Keine Spuren

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Guido Rohm

Keine Spuren

JENS SEELING VERLAG


Für meine große Liebe Annette

1. Auflage 2009 © 2009 by Jens Seeling Verlag, Frankfurt a. M. Abdruck des Zitates von Octave Mirbeau mit freundlicher Genehmigung des Manholt Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden. Sollte es dem Verlag trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen sein, alle Rechteinhaber für Bildmaterial oder zitierte Texte zu ermitteln, so bitten wir diese, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen. Das verwendete Material wird dann nach branchenüblichen Sätzen vergütet.

Druck und Bindung: Gruner Druck, Erlangen ISBN: 978-3-938973-10-3 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Weitere Informationen unter www.verlag-seeling.de


Inhalt Vorwort

7

Störenfried

9

Hände

15

Druck

21

Kleiner Mistkerl

31

Genug ist nie genug

39

Roter Schnee

47

Gerücht

67

Konkurrenzkampf

77

Opfer

85

Nach dem Schlaf

93

Der erfolgreichste Autor aller Zeiten

99

Geständnis

109

Keine Spuren

115

Die Gelangweilten

121

Trägerrakete

129

Doppelgänger

137

Identitätskrise

143


»Was habe ich also besseres zu tun, als Ihnen einige meiner Freunde vorzustellen, einige der Personen, mit denen ich hier den ganzen Tag über ständig in Berührung komme? Es sind zumeist entweder groteske oder abstoßende Wesen; im Allgemeinen aber richtige Kanaillen, deren Beschreibung ich jungen Mädchen kaum zur Lektüre empfehlen könnte.« Octave Mirbeau Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers

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Vorwort Die kurzen Geschichten Guido Rohms setzen das Geschriebene in eine Zone, innerhalb der es nicht um Literatur oder künstlerische Werte geht, sondern gerade um das, worauf beide aus sind, und zwar auf die Erkennbarkeit des »So-seins« oder des »Ich-bin-wie-Du« des Lesers. Seine Erzählungen durchbrechen die wohlige Lesebequemlichkeit und kompromittieren den Leser, machen aus ihm einen Mittäter, jedenfalls einen Zeugen, dem nichts entgeht. Er nimmt teil an der Rohheit der Begebenheiten, an der Radikalität des Geschehens. Was geschieht, hat jedoch nichts mit Naturgewalten oder Schicksal zu tun, sondern mit der Gleichgültigkeit und dem willentlichen Zynismus der Protagonisten der Erzählungen. Die »Figuren« sind austauschbar, was die einen den anderen antun, könnte genau umgekehrt verlaufen, keiner ist gegen Grausamkeit, Fahrlässigkeit oder Egoismus gefeit. In Störenfried beispielsweise wird beinahe objektiv, im Ton des bloßen Berichts, von einer Beseitigung erzählt, von einem »erwünschten« Tod, der sich wie von selbst in die Alltäglichkeit einfügt, als wäre nichts gewesen. Feigheit, Trägheit und ein Knäuel treffender Gründe führen zum Mord am Mann, dessen Tod seine Frau einfach mit ansieht: »Sie sah, wie er starb. Abwesend. Er schrie nicht. Er wusste, dass ihm keiner helfen würde.« Ein Thema, das vielleicht auf den ersten Blick nicht sonderlich originell erscheinen mag, es ist jedoch umso beunruhigender, als jeder Zeuge im geeigneten Moment in eine ähnliche Situation versetzt werden könnte. So erzählt Trägerrakete von der maschinellen Indifferenz der Ärzte, die einer Leihmutter ihr Kind auf brutale und routinierte Weise abnehmen, sie selber aber hatte es für sechstau-

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send Euro verkauft. Keiner ist unschuldig, es ist, als könnten die Taten eines jeden ebenso von jedem anderen begangen werden. Diese Erzählungen sind keine literarischen Experimente, sondern drücken eine Sicht der Dinge aus, die etwas mit Ethik zu tun haben könnte, man würde beinahe das verpönte Wort Moral anwenden, insofern Moral in diesen Texten die Möglichkeit einer jedesmal anderen Entscheidung, einer Wahl bedeutet. In Hände wird gezeigt, wie jemand, der nicht sofort und zum gewollten Augenblick wortmächtig ist, einfach annulliert wird, denn um Annullieren der anderen geht es meistens in diesen neutral geschriebenen Texten, die anonym aussehen, als wären sie wie zwangsläufig geschrieben worden. Hier wird die Sprache, fast in ihrer trivialsten Alltäglichkeit, zu dem, wozu sie vermeintlich bestimmt ist, zur reinen Transparenz, hinter der die Menschen in ihrer beinahe materiellen Wirklichkeit auf verblüffender Weise sichtbar werden. Sie werden sichtbar mit allem, was an ihnen an Absichten, an Kompromissen, an Schweigen oder an verpassten Gelegenheiten zu Tage tritt, was – wie in Gerücht – nicht ohne politische Konsequenzen bleibt, und dabei braucht man gar nicht weit zurückzudenken. Die Erzählungen Guido Rohms sind Fabeln, die ins Intimste der alltäglichen Verschwiegenheiten, Kompromisse und Einwilligungen der Menschen greifen. Eine zugleich pessimistische und anspornende Sicht der condition humaine. Georges-Arthur Goldschmidt

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Störenfried Endlich ist er tot. Sie fanden ihn vor seinem Haus. Er lag im Schnee, gekrümmt wie eine Marionette, die achtlos weggelegt worden war. Man kümmerte sich erst nach drei Tagen um ihn. Da konnte man sicher sein, dass er wirklich tot war. Lebendig wollte ihn niemand mehr. Nicht mal seine Frau und die Kinder wollten ihn lebend. Er hatte nichts als Unglück über sie gebracht. Zwar standen sie weinend an seinem Grab. Aber sie weinten keine Tränen der Trauer, auch keine Tränen der Freude, sondern Tränen der Erleichterung. Es wäre besser, wenn sie gehen würden, gab man ihnen zu verstehen. »Habt ihr nicht Verwandte auf dem Land? Zieht zu denen. Dort seid ihr besser aufgehoben.« Wieso tat er sich und uns das an? Natürlich fragte sich seine Frau das oft. Jetzt liegt sie in den Nächten in ihrem Bett, frierend und zitternd. Sie ist alleine. Verlassen hatte er sie schon lange vorher. Auch wenn er im gleichen Haus wohnte, sie hatten aufgehört ein Ehepaar zu sein. Sie starrt jetzt öfter den Mond an, aber auch der sagt nichts. Die Sachen sind gepackt. Die meisten Möbel für wenig Geld verkauft. Das Haus ist so schweigsam wie immer. »Sie müssen ihm aufgelauert haben, wahrscheinlich betrunkene Halbstarke, die ihn über Stunden malträtiert haben. Die entwickeln unwahrscheinliche und bestialische Kräfte.« Das sagte ihr der Inspektor, der den Fall untersuchte und dann zu den Akten legte. »Und Sie haben wirklich nichts gehört?«

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Diese Frage erlaubte er sich noch, beiläufig und mit einem Grinsen, und ohne eine Antwort zu erwarten. Natürlich hatte sie es gehört. Sie hörte sein Schreien und Wimmern ebenso wie die Nachbarn, die sich hinter ihren gelblichen Gardinen verschanzten, um ihm beim Sterben zuzusehen. Die saßen alle in der ersten Reihe. Die schwiegen, nicht weil es ihnen Spaß gemacht hätte, sondern weil sie nicht die nächsten sein wollten, denen man auflauerte. Blind zu sein, kann eine Tugend sein, die einen länger leben lässt. Das ist die Wahrheit. Und alle hier im Viertel kennen sie. Nur er hielt sich nicht daran. Was musste er sich auch mit dem Bürgermeister anlegen? Solche Fragen stellt man nicht, man haucht sie in die Nacht. Dort hängen sie für einen kleinen Augenblick als Wolke, die sich rasch auflöst. Vor wenigen Wochen erst fackelten sie sein Auto ab. Das hätte ihm Warnung genug sein müssen. Er wusste, dass er sich mit den falschen Leuten anlegte. Die waren zu mächtig. Die kamen nicht hinter Gitter. Früher war das Leben auch schwer. Aber es war ruhiger gewesen. Da hatte er als Nachtwächter in einem Museum gearbeitet. Er war in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen, hatte sie auf die Lider geküsst und sich dann schlafen gelegt. Da hatten sie sich kaum gesehen. »Er ist ein guter Mann. Er arbeitet, schläft, mäkelt nie am Essen rum und dann geht er wieder an seine Arbeit.« Später verlor er seinen Job. Wie kam er nur auf die Idee, plötzlich Journalist zu werden, er, der kaum richtig schreiben konnte, den das Sprechen mit anderen schon so sehr verwirrte, dass er die meiste Zeit schwieg. »Ich habe ein Internetmagazin. Ich schreibe ab sofort über unsere Gegend. Über die Politiker. Den Bürgermeister.« »Aber hier passiert doch gar nichts.«

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»Hier passiert nichts? Bist du blind? Der Bürgermeister ist korrupt. Die Polizisten sind korrupt. Eigentlich sind alle korrupt.« »Na, wenn es alle sind, dann gibt es doch keinen Grund, sich einzumischen. Es ist normal. Es ist das, was alle tun.« »Deshalb ist es aber nicht richtig.« Sie versuchte wirklich, es ihm auszureden, aber es nützte nichts. Er zog sich hinter seine Augen zurück und blieb dort. Sie kam nie wieder richtig an ihn heran. »Wir wollen doch hier nur in Ruhe leben.« »Nennst du das leben?« »Wie nennst du es denn?« »Wir sterben hier vor uns hin.« »Musst du immer so negativ sein?« In den Tagen vor seinem Tod verabschiedete er sich aus dem Schlafzimmer. »Ich schnarche. Das hat dich doch schon lange gestört. Außerdem kann ich unten jederzeit arbeiten.« »Leg dich nicht mit denen an.« Er lächelte, dieser Idiot. Führ dich nur selbst zur Schlachtbank, dachte sie, und verkroch sich unter der Decke und träumte von dem neuen Verkäufer drüben im Supermarkt. Er trug eine Krawatte und seine Zähne glänzten wie frischer Schnee. Der mischte sich nirgends ein. Als die ersten Artikel in seinem Internetmagazin erschienen, war es mit der Ruhe vorbei. Sie bekamen Anrufe von Unbekannten, die sie warnten, sich nicht mit den falschen Leuten anzulegen. »Er hört bestimmt wieder auf«, zitterte sie in die Muschel. »Er ist ein guter Bürger. Er war früher bei der Armee. Er war Falschschirmjäger. Er ist ein Veteran. Das müssen sie ihm doch anrechnen. Das können sie doch nicht alles vergessen. HALLO …« Aber da hatte der am anderen Ende der Leitung schon längst aufgelegt. Da konnte sie schreien, wie sie wollte. Um all das ging es nicht. Er war ein Unruhestifter und die konnte niemand gebrauchen.

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»Das ist ein ruhiges Viertel. Niemand will hier Ärger. Sagen Sie das ihrem Mann.« Die Frauen der anderen Männer sprachen sie nun häufig beim Einkaufen an. Aber auch das ließ nach, weil die Leute nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden wollten. »Ich habe mich mit einer Journalistin in Verbindung gesetzt. Sie schreibt sehr regierungskritisch. Sie hat viel über den Krieg geschrieben. Die hat sich mit den ganz Großen angelegt. Die hat keine Angst. Ihr Ethos … Weißt du, was das ist, ein Ethos haben?« Sie antwortete nicht, weinte nur. Wie konnte er ihr und ihrer Familie das antun? Wenn er doch nur aufhören würde. Sie und ihre Kinder mussten hier leben. Und er tat so, als sei das alles völlig egal. »Diese Journalistin versucht, meine Berichte in einer größeren Zeitung unterzubringen. Es gibt auch noch unabhängige Zeitungen. Noch sind sie nicht alle gleichgeschaltet.« Sie wollte das längst nicht mehr hören. Inzwischen sprach sie die Leute beim Einkauf an. »Hören Sie, ich weiß nicht, was mit meinem Mann los ist. Ich glaube, er wird langsam verrückt. Aber wir können nichts dafür. Wirklich nicht.« Sie führte sich auf wie eine Irre, fasste den Leuten an die Manteltaschen, um sie festzuhalten. Die müssen mir doch zuhören, dachte sie. Aber die Leute hatten Angst. Wollten mit einer solchen Familie nicht gesehen werden. »Du strafst uns alle. Mit den Kindern spricht keiner mehr. Sie werden mit Steinen beworfen. Du bist ein Egoist. Du denkst nur an dich und diesen aussichtslosen Kampf gegen den Bürgermeister. Ich hasse dich.« Da sah er sie noch ausdrucksloser an als zuvor. Er kam ihr vor wie etwas, was man eigentlich wegschmeißen musste. Ein ausgelöffelter Becher Vanilleeis, ein ausgetrunkener Milchbeutel. Etwas, was keiner mehr brauchte. Was man wegwarf, was die Müllmänner abholten, um es irgendwo hinzuschaf-

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fen. Wohin? Was passierte damit? Wurde es zur Grundlage neuer Verpackungen? Besser, man schmiss es einfach weg … »Sie haben die Journalistin umgebracht. Sie ist direkt vor ihrer Wohnung erschossen worden.« Er sah sie immer noch ausdruckslos an. »Wach endlich auf. Sie werden mit dir das Gleiche tun. Sie werden dich wie einen tollwütigen Hund abknallen. Und vielleicht haben sie recht damit …« Da holte er aus und verpasste ihre eine schallende Ohrfeige. Ihre Wange glühte wie eine der Platten des alten Herdes in der Küche. Er zeigte ihr gegenüber ein Lebenszeichen und sie war beinahe froh darüber. Für Sekunden hatte sie die Hoffnung er wäre wieder da, wäre aus seinem seltsamen Reich zurückgekehrt. Sie täuschte sich. Nach dem Tod der Journalistin wurde alles noch schlimmer. Seine Angriffe auf den Bürgermeister wurden schärfer, er organisierte Demonstrationen, zu denen tatsächlich auch Leute kamen. Punks und Penner, versicherte sie ihm. Die wollen nicht deinen Kampf kämpfen. Die kämpfen immer. Er hörte nicht auf sie. Er schien nur auf sich zu lauschen, auf eine Stimme in seinem Kopf, die kein anderer hören konnte. Er wird verrückt, dachte sie. Gott gib, dass das alles ein Ende findet. Es fand ein Ende. Sie müssen ihm aufgelauert haben, drei oder vier vermummte Gestalten. Er war in der Bibliothek gewesen, trug Bücher unter dem Arm. Sie zündeten die Bücher an. Bearbeiteten ihn stundenlang. Vielleicht mit Eisenstangen. Ja, flüstert sie, auch mit Eisenstangen. Man konnte ihn später kaum noch erkennen. Sie klopften ihn flach wie ein Stück Fleisch. Sie versuchten, ihn anzuzünden. Richtig gebrannt hat er nicht. Das konnte sie gar nicht

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verstehen. Er hat doch gebrannt. Er war ganz heiß. So entzündlich. Wie konnte er da nicht brennen? Sie sah von oben zu. Wärmte sich die Hände am lauwarmen Heizkörper. Gas kam kaum noch an. Da bestand keine Gefahr, sich zu verbrennen. Sie sah, wie er starb. Abwesend. Er schrie nicht. Er wusste, dass ihm keiner helfen würde. Er wusste, dass alle zusahen und dass ihn keiner retten würde. Und als sie mit ihm fertig waren und ihn liegen ließen wie ein Stück Müll, da lag er noch lange dort und starb Sekunde für Sekunde und Minute für Minute und Stunde für Stunde ein wenig mehr. Seinen letzten Hauch konnte man für einen klitzekleinen Augenblick in der Luft als Wolke sehen. Dann löste sie sich in Nichts auf. Die Ruhe war zurück im Viertel. Endlich.

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Hände Sitzt da und schluchzt. Die Hände hat sie unter die Pobacken gequetscht, damit keiner ihr Zittern bemerkt. Um sie herum herrscht aufgeregtes Treiben: Wände werden bewegt, Scheinwerfer geschoben. Der Rotz läuft zur Oberlippe. Sie hat kein Taschentuch, hat nichts als ihre bloßen Hände, die langsam unter ihrem Hintern einschlafen. Sie staut das Blut. Versucht, sich ein Stück weit abzutöten. Sie ist keine Heldin, aber nun sitzt sie hier und soll in der Sendung »Helden des Alltags« auftreten; soll berichten, wie sie einen Jungen aus einem Bus gerettet hat. »Können Sie uns erzählen, was damals passiert ist?« Kann sie das? Sie denkt nach und währenddessen tritt der Rotz in ihren Mund ein und sie nimmt den salzigen Geschmack wahr. »Ich weiß nicht … Ich war mit dem Auto unterwegs. Saß einfach nur da und starrte vor mich hin. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man Stunde für Stunde auf der Autobahn unterwegs ist.« Sie hätte ihnen von ihrem Sohn erzählen sollen. Hat sie aber nicht. Sie schwieg und kaute nervös auf einem Kaugummi. Sie hätte anders anfangen sollen … »Ich wollte das Kind nicht. Damals wollte ich es nicht.« »Und was haben Sie getan?« »Ich habe es … Es ist in eine Pflegefamilie gekommen.« »War es ein Junge oder ein Mädchen?« »Ein Junge.« Hat sie alles nicht erzählt, und nun sitzt sie hier, den Mund voller Rotz und wartet auf ihren Auftritt.

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»Im Fernsehen sieht man immer dicker aus«, erklärte ihre Freundin. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie. »Hab ich gelesen«, hatte die Freundin erwidert. Sie nahm ab. Nicht viel. Die Zeit reichte nicht. Hatte gehungert. Sie wollte nicht wie eine Schwangere aussehen. »Sie waren also auf der Autobahn unterwegs?« »Ja.« »Und dann? Erzählen Sie einfach. Sie dürfen nicht an die Kameras denken. Sie sind eine Heldin. Die Leute wollen Sie sehen. Die Leute werden Sie lieben.« »Konrad hat mich nicht geliebt.« Das sagte sie nicht. Das hätte sie sagen sollen. Aber sie schwieg. Niemand erfuhr je von Konrad. Nicht einmal ihre Eltern kennen den Vater des Jungen. »Ich würde gerne wissen, wie es meinem Sohn heute geht. Er müsste so zwölf Jahre alt sein.« Auch das sagte sie nicht. Stattdessen: »Die Sonne stand ziemlich tief. Ich fuhr so vor mich hin. Hörte Radio.« Der vom Fernsehen unterbrach sie: »Lassen Sie diese Details weg. Wir haben nur ein paar Minuten. Erzählen Sie von der Rettung des Jungen. Dann kommt der Junge dazu. Und das war es dann. Wir haben nicht nur Sie in der Sendung.« Sie versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Der Bus lag da. Es sah fürchterlich aus. Er lag auf dem Dach. Da war so viel Rauch …« »Apropos«, sagte der vom Fernsehen. »Stört es Sie, wenn ich rauche?« »Nein.« Sie sah ihm stumm zu, wie er sich eine Zigarette anzündete. Seine Hände sahen alt und verschlissen aus. Es waren trockene Hände. Sie achtete auf ihre Hände. Cremte sie täglich ein. Hände verraten viel über das Gegenüber, dachte sie. Ob

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man Wert auf sich legt. Ob man reinlich ist. Er kaut auf den Fingernägeln, dachte sie. Nervös, er ist auch nervös. »Und dann … Erzählen Sie weiter.« »Ich habe natürlich angehalten. Da fährt man doch nicht einfach weiter …« Sie stockte. Damals war sie nicht stehen geblieben. All das Geschrei. Sie hatte ihr Kind abgegeben und hatte ihr Leben weiter gelebt, als wäre nichts geschehen. »Warst du nicht schwanger? Wo ist das Kind? Wie geht es dem Kind?« Die Leute hatten immer so viele Fragen gestellt. Sie war weggezogen. Raus hier, hatte sie gedacht. Die löchern mich, bis ich aussehe wie ein Schweizer Käse. Was wissen die schon. Sie hatte das Kind nicht gewollt. So einfach war das. Aber solche Entscheidungen akzeptierten die nicht. »Ich wollte das Kind nicht.« »Wie bitte?« »Entschuldigungen Sie. Wo waren wir stehen geblieben?« »Sie haben angehalten. Viel Rauch. Viel Geschrei.« »Habe ich von Geschrei erzählt?« Sie musste aufpassen. Bloß nicht die Dinge durcheinander bringen. »Weiß nicht«, sagte der vom Fernsehen und sog an der Zigarette wie ein Baby an der Brust. »Ich denke mal, dass da viel Geschrei war. Wir haben die Szene nachgestellt. Sie werden von einer bekannten Schauspielerin verkörpert. In dem Einspieler ist viel Geschrei zu hören. Also sollten Sie es auch so erzählen.« »Wer spielt mich«, fragte sie. »Isolde Gutmann«, antwortete der vom Fernsehen. »Kenne ich nicht.« »Spielt in einer bekannten Soap mit. ›Brennende Liebe‹. Kennen Sie die?« »Nein. Kenne ich nicht.« Der vom Fernsehen sah sie schräg an, beinahe angewidert. Sie hätte sagen sollen, sie würde die Soap kennen.

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Jetzt fuhr sie einen Minuspunkt ein. »Ihre Nase läuft«, sagte er und reichte ihr ein Tempo. Sie schnäuzte sich. Hatte sie gar nicht bemerkt. Sie hat dauernd Schnupfen. »Musst dich besser ernähren«, hatte ihr eine Freundin gesagt. »Müsste mich besser ernähren«, sagte sie zu dem vom Fernsehen. »Ich werde den Schnupfen gar nicht mehr los.« »Aha. Lassen Sie uns jetzt weiter machen.« »Da war also Rauch und Geschrei. Ich habe angehalten und bin raus. Viele haben nicht angehalten. Da musste man aufpassen, dass sie einen nicht anfahren.« »Aber an diese Gefahr haben Sie natürlich nicht gedacht. Sie haben nur an die Opfer im Bus gedacht.« »Ich habe schon Angst gehabt.« »Nicht zuviel Angst. Ein wenig Angst ist in Ordnung. Aber nicht zuviel …« »Wie meinen Sie das?« »Jetzt zur Rettung des Jungen. Sie sind also zum Bus gestürmt und haben dieses Paar Hände gesehen. Und dann haben Sie zugegriffen und haben den Jungen rausgezogen. Sie sind eine Heldin. Überall Rauch, Blut und Geschrei. Aber Sie haben nicht gezögert. Sie sind da rein … Sie sind so nah wie möglich an den Bus ran und haben den Jungen da rausgezogen. Ohne Sie würde er heute nicht mehr leben. Wenn Sie das alles erzählt haben, unterbrochen durch den Einspieler, holen wir den Jungen rein. Er fällt in Ihre Arme. Tränen. Aus.« »Aus?« »Dann kommt der nächste Programmpunkt.« Sie saß da und sah dem vom Fernsehen auf die Hände. Flatterten aufgeregt hoch und runter. Sie versuchte, den Händen zu folgen. Sah aus, als wollte der vom Fernsehen etwas in die Luft malen.

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So war es nicht, dachte sie. Sie hatte angehalten. Sie war zu dem Bus gelaufen. Qualm. Kaum Geschrei. Einzelnes Stöhnen. Eine merkwürdige Stille. Und dann Hände. Viele Hände, die sich ihr entgegen gestreckt hatten. Alte Hände. Gepflegte Hände. Raue Hände. Vernarbte Hände. Die Hände hatten nach einem Halt gesucht. Und dann hatte sie zugegriffen. Junge Hände. Die könnten von ihm sein, hatte sie gedacht. Sie hatte entschieden, wer lebt und wer nicht. So war es gewesen. »Lassen Sie uns über die Leute sprechen, die im Bus verbrannt sind.« Auch das sagte sie nicht. Sie hatte sich für die Hände eines zehnjährigen Jungen entschieden. Sie hatte ihn rausgezogen. »Komm her«, hatte sie geflüstert. »Da bist du ja endlich.« Und dann hatte sie ihn an ihr Gesicht gepresst und mit unzähligen Küssen bedeckt. Gleich beginnt die Sendung. Der Rotz läuft noch immer. Das wird Ärger mit denen von der Maske geben, denkt sie und befreit ihre Hände. Sie spürt sie nicht mehr. Alles Blut ist aus ihnen gewichen. Kommen mir wie fremd vor. Ich will da nicht rein. Ich will den Jungen nicht sehen. Das ist nicht mein Junge. Das Blut strömt in die Hände zurück und verursacht ein unangenehmes Kribbeln. In diesem Moment taucht der vom Fernsehen auf. »Sie sind gleich dran«, keucht er. »Denken Sie an alles, was wir besprochen haben. Legen Sie viel Gefühl rein.« Dann zeigt er auf sie. »Sie sind eine Heldin. Vergessen Sie das nicht.« Sie nickt nur und versucht, sich auf ihren Auftritt zu konzentrieren. Endlich spürt sie ihre Hände wieder. So gut es geht, zieht sie den Rotz hoch und wartet auf das Zeichen des Aufnahmeleiters. Aus dem Studio hört sie noch die Worte »… begrüßen Sie eine wahre Heldin des Alltags …«, dann wird ihr Schwarz vor Augen.

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Es laufen nicht viele zusammen. Der vom Fernsehen kommt angerannt. Schweiß steht auf seiner Stirn. »Blöde Kuh«, murmelt er. Dann gibt er das Zeichen, den nächsten Helden des Alltags vorzuziehen.

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