mehr als 700.000 Soldaten zumeist aus der Sowjetunion, Deutschland, Italien und Rumänien, sondern die Schlacht markiert auch einen Punkt, von dem aus wenig später der Weg geradlinig zur Vernichtung der jahrhundertealten Kultur des historischen deutschen Ostens verlief. Auch dies ist allemal ein Grund zu mahnender Erinnerung. Schließlich werden uns im Verlauf des Jahres noch weitere Themen und »Erinnerungsorte« beschäftigen, darunter nicht zuletzt der 250. Jahrestag des Einladungsmanifestes der Zarin Katharina II. von 1763. Dieses Manifest hatte grundlegende Bedeutung für die Geschichte der Deutschen in Russland, deren große Mehrheit heute nach den Katastrophen, die über diese Bevölkerungsgruppe im von totalitären Ideologien zerrissenen 20. Jahrhundert hereingebrochen sind, in unserer Mitte lebt. Dazu wird es mehrere Veranstaltungsangebote geben. Zuguterletzt wird auch die Erinnerung an den 200 Jahre zurückliegenden Beginn der »Befreiungskriege« 1813 nicht fehlen – schließlich wurde am 20. März 1813 der berühmte Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III. »An mein Volk« nicht zufällig in der schlesischen Metropole Breslau veröffentlicht. Dazu und zu vielen anderen Themen werden sich in unserem Programm ab dem zweiten Quartal Angebote finden. Wir zählen auch 2013 wieder auf Sie, verehrte Gäste und Freunde des GerhartHauptmann-Hauses. Aber mir ist nicht bange um das nun beginnende neue Programmjahr – bleiben Sie nur, so bitte ich herzlich, unser gewogenes und zuverlässiges Publikum wie 2012 und davor! Mit allen guten Wünschen für ein erfolgreiches und gesundes Jahr 2013 Ihr


3 Ausstellung

Ausstellungseröffnung mit dem Zentrum gegen Vertreibungen und dem Bund der Vertriebenen

Angekommen. Die Integration der Vertriebenen in Deutschland Flucht und Vertreibung von 12 bis 15 Millionen Deutschen bis weit nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die größte Zwangsmigration in der europäischen Geschichte. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen war rückblickend ein Erfolg, der zu den größten Leistungen Deutschlands nach 1945 zählt. Der Weg dahin war jedoch von einer Vielzahl menschlicher Härten, Leid der Betroffenen und Spannungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen geprägt. Die Einheimischen ignorierten weitgehend, dass sie selbst nur auf Grund der Geografie ihres Wohnortes von Vertreibung verschont waren. Lange blieb unklar, ob die Entwicklung positiv sein würde. Fehlender Wohnraum, Mangelernährung, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung begleiteten den Weg zum Miteinander in Deutschland. Der Wille der Vertriebenen, das Land aus den Trümmern des Krieges mit aufzubauen, sowie für ein Europa in Frieden zu arbeiten, war wesentlicher Teil des Erfolges. Die Angekommenen wurden aber nicht einfach folgenlos von der bestehenden Gesellschaft absorbiert, es kam vielmehr zu den größten politischen, sozialen und konfessionellen Veränderungen seit dem 30jährigen Krieg. Aus vielschichtigen Kulturen der Alt- und Neubürger entstand eine neue deutsche Identität. Daher stellt die Pflege der kulturellen Wurzeln, welche Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945 in die neu entstandene Gesellschaft eingebracht haben eine gesamtdeutsche Verantwortung dar. Die ersten Jahre nach der Ankunft waren bestimmt von Elend und Improvisation. Für die meisten Betroffenen begann der neue Lebensabschnitt im Durchgangs- oder Aufnahmelager. Die hier eintreffenden Menschen waren meist schwer traumatisiert durch den Verlust von Heimat, Angehörigen

und Besitz, durch Gewalt, Erlebnisse Roten Armee oder vor Titos Partisanen vor und während der Flucht oder Veraus Jugoslawien Geflohenen, unmitteltreibung, gedemütigt durch sozialen bar danach die Opfer von »wilden« Abstieg und eine herablassende bis Vertreibungen vor allem durch Polen feindselige Behandlung in der neuen und Tschechen. Paradoxerweise setzUmgebung. Was blieb, war die Erleichte nach der Potsdamer Konferenz, auf terung, nicht mehr an Leib und Leben der die endgültige Vertreibung der bedroht zu sein. Deutschen aus Polen, der TschechoAuf das Lager, über Jahre der slowakei und Ungarn verkündet Aufenthaltsort für Hunderttauworden war, zunächst ein Abebsende, folgte häufig die Zwangs- Fr, ben der Vertreibungen ein. Die einquartierung in Wohnungen 11.01. Deutschen wurden bis zu ihrer oder Häuser von Einheimischen. 16.00 Uhr Abschiebung zu Zwangsarbeit Diese standen den ungebetenen herangezogen. Danach wurden Gästen oft misstrauisch, ja feindsie in menschenunwürdiger, aber selig gegenüber. halbwegs geregelter Form über SamZu den Voraussetzungen für den rasanmellager, meist in Güterzügen, nach ten Wiederaufbau Deutschland transportiert. Die USA erDeutschlands und reichten bei der tschechoslowakischen des lang anhaltenRegierung kleine Zugeständnisse beim den AufschwunAblauf der Vertreibung. So konnten ges zählten Mensich deutsche Behörden und karitative schen, die bereit Organisationen 1946 und 1947 notwaren, zu gerindürftig auf den Ansturm vorbereiten. gen Löhnen und Die bayerischen Behörden etwa erhielweit unter ihrer ten über die USA nur ungefähre Zahlen Qualifikation hart und kurzfristig Ankunftsdaten der Suzu arbeiten. Dies detendeutschen. galt für VertriebeDas Lager als »Verräumlichung des ne im besonders Ausnahmezustands« war ein Paradighohen Maße. Sie ma des 20. Jahrhunderts. Vernichtungshatten wesentliabsicht und Willkürherrschaft waren chen Anteil am genuine Merkmale totalitärer Konzen»Wirtschaftswuntrationslager. Flüchtlings- und Durchder«. Umgekehrt gangslager im Nachkriegsdeutschland profitierten die hingegen boten erste Stationen des Vertriebenen vom Überlebens. Wi r t s c ha f t sau f Die Umnutzung von bestehenden Laschwung, wenn auch in geringerem gern im Nachkriegsdeutschland war der Umfang als die alteingesessene Bevöllogistischen Notwendigkeit geschuldet. kerung. Aber sie nutzten ganz überwieViele Flüchtlingslager hatten vor 1945 gend alle Möglichkeiten, nicht mehr als Lager für Zwangsarbeiter, als KZvon staatlicher Fürsorge abhängig zu Außenlager oder Straflager, dann zur bleiben und wirtInternierung von schaftlich wieder In Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialisauf eigenen Füßen ten gedient. So Bund der Vertriebenen zu stehen. wurden z.B. ganze NRW Die Flüchtlinge Werksgelände der und Vertriebenen Dynamit AG in hatten oft kaum mehr als die nackte Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen Existenz, im besten Falle einige Koffer und Bayern samt Bunkeranlagen nun zu Fluchtgepäck gerettet. Sie kamen per Auffangarealen für Flüchtlinge und VerEisenbahn, mit Pferdefuhrwerken, zu triebene, welche sie zeitweilig auch mit Fuß oder bis Kriegsende per Schiff über Displaced Persons teilten. Aus einigen die Ostsee. Die Regierung Dönitz zödieser Lager entstanden später Wohngerte die Kapitulation hinaus, um noch siedlungen. möglichst viele Flüchtlinge auf dem Als flexible, rasch zu erbauende und Seeweg zu evakuieren. wieder zerlegbare Provisorien waren Die Ankunft erfolgte in mehreren WelNissenhütten und Baracken vielen len: Bis Kriegsende kamen die vor der Fortsetzung auf seite 4


4 Ausstellung Fortsetzung von seite 3

Vertriebenen eine erste Bleibe, die ab Anfang der 1950er Jahre häufig durch Reihenhäuser ersetzt wurden. Im Lager folgte der Ersterfassung eine ärztliche Untersuchung. Räumliche Enge, mangelhafte hygienische Verhältnisse, Seuchengefahr und eine schwierige Versorgungslage mit Lebensmitteln, Heizmaterial und Kleidung dominierten den Lageralltag. Die wirtschaftliche Integration der meisten Vertriebenen gelang im Verlauf der 1950er Jahre. Um sich heimisch zu

te und Rezepte, die mit den Eltern und Großeltern in den Westen gelangten, erfahren eine Renaissance. Dinge, die durch Flucht und Vertreibung gerettet wurden, werden von Generation zu Generation weitervererbt. Als gemeinsame Interessenvertretung entstand der Bund der Vertriebenen (BdV) erst 1957. Er gründete sich als Dachverband von zwanzig Landsmannschaften und den Landesverbänden. Bis 1948 wirkte das alliierte Koalitionsverbot der Gründung eines Gesamtverbandes entgegen. Doch

Die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus in Berlin

fühlen, brauchten Viele jedoch weitaus länger. Auch die nächste Generation erfuhr teilweise noch offene Diskriminierung. Später ging oft ein Riss selbst durch Familien, wenn die Jüngeren die Heimatverbundenheit der Eltern oder Großeltern als unzeitgemäß kritisierten und ihnen mit Unverständnis oder Desinteresse begegneten. Die Einbindung in Vereine, Parteien oder Kirchengemeinden erleichterte es, sich einzuleben und nicht mehr als Fremde wahrgenommen zu werden. Schützen-, Sport- und Kleingartenvereine verwehrten jedoch teilweise noch bis in die 1960er Jahre Vertriebenen die Mitgliedschaft. Das führte etwa zur Gründung eigener Sportvereine, die sich oft zu angesehenen, offenen Ortsund Stadtteilvereinen entwickelten. Ob und wie stark die Neuankömmlinge an alten Gepflogenheiten festhielten, war von vielen Faktoren abhängig. Wo eigene Kirchengemeinden und Siedlungen gegründet wurden, entstand meist ein traditionsbewusstes Gemeinschaftsleben. Die Mehrzahl der Vertriebenen musste sich jedoch ohne diesen Rückhalt behaupten. Manche Familie bewahrt noch heute Trachten und Bräuche der alten Heimat. Gerich-

schon früh entstanden lokale Initiativen für Vertriebene, oft unter dem Dach der Kirchen. Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen der jungen Bundesrepublik so auch in den Organisationen der Vertriebenen gab es Personen, die durch das NS-Regime geprägt oder sogar Teil des Machtapparates gewesen waren und sich nun in den neuen Institutionen betätigten. Vom Nationalsozialismus geprägtes sowie extremistisches Gedankengut, gleich welcher Couleur, fand zu keiner Zeit Eingang in die Verbandspolitik des BdV. Die führenden Vertreter des BdV kamen aus allen demokratischen Parteien. Alle Präsidenten waren Mitglieder des Deutschen Bundestages. Der BdV hat bis heute seine Aufgabe in der fachkundigen Begleitung von Gesetzgebung und Verwaltung auf allen die Vertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler betreffenden Rechtsgebieten. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Pflege und Bewahrung des kulturellen Erbes und die soziale Beratung und Betreuung von Spätaussiedlern und Migranten durch die Landsmannschaften und Landesverbände. Darüber hinaus bildet der BdV mit seinen Mitgliedsverbänden eine wichtige

Brücke zu den Nachbarländern. Die Zahl derer, die Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg noch selbst miterlebt haben, nimmt ab. Kulturelle und soziale Unterschiede zwischen Familien mit und solchen ohne Vertreibungserfahrung sind nach und nach in den Hintergrund gerückt. Der Trauer der Vertriebenen um die erlittenen Verluste steht als Trost gegenüber, dass Geschichte und Kultur der Deutschen aus Osteuropa heute in vielen Bereichen der deutschen Gesellschaft intensiver wahrgenommen, bewahrt und gepflegt werden. In staatlichen und kommunalen Einrichtungen, an den Universitäten und Volkshochschulen, im Geschichtsunterricht der Schulen, im kirchlichen Bereich und in den Medien gibt es ein zunehmendes Interesse. Als Flaggschiffe, vor allem in Bezug auf die wenigen dinglichen Hinterlassenschaften, fungieren die Ostdeutschen Landesmuseen. Ihr Auftrag ist die Pflege des kulturellen Erbes, das Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945 in die neu entstandene Gesellschaft eingebracht haben. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Vertreibungen im Kontext der deutschen und europäischen Geschichte stellt auch weiterhin eine gesellschaftliche Aufgabe dar. Die Ausstellung, die durch das Zentrum gegen Vertreibungen vorbereitet wurde, zeigt den Weg von der Ankunft über die ersten Jahre durch die Wirtschaftswunderzeit bis hin zur Gegenwart. Die Veränderungen der gesamten deutschen Gesellschaft durch Flüchtlinge und Vertriebene in sozialen, konfessionellen und politischen Belangen werden ebenso präsentiert wie die Rahmenbedingungen, die dafür erkämpft wurden, seien es Rechtsstatus, Städtebau, Gedenkkultur oder die Pflege der eigenen kulturellen Wurzeln. Die Ausstellung wird der Düsseldorfer Öffentlichkeit durch ein Begleitprogramm der Stiftung Gerhart-HauptZgV mann-Haus vorgestellt. Die Ausstellung ist bis zum 11. April 2013 geöffnet. Eröffnung: Fr, 11. 01. 2013 – 16.00 Uhr Eichendorff-Saal Es sprechen: PD Dr. Winfrid Halder Direktor des Gerhart-HauptmannHauses Erika Steinbach MdB Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Persönliche Anmeldung erforderlich.


5 Lesung

Begleitprogramm zur Ausstellung »Angekommen«

Auch ein Angekommener – Arno Surminski liest

Er selbst kann ein Lied davon singen, gesang auf Surminskis ostpreußisches wie es war anzukommen. Allerdings Heimatdorf. Hermann Steputat, die kein lustiges. Nämlich anzukommen kindliche Hauptfigur des Buches, hat aus dem Osten im verbliebenen Wessicher nicht von ungefähr einige autoten Deutschlands. Anzukommen nach biographische Züge Arno Surminskis Flucht und Vertreibung. Anzukommen, angenommen. Am Ende steht er ohne arm und auf Hilfe angewiesen. Anzuseine Eltern in einer kalten, schneebekommen, ohne willkommen zu sein. deckten Welt und läßt die Ruinen seiArno Surminski hat es erlebt, vielmehr nes Heimatdorfes hinter sich. erlitten. Für den 10-Jährigen endete die Im Grunde folgerichtig war »KudeKindheitsidylle im ostpreußischen Jägnow oder An fremden Wassern weilack, unweit von Drengfurt, abrupt mit nen« 1978 Surminskis zweiter Roman. dem Vormarsch der Roten Armee im JaWieder dürften die Person des Autors nuar 1945. Beide Eltern, Surminskis Vaund die Hauptfigur des Buches, der ter war Schneidermeister, seine Mutter 12-jährige Kurt Marenke, kaum voneistammte von einem Bauernhof, wurden nander zu trennen sein – so wenig sie bald darauf zur Zwangsarbeit in allerdings auch einfach idendie Sowjetunion verschleppt. tisch sind. Kurt findet kurz vor Di, Arno Surminski hat sie nie wieWeihnachten 1946 in dem holdergesehen und erst im Jahre steinischen Flecken Kudenow 26.02. 2000 ihre Todesdaten erfahseine Familie wieder, von der 19.00 Uhr ren. Die zunächst alleine angeer im Chaos der Flucht anderttretene Odyssee des elternlohalb Jahre zuvor getrennt worsen Kindes führte über einen den war. Genauer: Kurt trifft Flüchtlingslageraufenthalt in Thürinnur noch auf seine Mutter und seine gen 1947 ins schleswig-holsteinische Schwester. Vom Tod des Vaters erfährt Trittau, wo der junge Surminski Aufnahme er zunächst nur Ungenaues, denn die bei einer kinderreichen, ebenfalls aus Mutter ist unfähig, ihm davon zu erOstpreußen vertriebenen Familie fand. zählen, schließlich macht ihm die um Nach dem Schulabschluß machte Arno einige Jahre ältere Schwester klar, dass Surminski eine Ausbildung zum Ander Vater von sowjetischen Soldaten waltsgehilfen, verließ diesen Beruf aber erschossen wurde. Kurt lebt zwischen als 21-Jähriger schon wieder und ging der Tristesse des kargen alltäglichen nach Kanada, wo er unter anderem als Daseins im zur Wohnstätte umfunktiHolzfäller arbeitete. Der nordamerikaonierten Hühnerstall des Großbauern nische Kontinent taucht seither in seiKock, der die unerwünschten Mitbenem literarischen Schaffen so beständig wohner lieber heute als morgen wieder auf wie seine ostpreußische Herkunft. loswerden möchte, der Fremdheit in Nach der Rückkehr nach Deutschland der Schule, in der er und die anderen war Surminski wieder als Anwaltsgehil»Polackenkinder« schon durch ihre fe und dann im Versicherungsgeschäft Sprache auffallen, und seiner eigenen tätig. Das Schreiben hat ihn allerdings Traumwelt, in der ein starker, freilich schon immer beschäftigt, war seine fiktiver Freund schon mal die MaschiLeidenschaft von Kindheit an. So hat nenpistole gegen Kurts Widersacher er nebenher als Wirtschaftsjournalist hebt. Die drei Marenkes haben es dabei gearbeitet. 1974 erschien Surminskis noch gut: Das Wohnen im Hühnerstall erster Roman: »Jokehnen oder Wie ganz für sich ist ein Privileg gegenüber lange fährt man von Ostpreußen nach den anderen unfreiwilligen Zuwandern Deutschland?« Inzwischen sind es 14 aus dem Osten, die in Bauer Kocks Romane und eine Fülle von ErzählunScheune zusammengepfercht hausen. gen, die Surminski vorgelegt hat. Als Die holsteinische Dorfgemeinschaft Autor hat er inzwischen auch zahlreiche versucht sich gegen die Eindringlinge Auszeichnungen und Preise erhalten; abzuschotten, diese dagegen sind sich besonders erfreulich war, dass er sich untereinander uneins und haben kaum 2009 in unserem Haus in die erlauchte Möglichkeiten, Ansprüche durchzusetReihe der Träger des Andreas-Gryphizen. Nur Kurts Talent im Umgang mit us-Preises eingereiht hat. Pferden und der ungehemmte Fleiß sei»Jokehnen« – das Buch wurde 1987 ner Schwester, der den Eindruck macht, mit Armin Müller-Stahl verfilmt – war als betäube sie sich mit Arbeit, lassen eine Hommage an und zugleich ein Abden Bauern ein gewisses Interesse an

Arno Surminski

beiden entwickeln. So gelingt es den zweien doch noch in Kudenow »anzukommen« – die Mutter dagegen verharrt in der Illusion der Rückkehr ins verklärt erscheinende Heimatdorf und hofft unverwandt auf die Rückkehr des ältesten Sohnes, der als Soldat seit 1944 an der Ostfront vermisst ist und von dem sie seither ohne Nachricht ist … Als 2008 Andreas Kosserts wissenschaftliche Studie »Kalte Heimat« erschien, in der erstmals breit auf die Ressentiments eingegangen wurde, die den Flüchtlingen und Vertriebenen seit 1945 vielfach in den Aufnahmegebieten in Westdeutschland entgegengebracht wurden, hat diese nüchterne Sicht auf die keineswegs nur von solidarischem Denken und Hilfsbereitschaft geprägte Nachkriegsgesellschaft einiges Aufsehen erregt. Kosserts Buch hat die teilweise allzu glatt anmutende Geschichte vom Erfolg der Integration der Vertriebenen (die nicht grundsätzlich falsch ist) um ein notwendiges Stück korrigiert und ergänzt. Arno Surminski hat Ähnliches bereits dreißig Jahre zuvor auf freilich ganz andere Art und Weise getan. Die Bücher des neben dem mit Surminski befreundeten Siegfried Lenz wichtigsten deutschen Gegenwartsautors ostpreußischer Herkunft sind aus der mit dem historischen deutschen Osten verbundenen Erinnerungskultur nicht wegzudenken. Und wer Surminski schon einmal selbst gehört hat, der weiß, dass er nicht nur schreibend ein brillanter Erzähler ist. Winfrid Halder

Die Lesung gehört zum Rahmenprogramm der Ausstellung »Angekommen« (vgl. S. 3)


06 Buchvorstellung

Buchvorstellung mit Prof. Dr. Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das »Dritte Reich«

Abraham Lincoln, dem 16. Präsidenten großen politischen Zündstoff – in einer land nach dem Zweiten Weltkrieg der Vereinigten Staaten von Amerika vom vorangehenden Konflikt zerrissemit der in den USA nach dem Ende (1861-1865), wäre es am liebsten genen Nation, die erst ihre innere Einheit des Bürgerkrieges 1865 nur in einem wesen, wenn man Jefferson Davis über wenigstens so weit zurückgewinnen sehr weitgefassten Sinn vergleichbar. die Grenze der USA hätte entkommen mußte, dass ihre staatliche Einheit einiDie von deutscher Seite seit 1933 in lassen – er wollte nur nichts davon wisgermaßen stabil wiederhergestellt werDeutschland und großen Teilen Eusen, jedenfalls nicht offiziell. den konnte. ropas verübten (Kriegs-)Verbrechen Davis, das war der Mann, der Auch nach Lincolns Ermordung hatten eine völlig andere Dimension als Mi, die Konföderierten Staaten von infolge eines Komplotts von die Gewalttaten im eigenen Land seit Amerika als Präsident geführt Südstaaten-Extremisten Mitte 1861 in den USA. Die politisch Ver06.03. hatte. Nach der Wahl Lincolns April 1865 hielten die ihm in antwortlichen, soweit sie sich nicht wie 19.00 Uhr zum US-Präsidenten (Noder politischen Verantwortung Hitler und andere ihrer Verantwortung vember 1860) war der längst folgenden Nordstaatenpolitifeige entzogen hatten, jedoch juristisch schwelende Streit zwischen den ker, wenn auch vor dem Hinterbelangen zu können erwies sich als Nord- und den Südstaaten, in dem die grund heftiger diesbezüglicher Kontroschwieriges Unterfangen. Der NürnFrage der Abschaffung der Sklaverei versen, an der einmal eingeschlagenen berger Hauptkriegsverbrecherprozess eine wichtige Rolle spielte, eskaliert. Linie der vorrangigen »nationalen Vervon 1945/46 war nur möglich auf der Zumeist noch vor Lincolns förmlichem söhnung« fest. Jefferson Davis war Grundlage einer inzwischen erfolgten Amtsantritt sagten sich schließlich 11 zwar verhaftet worden und wurde weund mühsam durchgesetzten Fortentder damals 34 US-Bundesstaaten von gen Verrates angeklagt, allerdings ohne wicklung des Völkerrechtes – so etwa der Union los und gründeten besagte dass ein Gerichtsverfahren zustande der juristischen Definition des Begriffs Konföderierte Staaten, in denen Davis kam. Im Mai 1867 wurde Davis nach »Völkermord«. Das Nürnberger Verzum Präsidenten gewählt wurde. Seine nicht ganz zwei Jahren aus der Unterfahren wurde jedoch gerade mit Blick Amtszeit endete mit der endgültigen suchungshaft entlassen – da befanden auf die Neuartigkeit einiger Rechtsbemilitärischen Niederlage der Südstaasich alle anderen Mitglieder der vormagriffe immer wieder mit juristischen, ten im Frühjahr 1865, nachdem deligen konföderierten Regierung längst weniger mit politischen Argumenten ren Abspaltung schon bald nach ihrer wieder auf freiem Fuß. Das Verfahren angegriffen. Vor allem die US-AmeriVerkündung in den Sezessionskrieg gegen Davis wurde 1869 eingestellt, kaner, zumal die historisch gebildeten gemündet hatte. Dieser ist bis zum kein anderes Mitglied seines Kabinetts Vertreter der westlichen Hauptsiegerheutigen Tag mit schätzungsweise wurde je juristisch zur Verantwortung macht, waren sich über die Problematik rund 600.000 direkten oder indirekten gezogen. Lincoln hatte gewusst, dass völlig im Klaren – und auch über die Todesopfern die blutigste militärische ein politisch hoch aufgeladenes, aber Schwierigkeiten, die nach einem geAuseinandersetzung, in welche die Verohne Hauptverhandlung ergebnislos waltsamen Konflikt und einem politieinigten Staaten je verwickelt waren. eingestelltes Verfahren stets eine Peinschen Systemwechsel mit dem Versuch Dieser Bürgerkrieg zwischen 1861 und lichkeit darstellt – für die Anklägerseite. einhergehen würden, einen durchgrei1865 war nicht nur äußerst verlustreich, Auch auf den untergeordneten Ebenen fenden Wechsel der Eliten, will heißen sondern er wurde von beiden Seiten praktizierte man schließlich eine Politik einen personellen Austausch in den teilweise mit brutalsten Mitteln auch der Vermeidung Schaltstellen von gegen die Zivilbevölkerung geführt; von Strafverfah- In Zusammenarbeit mit dem Politik, Verwalvon den Kriegstoten waren »nur« etwa ren – kein einziger tung und WirtBund der Vertriebenen 216.000 gefallene Soldaten. Südstaaten-Geneschaft zugunsten NRW Gleichwohl hätte Präsident Lincoln es ral wurde wegen »Unbelasteter« insgeheim begrüßt, wenn Davis, sein Kriegsverbrechen herbeizuführen. wichtigster politischer Antipode in verurteilt. Lediglich ein ehemaliger Den hatte es nämlich im Süden der dieser Auseinandersetzung, sang- und Offizier der Südstaaten-Armee wurde USA seit 1865 auch nicht gegeben. klanglos über die Grenze verschwunwegen des Massensterbens in einem Recht besehen war die sogenannte den wäre. Dahinter stand bei dem von ihm geleiteten Kriegsgefangenen»Entnazifizierung« in den westlichen studierten Juristen und überzeugten lager als Kriegsverbrecher angeklagt, Besatzungszonen Deutschlands seit Sklavereigegner Lincoln keineswegs zum Tode verurteilt und schon im No1945 ein politisch wünschenswertes, mangelndes Gerechtigkeitsgefühl. vember 1865 hingerichtet. Alle andejuristisch aber höchst heikles und hinAber gerade als Jurist sah er gewaltige ren ehemaligen Verantwortungsträger sichtlich seiner Erfolgsaussichten von Schwierigkeiten voraus, Männer wie in Politik und Militär der Südstaaten Beginn an desparates Unternehmen. Davis und andere Verantwortliche geblieben unbehelligt, insbesondere dieAm »einfachsten« war noch der Umrichtlich zu belangen – Lincoln wusste, jenigen, die bereit waren, einen Loyaligang mit den direkt an Morden und andass das was modern als »Regierungstätseid auf die Union abzulegen. Schon deren Verbrechen beteiligten Tätern – kriminalität« bezeichnet wird, im engebis zum Juli 1870 waren alle Staaten, die deren Schuld konnte mit den üblichen ren strafrechtlichen Sinn schwer fassbar sich 1861 der Sezession angeschlossen staatsanwaltlichen und gerichtlichen ist. Er erwartete dementsprechend von hatten, wieder förmlich als MitgliedsMethoden untersucht, abgeurteilt und etwaigen Strafverfahren keinen wirklistaaten der USA aufgenommen. bestraft werden. Weitaus schwieriger chen Gerechtigkeitsgewinn, wohl aber Natürlich ist die Situation in Deutschwar dies mit den im weiteren Sinne


07 Buchvorstellung politisch Verantwortlichen, die das NSRegime an mehr oder weniger bedeutender Stelle mitgetragen und gestützt, mithin auch zur Ermöglichung seiner monströsen Verbrechen indirekt beigetragen hatten, ohne je selbst ein Mordwerkzeug in die Hand zu nehmen oder einen anderen Menschen physisch zu beeinträchtigen. Wie sollte die Palette des überzeugten Mittuns, des um persönlicher Vorteile willen oder aus schlichter Angst Mitlaufens, der gleichgültigen, politisch und ethisch indolenten »Ich tue nur meine Arbeit«Haltung juristisch klar gefasst und angemessen abgestraft werden? Der Umstand, dass der Kalte Krieg sehr schnell zum Rahmenszenario für den politischen Neubeginn in Nachkriegsdeutschland wurde, hat insbesondere bei den Amerikanern aus strategischen Erwägungen die Absicht aus We s t d e u t s c h land möglichst rasch wieder einen ökonomisch prosperierenden, politisch stabilen und militärisch starken Bundesgenossen unmittelbar an der »Frontlinie« zum globalen kommunistischen Widersacher zu machen, in den Vordergrund treten lassen. Die hochgradig gefährliche Systemkonkurrenz zwischen westlichem Staatenverbund und Ostblock hat vollends dazu beigetragen, aus der Entnazifizierung ein rückschauend betrachtet blamables deutsches Trauerspiel zu machen. Strategische Bündniserwägungen auf der Seite der Sieger gingen einher mit – ohne weiteres nachvollziehbaren – Bestrebungen auf Seiten der meisten Verlierer, das Vorangegangene ebenso rasch wie vollständig vergessen zu machen. Die Nachlebenden von heute können das kaum anders als mit Beschämung wahrnehmen – und müssen sich zugleich fragen, worin praktikable Alternativen hätten bestehen können. Und nicht wenige von ihnen müssten sich zugleich fragen lassen, welche Qualität der von ihnen mitverantwortete Umgang mit der politischen Elite der ehemaligen DDR hatte. Eine weitere, keineswegs unmittelbar vergleichbare,

aber alles andere als abwegige historische Parallele. Es hat, so die These, noch niemals in der Geschichte wirklich weitreichende Elitenwechsel im Zusammenhang mit politischen Umbrüchen gegeben – es sei denn um den Preis der bedenkenlosen Verfolgung und physischen Vernichtung der zu diesen Eliten zählenden Menschen. Als Beispiel hierfür könnte im 20. Jahrhundert vorrangig die Sowjetunion im Zeichen der Massenmordpolitik Lenins und Stalins firmieren. Und die ist nun gewiss für demokratisch strukturierte Gemeinwesen in keiner Beziehung ein Vorbild. Die nunmehr vorliegende Studie von Michael Schwartz zu den politischen Biographien der Männer, die der Gründergeneration des Bundes der Vertriebenen angehört haben, fügt sich nahtlos in das Bild der jungen Bundesrepublik – wer dieses kennt, wird sich von den hier quellengesättigt und en détail dargelegten politischen Lebenswegen von insgesamt 13 Personen kaum überraschen lassen. Sie spiegeln brennglasartig die Nachkriegsgesellschaft und ihre naturgemäß vielfältigen Verbindungslinien in die Zeit vor 1945 wider, die zugleich generationelle Unterschiede umfassen. Die Bandbreite reicht dabei vom sozialdemokratischen Emigranten Wenzel Jaksch (18961966), über den natürlich katholischen

Zentrumspolitiker Linus Kather, der sich später der NPD annäherte, über den Kommunalpolitiker Alfred Gille (1901-1970), der 1928 zum ersten Mal zum Bürgermeister des ostpreußischen Lötzen gewählt wurde und es, inzwischen NSDAP-Mitglied, bis 1942 blieb, bis hin zum SS-Freiwilligen und möglichen Kriegsverbrecher Rudolf Wollner (1923-2002). Die jetzt vorliegende wissenschaftliche Studie geht zurück auf Debatten um das Gründungspersonal des Bundes der Vertriebenen und dessen politische Vergangenheit, welche seit 2006 durch das Magazin »Der Spiegel« angestoßen wurden. Gegenüber vorausgehenden Untersuchungen zeichnet sich die neue Darstellung von Michael Schwartz durch die akribische Auswertung umfassender Quellenbestände aus. Sie ist zweifellos ein in Zukunft unverzichtbarer Beitrag zur Geschichte der Vertriebenenorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Michael Schwartz, Jahrgang 1963, hat Geschichte und Katholische Theologie an der Universität Münster studiert. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des renommierten Instituts für Zeitgeschichte, das Standorte in München und Berlin unterhält. Darüber hinaus lehrt Michael Schwartz als außerplanmäßiger Professor Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Er hat bereits zahlreiche wissenschaftliche Studien zur Geschichte der Vertriebenen in Deutschland nach 1945 vorgelegt, darunter »Vertriebene und ‚Umsiedlerpolitik‘. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegsgesellschaften und die Assimilierungsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961« (München 2004).Prof. Schwartz ist auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Bundes-Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Die Buchvorstellung gehört zum Rahmenprogramm der Ausstellung »Angekommen« (vgl. S. 3) Winfrid Halder


08 Vortrag

Vortrag von Prof. Dr. Hans Mommsen (Ruhr-Universität Bochum)

Demokratiefeindschaft von rechts und der Untergang der Weimarer Republik - In Erinnerung an den 90. Todestag Walther Rathenaus

Am 25. Juni 1922 trat der amtierende ther verlebte seine Kindheit und Jugend selbst antrat (zusätzlich zum AufsichtsReichskanzler der ersten deutschen in Berlin und wurde durch umfassende ratsvorsitz bei der AEG, den er seit 1912 Republik ans Rednerpult des Berliner Studien (Physik, Chemie, Maschineninnehatte). Seinem Organisationstalent Reichstags. Der Zentrumspolitiker bau) in Straßburg, Berlin und München war es wesentlich zu verdanken, dass Joseph Wirth hatte das Amt des Reauf eine künftige Beteiligung an der die Versorgung der kaiserlichen Argierungschefs erst vor etwas mehr als Unternehmensführung vorbereitet. Almee insbesondere mit Munition nicht einem Jahr übernommen, er stand an lerdings hegte bereits der junge Walther schon Ende 1914 zusammenbrach. der Spitze einer Koalition aus Rathenau ein intensives InteresZwar schied Walther Rathenau aus der Zentrum, SPD und linksliberaler se auch für bildende Kunst, LiteFunktion bei der KriegsrohstoffabteiDDP. Mit 41 Jahren war er der Di, ratur und Politik. Seit 1893 überlung bereits im März 1915 wieder aus, bis dahin jüngste deutsche Kanz- 29.01. nahm er trotz eines zeitweilig er hatte jedoch dauerhafte Impulse für ler. In der vorausgegangenen pargespannten Verhältnisses zu seidie kriegswirtschaftliche Organisation teiinternen Kandidatenkür hatte 19.00 Uhr nem Vater, Leitungsaufgaben ingegeben. sich Wirth als Repräsentant des nerhalb des Konzerns. Daneben Mit der Novemberrevolution, dem linken Zentrumsflügels gegen den als begann er frühzeitig auch als Autor mit Ende der Monarchie und der Gründung konservativ geltenden Oberbürgerkritischer Haltung zu Kultur und Politik der Weimarer Republik Ende 1918 trat meister von Köln, Dr. Konrad Adenauseiner Gegenwart hervorzutreten. Eine die Politik endgültig in den Vorderer, durchgesetzt. sechsbändige Werkausgabe zeugt heute grund der Tätigkeit Walther Rathenaus. Wirths erste Amtszeit als Kanzler hatte noch von der stupenden Produktivität Schon Mitte November 1918 wirkte er allerdings nur wenige Monate gedauert, Rathenaus, der immer nur gewissermaam Zustandekommen der ersten förmda er im Oktober 1921 bereits wieder ßen »nebenbei« schrieb. Durch seine lichen Vereinbarung zur Zusammenarzurückgetreten war – dies vor allem künstlerischen Interessen kam Walther beit von Gewerkschaften und Arbeitum den Protest seines Kabinetts gegen Rathenau in Kontakt mit zahlreichen gebern (Stinnes-Legien-Abkommen) die von den alliierten Siegermächten Zeitgenossen aus der Kulturszene; mit. Daneben konzentrierte er seine des Ersten Weltkriegs angeordnete Teieine Freundschaft verband ihn etwa publizistische Tätigkeit auf Schriften lung Oberschlesiens zugunsten Polens mit Gerhart Hauptmann. Hauptmann zum politischen und wirtschaftlichen zum Ausdruck zu bringen. In einer äuvermittelte Rathenaus Aufnahme in Neubeginn in Deutschland. Er schloß ßerst schwierigen politischen Situation den elitären Kreis der Autoren des S. Fisich der neu gegründeten DDP an aber hatte ihn der sozialdemokratische scher-Verlages (darunter neben Hauptund wirkte als deren WirtschaftsfachReichspräsident Friedrich Ebert erneut mann u. a. mann. In dieser mit der Regierungsbildung beauftragt, Thomas Mann, Rolle wurde »Nicht nur die glühendste und Wirth hatte schweren Herzens Hugo von HofRathenau auch Liebe zu Deutschland hatte zugestimmt und sein zweites Kabinett mannsthal, beteiligt an der dieser Mann, der dunklen zusammengestellt. Dieses war allerRichard Deh- Mächten zum Opfer gefallen Lösung der audings wiederum mehrfach umgebildet mel oder Herßen- und wirtist, er hatte auch eine tiefe Liebe zu PreuSSen.« worden; die wohl wichtigste Änderung mann Hesse). schaftspolitisch (Gerhart Hauptmann über bestand darin, dass Wirth, der zuvor in Im Gegenzug d räng en d sten Personalunion auch das Ressort Äußewidmete Ra- Walther Rathenau, 27. Juni 1922) und schwierigsres geleitet hatte, am 01. Februar 1922 thenau Hauptten Problematik Walther Rathenau zum Außenminister mann 1912 seine bedeutende Schrift der jungen Republik, nämlich der Frage bestellte. »Zur Kritik der Zeit« »als Zeichen der der Reparationsleistungen an die AdRathenau war damit neben ReichsDankbarkeit, die ich als Deutscher dem resse der siegreichen Kriegsgegner, so wehrminister Otto Geßler der zweite Dichter unserer Zeit schulde, und als wie sie der Versailler Vertrag vom Juni Minister, der der DDP angehörte. ZuGabe herzlicher Freundschaft.« 1919 forderte. Rathenau plädierte dagleich war er längst bevor er das neue Zum ersten Mal eine im engeren Sinne für, den Versuch zu unternehmen, den Ministeramt antrat, eine der prominenpolitische Funktion übernahm Walther Reparationsforderungen der Alliierten testen Persönlichkeiten in Wirtschaft, Rathenau Mitte August 1914, wenige möglichst weitgehend nachzukommen Kultur und Politik Deutschlands. Tage nach Ausbruch des Ersten Welt– letztlich aber in der Intention daWalther Rathenaus Vater, Emil Rathekriegs. Im Unterschied zum größten mit unter Beweis zu stellen, dass diese nau, hatte 1883/87 die »Allgemeine Teil der politischen und militärischen schlechterdings unerfüllbar waren und Electrizitäts-Gesellschaft« AEG geFührung des Deutschen Reiches hatzugunsten Deutschlands revidiert wergründet, nachdem er das wirtschaftlite Rathenau bereits erkannt, dass im den müßten. Er vertrat folglich mutig che Potential erkannt hatte, das in der Zeitalter der Hochindustrialisierung eine weitaus realistischere, allerdings damals hochmodernen Nutzung von eine effektive Organisation der Kriegsauch äußerst unpopuläre Auffassung elektrischer Energie zunächst vor allem wirtschaft entscheidende Bedeutung zur Reparationsfrage als die meisten zu Beleuchtungs- und Antriebszwecken für die Erfolgsaussichten einer Kriegsanderen Politiker. Insbesondere seisteckte. Emil Rathenaus Unternehmen partei hatte. Auf seine Anregung hin tens der rechtsradikalen Kräfte wurde wuchs in sehr kurzer Zeit sprunghaft zu wurde im preußischen KriegsminisRathenau als »Erfüllungspolitiker« geeinem der größten deutschen Industrieterium die »Kriegsrohstoffabteilung« schmäht und zum Hassobjekt gemacht konzerne heran. Sein ältester Sohn Waleingerichtet, deren Leitung Rathenau


09 Vortrag – ohne dass diese in der Reparationspolitik in Anbetracht der massiven Überlegenheit der Siegermächte eine irgend praktikable Alternative zu bieten gehabt hätten. Rathenau eignete sich für die rechtsradikal-antisemitischen Kräfte auch in Anbetracht seiner Herkunft aus einem wohlhabenden jüdischen Unternehmerhaushalt offenbar besonders als Feindbild. Nachdem Walther Rathenau am 1. Februar 1922 im Kabinett Wirth die Leitung des Auswärtigen Amtes übernommen hatte, trat er noch mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Schon wenige Wochen später, Mitte April 1922 reiste Rathenau als Außenminister mit Reichskanzler Wirth zu einer internationalen Wirtschaftskonferenz nach Genua. An deren Rand vereinbarte Rathenau am 16. April 1922 mit der ebenfalls angereisten Delegation der jungen, von Wladimir I. Lenin beherrschten Sowjetunion unter Führung von deren Außenminister Georgi Tschitscherin im nahegelegen Rapallo einen Vertrag, der die Weltöffentlichkeit überraschte. Die beiden infolge von Krieg und Revolution international isolierten Staaten sagten sich gegenseitig einen Verzicht auf jegliche Wiedergutmachungsleistungen zu und verabredeten zugleich die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Beziehungen. Walther Rathenau zeichnete damit für eine der wichtigsten Etappen der deutschen Außenpolitik nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verantwortlich. Der außenpolitische Überraschungserfolg führte allerdings nicht dazu, dass die Schmähungen gegen Rathenau nachgelassen hätten. Ein bereits zuvor geschmiedetes Mordkomplott nahm seinen Lauf. Am Morgen des 24. Juni 1922 wollte Walther Rathenau von seiner Berliner Privatvilla ins Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße fahren. Er befand sich trotz vorausgehender Morddrohungen lediglich in Begleitung seines Chauffeurs. Bald nach der Abfahrt wurde Rathenaus offenes Cabriolet von einem anderen Fahrzeug überholt. Als sich beide Autos auf gleicher Höhe befanden, eröffnete einer der beiden Attentäter, der 23-jährige Erwin Kern, mit einer Maschinenpistole das Feuer auf Rathenau. Sein Mittäter, der 26-jährige Hermann Fischer, warf eine Handgranate in den Fonds des Minister-Wagens. Walther Rathenau war sofort tot. Beide Mörder hatten im Ersten Weltkrieg als junge Offiziere gedient, beide hatten danach verschiedenen Freikorps angehört. So wie der Kreis ihrer Unterstützer, die die Tat mitvorbereitet und Kern und Fischer zunächst zur Flucht

verholfen hatten, waren sie Mitglieder steht der Feind – und darüber ist kein der rechtsradikalen »Organisation Zweifel: dieser Feind steht rechts!« Consul« (O.C.). Die O. C. war eine Prof. Dr. Hans Mommsen geht in seiweitverzweigte Terrororganisation, die nem Vortrag den Triebkräften der der ehemalige Marine-Offizier und »Konterrevolution« von rechts und deFreikorpsführer Hermann Ehrhardt ren Rolle beim Scheitern der Republik 1920 gegründete hatte. Ihre Mitglieder von Weimar nach. Die Kräfte, die in den waren wie Kern und Fischer mehrheitersten Jahren der Republik direkt oder lich einstige Offiziere, die meisten waindirekt hinter den Morden an Matthias ren noch keine 30 Jahre alt. Angehörige Erzberger und Walther Rathenau sowie der O.C. waren auch in die Ermordung ungezählten weiteren Gewalttaten standes Zentrumspolitikers Matthias Erzden, waren auch an ihrer letztendlichen berger am 26. August 1921 und einen Vernichtung seit Beginn der 1930er Anschlag auf den Sozialdemokraten Jahre beteiligt. Prof. Mommsen stellt Philipp Scheidemann am 4. Juni 1922 das Wirken dieser politischen Richtung verwickelt, den dieser nur durch Zufall in einen gesamteuropäischen Zusamüberlebte. In beiden Fällen hatten die menhang. Attentäter – wie bei Rathenau – ihre Hans Mommsen gehört seit Jahrzehnunbewaffneten Opfer, die keinen Poten zu den international renommierlizeischutz hatten, auf offener Straße testen deutschen Zeithistorikern und angegriffen. den besten Kennern der Geschichte Die beiden eigentlichen Täter des Rader Weimarer Republik und der NSthenau-Mordes wurden rund drei WoDiktatur. Zu diesem Themenfeld hat chen nach der Tat auf der Burg Saaleck er eine Vielzahl von Veröffentlichunvon der Polizei gestellt, Kern wurde gen vorgelegt, darunter nicht zuletzt erschossen, Fischer beging Selbstmord. den voluminösen Band »Aufstieg Gegen einen Teil der und Untergang der weiteren Tatbetei- In Zusammenarbeit mit Republik von Weiligten wurden wenig der Volkshochschule mar 1918-1933« später zum Teil hohe (3. Aufl., München Düsseldorf Haftstrafen verhängt. 2009). Er hatte von Allerdings war selbst 1968 bis zu seiner der Fahrer des Wagens, in dem Kern Emeritierung 1996 den Lehrstuhl für und Fischer gesessen hatten, der wegen Neuere Geschichte an der Ruhr-UniBeihilfe zum Mord zu 15 Jahren Zuchtversität Bochum inne. Hans Mommsen haus verurteilt wurde, aufgrund einer hat Gastprofessuren beziehungsweise Amnestie bereits Anfang 1930 wieder Forschungsaufenthalte an den Univerfrei. sitäten Princeton, Harvard, Berkeley, Reichskanzler Wirth stand also an jeWashington D. C. und Jerusalem abnem 25. Juni 1922 am Rednerpult des solviert. Er war und ist Mitglied zahlreiReichstages, am Tag nach dem Mord an cher wissenschaftlicher Gremien. 2010 Walther Rathenau. Zunächst machte er nannte ihn die »Zeit« anläßlich seines die hasserfüllten Anwürfe von deutsch80. Geburtstages einen »der ganz Gronationalen Politikern gegen Rathenau ßen seines Fachs«. Im gleichen Jahr für die »Mordatmosphäre« veranterhielt er für sein Gesamtwerk den wortlich, aus der schließlich die Tat »Bruno-Kreisky-Preis für das politische hervorgegangen sei. Gerade Rathenau Buch«. mit seinem eminenten VerhandlungsDer Vortrag eröffnet eine Veranstalgeschick auch gegenüber den alliierten tungsreihe, die sich aus gegebenem Siegermächten werde nun bitter fehlen. Anlass mit rechter Gewalt und DemoWirth schloß seine Rede mit dem Auskratiefeindlichkeit in der deutschen ruf: »Da steht der Feind, der sein Gift und europäischen Geschichte des 20. in die Wunden des Volkes träufelt. – Da Jahrhunderts auseinandersetzt. Winfrid Halder .

Ersatztermin für die im November krankheitsbedingt ausgefallene veranstaltung.


10 Vortrag

Vortrag von Dr. Jörg Morré, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst

Auch ein Schlesier – Heinz Keßler, Stalingrad und das Nationalkomitee Freies Deutschland

ren, die sich dem NKFD angeschlossen Fällt heute der Name Heinz Keßlers schinenschlosser und arbeitete in diehaben, um »Verräter oder Patrioten« folgt wohl bei vielen, die die Existenz sem Beruf, bis er 1940 zur Wehrmacht handelte (so der Titel der lange Zeit der DDR noch miterlebt haben, 22 einberufen wurde. Schon drei Wochen maßgeblichen wissenschaftlichen StuJahre nach deren Ende die verwunderte nach dem Beginn des Feldzuges gegen die des Historikers Bodo Scheurig, die Rückfrage: »Lebt der denn noch?« In die Sowjetunion nutzte Keßler als einzuerst 1965 erschien). In der späteren der Tat, Heinz Keßler weilt noch unter facher Soldat die Gelegenheit zur Roten DDR gehörten ehemalige Mitglieuns, hochbetagt mit jetzt fast 93 Armee überzulaufen. Zu diesem der des NKFD, das die sowjetischen Jahren. Dann wird wohl dem Zeitpunkt, da die angreifenden Machthaber bald nach der deutschen einen oder anderen einfallen, deutschen Truppen die StreitDo, Kapitulation im Mai 1945 als inzwidass Keßler Verteidigungsmikräfte Stalins vorläufig in einen schen überflüssig auflösten, zu den Be28.02. nister der DDR war. Genaugedesaströsen Rückzug trieben, gründern der Nationalen Volksarmee – 19.00 Uhr nommen war er der dritte und war dies sicher ein risikoreiches so wie Heinz Keßler. Er ist bereits 1945 vorletzte Inhaber dieses Amtes. Unternehmen. nach Deutschland zurückgekehrt und Nach der förmlichen Gründung Wie andere kooperationswillige wurde als kommunistischer »Nachder »Nationalen Volksarmee« im Jahre Kriegsgefangene wurde Keßler auf eine wuchskader« zunächst bei der »Freien 1956 (die lediglich die schon vor der »Antifa-Schule« geschickt, um dort auf Deutschen Jugend« (FDJ) eingesetzt. Gründung der DDR eingeleitete Aufeinen künftigen Einsatz im Rahmen der Doch schon kurz nach der Gründung stellung militärisch bewaffneter Ver»Feindpropaganda« der Roten Armee der DDR ging Keßler zur »Volkspolibände in der damaligen Sowjetischen vorbereitet zu werden. Ein Wendepunkt zei«, die teilweise schon paramilitäriBesatzungszone Deutschlands sanktiwurde auch für Keßler die Schlacht von schen Charakter erhielt. Dort machte onierte) standen vor Keßler lediglich Stalingrad. Nach der Kapitulation der der einstige einfache WehrmachtssolWilli Stoph (1956-1960) und dann Reste der 6. deutschen Armee Anfang dat eine schwindelerregende Karriere: Bereits Anfang Oktober 1952 wurde für rund ein Vierteljahrhundert Heinz Februar 1943 gerieten erstmals rund der 32-Jährige zum Generalmajor beHoffmann (1960-1985) an der Spitze 100.000 deutsche Soldaten auf einen fördert. In diesem Rang ging er dann in der bisher einzigen deutschen »ArSchlag in Gefangenschaft. Mit Billigung die NVA über. Dort beiter- und Bauernarmee«, wie Keßler Stalins wurde von der wurden Leute wie noch am 06. März 2011 anläßlich des Moskauer Exilleitung Vortragsreihe 55. Jahrestages der NVA-Gründung der KPD um Wil- »Deutsche Biographien Keßler gebraucht, Männer mit luin Berlin emphatisch ausführte. Nach helm Pieck und Walter im 20. Jahrhundert« penreiner »proHoffmanns plötzlichem Tod Anfang Ulbricht bald darauf die letarischer HerDezember 1985 wurde Keßler »MinisGründung des »Nakunft«, kommunistischem Parteibuch ter für Nationale Verteidigung«, folgtionalkomitees Freies Deutschland« und sowjetischer »Antifa-Schulung«. lich auch Mitglied des »Ministerrates« (NKFD) vorbereitet. Dieses sollte als Ihre ideologische Kompetenz wurde der DDR, an dessen Spitze Willi Stoph Sammelbecken für weitere deutsche gebraucht, um Experten wie Vincenz stand. Keßlers Aufstieg zum RessortKriegsgefangene dienen, die nunmehr Müller zu kontrollieren, auf deren michef ging einher mit seiner Beförderung zur Zusammenarbeit mit den Sowjets litärischen Sachverstand die SED nicht zum »Armeegeneral«, dem höchsten bereit waren – der propagandistische verzichten wollte. Müller war im Range militärischen Rang, den die DDR verWert einer solchen Organisation wurde eines Generalleutnants der Wehrmacht geben hat. Wichtiger noch war sicherauf sowjetischer Seite zunächst hoch im Juli 1944 in sowjetische Gefangenlich, dass Keßler im April 1986 in das eingeschätzt. Heinz Keßler gehörte zu schaft geraten und hatte sich seinerseits Politbüro des Zentralkomitees der SED den Gründungsmitgliedern des NKFD, bald darauf dem NKFD angeschlossen. gewählt wurde. Damit gelangte er in das am 12./13. Juli 1943 in KrasnoNach der Entlassung aus der Gefangenden Kreis der 22 mächtigsten Männer gorsk unweit von Moskau aus der Tauschaft wurde Müller in den zunächst in der DDR, die sich um Generalsekrefe gehoben wurde. Dort wurde für die verdeckten Aufbau der NVA einbetär Erich Honecker scharten. Gefangenen, die bereit waren, sich dem zogen und erhielt schon 1953 bei der Heinz Keßler stand damit im Zenit Nationalkomitee anzuschließen, ein »Kasernierten Volkspolizei« neuerlich einer allemal bemerkenswerten Biogesondertes Lager mit erheblich besseden Dienstgrad Generalleutnant. Nicht graphie, die am 20. Januar 1920 im ren Lebensbedingungen geschaffen als anders als bei der Bundeswehr stanniederschlesischen Lauban begann. Er in den sonstigen Lagern. An die Spitze den auch bei der Schaffung der NVA stammt aus einem Arbeiterhaushalt, des NKFD trat der Schriftsteller Erich nicht selten Offiziere Pate, die schon seine Eltern sind mit ihm noch vor der Weinert, der seit 1929 der KPD angein der kaiserlichen Armee, dem HunEinschulung ins sächsische Chemnitz hörte und der 1935 in die Sowjetunion derttausend-Mann-Heer der Weimarer gezogen. Die politische Orientierung emigriert war. Neben Weinert gehörten Republik und dann in der Wehrmacht seines Vaters, der Metallarbeiter war auch Pieck und Ulbricht dem NKFD gedient hatten (dies zum Thema »Entund sich bald nach deren Gründung an und sorgten dafür, dass die Kontrolnazifizierung« in der DDR, vgl. Beitrag »Funktionäre mit Vergangenheit«, S. der KPD anschloß, war maßgeblich le von dessen Tätigkeit durch deutsche 6). Kommunisten wie Heinz Keßler für den jungen Heinz – und ist es wohl Kommunisten lückenlos war. und andere sorgten indessen für deren In Westdeutschland wurde schon bald noch heute für den über 90-Jährigen, ideologische Linientreue. nach 1945 heftig darüber gestritten, ob der seit 2009 der DKP angehört. Keßler es sich bei den Soldaten und OffizieDie Karriere des einstigen Wehrmachtsselbst machte eine Ausbildung als Ma-


11 Vortrag & Buchvorstellung soldaten und dann Armeegenerals der NVA Heinz Keßler endete abrupt im November 1989. Als die »jungen Genossen« um Egon Krenz den verzweifelten Versuch unternahmen, der SED in der von ihr selbst abgewirtschafteten DDR die Macht zu erhalten, wurde auch Keßler zwangsweise in den Ruhestand geschickt. Kurzzeitig war er wegen Korruptionsverdachts in Untersuchungshaft, als die DDR gerade noch existierte. Im Frühjahr 1990 wurde er aus der SED/PDS ausgeschlossen. Im September 1993 wurde Heinz Keßler im ersten der sogenannten »Mauerschützenprozesse« aufgrund seiner Mitverantwortung für die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer wegen »Anstiftung zum Totschlag« zu sieben Jahren Haft verurteilt. Mit auf der Anklagebank saßen u. a. Erich Mielke und Willi Stoph. Keßler wurde aus gesundheitlichen Gründen im Frühjahr 1998 vorzeitig aus der Haft entlassen. Bis heute freilich vertritt er die Meinung, dass der Mauerbau von 1961 lediglich der »Friedenssicherung« gedient habe. So in einem Buch, dass er vergangenes Jahr zusammen mit dem ehemaligen NVA-Generaloberst Fritz Streletz veröffentlichte. Streletz war Keßlers Stellvertreter als Verteidigungsminister und wurde 1993 gemeinsam mit ihm verurteilt – wie Keßler darüber hinaus ein gebürtiger Schlesier. Dr. Jörg Morré ist ein führender Experte für die Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen, vor allem seit Beginn des Krieges zwischen HitlerDeutschland und der UdSSR im Juni 1941. Er leitet das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst, das sich am Ort der Unterzeichnung der deutschen Gesamtkapitulation vom 8. Mai 1945 und dem späteren Hauptsitz der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland befindet. Der deutschsowjetische Krieg von 1941 bis 1945 steht im Mittelpunkt der Dauerausstellung des Museums, die derzeit grundlegend erneuert wird. Jörg Morré hat neben zahlreichen anderen Veröffentlichungen die wichtigste und umfassendste neuere Untersuchung über das Nationalkomitee Freies Deutschland veröffentlicht (München 2001). Winfrid Halder

Buchvorstellung mit Prof. Dr. Helga Grebing, Berlin

»Freiheit, die ich meinte« - Helga Grebings Erinnerungen an Berlin und andere Stationen ihres Lebens Historiker tun das nicht. Historikerin(Zeit-)Historikerin, die sie ist. Das zeigt nen auch nicht. Erinnerungen schreisie schon zu Beginn ihres Buches, als ben nämlich. Eigentlich. sie »ein wenig Vorwort« voranstellt Denn das heißt ja, dass man sich von – in dem sie die ihr selbstverständlich der hohen Warte der Kathederperspekbewussten Grenzen des persönlichen tive auf die Ebene der Zeitzeuginnen Erinnerungsvermögens mit einem und Zeitzeugen begibt – und denen schlagenden Argument in Kauf nimmt: bringen die Vertreterinnen und VertreDass als Alternative nur eines bleibt, das ter der Geschichtswissenschaft stets ein Verschweigen nämlich. Sie hat abgewogerüttelt Maß an professionelgen zwischen der natürlichen lem Misstrauen entgegen. WolFragwürdigkeit der subjektiven len erstere doch allzu oft verMemoria und dem früher oder Do, mitteln, dass sie ganz bestimmt später zwangsläufig restlosen 14.03. wissen, »wie es wirklich geweVersinken des Unausgespro19.00 Uhr sen ist«, da sie ja – im Unterchenen im Vergessen. Und hat schied zu den naseweisen Wissich für erstere entschieden. senschaftlern – »selbst dabei Gut so. Denn man erfährt folgwaren«. Dergleichen Überzeugungen lich viel über ein Leben, dessen Auswerden dann regelmäßig von den megangsvoraussetzungen den Weg auf thodenstolzen, erkenntnistheoretisch einen Lehrstuhl für Geschichte an eiversierten Wissenschaftlern mit überner deutschen Universität so gar nicht legener Quellen- und Literaturkenntnis vorherzubestimmen schienen. Die Vordemontiert, ja als ebenso schmaler wie fahren väterlicherseits kamen aus dem subjektiver, womöglich noch durch Erinthüringischen Eichsfeld nach Berlin, nerungslücken, Irrtümer und bewusste die Mutter stammte aus nicht minder Auslassungen deformierter Ausschnitt ländlicher Umgebung, genauer einem entlarvt, der allenfalls zur Illustrierung, Dorf am nördlichen Rand der damaum nicht zu sagen zur Garnierung des ligen preußischen Provinz Posen. Der ungleich komplexeren historischen Geelterliche Haushalt in Berlin war ein schehens taugt. Arbeiterhaushalt, Wenn Historikeder Vater war als rinnen und HistoMaurer tätig, die riker es dennoch Mutter als Arbeitun, Erinnerunterin in einem Begen schreiben trieb, der Schreibnämlich, tun sie maschinentypen das naturgemäß herstellte. Der früweitaus weniger he Unfalltod des unbeschwert als Vaters im März manch’ Fußball1935 hat die BilProfi, der, so um dungschancen der die Mitte Dreißig, gerade fünfjährinach dem Ende gen Helga GreProf. Dr. Helga grebing der aktiven Spiebing gewiss nicht lerlaufbahn einstverbessert. Dem weilen nach Zeitvertreib jenseits des Einschnitt des Verlustes folgt der Eingrünen Rasens Ausschau hält. Historischnitt des Umzuges in die dörfliche kerinnen und Historiker wissen, dass Peripherie Berlins, wobei die nahe sie, wenn sie selbst das schaffen, was die Hauptstadt doch stets das GravitationsQuellenkunde ein »Ego-Dokument« zentrum der Grebingschen Vita blieb. zu nennen pflegt, sich damit ihrerseits Prägend bis heute, das weiß jeder, der unter’s quellenkritische Seziermesser die Autorin schon getroffen hat und so der geschätzten Kollegenschaft begeihren Sprachduktus kennt – auch wenn ben – sich also einer selbst lang geübten sie frühzeitig mit mütterlicher Hilfe Operation unterziehen, nur diesmal auf ein Bewußtsein entwickelt hat für die der anderen Seite. Das mögen, nein, das Klippen des »mir« und »mich«, die es riskieren die wenigsten – Ärzte wollen zwischen dem Berlinerischen und dem ja auch lieber keine Patienten sein. Hochdeutschen zu umschiffen gilt. Helga Grebing wusste, worauf sie Lernfreude, nein Lernbegierde kennsich einließ. Natürlich. Renommierte Fortsetzung auf seite 12


12 Buchvorstellung Fortsetzung von seite 11

zeichnet die junge Helga Grebing am deutlichsten (wohl nicht nur die junge). Der frühe Traum der Achtjährigen, einmal »Professor« werden zu wollen, auch wenn sie einstweilen Probleme mit den Tücken der Schreibweise des Wunschberufes hat, spricht Bände. Und dieser Zug des Wissenwollens war gewiss die wichtigste Voraussetzung für den alles andere als selbstverständlichen Weg von der Miersdorfer Volksschule über die Neuköllner Handeslehranstalt, die »Vorstudienanstalt« der inzwischen Ost-Berliner Universität zur jungen West-Berliner Freien Universität. Der Bildungsweg des Arbeiterkindes verläuft vor dem Hintergrund der zunächst generationsbedingt zwangsläufigen Verstrickung mit dem Nationalsozialismus, der gerade der Jugend kaum eine Chance ließ, sich zu entziehen, dann vor dem Hintergrund der fortschreitenden Distanzierung und kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle bis 1945 in den Jahren danach. Helga Grebing thematisiert die Desillusionierung, Abwendung und Orientierungssuche im Katastrophenszenario der ersten Nachkriegsjahre, angereichert durch überlieferte frühe eigene Texte mit bemerkenswerter Offenheit, welche die Lektüre ihres Buches gerade auch heute für junge Leserinnen und Leser eindrücklich machen dürfte. Lernen kann man aus Helga Grebings Erinnerungen im Übrigen auch, dass die rückschauend vorgenommene, vermeintlich eindeutige Teilung der Welt in Ost und West im Zeichen des Kalten Krieges seit spätestens 1948 in individuellen Biographien so einfach keineswegs verlief. Eine Parallelexistenz des »Dazwischen«, wie Helga Grebing sie aus persönlichen und praktischen Gründen als Studentin der Freien Universität mit Wohnsitz in der sowjetischen Zone führte, handgreiflich fassbar in zwei Ausweisen, ausgestellt von den schon getrennten Administrationen diesseits und jenseits der Berliner Sektorengrenzen, macht deutlich, dass reale Lebenswirklichkeiten auch noch anderen Gesetzen folgen als vordergründig klaren politischen Grenzziehungen. Die spezifischen Risiken dieser Parallelexistenz vergrößerte Helga Grebing noch dadurch, dass sich die noch in Reichweite der sowjetisch gestützten SED-Mächtigen lebende Studentin bewusst gegen die kommunistisch dominierte Einheitspartei und für die Sozialdemokratie entschied. Der Weg zur SPD war, trotz »proletarischer« Herkunft, durchaus nicht selbstverständlich: Zeitweilig ging für sie eine gewisse Anziehungskraft von Jakob

Kaiser aus, bezeichnenderweise ein aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung hervorgegangener CDU-Linker (das kritische Interesse freilich bleibt: Grebing promoviert später über den politischen Katholizismus in der Weimarer Republik, ein damals reichlich ungewöhnliches, weil riskant gegenwartsnahes Thema). Der Redner Kurt Schumacher gefiel ihr dagegen mit seiner ebenso schneidenden wie lautstarken Polemik nicht, der körperlich versehrte, aber ungebrochen kämpferische Sozialdemokrat Schumacher beeindruckte sie dagegen schon. Und der junge Willy Brandt, den sie bald kennenlernte, wurde zur lebenslangen Bezugsund wohl auch Identifikationsfigur. Der Eintritt in die SPD war demnach zwei-

fellos eine Überzeugungstat, im Januar 1949, als die Partei längst unzweideutig in Frontstellung zur sich noch vor der förmlichen Gründung der DDR herausbildenden kommunistischen Diktatur im Osten stand, Monate bevor sie im mit amerikanischer Hilfe demokratisch strukturierten Westdeutschland, zunächst noch unter Schumachers Führung in eine fast zwei Jahrzehnte andauernde Oppositionsrolle verwiesen wurde. Die Leserinnen und Leser, die »vom Fach«, will heißen Historikerinnen und Historiker sind, werden auch Grebings Schilderungen ihres wissenschaftlichen Werdegangs, nicht zuletzt der Begegnungen mit den akademischen Lehrern Hans Rosenberg und Hans Herzfeld zu schätzen wissen. Bedauerlich bleibt schließlich nur, dass Helga Grebing sich nach ihrem Abschied von Berlin und der Ankunft in München, wo sie Anfang 1953 als Verlagslektorin ihre erste berufliche Station erreichte, auf »Meilensteine«, also eine knappe Skizze ihres weiteren Weges beschränkt

hat. Denn es wäre schon interessant, noch mehr darüber zu erfahren, wie es einer Frau, zumal sie das universitäre Milieu im engeren Sinne für längere Zeit verlassen hat, gelungen ist, doch noch eine Professur zu erhalten (1971 zunächst in Göttingen), also den alten Traum zu verwirklichen. Und dies in der »Zunft« – die Selbstbezeichnung der Historiker verweist nicht von ungefähr auf ein männerdominiertes, stark traditionsbezogenes handwerkliches Berufsverständnis mit archaischen, auf personalen Verbindungslinien beruhenden Karrieremustern (damals noch, heutzutage ist das natürlich alles ganz anders). Vielleicht folgt ja doch noch eine Fortsetzung – »extended version«, wie das heute heißt. Historiker tun es doch. Erinnerungen schreiben nämlich. Friedrich Prinz (1928-2003), nur wenig älter als Helga Grebing, hat es getan und damit dem Böhmen seiner Kindheit und Jugend vor 1945 ein Denkmal gesetzt. Sein Buch »Szenenwechsel« (1995) folgte seiner »Geschichte Böhmens 1848-1948« (1988), er wahrte also das sich ergänzende Verhältnis von wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und Autobiographie. Genau wie der unlängst hochbetagt verstorbene Eric Hobsbawm (1917-2012), der zuerst mit dem »Zeitalter der Extreme« eine herausragende Geschichte des 20. Jahrhunderts veröffentlichte (1994) und dann sein eigenes Leben in diesem zerrissenen Jahrhundert beschrieb (Gefährliche Zeiten, 2003). Helga Grebing hat zu Beginn ihrer Laufbahn als Autorin eine knappe Geschichte des Nationalsozialismus vorgelegt (zuerst 1959, seither vielfach aufgelegt), eines der ersten Überblickswerke, das auch einem nicht fachwissenschaftlichen Publikum einen Zugang zum Verständnis der zwölf Katastrophenjahre und ihrer Vorgeschichte eröffnet hat. Bald folgte die erste Auflage ihrer Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (1966), ein Buch, das gleichermaßen oft neu aufgelegt und von ihr selbst grundlegend neu erarbeitet wurde (zuletzt 2007). Neben ungezählten anderen Veröffentlichungen folgte 2008 eine Biographie Willy Brandts. Nun liegen ihre Erinnerungen vor – und lassen die innere persönliche Logik ihres wissenschaftlichen Schaffens klar hervortreten. Wie bei Prinz und Hobsbawm. Auch Historikerinnen und Historiker leben nicht im luftleeren, nein, nicht im geschichtslosen Raum. Natürlich. Auch Historikerinnen tun es. Erinnerungen schreiben nämlich. Bald noch andere. Hoffentlich. Winfrid Halder


13 Literatur

Lesung mit Dr. Hajo Buch und PD Dr. Winfrid Halder

Meine Lieblingsnovelle von Werner Bergengruen – Leserinnen und Leser wählen aus!

»1892 wurde ich geboren und zwar in Nordosten Europas. Seit 1902 besuchte Seit 1920 lebte und arbeitete Werner Riga, das damals noch zum russischen der junge Bergengruen das altehrwürdiBergengruen in Berlin, zeitweilig als Kaiserreich gehörte […]. Wie Jean ge Lübecker Katharineum – eine geisChefredakteur der »Baltischen Blätter«, Paul zu Wunsiedel sage ich zu Riga: ‚Ich tige Pflanzstätte der besonderen Art. dann immer stärker als Autor eigener bin gern in dir geboren.‘ Meine Geburt Etliche späterhin berühmte Literaten Romane, Erzählungen und Lyrikbände. ereignete sich nach dem alten Stil, das haben die 1531 gegründete Schule beDas Jahr 1933 erlebte er, inzwischen heißt: nach dem in Russland damals sucht, darunter Theodor Storm, Emanuel auch Familienvater, mit zwiespältigen noch geltenden julianischen Kalender. Geibel und natürlich nicht zuletzt die Empfindungen, wie viele andere KonEine energische Tante meiner Brüder Heinrich und Thomas servative auch. In der Zeit danach ging Mutter, die bereits meinen Mann, zumeist ohne ihre späer zunehmend auf Distanz zum NS-ReDo, Vater als Knaben zum Gegentere Bedeutung durch allzu aufgime. Teil seiner persönlichen Standstand ihrer Pädagogik gemacht fällige schulische Leistungen ortbestimmung war der Übertritt zur 21.02. hatte, […] nahm gelegentlich frühzeitig erahnbar werden zu katholischen Kirche im Jahre 1935; in 19.00 Uhr meiner ersten Deutschlandlassen. So auch im Falle Werner München, in dessen Nähe Bergengruen reise die Umrechnung des DaBergengruens, obwohl dieser, seither wohnte, gehörte er zum regimetums in die von der übrigen genau wie die Gebrüder Mann, kritischen Kreis um Theodor Haecker, Carl Welt gebrauchte gregorianische Zeitnoch als Schüler zu schreiben begann. Muth und andere. Der 1935 erschienezählung vor. Hierbei verzählte sie sich Die Familie des jungen Dichters verließ ne Roman »Der Großtyrann und das um einen Tag, denn die Rechenkunst Riga bereits 1909, Gericht« ist – im war bei uns zu Lande wenig geachtet um sich in Marburg Gewande der hisund wenig geübt – meist verließ man niederzulassen. Ob torischen Erzähsich auf Schätzungen. Ich beging später nun durch Zufall lung – eine kaum den Fehler, den Irrtum zu korrigieren, am Ort einer der verschlüsselte indessen nicht mit der Energie jener bedeutendsten Absage an den geGroßtante, und der Umstand, dass sich Niederlassungen heimpolizeilichen in amtlichen Papieren von nun an zwei des Deutschen Üb e r w ac h u ng s verschiedene Geburtsdaten fanden, hat Ordens im Westen staat und dessen mir manches behördliche Mißtrauen Deutschlands oder Denunziantenweeingetragen. Als ich die Geburt eines nicht – die Beziesen. 1937 erfolgmeiner Kinder auf dem Charlottenhung zum Osten te Bergengruens burger Standesamt anmeldete, sagte blieb erhalten. WerAusschluss aus der ein strenger Mann: ‚Wann ist das Kind ner Bergengruen »R e i c h s s c h r i f t geboren? Sie wissen ja nicht einmal, beherrschte nicht t u m s k a m m e r «, wann Sie geboren sind!‘ Ich nahm die zuletzt die russimit der BegrünZurechtweisung hin, denn wie könnte sche Sprache so dung, er sei unein vor dem Schalter Stehender einem gut, dass er in den geeignet »durch hinter dem Schalter Sitzenden eine Ge1920er Jahren zum schriftstellerische schichte erzählen wollen, die mit: ‚MeiÜbersetzer DostoVeröf fentlichunne Großtante …‘ anfängt?‘« jewskis und Tolsgen am Aufbau der So beginnt ein kurzer Lebenslauf, den tois wurde. Er schuf deutschen Kultur Werner Bergengruen Werner Bergengruen 1952 schrieb. Die Übertragungen, m i t z u w i r k e n .« Skizze der eigenen Vita des Sechzigjähderen Qualität sich Damit konnte er rigen ist gleichermaßen bezeichnend dadurch erweist, dass sie zum Teil heuin Deutschland nicht mehr legal publifür Bergengruens Humor und seine te noch im Buchhandel erhältlich sind. zieren. Dennoch kamen auf Umwegen, Selbstironie. Von der Herkunft aus eiBevor er selbst allerdings vollends zum wie bei anderen Autoren der »Inneren nem deutsch-baltischen Elternhaus im Schriftsteller und literarischen ÜbersetEmigration« auch, noch Werke von lettischen Riga blieben Bergengruen zer wurde, hat Bergengruen nach dem ihm heraus. freilich lebenslang nicht allein die KaAbitur in Marburg, München und BerWomöglich hat ihn die Zerstörung lamitäten der beiden Geburtsdaten erlin Geschichte, Jura und Literaturwisseines Hauses in Solln bei München halten. Der baltische Sprach- und Kulsenschaft studiert. Er musste auch die durch einen Bombenangriff schon turraum prägte ihn vielmehr nachhaltig Zäsur des Ersten Weltkrieges noch hin1941 davor bewahrt, wie Haecker und – er ist aus dem späteren Schaffen des ter sich bringen, in dem er als Offizier Muth ins engere Umfeld des studentiSchriftstellers Bergengruen schlechterin der deutschen Armee diente. Auch schen Widerstandskreises der »Weißen dings nicht wegzudenken. Dies obwohl über die deutsche Niederlage von 1918 Rose« um Hans und Sophie Scholl zu bereits der 10-Jährige auf die höhere hinaus blieb er Soldat, um nach dem geraten – eine lebensgefährliche Nähe Schule ins damalige Deutsche Reich Zusammenbruch des Zarenreiches nach der Verhaftung und Ermordung geschickt wurde, genauer nach Lübeck, und der Oktoberrevolution in seiner der Gruppe im Frühjahr 1943. Da wohnte also gewiß nicht zufällig in die traditiHeimat als Angehöriger der Baltischen Bergengruen bereits im ländlichen Tirol, onsreiche Ostseekapitale mit ihren urLandeswehr gegen die Bolschewiki zu wo er das Kriegsende 1945 physisch Fortsetzung auf seite 14 alten und vielfältigen Bindungen in den kämpfen.


14 Literatur & Vortrag Fortsetzung von Seite 13

unbeschadet erlebte. Obwohl Bergengruen in der frühen Nachkriegszeit zeitweilig in der Schweiz und in Rom lebte, wurde er nun rasch einer der prominentesten Autoren der jungen Bundesrepublik. Wie der mit ihm befreundete Reinhold Schneider galt er als Repräsentant des »anderen Deutschland« – da man sich in Westdeutschland vielfach schwer damit tat, die Emigranten aus der Zeit nach 1933 wieder willkommen zu heißen, erfreute sich ein Autor wie Bergengruen, der offenkundig »dagegen gewesen«, aber in Deutschland geblieben war, großer Beliebtheit. Vielfältige Ehrungen und Auszeichnungen folgten, darunter der Schiller-Gedächtnispreis und der Orden Pour le mérite (Friedensklasse). Werner Bergengruen starb am 4. September 1964 in Baden-Baden. Bergengruen war ein Meister nicht nur der Gedichtform und des »großen« Romans, sondern insbesondere auch des novellistischen Erzählens. Viele Leserinnen und Leser werden sich erinnern, der einen oder anderen Bergengruenschen Novelle im schulischen Deutschunterricht begegnet oder später damit in Berührung gekommen zu sein – Kleinodien der Sprach- und Erzählkunst allemal. Besonders berühmt sind etwa »Die drei Falken« (1937) oder »Der Spanische Rosenstock« (1940). Wir freuen uns, wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, für die hier angekündigte Lesung einen Wunsch äußern, welche Novelle von Werner Bergengruen vorgetragen werden soll. Sie können das ganz formlos bis zum 18. Januar 2013 tun: Telefonisch unter 0211/1699114 (Frau Bergmann), postalisch oder per e-mail (halder@g-h-h.de) an mich. Das Werk mit den meisten »Stimmen« wird gelesen! Winfrid Halder

Vortrag von Dr. Miroslav KunŠtát, Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag

Eine Reizfigur – zum tschechischen politischen Diskurs über Edvard Beneš

Schon der Titel von Jiři Grušas letztem, vertriebene Ex-Präsident, betrieb von posthum veröffentlichten Buch stellt für London aus die aus seiner Sicht zwinmanchen eine Provokation dar: »Beneš gend notwendige Lösung des »deutals Österreicher«. Gruša wurde in dem schen Problems« in einem zukünftig Jahr geboren, das in der ersten wieder zu errichtenden tscheAmtszeit von Edvard Beneš choslowakischen Staat. Er sah (1884-1948) als Präsident der dabei, je länger er sich mit entMi, Tschechoslowakischen Repusprechenden Konzepten be06.02. blik zentrale Bedeutung hatte, fasster, desto entschiedener die 18.00 Uhr nämlich 1938. Die AuseinanVertreibung des deutschspradersetzung mit dem Politiker chigen Teils der Bevölkerung, Beneš wurde gewissermaßen die zwischen 1918 und 1938 in zu einem Lebensthema Jiři Grušas. Das der Tschechoslowakei lebte, als unverhat sicherlich auch damit zu tun, dass meidlich an. Betroffen war dadurch imihn sein Lebensweg aus seinem ostböhmerhin nicht ganz ein Viertel der tschemischen Geburtsort Pardubice über choslowakischen Staatsbürgerinnen die Zugehörigkeit zur Oppositionsund Staatsbürger aus der Zeit vor der bewegung gegen die kommunistische fatalen Münchner Konferenz vom SepHerrschaft in der Tschechoslowakei in tember 1938, auf der Hitler-DeutschPrag und die damit verbundene Verfolland im Schulterschluß mit Mussolinis gung ausgerechnet nach Deutschland, Italien Großbritannien und Frankreich genauer in die alte Bundesrepublik zur Preisgabe der Tschechoslowakei geder 1980er Jahre führte. Seither lebnötigt hatte. Bei der dort vereinbarten te Gruša in dem Land, von dem 1938 Abtretung des zumeist von Deutschen die Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik ausging, an deren Spitze Edvard Beneš stand. Das Verhältnis der Tschechen zu den Deutschen und umgekehrt bestimmte die Biographien von Edvard Beneš und Jiři Grušas gleichermaßen mit – nur zogen sie andere Schlüsse daraus. Beneš, der durch die Z e r s tö r u n g der Tschechoslowakei infolge der gewaltsamen Expansion des NSStaates ins britische Exil Das Beneš-Standbild in Prag


15 Vortrag & Diskussion dehnte innertschechische Debatte ein. Diese dreht sich – wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einer Besprechung des Buches formulierte – um die »zwiespältigste Figur der jüngeren Geschichte des Landes«. Die vertretenen Positionen liegen dabei wahrlich weit wahrlich weit auseinander: Jiři Gruša, der nicht nur Schriftsteller, sonDr. Miroslav KunŠtát dern auch von 1990 bis 2004 Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich bewohnten, aber bis dahin zur Tschewar, zählt Beneš resümierend zu den choslowakei gehörenden Sudetenlan»Gartenzwergen der europäischen Gedes wurde der amtierende Staatschef schichte«, den gleichen Edvard Beneš, Beneš nicht einmal gefragt. Aus Protest für den im Mai 2005 vor dem Prager trat er wenige Tage später zurück und Außenministerium ein neu geschaffeging alsbald nach London. Rechtzeitig nes Denkmal enthüllt wurde. Der dagenug, um der militärischen Besetzung malige tschechische Ministerpräsident der »Rest-Tschechei«, also der endJiři Paroubek war bei der Enthüllung gültigen Zerschlagung des bisherigen der überlebensgroßen Statue zugegen tschechoslowakischen Staates auf Beund sagte, die Errichtung des Denkmals fehl Hitlers im März 1939 zu entgehen. habe der »beachtenswerte Mann« Die Gewaltsamkeit der Zeit unter der Beneš verdient. deutschen Besetzung bis 1945 und Der Ende Oktober 2011 überraschend die sich – nach Benešs Rückkehr nach verstorbene Jiři Gruša kann an der weiPrag und ins Präsidentenamt der wieteren Diskussion über Edvard Beneš der errichteten Tschechoslowakei im nicht mehr teilnehmen – indessen Mai 1945 – darf diese vollziehende In Zusammenarbeit mit dem Tschewohl weder Vertreibung chischen Zentrum Düsseldorf in Deutschvon rund drei und der Sudetendeutschen land noch in M i l l i o n e n Landsmannschaft, Landesgruppe Ts c h e c h i e n SudetendeutNRW als abgeschen bilden schlossen seither ein betrachtet werden, zumal die berüchzentrales Thema im deutsch-tschechitigten Dekrete überwiegend aus der unschen Diskurs über die gemeinsame mittelbaren Nachkriegszeit, die Benešs jüngere Vergangenheit. Die Person von Namen tragen und die Grundlage der Edvard Beneš und seine politische MitEntrechtung und Vertreibung der Suverantwortung spielen dabei eine ebendetendeutschen (und der in der Tscheso gewichtige wie nach wie vor umstritchoslowakei lebenden Ungarn) waren, tene Rolle, und zwar in Tschechien und förmlich noch immer in Kraft sind. Den in Deutschland gleichermaßen. Der Verlauf und den gegenwärtigen Stand Titel von Jiři Grušas Buch spielt nicht der tschechischen Debatte über Edvard zuletzt darauf an, dass Beneš 34 seiner Beneš resümiert Dr. Miroslav Kunštát. insgesamt 64 Lebensjahre – mithin Er ist Historiker und Wissenschaftlimehr als die Hälfte – als Untertan der cher Mitarbeiter bei der Tschechischen Habsburger-Monarchie zugebracht Akademie der Wissenschaften in Prag hat und natürlich auch durch diese und lehrt darüber hinaus am Institut geprägt wurde. Ähnlich im Übrigen für Internationale Studien der dortigen wie der nur knapp fünf Jahre jüngere Karls-Universität. Miroslav Kunštát ist Hitler, allerdings unter ganz anderen ein durch zahlreiche VeröffentlichunVorzeichen. »Beneš als Österreicher«, gen in tschechischen und deutschen das zunächst in tschechischer Sprache Organen ausgewiesener Experte für die erschien, was gewiß kein Zufall war, da jüngeren deutsch-tschechischen BezieJiři Gruša sowohl Deutsch wie Tschehungen. chisch schreiben konnte, Grušas letztes Winfrid Halder Buch also greift folglich in eine ausge-

Unser Europa: Alle reden nur vom Geld, wir reden vom Wert Fünf Düsseldorfer Europäer(innen) aus fünf Nationen im Gespräch: Der neue Osten: Polen: Andrezej Kolinski, Polnisches Institut Düsseldorf Das EU-Gründungsland: Italien: Myriana Marconi-Dybowski, Journalistin Der gefährdete Klassiker: Griechenland: Michael Patentalis, Gesellschaft griechischer Autoren Die glücklich integrierte Mitte: Deutschland: Dr. Katja Schlenker, Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus Moderation: Luigi La Grotta, stellvertretender Redakteur beim WDR. Düsseldorf hat gut 30 Auslandsvereine aus europäischen Nachbarstaaten. Wenn sich alle an eine Tischgruppe setzten, ähnelte das dem EU-Ministerrat. Wir versuchen bescheidener, fünf verschiedene Perspektiven zueinander zu bringen. Wir sind Europa und wollen Mi, die grundlegenden Fragen nach Frieden, 06.02. Demokratie, Tole19.00 Uhr ranz und Gemeinsinn nicht einem anonymen Markt überlassen, der nur seinen eigenen Gesetzen folgt. Über das »liebe Geld«, die Bankenkrise und die weitreichenden sozialen Folgen möchten wir auch diskutieren, aber noch mehr über die Werte, die uns zusammenhalten. Eine Veranstaltung des Düsseldorfer Appell und Evangelische Stadtakademie in Kooperation mit den an der Diskussion beteiligten Institutionen Veranstaltungsort: Haus der Kirche, Bastionstraße 6


16 Vortrag

Vortrag von Dr. Bernd Ulrich, Berlin

Vor 70 Jahren – die Schlacht von Stalingrad in historischer Perspektive

„Meine liebe Ljussa, ich habe so viel erMassenmord an den sowjetischen JuNovember 1943 in und um Stalingrad lebt und gesehen, dass ich mich selber den durch deutsche „Einsatzkommaneingekesselt, etwa 90.000 davon gingen wundern muß, wie meine Seele, mein dos“ verarbeitet. Grossmans eigene Ende Januar/Anfang Februar 1943 in Herz und mein Gedächtnis damit fertig Mutter ist wie die große Mehrzahl der Gefangenschaft. Die Zahl derer, die werden. Mir ist, als sei ich damit bis zum über 33.000 Menschen, die zur jüdizuvor als „Experten“ oder Verwundete Rand gefüllt … Morgen will ich mich schen Bevölkerung von Berditschew ausgeflogen wurden, ist nicht genau behinsetzen und einen langen Aufsatz gehörten, vermutlich schon im Juli kannt, es waren vermutlich ca. 20.000. schreiben.“ So heißt es in einem Brief 1941 ermordet worden. Grossman hat Zwischen 5.000 und 6.000 Überlevom 29. Dezember 1942, den es sich nie verziehen, sie nicht bende kehrten zum Teil erst in den Wassilj Grossman seiner Frau Mo, frühzeitig zu sich nach Moskau 1950er Jahren aus der Gefangenschaft schickte. geholt zu haben und schrieb der nach Deutschland zurück. Die Anzahl Zu diesem Zeitpunkt hatte 04.02. toten Mutter zeitlebens Briefe. der gefallenen Rotarmisten wird auf Grossman den seit Ende August 19.00 Uhr „Leben und Schicksal“ enthält etwa eine halbe Million geschätzt, mit 1942 tobenden Kampf um Staaber auch unverhohlene Kritik den Verwundeten hat die Rote Armee lingrad in voller Länge und aus an den Machtmechanismen der wohl über eine Million Mann verloren. nächster Nähe miterlebt. Der aus dem stalinistischen Sowjetunion; Grossman Wieviele Zivilpersonen im Verlauf der ukrainischen Berditschew stammende zeigt ungeschminkt, wie höhere ParteiSchlacht starben, ist unbekannt; von Grossman, Jahrgang 1905, war bereits funktionäre noch immer ungeschmäden rund 445.000 Einwohnern, die in den 1930er Jahren ein bekannter lert privilegiert lebten, während die einStalingrad 1939 hatte, lebten in der Schriftsteller in der Sowjetunion gefache Bevölkerung längst bittere Not Ruinenwüste Anfang 1943 gewiß nur worden; bei seinen ersten literarischen litt. Und auch das Straf- und Zwangsnoch wenige Tausend, der größere Teil Versuchen war er durch Michail Bulgarbeitslagersystem war unter desolaten akow und Maxim Gorki ermuntert des „Gulag“ blieb Umständen (die worden, sodass er den Beruf des Ingeninicht unerwähnt, Grossman ebenfalls eurs bald aufgab. lange bevor Alexnicht zu beschreiben Im Juni 1941, unmittelbar nach dem ander Solschenizyn vergißt) evakuiert Beginn des deutschen Angriffs auf die den Begriff weltworden. Sowjetunion, hatte sich Grossman soweit bekannt mach„Fertig werden“ fort freiwillig zum Frontdienst bei der te. Schließlich läßt kann man mit StaRoten Armee gemeldet. Dort freilich Grossman deutlich lingrad wohl nie. befand man ihn für körperlich unwerden, dass es auch Der 70. Jahrestag tauglich – daraufhin wurde Grossman in der Sowjetunion der Kapitulation der Mitarbeiter der Soldatenzeitung „KrasAntisemitismus gab, 6. Armee gibt Annaja Swesda“ (Roter Stern). Seine Voreine Einsicht, gegen laß, verstärkt an das gesetzten schickten ihn prompt schon die er sich selbst Grauen des Krieges im August 1941 als Kriegsberichterstatlange gewehrt hat. zu erinnern, zumal ter doch an die Front – und Grossman Nicht zuletzt deswe- Wassilj Grossman (1905kaum noch Zeitzeublieb dort fast ununterbrochen, bis er gen hat Grossman 1964) in Schwerin 1945 gen am Leben sind. im April 1945 mit den sowjetischen nicht erlebt, wie Der Vortrag des BerTruppen Berlin erreichte und dort die sein Hauptwerk publiziert wurde. Als liner Historikers Dr. Bernd Ulrich richdeutsche Gesamtkapitulation erlebte. er 1964 starb, waren die vorhandenen tet sich auf die Voraussetzungen, den Das Erlebnis der Schlacht um StaManuskripte durch den KGB beschlagVerlauf und die Folgewirkungen der lingrad freilich behielt für Grossman nahmt und Grossman mußte davon Schlacht um Stalingrad – die natürlich zeitlebens zentralen Stellenwert. Er ausgehen, dass der Roman nie gedruckt weit über das Frühjahr 1943 hinausschrieb darüber nicht nur, wie er seiwerden würde, obwohl er bei Parteireichten. Ulrich hat 2005 im renomner Frau angekündigt hatte, „einen lanchef Chruschtschow direkt „Freiheit mierten C. H. Beck-Verlag in München gen Aufsatz“, sondern schließlich bis für mein Buch“ einforderte. Erst 1980 einen hervorragenden Überblicksband 1959 seinen wichtigsten Roman unter gelangte auf verschlungenen, geheimen zur Stalingrad-Schlacht vorgelegt, der dem Titel „Leben und Schicksal“ – ein Wegen ein von Freunden gerettetes Exzur neueren deutschsprachigen StanWerk, für das zahlreiche Rezensenten, emplar des Manuskripts in die Schweiz dardliteratur zum Thema gehört. Bernd nachdem es 2007 erstmals vollständig und wurde bald darauf publiziert. Ulrich hat an der Freien Universität und unverstümmelt in deutscher ÜberGrossmans eingangs zitierter Satz, woBerlin Geschichte und Germanistik setzung veröffentlicht wurde, fast nur nach er die Fülle des Erlebnisses von studiert. Von 1990 bis 1995 war er am Superlative gebrauchten. Und richtig: Stalingrad kaum zu fassen und verarbeidortigen Friedrich-Meinecke-Institut Es handelt sich um einen wahrhaft moten vermochte, dürften viele verstanden Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Von numentalen Jahrhundertroman, schon haben, die einen ähnlichen Erfahrungs1997 bis 2003 war er am Hamburrein äußerlich ein Schwergewicht mit horizont hatten – soweit sie noch am ger Institut für Sozialforschung tätig. über 1.000 Seiten. Grossman hat nicht Leben waren. Niemand weiß, wieviele Seither arbeitet er wieder in Berlin als nur das Toben der Schlacht, das er Menschen insgesamt direkt oder infreischaffender Historiker, hat eine selbst miterlebte, in atemberaubenden direkt durch die Stalingrader Schlacht Vielzahl von Publikationen vorgelegt Bildern eingefangen, sondern auch das ums Leben kamen. Etwa 220.000 Mann sowie an zahlreichen Ausstellungen Leiden der Zivilbevölkerung und den der 6. deutschen Armee wurden im und Rundfunksendungen mitgewirkt. Winfrid Halder


17 Lesung

»Leben in dieser Zeit«

Eine Reise durch die Zeit mit Liedern und Chansons von Edmund Nick und Erich Kästner Die Zeit hat viele Gesichter. Der KomNick, der Musiker, unterlegt Kästners jeden Fall stets am Puls der Zeit und daponist Edmund Nick (1891-1974) und Gedichte mit stilsicheren Vertonungen. bei prallbunt wie die Wirklichkeit. der Schriftsteller Erich Kästner (1899Für den Rundfunk, das neue Medium Die Sopranistin Iris Marie Kotzian und 1974) waren selten scharf beobachtender Zeit, kreieren sie das Radiospiel der Pianist Christoph Weber haben de Zeitzeugen, ihre Werke der Spiegel »Leben in dieser Zeit« (1929) – Splitaus dem gemeinsamen Repertoire von eines Jahrhunderts voller Brüter der damaligen sozialen und Erich Kästner und Edmund Nick ein che, Höhen und Tiefen. gesellschaftlichen Realität, mit Programm voll Humor und Witz zuMi, Der in Dresden geborene Kästuntrüglichem, aber doch auch sammengestellt. Gemeinsam mit Frank 20.03. ner ist nicht nur Autor von Kinempathischem Blick für die Schablewski (Sprecher) folgen sie den derbuchklassikern wie »Das beiden durch fast ein Jahrhundert 19.00 Uhr Probleme des Einzelnen, seinen fliegende Klassenzimmer« oder Alltag und seine Lebensbedindeutscher Geschichte. Dabei zeigt sich »Emil und die Detektive«. Seigungen. Das Programm »Leben diese Zeit in einer turbulenten Folge nen Zeitgenossen war er als Verfasser in dieser Zeit« findet beim Publikum von Bildern vom Kindesalter über das zeitkritischer, politisch-satirischer Gesehr großen Anklang und wird an fast Erwachsenwerden durch Flucht und dichte und Texte für das Kabarett beallen größeren Ve r t r e i b u n g kannt. deutschen Bühbis in die WirtEine gemeinsame Veranstaltung mit der SudetendeutDer Komponist, Dirigent und Musiknen aufgeführt. schaftswunschen Landsmannschaft, kritiker Edmund Nick stammte aus 1933 verbieten derjahre. Iris Landesverband NRW e.V. dem böhmischen Reichenberg und lebdie NationalsoMarie Kotzian te zeitweise in Breslau, wo er als musikazialisten allerschlüpft mal in lischer Leiter beim Schlesischen Runddings die Aufführungen. Kästner und die Rolle eines quengelnden Babys, mal funk beschäftigt war. Hier kreuzten sich Nick erhalten Berufsverbot. Erst nach ist sie die frisch Verliebte, mal die lasziauch erstmals die Wege von Nick und dem Krieg nehmen sie die gemeinsame ve Bardame, dann wieder eine desillusiKästner im Herbst 1929. Arbeit wieder auf und schreiben Lieonierte frühe Witwe. Und nicht selten Es sind turbulente Zeiten: die Weltwirtder für das Münchener Kabarett »Die sieht man so manche Parallele zum Jetzt schaft kollabiert, Millionen verlieren Schaubude«. Ihre Chansons sind teils und Heute, die schmunzeln und stauMargarete Polok ihr Erspartes und bald auch die Arbeit. charmant, teils bissig oder witzig, auf nen lässt.

Christoph Weber (Klavier) Christoph Weber arbeitete als Komponist und Pianist in Lied- und Schauspielprogrammen zahlreicher deutschsprachiger Theater und war u.a. musikalischer Leiter am Thalia Theater Hamburg. Er ist Dozent für Liedgestaltung an der Bayerischen Theaterakademie München.

Iris Marie Kotzian (Sopran) Die Sopranistin studierte Gesang an der Hochschule für Musik zu Würzburg. Sie war Preisträgerin bei zahlreichen Wettbewerben, darunter dem Internationalen Gesangswettbewerb Festspielstadt Passau und dem Concours International de Chante Montserrat Caballé. Als freischaffende Künstlerin gastierte sie an zahlreichen nationalen und internationalen Opernhäusern und Theatern. Iris Marie Kotzian ist Lehrbeauftragte für Gesang an der Universität Augsburg.

Frank Schablewski (Sprecher) Frank Schablewski studierte Bildende Kunst und Literatur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Düsseldorf sowie Tanz an verschiedenen Instituten in Deutschland, der Schweiz und Frankreich. Er ist Verfasser von Gedichten und Essays zur Kunst. Daneben arbeitet er als Choreograph. Seine Bücher erscheinen im Rimbaud Verlag.


18 Vortrag

Vortrag von Prof. Dr. Michael Garleff, Bundesinstitut für Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa

Kinder Europas aus dessen geschichtsträchtigem Osten – Die Geschichte der baltischen Staaten vom Mittelalter bis 1939

»So wird man die Menschen der baltidie Sowjetunion im Juni 1941 folgschen Völker, wenn sie nicht geschichtste, stellte lediglich unter veränderten müde geworden, […] nie verkennen Vorzeichen eine Fortsetzung der 1940 können: als Kinder Europas aus dessen begonnenen Phase extremer Gewaltgeschichtsträchtigem Osten, dem […] samkeit gegen große Teile der dort lenoch Kräfte des Herzens, des Gemütes, benden Bevölkerung dar. des Glaubens eigen sind, ohne die zu Als die Rote Armee, die längst geschlaleben sich eigentlich nicht ziemt und gene Wehrmacht vor sich hertreibend, nicht lohnt. […] Und alles, was im Herbst 1944 zurückkehrte, ich am Ende dieser Betrachtung Mo, stand es für Stalin außer Frage, in einer ungewissen Gegenwart 04.03. dass Estland, Lettland und Litauen vor einer ungewissen Zukunft wieder dem Sowjetreich einvertun kann, ist, dass ich Sie für die 19.00 Uhr leibt wurden – seine westlichen drei Völker Estlands, Lettlands Alliierten nahmen dies hin. Zwar und Litauens bitte: Gedenken Sie ihrer gab es gegen die neuerliche Unterdrüals dreier Glieder am geistigen Leibe ckung durch die stalinistischen MachtEuropas!« haber noch bis in die frühen 1950er Mit diesen nachdrücklichen Worten Jahre hinein örtlich sogar bewaffneten rief der Dichter Edzard Schaper im Mai Widerstand, aber an der zwangswei1964 dazu auf, die baltischen Länder se erneuerten Zugehörigkeit zur Sound die dort lebenden Menschen nicht wjetunion änderte dies nichts. Und in Vergessenheit geraten zu lassen. Er erst recht an der Tatsache, dass in den wandte sich insbesondere an die Westkurzen Jahren seit 1939/40 eine jahreuropäer, die diesseits des Eisernen hundertealte Symbiose zwischen MenVorhangs leben und die Freiheit und schen unterschiedlicher ethnischer Wohlstand der westlichen DemokraHerkunft, zwischen Deutschbalten, tien genießen konnten. Die baltischen Litauern, Esten, Letten, Polen, Finnen, Völker indessen lebten schon fast genau Russen, Juden und anderen Gruppen ein Vierteljahrhundert im Zeichen des zusammen mit der zugehörigen einzigmörderischen Totalitarismus: Nachartigen Kultur unwiederbringlich zerdem sich NS-Deutschland und die Sowjetunion stört wurde, war nichts mehr zu ändern. Ende August 1939 im »Hitler-StalinDiese Situation hatte Edzard Schaper Pakt« auf die Aufteilung ihrer »Interessensphären« geeinigt hatten, gerieten die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland, die erst 1918 aus dem zerfallenden Staatsverband des Zarenreiches heraus ihre staatliche Unabhängigkeit erlangt hatten, in den Machtbereich des sowjetischen Imperialismus. Im Juni 1940 besetzten Truppen der Roten Armee die Staatsgebiete der drei baltischen Staaten. Wie anderwärts auch begann unmittelbar danach die Verfolgung und Ermordung zahlreicher Menschen, die nach Lesart des sowjetischen Geheimdienstes als »Klassenfeinde« oder pauschal als »antisowjetisch« eingeschätzt wurden. Betroffen war insbesondere die Bildungselite der baltischen Länder. Nahezu zeitgleich hatte der mit Hitler vereinbarte Exodus der Masse der Deutschbalten begonnen, die unter dem Motto »Heim ins Reich« vom stalinistischen Regen in die nationalsozialistische Traufe geraten sollten. Die Phase der Besetzung der baltischen Staaten durch die Wehrmacht, die auf Karte des Baltikums aus dem Jahr 1573 den Beginn des deutschen Angriffs auf

1964 vor Augen: Die Deutschbalten, welche die Kriegszeit überdauert hatten, lebten inzwischen überwiegend in der Bundesrepublik Deutschland, rund eine Million Litauer, Letten und Esten, die vor der Sowjetherrschaft geflohen waren, lebten als Emigranten in Westeuropa oder den USA. Die große Mehrheit der Menschen im baltischen Raum aber war durch den Eisernen Vorhang den Blicken der freien Welt weitestgehend entzogen – und drohte aufgrund der simplen und im Grunde vollkommen falschen Gleichsetzung Sowjetunion = Russland, die im westlichen Sprachgebrauch bis 1990/91 allzu gängig blieb, in ihrer sprachlichen und kulturellen Eigenart aus dem gemeinsamen europäischen Gedächtnis zu verschwinden. Schaper indes kannte den baltischen Raum sehr gut: Zwar wurde er 1908 in Ostrowo in der damaligen preußischen Provinz Posen geboren, hat jedoch einen wichtigen Teil seines Lebens im baltischen Raum verbracht. Seine schriftstellerische Begabung trat früh hervor, freilich dauerte es auch für Schaper lange, bis er sich eine Existenz als professionell Schreibender aufbauen konnte. Er arbeitete zwischenzeitlich an verschiedenen Theatern, war Gärtner


19 Vortrag nördlichen Teil des baltischen Raumes und Matrose auf einem Fischfangschiff. de seiner Kultur und seiner Geschichte frühzeitig Einzug. So war Andreas KnopErst nachdem er seine Ehefrau Alice in den Blick zu nehmen, zumal ja allzu kens (um 1468-1539) der Mann, der in kennengelernt hatte, wurde Schapers offenkundig ist, dass eine derzeit in der Riga schon seit 1522 im Sinne Martin Leben stetiger: Nicht zuletzt aufgrund Krise steckende gemeinsame Währung Luthers predigte. Knopkens stammte der Herkunft seiner Frau, die aus einer zur Gewähr des inneren Zusammenaus einer ursprünglich pommernschen deutschbaltischen Familie stammte, ließ hangs der europäischen Staaten zu weFamilie und war mit Johannes Bugensich Schaper 1931 im estnischen Reval nig ist – und recht besehen schon imhagen (1485-1558) verbunden, dem (heute Talinn) nieder. Damit wurde mer zu wenig war. Vielleicht sollte der berühmten, aus Wollin stammenden eine der traditionsreichsten, historisch Eine oder Andere auch einmal darüber »Doctor Pomeranus«, der einer der bedeutendsten baltischen Städte sein nachdenken, warum denn Autoren wie engsten Mitstreiter Luthers überhaupt ständiges Lebensumfeld. Das Baltikum Edzard Schaper, Werner Bergengruen, war und dessen Bedeuspielte fortan an auch in Schapers litePaul Claudel, Bruce tung für die ganze reforrarischem Schaffen eine wichtige Rolle; Marshall oder auch C. S. matorische Bewegung während er als Autor nunmehr beim Lewis mit dem sie verim Norden und Nordrenommierten deutschen Insel-Verlag bindenden Rekurs auf osten Europas kaum zu in Leipzig erfolgreich war, arbeitete er das christliche Abendüberschätzen ist. nebenbei als Korrespondent der USland gerade zu der Zeit Auch während der Zeit, amerikanischen Nachrichtenagentur »modern« und populär in der der baltische UPI für den baltischen Raum. Seine unwaren, als das gemeinRaum politisch eng mit verkennbare Einstellung als christlicher same Europa nach der Polen und dann seit Autor, der den totalitären Ideologien Katastrophe zweier dem ausgehenden 18. des 20. Jahrhunderts ablehnend gegenWeltkriege auf seinen Jahrhundert mit dem überstand, führte jedoch schnell dazu, überlieferten Fundarussischen Zarenreich dass die NS-Machthaber in Deutschmenten politisch neu verknüpft war, rissen der land ihn als Gegner ausmachten. begründet wurde? Handels- und Kultur1939/40 wurde Schaper selbst unmitDen inneren Zusamaustausch mit Deutschtelbar Zeuge des Untergangs der alten menhang Europas in Edzard Schaper 1908-1984 land nicht ab. Vor allem baltischen Welt. Nur knapp konnte er den Blick zu nehmen die damalige preußische durch Flucht dem Zugriff der sowjetiist mithin dringlicher Provinz Ostpreußen befand sich ja mit schen Verfolgungsorgane entgehen – denn je, mag manch eine publizierte ihrer Metropole Königsberg nach wie ein kurzer Aufenthalt in Deutschland Meinung das auch für »unmodern« vor in der nahen geographischen Nachzeigte ihm jedoch, dass auch dort an halten – »hoffnungslos« ist es indessen barschaft. Nicht zufällig verdankten ein dauerhaftes Bleiben für ihn nicht gewiß nicht, im Gegenteil: Hoffnung die baltischen Staaten auch ihre nach zu denken war. Schaper lebte seither vermittelnd. dem Ersten Weltkrieg errungene staatin Finnland, blieb also der Liebe zum Der innere europäische Zusammenliche Unabhängigkeit besonders auch nordosteuropäischen Raum treu. hang mit den baltischen Staaten, für der deutschen Unterstützung – so wie Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltdessen Lebendigerhaltung sich Edzard Hitler sie dann 1939 Stalin preisgab krieges wurde gegen Schaper ein VerSchaper so nachdrücklich eingesetzt und die Deutschbalten aus ihrer histofahren vor dem berüchtigten »Volksgehat, ist seit dem Zusammenbruch der rischen Heimat herausriß. richtshof« eröffnet, da er sich angeblich Sowjetunion 1990/91, der daraus herProf. Dr. Michael Garleff zeichnet in seider Wehrpflicht entzogen hatte. Für vorgehenden, endlich wieder errungenem Vortrag die Linien der baltischen Hitler freilich mochte er nicht kämpfen. nen staatlichen Eigenständigkeit und Geschichte vom Mittelalter bis zum Das gegen ihn verhängte Todesurteil schließlich dem Beitritt Litauens, Lettgroßen Einschnitt von 1939 nach. Prof. blieb in Anbetracht seines Aufenthalts lands und Estlands zur Europäischen Garleff ist einer der führenden Experin Finnland und des Zusammenbruchs Union im Jahre 2004 wieder ungleich ten für die Geschichte des baltischen des NS-Regimes folgenlos. 1947 stärker als lange Zeit Raumes. Als Osteuropahistoriker wurübersiedelte Edzuvor ins Blickfeld de er 1969 an der Christian-AlbrechtsReihe Das Baltikum: zard Schaper in getreten. Damit geUniversität Kiel promoviert. Kiel ist die Schweiz, wo er Kultur und Geschichte winnen auch die zugleich seine Heimatstadt – der Bezug bis zu seinem Tod weit zurückreichenzum Ostseeraum wurde ihm also gewis1984 blieb. »Der Spiegel« schrieb aus den historischen Verbindungslinien sermaßen in die Wiege gelegt. Er war im diesem Anlaß, Schapers literarisches zwischen Deutschland und dem baltiSchuldienst und als Wissenschaftlicher Schaffen mit seiner »Besinnung auf schen Raum wieder herausragende BeAssistent ebenfalls an der Universität die abendländische Tradition und die deutung – von den Gründungsstaaten Kiel tätig; 1990 wurde Michael Garleff Werte christlicher Kultur« hätten eine des gemeinsamen Europa nach dem Leiter des Wissenschaftsbereichs GeZeitlang in der frühen NachkriegsZweiten Weltkrieg ist kein anderer so schichte am Bundesinstitut für Kultur zeit Konjunktur gehabt, danach aber eng in Geschichte und Kultur mit dem und Geschichte der Deutschen im öst»wurden sie hoffnungslos unmodern Baltikum verwoben wie Deutschland. lichen Europa in Oldenburg. Dessen und mit ihnen der Autor.« Nun könnDeutsche Kaufleute, der SchwertbrüLeitung übernahm er 1997 zunächst te man gewiss trefflich darüber streiten, der- und der Deutsche Orden und die kommissarisch, seit 2000 bis 2004 ob Werte, die zum Kern des kulturellen Hanse trugen vom hohen Mittelalter wirkte er dann förmlich als dessen DiSelbstverständnisses Europas gehören, an die materielle, politische und kulturektor. Darüber hinaus lehrt er seit 2002 überhaupt »unmodern« werden könrelle Verbindung zwischen deutschem als außerplanmäßiger Professor an der nen – und ob nicht vielmehr lediglich und baltischem Raum. Auch nach Carl-von-Ossietzky-Universität Oldendie ihnen entgegengebrachte Aufmerkdem Ende der Präsenz des Deutschen burg. Neben zahlreichen anderen Versamkeit schwindet, ohne dass damit Ordens blieben die Kultur- und Hanöffentlichungen legte Prof. Garleff 2001 etwas über die Relevanz dieser Werte delsbeziehungen trotz einer größeren den Band »Die baltischen Länder: Estfür Gegenwart und Zukunft ausgesagt politischen Distanz erhalten; etwa die land, Lettland, Litauen vom Mittelalter wird. Europa tut jedenfalls gut daran, Reformation hielt durch die Vermittbis zur Gegenwart« vor. Winfrid Halder heute wieder verstärkt das Verbindenlung deutscher Geistlicher vor allem im


20 Tagung

Kultur und Geschichte der deutschen im östlichen Europa

»Aussöhnung als Aufgabe« Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion »Wie Jona in des Fisches Bauch komme ich mir vor und kann es mit dankerfülltem Herzen erwarten, wo er mich wieder an Land spucken wird. Das zweite Leben hat begonnen... mein Gebet geht um nichts anderes mehr als um ein Fünkchen Humor und um ein offenes Auge für alles, was noch kommen mag.« So zitierte Staatsminister Bernd Neumann den Schriftsteller Hans Graf von Lehndorff und versinnbildlichte damit treffend die Intention des Kongresses »Aussöhnung als Aufgabe. Deutschlands Arbeit an den Kriegsfolgen seit 1945«, der am 15. Oktober 2012 im Reichstagsgebäude stattfand. Treffend in zweierlei Hinsicht. Zum einen war der Blick nach vorn, auf das, »was noch

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

kommen mag«, zentraler Bestandteil der Tagung, zu der die Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag unter Vorsitz von MdB Klaus Brähmig geladen hatte. So sollte besonders die aktuelle Bedeutung und Zukunftsträchtigkeit der Thematik »Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa« hervorgehoben werden. Zum anderen war der Kongress von einer ähnlichen Stimmung geprägt, wie sie Graf von Lehndorff in seinem »Ostpreußischen Tagebuch« zum Ausdruck bringt. Eine Mischung aus noch anhaltender und wiederaufkommender schmerzlicher Erinnerung, tief verankerter Hoffnung und nimmermüdem Tatendrang. Mit der Organisation der Veranstaltung zeigte die CDU/CSU Fraktion, welchen Stellenwert das Thema »Die

deutsche Geschichte in Osteuropa« innerhalb ihrer politischen Arbeit einnimmt. Deutlich unterstrichen wurde dies durch ihr Redneraufgebot. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Fraktionsvorsitzender Volker Kauder, Staatsminister Neumann und der Parlamentarische Staatssekretär und Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Christoph Bergner nahmen sich die Zeit, um zu den Kongressteilnehmern zu sprechen. Klaus Brähmig stellte die Grundintention der Veranstaltung mit ihrem zukunftsgewandten Charakter vor. Fraktionsvorsitzender Kauder formulierte die Grundlinien der CDU/CSU. Er bezeichnete die »furchtbare Aggressionspolitik des Dritten Reichs« als »das größte Drama und Ausgangspunkt der heutigen Thematik« und betonte, dass »Aussöhnung, Verständnis und Vergebung für die Partei untrennbar zusammengehören.« Am Beispiel der Christenvertreibungen der heutigen Zeit im Nahen Osten demonstrierte er den aktuellen Gehalt des Themas »Vertreibung«. Im Anschluss referierte der Aussiedlerbeauftragte Christoph Bergner über die Bedeutung des Kriegsfolgenschicksals der Deutschen in Osteuropa für die Aussiedler- und Minderheitenpolitik der Bundesregierung. Als wichtiges Arbeitsfeld bezeichnete er hierbei die Kriegsfolgenbewältigung im Zusammenhang mit kultureller Integration. Dies sei ein maßgeblicher, friedensstiftender Ansatz in der Europäischen Union. Besonderes Gehör fand in seiner Rede die Gruppe der Russlanddeutschen. Ein wichtiges Anliegen sei es, dieser Minderheit eine, im angemessenen Verhältnis zu ihrer Leidensgeschichte stehende Unterstützung und Förderung zu gewährleisten. Staatsminister Bernd Neumann würdigte besonders die Mithilfe der Flüchtlinge und Vertriebenen beim Wiederaufbau Deutschlands und deren Engagement in der Verständigung mit den einzelnen Partnerländern. Die

Wahrung ihrer Traditionen sei »ein Vermächtnis der Vergangenheit und ein Unterpfand der Zukunft!« Anschließend machte er noch auf die Vielschichtigkeit der Arbeit der Bundesregierung im Bereich der Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa aufmerksam. Als aktuelles Beispiel nannte er das, von seinem Haus und dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ins Leben gerufene, akademische Förderprogramm. Dieses wird mit 800.000 Euro jährlich unterstützt und initiierte unter Anderem bereits die Schaffung von Juniorprofessuren. Weiterhin hob er die erfolgreiche grenzüberscheitende Vermittlungsarbeit der vom Bund geförderten Kulturreferentinnen und Kulturreferenten hervor. Die Bundeskanzlerin formulierte die politischen Rahmenbedingungen für eine gelungene Aussöhnung der deutschen Vertriebenen. Sie betonte, dass es hier in keiner Weise um Vergleiche, um ein Gegenüberstellen gehe. »Auch dieses Leid und Unrecht muss anerkannt werden, ist Teil unserer deutschen Geschichte, ohne anderes Unrecht im Mindesten zu relativieren oder zu vergleichen. Nur wenn wir allen Opfern eine Stimme geben, kann Aussöhnung vollendet werden.« Bemerkenswerterweise bedienten sich sowohl die Bundeskanzlerin als auch der prominente Kongressteilnehmer und Literaturkritiker Professor Hellmuth Karasek desselben Vergleichs. Beide sahen im Wiederaufbau der zerstörten Dresdener Frauenkirche - Merkel spezifisch im durch britische Spenden finanzierten Kuppelkreuz - ein Zeichen der Vergebung, Versöhnung und des Neuanfangs. Drei Diskussionsrunden, ergänzt durch die oben erwähnten Reden, ergaben ein wirklich facettenreiches Programm. Durch unterschiedliche zentrale Aspekte in den Gesprächsrunden und eine Auswahl an Experten mit vielfältigen Professionen und Hintergründen gelang es, die Thematik »Aussöhnung als Aufgabe« aus verschiedenen Perspektiven zu durchleuchten. Die erste Diskussionsrunde hatte den Blickwinkel der »Enkelgeneration«. Sie widmete sich einer Kernfrage des Kongresses, nämlich wie die jüngeren Generationen heute und in Zukunft mit der Vertriebenenhistorie ihrer Vorfahren umgehen können. Junge Vertreter


21 tagung & Studienfahrt aus Medien und Politik, die sich aktuell mit dem Schicksal der Vertriebenen auseinandersetzen, zeigten Wege auf, einen Zugang zu der Thematik zu finden. Der Ausspruch der Journalistin und Autorin Merle Hilbk: »Unsere Eltern haben die wirtschaftlichen Trümmer beiseite geschafft, wir müssen nun die seelischen Trümmer beseitigen«, fand große Zustimmung. In Wortbeiträgen seitens der Zuhörerschaft wie auch der Politiker wurde der Wunsch nach einer besseren Aufklärung über die deutsche Vertriebenenthematik im Schulunterricht deutlich. Unter einem ganz anderen Aspekt wurde »Aussöhnung als Aufgabe« in der zweiten Expertenrunde diskutiert. Die Konzeption der geplanten Dauerausstellung der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« stand im Zentrum dieses Podiums. Stiftungsdirektor Professor Manfred Kittel, der amerikanische Professor Norman Naimark, Mitglied des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung, und weitere mit dem Thema vertraute Historiker diskutierten zum Beispiel über die Frage, wie eine angemessene Erinnerung für die Flüchtlinge und Vertriebenen im Rahmen der Dauerausstellung in Berlin aussehen soll. Aus diesem recht spezifischen Thema entwickelte sich die Diskussion im Laufe der Zeit zu einer fundierten Grundsatzdebatte. Die letzte Gesprächsrunde setzte sich mit der wohl schwierigsten Form von Aussöhnung auseinander, nämlich der mit sich selbst. Es ist naheliegend, dass im Rahmen dieser Perspektive die Teilnahme der Zuhörer der Veranstaltung ihren Höhepunkt erreichte. Private, emotionale und aufgewühlte Schilderungen von persönlichen Schicksalen unterstrichen, was der Psychoanalytiker Professor Michael Ermann als Botschaft auf dem Kongress vermittelte: »Versöhnung mit dem Nachbarn ist nicht möglich, bevor ich mich nicht mit dem eigenen Schicksal auseinandergesetzt habe.« Damit konnte zumindest ein Eindruck davon gewonnen werden, wie problemgeladen und prägend dieser schmale Grat zwischen Aussöhnung, Verarbeitung und Verdrängung heute noch ist. Die CDU/CSU- Bundestagsfraktion kann sich über eine rundum gelungene Tagung freuen. Mit einer stimmigen Konzeption, die sowohl fachliche als auch emotionale Diskussionen mit Tiefgang zuließ, konnte sie einen Akzent in einem Themenfeld setzen, dessen Mehrwert für die folgenden Generationen oftmals unterschätzt wird. Gerade für die Ausarbeitung, Formulierung und Förderung dieses Mehrwerts war der Kongress von besonderer BeAnna Valeska Strugalla deutung.

Auf den Spuren des Deutschen Ordens und der Hanse

Eine kulturhistorische Studienreise 22.4. - 29.4.2013

1. Tag: Montag, 22. April 2013 Abfahrt des Busses am Morgen in Düsseldorf nach Kiel von der Reisebushaltestelle Hauptbahnhof. Fährüberfahrt nach Memel/Klaipeda in Litauen. Übernachtung auf der Fähre.

2. Tag: Dienstag, 23. April 2013 Ankunft in Memel/Klaipeda. Kleiner Stadtrundgang. Fahrt nach Riga. Unterwegs Station am Berg der Kreuze in Schaulen. Der Berg der Kreuze ist ein Zeichen von litauischer Frömmigkeit und Litauens Widerstandes gegen seine Unterdrücker. Weiterfahrt nach Riga. Übernachtung in Riga. 3. Tag: Mittwoch 24. April 2013 Stadtbesichtigung von Riga, der lettischen Hauptstadt, die gerne als eine der schönsten Städte des Baltikums bezeichnet wird. Riga blickt auf eine reiche Vergangenheit zurück, das spürt man auf Schritt und Tritt. Unübersehbar sind die geschichtlichen Wurzeln der Stadt. Mächtige Stadtkirchen, prunkvolle Patrizierhäuser, Kontore, das neuerrichtete Schwarzhäupterhaus, die Gilden und vieles mehr weisen in die Richtung des Ursprungs und der Tradition - nach Westen. 4. Tag: Donnerstag 25. April 2013 Sie fahren morgens zunächst in das landschaftlich eindrucksvollste Gebiet Lettlands, in den Gauja-Nationalpark. Besuch der Bischofsburg Turaida. Weiter geht es dann entlang der Ostseeküste nach Pärnu. Kleiner Stadtrundgang. Abendlicher Rundgang durch die Altstadt von Tallinn. Übernachtung in Tallinn. 5. Tag: Freitag, 26. April 2013

Stadtbesichtigung Tallinn. Die wechselvolle Geschichte der Stadt scheint greifbar in den unverfälschten Straßen und Gassen der Altstadt, die Sie besichtigen und die wie ein lebendiges Museum wirkt. Tallin, früher eine bedeutende Hansestadt, teilt sich in die Oberstadt, von der man eine schöne Aussicht auf die Stadt und den Hafen hat, und die Unterstadt mit vielen historischen Bauten. Durch das »Lange« oder das »Kurze Bein«, zwei alte Sträßchen, gelangt man von der Oberstadt - Toompea, dem ehemaligen Sitz der Adeligen, Geistlichen und Ritterschaften, in die Unterstadt. 6. Tag: Samstag, 27. April 2013 Am Morgen setzen Sie mit der Fähre von Tallinn nach Helsinki über. Abfahrt um 8.00 Uhr, Ankunft 10.30 Uhr. Stadtrundfahrt in der finnischen Hauptstadt. Am Nachmittag Weiterfahrt nach Turku. Einschiffung auf die Nachtfähre nach Stockholm, Abfahrt um 21.00 Uhr. Übernachtung auf der Fähre. 7. Tag: Sonntag, 28. April 2013 Ankunft der Fähre um 6.30 Uhr in Stockholm. Stadtrundfahrt Stockholm. Weiterfahrt nach Helsingborg. Vadstena ist berühmt wegen des Brigittenklosters, des imposanten Schlosses und des ältesten Rathauses Schwedens. Übernachtung in Helsingborg. 8. Tag: Montag, 29. April 2013 Fahrt nach Kopenhagen. Stadtrundfahrt Kopenhagen. Der Preis für die Reise beträgt 1049,- € bei Unterbringung im Doppelzimmer mit Halbpension. Einzelzimmerzuschlag : 149,- €. Anmeldung un Information bei Mattias Lask unter Tel. 0211-1699118.


22 Ausstellung

Neue dauerausstellung im renommierten Goethe-Theater

Gerhart Hauptmann und Bad Lauchstädt – Gabriel Schillings Flucht Im vergangenen Jahr wurde an Gerhart Hauptmann aus Anlass seines 150. Geburtstages in besonderem Maße erinnert – nicht nur mit einer Sonderbriefmarke oder 10 € Gedenkmünze! Geboren am 15. November 1862 im nordschlesischen Obersalzbrunn wurde er zum bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker des 20. Jahrhunderts und am 10. Dezember 1912 mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur »… vor allem als Anerkennung für sein fruchtbares und vielseitiges Wirken im Bereich der dramatischen Dichtung« geehrt. In seiner Dankesrede sprach er sich recht eindeutig für das »Ideal des Weltfriedens« aus – eineinhalb Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges! Und es waren auch genau 100 Jahre seit der Uraufführung seines Dramas »Gabriel Schillings Flucht« am 14. Juni 1912 im Goethe-Theater zu Bad Lauchstädt vergangen und mancher Leser wird sich fragen: »Wo liegt denn diese Stadt?« Der Bade-Medicus Daniel Gottfried Frenzel schreibt dazu in seiner 1768 erschienen Schrift »Die Natur und Würkung des mineralischen Wassers Lauchstädt« u. a. wie man den Ort auffindet: »Lauchstädt, ein klein Städtgen, liegt im Stifte Merseburg, fast in dem Mittelpunkt von lauter berühmten Städten. Es hat gegen Morgen 1 ¼ Meile Merseburg, etwas gegen Mittag 2 Meilen Weißenfels, weiter gegen 3 Meilen Naumburg, etwas gegen Abend 2 Meilen Freiburg…«. Das stimmt auch heute noch, nur wird der Besucher die direkte Abfahrt der BAB 38 benutzen! Bad Lauchstädt ist ein historischer Kurort mit großer Tradition, gerühmt als Luxus- und Modebad des 18. Jahrhunderts! Die Heilquelle wurde durch Zufall entdeckt und bereits seit 1710 genutzt. Ab 1775 verlegte der Dresdener Kurfürstliche Hof seine Sommerresidenz mehrfach hierher, erfolgte durch den Merseburger Stiftsbaumeister Johann Wilhelm Chryselius eine großzügige Neugestaltung der Garten- und Parkanlagen. Anspruchsvoll und auf große Wirkung bedacht stehen im Zentrum des stimmungsvollen, wunderschönen Kurparks die Barockbauten des einstigen Kurbades: das elegante Kursaalgebäude mit seinen wertvollen Schinkelmalereien, flankiert von zwei Pavillonbauten, die Kolonnaden und etwas abseits ein Pavillon (eingerichtet

als Spielsalon). Fast 250 Jahre ist man hierher zur Kur gefahren – den Bemühungen Goethes ist es zu verdanken, »dass Bad Lauchstädt heute eher in der Welt des Theaters und der schönen Künste Glanz verbreitet und der gute Ruf des früheren Heilbades und des berühmten Heilbrunnens« etwas zurückgetreten ist. Unter Goethes »Oberdirektion« gastierte am 13. Juni 1791 das Weimarer Hoftheater zum ersten Male in Bad Lauchstädt – in einem primitiven Theaterbau! Seit dieser Zeit befasste er sich mit einem Theaterneubau, entwickelte Grundgedanken für die Gestaltung des Hauses, der Bühne (aus »Sparsamkeitsgründen« geeignet für die Weimarer Kulissen!) und die Bühnentechnik, die in ihrer Ursprünglichkeit noch heute bei einer Führung besichtigt werden kann! Die Weimarer Schauspielgesellschaft spielte hier in den Sommermonaten regelmäßig bis 1814 – dann waren die großen Tage Bad Lauchstädts und seines Theaters vorüber. – Für Weimar wurde das Theater zur Last; das Dach hatte sich fast um 1 m gesenkt, die Leinwand-Bespannung der Decke hing in Fetzen herab, Stützpfeiler mussten dem Gebäude Halt geben! In den 1890er Jahren wurde es baupolizeilich geschlossen; man hatte seinen Abriss erwogen – die preußische Regierung ihn für 1904 beschlossen! Da bot der Hallenser Unternehmer Dr. h. c. Lehmann dem Landtag der Provinz

Das Goethe-Theater in Bad Lauchstädt

Sachsen die Übernahme der Kosten zur Wiederherstellung an und so konnte das vor dem Verfall bewahrte GoetheTheater am 13. Juli 1908 mit »Iphigenie« in alter Schönheit wieder eröffnet werden! Es wurde der »Lauchstädter Theaterverein« gegründet, der die kleine Bühne alljährlich und »dauernd in den Dienst der dramatischen Kunst« stellen wollte. Die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Drama, »Gabriel Schillings Flucht« in Anwesenheit des Dichters am 14. Juni 1912 gestaltete sich dabei zu einem besonderen Höhepunkt. Durch Dr. Paul Schlenther, der sich persönlich und umfassend um die Uraufführung bemühte, wurde u. a. wie folgt geworben: Als sich Gerhart Hauptmann nach längerem Zögern entschloss, sein Drama »Gabriel Schillings Flucht« im Januarheft 1912 der »Neuen Rundschau« zum ersten Male zu veröffentlichen, schickte er diese Bemerkung voran: »Das nachfolgende Drama wurde im Jahre 1906 geschrieben. Ich habe die Aufführung mehr gescheut als gewünscht, deshalb ist sie unterblieben. Heute würde ich das Werk nicht auf den Hasardtisch einer Premiere legen mögen. Es ist keine Angelegenheit für das große Publikum, sondern für die reine Passivität und Innerlichkeit eines kleinen Kreises. Einmalige Aufführung, vollkommenster Art, im intimsten


23 Ausstellung & Aussiedler

Vor dem Goethe-Theater 1912, von rechts: Gerhart Hauptmann, Max Liebermann

Theaterraum, ist mein unerfüllbarer Wunsch«. Freunde der Kunst fanden sich zusammen, um dennoch diesen Wunsch des Dichters zu erfüllen. Nur darin weichen sie ab, dass sie nicht eine einmalige, sondern an aufeinanderfolgenden Tagen eine dreimalige Aufführung des Werkes bieten, und zwar mit Rücksicht auf den vom Dichter geforderten intimsten Theaterraum. Als erwünschter Schauplatz fand sich Goethes altberühmte kleine Sommerbühne in Lauchstädt bei Halle a. S.; an der Einstudierung wird Gerhart Hauptmann entscheidend teilnehmen. Die Dekorationen werden nach Entwürfen Max Liebermanns im Atelier der Hofmaler Georg Hartwig & Co., Charlottenburg angefertigt. Für alle drei Aufführungen werden seitens der Königlichen Eisenbahndirektion Sonderzüge mit Klasse II von Halle über Schlettau nach Lauchstädt und zurück eingesetzt. Man sieht, es wurde an alles gedacht – auch an die Zensur im Kaiserreich gegenüber Hauptmann! In einem persönlichen Brief von k. u. k. Hofrat Dr. Paul Schlenther an den Bürgermeister von Lauchstädt teilt er diesem mit, dass er in den nächsten Tagen vom S. Fischer Verlag ein Exemplar des Dramas »Gabriel Schillings Flucht« von Gerhart Hauptmann erhalten wird. Er schreibt weiter: »Ich halte mich jedoch für verpflichtet, Ihnen das Werk vorzulegen und bitte ganz ergebenst vom Standpunkt der polizeilichen Zensur den gesamten Wortlaut des Dramas ohne Streichungen genehmigen zu wollen…« Handschriftliche Notiz auf diesem Brief: »Zu erwidern: Ich habe das Werk gelesen und trage keine besonderen Beden-

ken vom Standpunkt der polizeilichen Zensur den gesamten Wortlaut des Dramas ohne Streichung zu genehmigen. Ganz ergebenst!« Die Vorstellung wurde in der Presse eingehend und begeistert beschrieben. In der Zeitung »Die Welt am Sonntag« Berlin Jahrgang XVIII, Nr. 25 vom 17. Juni 1912 heißt es unter dem Titel Theater und Musik – Hauptmann-Premiere in Lauchstädt: »Über Gerhart Hauptmanns neuestem Drama, das man jetzt in dem kleinen

Goethe-Theater zwischen Halle und Merseburg gespielt hat, liegt der Adel einer melancholischen Schönheit. Das in Ekel und Ratlosigkeit verklingende Schicksal dieses Gabriel Schilling erscheint übersonnt und durchglüht von der intensiven Kraft eines inneren Erlebens, von dem Zauber einer großen, inbrünstigen, bedingungslosen Aufrichtigkeit.« Das war 1912 – für die kommenden Jahre gilt die Einladung der Historische Kuranlagen und Goethe-Theater Bad Lauchstädt GmbH: »…Schauspieler des Deutschen Theater, darunter die berühmte Tilla Durieux, der Maler Max Liebermann, der die Bühnenbilder entwarf, und andere Persönlichkeiten verwandelten Lauchstädt wie zur Goethezeit in einen Olymp der Geisteswelt. Das Museum unseres Hauses hat dieses Ereignis – nach einer vielbesuchten Sonderausstellung 2012 im ‚Kleinen Kursaal‘ – jetzt als Dauerausstellung im Neuen Schillerhaus in die Gegenwart geholt.« Die historischen Kuranlagen, das GoetheTheater und das Museum sind geöffnet Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Von April bis Oktober gastieren im Goethe-Theater die besten deutschen Staats-, Landes- und Stadttheater mit ausgewählten Musik- und Schauspielinszenierungen. Informationen: Besucherzentrum Tel.: 034635 / 905472 / 905473 Konrad Hüther

Kultur- und Begegnungsabend Der Internationale Frauentag am 8. zeitangebote sowie spezielle Kurse, die März hat in den Herkunftsländern der besonders die kreative Entwicklung Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetfördern. Dazu zählen spezielle Projekte union eine besondere Bedeutung. Der im musikalischen Bereich, wie das MärTag galt als Feiertag, an dem zu chentheater. Mit Musik, Gesang Ehren der Frauen ein Fest gefeiund Bewegung soll das kreative ert wurde, bei dem das gesellige Fr, Potenzial von Schülern ganzheitBeisammensein im Mittelpunkt 08.03 lich gefördert werden. stand. An diese Tradition an- 18.00 Uhr Etwa 30 Kinder im schulpflichtiknüpfend lädt das Gerhart gen Alter, mit unterschiedlichem Hauptmann Haus auch in dieMigrationshindergrund sowie sem Jahr Spätaussiedler und Einheimihier Geborene, treffen sich regelmäßig sche zu einem Begegnungsabend ein. im Kulturzentrum Mettmann. In KleinDas Programm des Abends wird gestalgruppen proben sie ein Theaterstück, tet vom Integrations-Kulturzentrum e. erlernen dabei musikalische GrundV. im Kreis Mettmann. Die Organisatikenntnisse, das Spielen von Instruon wurde am 08.10.2003 in Mettmann menten als auch Rhythmik und Tanz. gegründet, mit dem Ziel die gesellDas Projekt »Märchentheater« wird schaftliche, soziale und kulturelle Integvom Ministerium für Familie, Kinder, ration von Migranten aus dem russischJugend, Kultur und Sport des Landes sprachigen Raum zu fördern. Nordrhein-Westfalen gefördert. Zur Verwirklichung der Zielsetzung Die Veranstaltung wird den anwesenbietet das IKZ Angebote für Kinder, den Frauen am Internationalen FrauenJugendliche und Senioren an. Speziell tag gewidmet. Mattias Lask für Kinder existieren zahlreiche Frei-


24 Bibliothek

Banater Kulturzeitschrift erstmalig digitalisiert

»Von der Heide. Illustrierte Monatsschrift für Kultur und Leben« als historische und literaturwissenschaftliche Quelle zugänglich Allen, die am literarischen Leben der Banater Schwaben zu Beginn des 20. Jahrhunderts interessiert sind, ist die Zeitschrift »Von der Heide« ein Begriff. Die erste Ausgabe dieser »illustrierten Monatsschrift für Kultur und Leben« erschien im Februar 1909 in Temeswar. Ihr Initiator und Herausgeber war der Journalist, Übersetzer und Dichter Viktor Orendi-Hommenau (1870-1954). Mit großem persönlichen Engagement und viel Begeisterung für Literatur, aber auch unter großen wirtschaftlichen Nöten und Zwängen gab er die Zeitschrift mit einigen mehr oder weniger großen Unterbrechungen zwischen 1909 und 1937 heraus. Durch seine Kontakte zu Schriftstellern und Kulturschaffenden des Banats gelang es ihm, die Autoren Otto Alscher, Josef Gabriel, Stephan Hartenstein, Peter Jung, Franz Xaver Kappus, Adam Müller-Guttenbrunn und Nikolaus Schmidt als Mitarbeiter für die Zeitschrift zu gewinnen. Die Zeitschrift erschien monatlich, die Auf-

Titelblatt der letzten Ausgabe der Zeitschrift »Von der Heide« aus dem Jahr 1937

lage umfasste zunächst 200 Exemplare, stieg dann zeitweise auf 3000. »Von der Heide« war die einzige deutschsprachige, literarisch-kulturelle Monatsschrift im Banat im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Zielgruppe waren die deutschen Minderheiten der östlichen und südöstlichen Regionen

Österreich-Ungarns. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildete das literarische Schaffen von deutschsprachigen Autoren aus dem Banat, Siebenbürgen und der Bukowina. Daneben fanden sich auch Texte von rumänischen, serbischen und ungarischen Literaten in deutscher Übersetzung. Den Hauptteil der Zeitschrift nahmen in der Regel die belletristischen Texte ein (Erzählungen, Roman-Fragmente, Aufsätze und Gedichte, z.T. auch als Mundartliteratur), an die sich Beiträge zur Geschichte, Kulturgeschichte und Volkskunde der Banater Schwaben anschlossen. In ihrer politischen Ausrichtung setzte sich »Von der Heide« für die Rechte der deutschen Bevölkerung im Banat und im gesamten Ungarn vor dem Friedensschluss von Trianon (1919/1920) ein. Zeitweise erschien eine eigene Rubrik »Vom Deutschtum in Ungarn«, in der der Herausgeber sich für die Rechte der deutschen Bevölkerung und gegen die gewaltsame Magyarisierung aussprach. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete sich die politische Zielsetzung verstärkt auf Rumänien. Auf den Quellenwert der Zeitschrift für Historiker und Literaturwissenschaftler hat die bisherige Forschung wiederholt hingewiesen. Die einzige monographische Darstellung der Zeitschrift ist 1978 von Walter Engel unter dem Titel »Von der Heide. Anthologie einer Zeitschrift« in Bukarest publiziert worden. In Deutschland befindet sich eine Reihe von Exemplaren der Zeitschrift verstreut in rund 10 Bibliotheken. Eine nutzbare, komplette Fassung ist in keiner Bibliothek verfügbar. Aus dieser Situation entstand die Idee, die Zeitschrift zu digitalisieren und für ein interessiertes Publikum online zur Verfügung zu stellen. Auf Anregung der Stiftung Gerhart-HauptmannHaus in Düsseldorf und der Stiftung Martin-Opitz-Bibliothek in Herne erfolgte Ende 2011 in einem ersten Arbeitsschritt die Zusammenstellung der verstreuten Zeitschriftenbestände zum Zweck der Digitalisierung. Hierzu

wurden die Bestände der Universitätsbibliothek Leipzig, der Bibliothek des Hauses der Donauschwaben in Salzburg sowie der Bibliothek des Instituts für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen herangezogen.

Viktor Orendi-Hommenau, der Herausgeber der »Heide« um 1930. Bild aus »Von der Heide. Anthologie einer Zeitschrift« von Walter Engel, Bukarest, Kriterion-Verlag, 1978.

Anfang 2012 wurden in einem zweiten Arbeitsschritt die einzelnen Bände der Zeitschrift sowie das 1919 als Almanach zu der Zeitschrift erschienene »Heidebuch. Orendi-Hommenaus‘s Kalender für deutsche Literatur und Kunst« in der Martin-Opitz-Bibliothek digitalisiert und bearbeitet. Die digitale Version der Zeitschrift kann nun in der Bibliothek der Stiftung Gerhart-HauptmannHaus als CD-ROM entliehen werden. Seit Juli 2012 ist das vollständige Digitalisat auch bei »DiFMOE Digitales Forum Mittel- und Osteuropa« unter www.difmoe.eu veröffentlicht und steht allen Interessierten weltweit kostenlos zur Verfügung. Margarete Polok


25 Bibliothek

Vertriebenenverbände im Fadenkreuz: Aktivitäten der DDRStaatssicherheit 1949 bis 1989

Heike Amos:

Vertriebenenverbände

Der Bund der Vertriebenen und die ostdeutschen Landsmannschaften zählten für die SED und die Staatssicherheit zu den »politischen Feindorganisationen« in der Bundesrepublik. Diese Interessenverbände galt es mit allen Mitteln zu bekämpfen, da sie die staatliche Existenz der DDR, die Herrschaft der SED und die Grenzen zu Polen und zur Sowjetunion nicht anerkannten. Heike Amos deckt die subversiven Methoden der Staatssicherheit auf und zeigt, dass die SED aktiv auf die Politik der Vertriebenenverbände Einfluss nahm. Gezielte Desinformation, Konfliktverschärfung und Skandalisierung waren dabei an der Tagesordnung. Sahen jedoch SED und ihr Geheimdienst in den Vertriebenenverbänden tatsächlich eine »Revanchismusgefahr« oder dienten ihre verdeckten Operationen anderen Zielen, und wenn ja, welchen?

im Fadenkreuz: Aktivitäten der DDRStaatssicherheit 1949 bis 1989. München, Oldenbourg-Verlag, 2011.

Jeder zweite Berliner - Schlesische Spuren an der Spree

Roswitha Schieb: Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren an der Spree. Potsdam, Kulturforum Östliches Europa, 2012.

Das Brandenburger Tor und der berühmte Maler Adolph von Menzel – typisch preußisch, typisch Berlin … oder doch nicht? »Jeder zweite Berliner ist ein Schlesier«, hieß es früher und Roswitha Schieb zeigt, wie viele Spuren noch heute auf schlesische Ursprünge verweisen, seien es das Brandenburger Tor oder der Berliner Dom mit ihren Erbauern Carl Gotthard Langhans und Julius Raschdorff. Sogar die charakteristischen Granitplatten auf den Berliner Fußwegen stammen aus der Region, die seit ihrer Eroberung durch Friedrich II. Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1945 das wichtigste Hinterland für die Spreemetropole war. Im Zuge der Industrialisierung wurde Schlesien Einzugsgebiet für Arbeitskräfte, die in den neu entstehenden Arbeitervierteln um den Schlesischen Bahnhof und das Schlesische Tor lebten. Die in diesem Zusammenhang wachsende Sensibilität für soziale Fragen zeigte sich mit den schlesischen Vätern der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalle und Paul Löbe. Aus Schlesien stammten auch zahlreiche Persönlichkeiten der kulturellen Avantgarde der zwanziger Jahre in Berlin, etwa Alfred Kerr, Max HermannNeiße oder Ludwig Meidner. Auf drei großen Spaziergängen durch die architektonische, künstlerische und literarische Stadtlandschaft zeigt das reich bebilderte Buch charakteristisch schlesische Phänomene der Industrie-, Theater-, Kunst- und Gesellschaftsgeschichte Berlins. Die Autorin rückt den Berlinern und den Gästen der Stadt die geografische Nähe Schlesiens ins Bewusstsein, in der Hoffnung, den Austausch zwischen der deutschen Hauptstadt und ihrer heute zu Polen gehörenden benachbarten Kulturlandschaft wieder neu zu beleben.

OstpreuSSen - Biographie einer Provinz Ostpreußen ist bis heute ein Mythos. Hermann Pölking schildert die Geschichte des einst östlichsten Teils Deutschlands vor dem Hintergrund der aktuellen historischen Forschung. Anekdoten, Episoden sowie scheinbar beiläufig Aufgelesenes verdichten sich hier zu einem vielschichtigen Bild, in dem Alltag und Weltgeschichte aufeinandertreffen. Der Autor zeichnet ein in Stadt und Land, Region und Religion, Sprache und politischem Milieu facettenreiches Panorama Ostpreußens. Er beschreibt nicht nur die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fakten, sondern berichtet anhand von unzähligen Augenzeugenberichten und Erinnerungen auch von Landschaft und Wetter, von den Eigenheiten der Bewohner und sogar vom abenteuerlichen Zustand ostpreußischer Straßen. Hermann Pölking: OstpreuSSen. Biographie einer Provinz. Berlin, be.braVerlag, 2011.


26 Chronologie

Mi jeweils 18.00 bis 20.30 Uhr Probe der Düsseldorfer Chorgemeinschaft OstpreußenWestpreußen- Sudetenland Leitung: Radostina Hristova So 06.01. | 15.00 Uhr Neujahrskonzert in Haus Schlesien, Königswinter-Heisterbacherrott Ela Zagori, Violine Gert Kapo, Klavier mit Werken von Bach, Mozart, Beethoven, Ravel, Piazzola u. a. Eintritt: 15 € (ermäßigt 10 €) (Tel.: 0244 - 8860)

Di 29.01. | 19.00 Uhr »Demokratiefeindschaft von rechts und der Untergang der Weimarer Republik – In Erinnerung an den 90. Todestag Walther Rathenaus« Vortrag von Prof. Dr. Hans Mommsen Konferenzraum Sa 02.02, | 15 Uhr Karnevalsveranstaltung der Schlesier, Ostpreußen und Pommern Eichendorff-Saal

Di 08.01., 12.02.,12.03. | jeweils 15 Uhr Frauengruppe der Pommerschen Landsmannschaft Raum 312

Mo 04.02.|19.00 Uhr »Vor 70 Jahren – Die Schlacht von Stalingrad« Vortrag von Dr. Bernd Ulrich Konferenzraum

Mi 09.01., 13.02., 06.03., | jeweils 15 Uhr Ostdeutsche Stickerei mit Helga Lehmann und Christel Knackstädt Raum 311

Mi 06. 02. | 19 Uhr Podiumsdiskussion »Unser Europa: Alle reden nur vom Geld, wir reden vom Wert« Veranstaltungsort: Haus der Kirche, Bastionstraße 6

Fr 25.01.,22.02.,22.03. | jeweils 15 Uhr Monatstreff der Pommerschen Landsmannschaft

Mi 06.02.| 18.00 Uhr »Eine Reizfigur – zum tschechischen politischen Diskurs über Edvard Beneš« Vortrag von Miroslav Kunštát Konferenzraum

Do 10.01., 21.02., 14.03. | jeweils 19.30 Uhr Offenes Singen mit Barbara Schoch Raum 312 Fr 11.01. | 16.00 Uhr Ausstellungseröffnung »Angekommen. Die Integration der Vertriebenen in Deutschland«, Eichendorff-Saal Bis 27.01.2013 Ausstellung im Haus Schlesien, Königswinter-Heisterbacherrott »Weihnachtliches Brauchtum in Schlesien« (Tel.: 02244 / 8860)

Deutschland« Vortrag von Dr. Jörg Morrè Konferenzraum Mo 04.03. |19.00 Uhr »Kinder Europas aus dessen geschichtsträchtigem Osten – Die Geschichte der baltischen Staaten vom Mittelalter bis 1939« Vortrag von Prof. Dr. Michael Garleff Konferenzraum Mi 06.03. | 19.00 Uhr »Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das ,Dritte Reich‘« Buchvorstellung mit Prof. Dr. Michael Schwartz Konferenzraum Fr 08.03. | 18.00 Uhr Kultur- und Begegnungsabend zum Internationalen Frauentag Eichendorff Saal Do 14.03. | 19.00 Uhr »Freiheit, die ich meinte« Buchvorstellung mit Prof. Dr. Helga Grebing, Konferenzraum

Di 26.02. | 19.00 Uhr »Angekommen in Kudenow und anderswo« Lesung mit Arno Surminski Konferenzraum

Mi 20.03. | 19.00 Uhr »Leben in dieser Zeit« – Eine musikalische Reise mit Liedern und Chansons von Eduard Nick und Erich Kästner Eichendorff-Saal Zweites Quartal Do 11.04. | 19.30 Uhr »Der Bund der Vertriebenen im politischen System der frühen Bundesrepublik Deutschland« Vortrag von Prof. Dr. Matthias Stickler Konferenzraum

Do 28.02 | 19.00 Uhr »Auch ein Schlesier - Heinz Kessler, Stalingrad und das Nationalkomitee Freies

Vom 22.04. bis 29.04.2013 Kulturhistorische Studienreise »Auf den Spuren des Deutschen Ordens und der Hanse«

Do 21.02. | 19.00 Uhr »Meine Lieblingsnovelle von Werner Bergengruen« Lesung mit Dr. Hajo Buch und PD Dr. Winfrid Halder Konferenzraum


27

inFo

sehr geehrte Abonnenten,

impressum

serVicezeiten der VerWaltung

Herausgeber:

wir möchten sie hiermit freundlichst bitten, ihren Jahresbeitrag für das Westost-Journal von 6,50 euro auf das konto der stiftung – stadtsparkasse Düsseldorf kto.-nr. 36 005 007, blz 300 501 10 - zu überweisen.

mo-Do Fr

serVicezeiten der bibliotHek

stiftung »gerhart-hauptmann-haus. Deutsch-osteurpäisches Forum» bismarckstr. 90 40210 Düsseldorf

mo-mi Do

Vorsitzender des kuratoriums:

sie erhalten damit auch weiterhin die aktuelle programmzeitschrift unseres hauses zum Versandkostenpreis.

ÖFFnungszeiten der ausstellungen

8 - 12.30 š 13 - 17 uhr 8 - 14 uhr

10 - 12.30 i 13.30 - 17 uhr 10 - 12.30 i 13.30 - 18.30 uhr

reinhard grätz

WOJ 17. JG. - 1/2012 JANUAR/FEBRUAR/MÄRZ 2012 ISSN 0947-5273

ihr team vom gerhart-hauptmann-haus

mo - Do 10 - 17 uhr Fr 10 - 14 uhr sa auf Anfrage sonn- und feiertags geschlossen Viele weitere informationen über das gerhart-hauptmann-haus und zu den im heft behandelten themen finden sie rund um die uhr - auch im internet unter:

1 KAPITEL/ RUBRIK

THEMA

TITEL

Vorsitzender des Vorstandes:

helmut harbich postanscHriFt:

postfach 10 48 61 40039 Düseldorf telefon: (02 11) 16 99 111 telefax: (02 11) 35 31 18 mail: bergmann@g-h-h.de internet:www.g-h-h.de

www.g-h-h.de. cHeFredakteur:

pD Dr. Winfrid halder redaktion:

Dirk urland m.A.

WEST-OST-JOURNAL

satz und laYout:

1 2012

JANUAR FEBRUAR MÄRZ

markus patzke

Zum 300. Geburtstag eines großen Königs mit neuer Veranstaltungsreihe

Herstellung: 03 VORTRAG

09 VORTRAG

11 AUSSTELLUNG

Wohl kein anderer König von Preußen erfreut sich heutzutage eines ähnlichen Bekanntheitsgrades in der deutschen Öffentlichkeit, auch und gerade jenseits der fachwissenschaftlichen Kreise wie Friedrich II., dessen Geburtstag sich am 24. Januar 2012 zum dreihundertsten Mal jährt. Das Porträt des »Alten Fritz« hat hohen Wiedererkennungswert, er gilt wohl noch immer Vielen als die Verkörperung Preußens schlechthin.

Als Wilhelm Matull im Jahre 1973 sein umfangreiches Werk »Ostdeutschlands Arbeiteiterbewegung. Abriß ihrer Geschichte, Leistung und Opfer« vorlegte, steuerte der amtierende Bundeskanzler Willy Brandt ein Geleitwort bei. Darin verlieh er der Hoffnung Ausdruck, das Buch möge dazu beitragen, »dass die ostdeutsche Arbeiterbewegung die ihr zukommende historische und politische Würdigung findet.«

Die Dönhoffs, ursprünglich aus Westfalen stammend, stiegen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts im Dienst der polnisch-litauischen Krone zu einer bedeutenden Magnatenfamilie auf. Ein Zweig des Hauses ließ sich 1640 in Preußen nieder, wo sie sich zu einer der angesehensten Adelsfamilien entwickelten. De Bodt, schuf mit der Schlossanlage ein eindrucksvolles Zeugnis ...

SEITE 03

SEITE 09

SEITE 11

WAz-Druck gmbh & co. kg vorm. carl lange Verlag, theodor-heuss-straße 77, 47167 Duisburg

WWW.GERHART-HAUPTMANN-HAUS.DE

West-ost-JournAl

Das »West-ost-Journal» erscheint vierteljährlich. Abo-bezugsmöglichkeit durch die nebenstehende bestellkarte zum Jahresbezugspreis (Versandkostenpreis) von 6,50 euro

AbsenDer:

bitte ausreichend Frankieren

also - scHon entscHlossen? dann: bestellkarte ausFüllen und nocH Heute einsenden

Anzeigenannahme: »gerhart-hauptmann-haus»

stiFtung gerhArt-hAuptmAnn-hAus Deutsch-osteuropäisches Forum

postfach 10 48 61 40039 Düsseldorf


AbsenDer

stiftung »gerhart-hauptmann-haus», postfach 10 48 61, 40039 Düsseldorf, postvertriebsstück, entgelt bezahlt, g 9353 F

stiftung »gerhart-hauptmann-haus» postfach 10 48 61, 40039 Düsseldorf postvertriebsstück, entgelt bezahlt g 9353 F

kriegsnAchWirkungen… analYtiscHe gespräcHsgruppe Für kriegs- und nacHkriegskinder etwa 16 millionen kinder haben in Deutschland den krieg erlebt. bomben, Flucht, Vertreibung, Vaterlosigkeit, hunger und gewalt haben in ihren seelen tiefere spuren und Verletzungen hinterlassen, als man früher vermutete. meist blieben sie unaufgearbeitet und unausgesprochen. um weitermachen zu können, hatte man früh gelernt, die eigenen gefühle und bedürfnisse zurückzustellen, sich das Weinen abzugewöhnen und die Angst zu vergraben. Der Dialog zwischen den generationen war schwierig und versagte oft. heute weiß man, dass die unverarbeiteten, teilweise traumatischen kriegs- und gewalterlebnisse weiterwirken, auch noch in die nachfolgenden generationen hinein. sie prägen lebens- und beziehungsmuster. im Alter, wenn die Verpflichtungen aufhören, der körper gebrechlicher und der »sichere lebensrahmen» brüchiger wird, kommen oft die alten erinnerungen wieder stärker hoch. Die gruppe ist ein Angebot für betroffene aus diesen generationen, die ihre gedanken, erfahrungen und gefühle mit anderen teilen und austauschen wollen. sie können die gruppe nutzen, um ihre biographie näher anzuschauen und besser zu verstehen. es können aber auch aktuelle Fragen und probleme angesprochen werden, die vielleicht noch eine nachwirkung ihrer besonderen erlebnisse sind. regelmäßig, einmal in der Woche, immer zur selben zeit, können sie im vertraulichen und geschützten rahmen frei und offen über alles sprechen, was sie zu diesem thema beschäftigt und bewegt. Für rückfragen stehe gerne zur Verfügung. eine teilnahme ist nur mit Anmeldung möglich. in diesem Fall werde ich mich wegen eines Vorgesprächs mit ihnen in Verbindung setzen. Jeden Mittwoch, 10.30 – 12 uhr - (nur mit Anmeldung !) gerhart-hauptmann-haus, raum 311 kosten: 10 euro pro gruppentreffen, leitung: Doris taschner Anmeldungen können sie per mail, Fax, Fon oder post tätigen unter: bitte dabei name, Adresse, kontaktdaten und das geburtsjahr (!) angeben. doris.taschner@t-online.de, Fon/Fax: 0211 – 68 61 22

bestellschein ich abonniere das »West-ost-Journal» zum preis von 6,50 jährlich. (4 Ausgaben inkl. porto und Versand). kündigungsfrist: 3 monate vor Jahresende.

Vorname

nachname

straße

nummer

plz

Wohnort

ich überweise den Jahresbeitrag auf ihr konto bei stadtsparkasse Düsseldorf (blz 300 501 10) konto-nr. 36 005 007

Datum und unterschrift


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.