reflexe 80: Eduard Kaeser. Auf schiefer Bahn

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EDUARD KAESER

Auf schiefer Bahn

Politische Essays zur Zukunft

REFLEXE

Schwabe reflexe

Band 80

Auf schieferBahn

Politische Essays zur Zukunft

Eduard Kaeser
Verlag
Schwabe

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Cover:KathrinStrohschnieder, STROH Design, Oldenburg

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:CPI books GmbH,Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4871-0

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4872-7

DOI 10.24894/978-3-7965-4872-7

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It ain’ tnecessarilyso.
Inhalt Prolog:Gegen das Abwärtsdenken .. .. ... ... .. .. ... . 9 Politik der Meinungen Ich bin weder dafür noch dagegen – ganz im Gegenteil .. 13 Esel und Kluge .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. ... ... .... 19 Der Schlimmstmöglichkeitssinn .. .. ... ... .... .. .. ... 25 Politik der Unfreiheit Die liberale Gesellschaft verschluckt sich an ihren Minderheiten .. ... ... .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. ... .... 31 Techno-Paternalismus .. .. ... .. .. ... .. .. .... .. .. ... 37 Der Blick «von aussen». .. .. .. ... ... .. .. .... .. .. ... 43 Politik des Pluralismus Demokratie zwischen Expertokratie und Populismus .... 49 Null Toleranz gegenüberdummenMeinungen. .. .. .... 61 Die Manie des Überzeugtseins .. ... .. .. ... ... .. .. .... 67 Politik der Natur Natur im Anthropozän .. .. .. .. ... ... .. .. ... .. .. .... 73 7
Conditio transhumana .. .. .. .. ... ... .. .. ... .. .. .... 79 Eine Natur für alle gibt es nicht .. .. ... .. .. .... .. .. .. . 87 Politik der Forschung Das Zeitalter der posttheoretischen Wissenschaft .. .. ... 93 Fast Science ... ... ... .. .. .... .. .. ... .. .. .. .. .. .... 99 Wissenschaft als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ... .... ... .... ... .. .. ... .... .. .. .. .. .. .... 105 Politik der Technologie Autonome Technologie .. .. ... ... ... .. .. .... .. .. ... 111 Demokratie mit Algorithmen .. .. .. ... ... .... .. .. ... 121 Unbegreifliche Maschinen .. .. .. .. ... .. .. .... .. .. ... 127 Politik der Wahrheit Wie man einen Diskurs totschlägt .. ... .. .. ... .. .. .... 135 Die menschlichste aller Fragen:Was wäre wenn?. .. .... 141 Wahrheit ist antastbar .. .. .. .. ... ... .. .. ... .. .. .... 149 Epilog:Mensch und Bettwanze .. .. ... ... ... .. .. .... 161 Anmerkungen .. .. ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. ... .... 167 Nachweise. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .... .. .. ... .. .. ... 171 8

Es steht schlimm und schlimmer um das Erdklima, die Tierarten, die Demokratie, die Menschenrechte, den Liberalismus, die Wahrheit, die Tatsachen und um was sonst noch. Fast von selbst stellt sich das Bild der schiefen Bahn ein,auf der wir nur abwärts rutschen. Abwärtsdenken hat, wie vor über hundert Jahren, wieder Konjunktur.

Aber nicht von diesem Bild geht der Titel der Essaysammlung aus, sondern vom sogenannten «slippery-slope-Argument». Zu einer bestimmten Annahme konstruiert man eine «schiefe Bahn», sprich: eineFolgenkette, die irgendwann einmal bei einem nicht wünschenswerten Ereignis endet. Daraus schliesst man rückwärts auf die Unhaltbarkeit der Annahme. Das Argument ist landläufig bekannt als Warnung:«Wehret den Anfängen!» Also zum Beispiel:Legalisieren wir Marihuana, öffnet das alle Tore zum freien Drogenkonsum;fahren wir mit der Wirtschaftsregulation fort, landen wir in der Planwirtschaft àlaSowjetunion. Das Argument ist logisch nicht zwingend, eignet sich aber immer wieder zum Zeichnen von worstcase-Szenarien, in die eine Entwicklung unvermeidlich zu führen droht. Man spielt mit dem diskreten Charme der Dystopie. Friedrich Dürrenmatt hat dem slippery-slope-Argument zu literarischer Prominenz verholfen, in seiner berühmten Dramaturgie des schlimmstmöglichenEndes:«Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.»

Prolog:Gegen
das Abwärtsdenken
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Unsere gegenwärtige Lage macht uns geneigt zu denken, wir rutschten notwendig «abwärts». Seit der Coronapandemie übertrumpfen sich Auguren im Modus «Die nächste Katastrophe kommt bestimmt». Gegen diesen Abwärts-Determinismus richte ich mich. Könnte der Eindruck der schiefen Bahn vielleicht davon herrühren,dass wir mit unseren Annahmen schief liegen?Deshalb scheint mir «Itain’tnecessarily so» – der Titel des Gershwin-Songs – ein wunderbares Mottofür die geistige Haltung der Essaysabzugeben:Denk nochmal darüber nach, vielleicht ist die Lage doch nicht so schief!

Die erstendrei Essays versuchen dieser «anti-schiefen»

Haltung anhand dreier Eigenschaftenetwas konkretere Züge zu verleihen:neutral,klug, stoisch. «Neutral»nicht in dem Sinn, dass man sich aus allen Händeln heraushält, sondern – paradox vielleicht – sich in alle Händel einmischt:sich zwischen die Lager begibt. «Klug»imSinn einer Schweizer Redensart:«De Gschiider git nah, der Esel blibt stah» – der Kluge gibt nach, der Esel bleibt stehen. «Stoisch»imSinn des antiken Appells «praemeditatio malorum»:Stell dir das Schlimmste vor.

Neutralität, so könnte man es auf den Punktbringen, ist eine Partisanin des «Dazwischen»: der Ungewissheit, Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit. Sie richtet sich gegen das strenge Entweder-oder, gegen scheinbare «Notwendigkeiten». Sie kann engagiert und stark auftreten. Neutral kann man aber nur situationsgemäss sein. Nun gibt es zweifellos Situationen, die ein binäres Entscheiden verlangen. Dagegen würde neutral sein bedeuten, dass man nicht einfach in der Situation denkt, sondern sie buchstäblich über-denkt. Gebietet sie tatsächlich nur das harte Entweder-oder?Oder findet man gerade durch das hinhaltende Weder-noch eineneue Perspektive?Tatsächlich gibt es, ausserhalb des reinen logischen Kalküls, immer ein Drittes. Neutralität ist die Erzfeindin der Alternativlosigkeit.

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Auf der schiefen Bahnist es äusserst wichtig, nicht zum Esel zu werden. Gewöhnlich verstehenwir unter einem Esel eine sture, ignorante oder renitente Person. Vonsolchen wertenden persönlichen Charakterisierungen sehe ich hier ab. Ich nenne Esel eine Person, die ihreMeinung unter keinenUmständen ändert, keine Wahlmöglichkeiten kennt oder anerkennt. Klug nenne ich eine Person, die ihre Meinung je nach Umständen ändert. Allgemeiner steht der Esel für absolute Unnachgiebigkeit, der Kluge für Nachgiebigkeit. Das sind selbstverständlich Idealtypen. Jede Person realisiert eine einzigartige individuelle Mischung aus Esel und Klugem.

Wir brauchen auf der schiefen Bahn, um hier den viel benutzten Begriff von Robert Musil etwas zu dehnen, einen Schlimmstmöglichkeitssinn. Schlimmstmöglichkeitssinn bedeutet weder Paranoia noch Panikmache. Er ist vielmehrein angemessenesintellektuelles Sensorium für die komplexe Unwägbarkeit der Welt, für die Banalität des Anormalen und Extremen. Auf die simpelste Formel gebracht, lautet der Schlimmstmöglichkeitssinn:Das Normale ist nicht zu begreifen ohne das Anormale. Das Attentat auf das World Trade Center 2001 und die Finanzkrise 2008 weckten das Sensorium brutal, und nun rutschen wir gleich nach der Coronapandemie 2020 in eine neue geopolitische Extremsituation. Ein Ausnahmezustand führt zum nächsten. Man möchtenachgerade ein gesetzmässiges Muster im Weltgeschehen vermuten: die Wiederkehr des schlimmstmöglichen Ereignisses.

Die Statistik kennt dieses Muster unter der Bezeichnung «schwarzer Schwan». «Schwarze Schwäne»sind seltene Ereignisse, die an den Rändern einer Normalverteilung liegen. Sie stören die Durchschnittsordnung kaum, wenn es sich um die Ordnung eines wenig komplexen Systemshandelt. In komplexen vernetzten Systemen wie dem aktuellen geopolitischen kann jedoch ein einziges unwahrscheinliches Randereignis ex-

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treme, folgenreiche Wirkungen zeitigen. Die Attentate auf das World Trade Center 2001 und die Finanzkrise 2008 waren schwarze Schwäne. Sie lösten eine Kaskade unvorhersehbarer Folgen aus, quasi ein Geschwadersekundärer und tertiärer schwarzer Schwäne. Der Klimawandel ist zwar kein schwarzer Schwan (erwurde schon seit langem vorausgesehen). Aberer hebelt zum Beispiel Trocken- oder Regenperioden zu unerwarteten Extremereignissen hoch. Tückisch an schwarzen Schwänen ist, dass wir uns darauf nicht genügend vorbereiten können. Die verletzlichsten Stellen liegen im Unsichtbaren, Unbekannten, Unerwarteten.

Die vorliegenden Essays sind gewissermassen Übungen im Stehvermögenauf der schiefen Bahn. Die Themen kommen in Dreierpaketendaher, und in diesen Paketen verknüpftsie ein loses Band. Zwischen den Paketen gibt es durchaus auch Verbindungen,erkennbar am Verweis im Text. Politisch sind alle Essays in dem Sinn, dass sie die polis,das Zusammenleben der Menschen unter den neuen wissenschaftlichen, technologischen, ökonomischen, ökologischen und demographischen Bedingungenreflektieren. Anders gesagt:Technik,Wissenschaft, Gesellschaft und Natur sind zu Beginn dieses Jahrhunderts derart eng miteinander verschränkt, dass wir nicht mehr «unpolitisch»über sie reden können.

Schliesslich:Wer Eigenschaften wie Neutralität, Klugheit und Stoizismus das Wort redet, setzt sich natürlich der Frage aus, ob er selbst über diese Eigenschaften vefüge. Der Autor überlässt das Urteil den Leserinnenund Lesern. Er tut es gern und dankt.

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Ich bin weder dafür noch dagegen –ganz im Gegenteil.

Eine etwas andere Betrachtung des Neutralen

Bist du dafür oder dagegen? Transphil oder transphob,vegan oder nichtvegan, regulierten oder deregulierten Markt, Impfen oder Nicht-Impfen, Waffenlieferung an die Ukraine oder nicht?Der Imperativ des Positionsbeziehens ist endemisch. Aber vergessen wir nicht das Gegenteil des Entweder-oder, das Weder-noch. Und darauf verweist der Wortstamm von «neutral»: keines von beiden. Man verbindet damit gern die Haltung des Ausweichens, Zauderns, Lavierens. Roland Barthes, Autor der berühmten «Mythen des Alltags», zählte das Weder-nochDenken seiner Zeit zu diesen Mythen. «Ninisme»nannte er es («ni… ni…»). Er meinte damit ein Denken, das sich dank eines «mythischen»neutralen Standpunkts erhaben wähnt über den damaligenKonfliktenzwischen links und rechts:

Man wägt Methoden mit der Waage ab, belädt ihre Schalen nach Gutdünken, um sich selber als unbelasteter Schiedsrichter betrachten zu können […]Schon möglich, dass unsere Welt zweigeteilt ist, doch man kann sicher sein, dass über dieser Spaltung kein neutraler Gerichtshof waltet:keine Rettung für die Richter, sie sitzen im gleichen Boot.1

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Denken in Antagonismen

Das binäre Denken in Antagonismen hat einen beeindruckenden philosophischenStammbaum, von Heraklit über Marx und Nietzsche, Darwin und Freud, Carl Schmitt und Michel Foucault bis zu aktuellen rabiaten Rassismusklischierern vom Schlag eines Ibram X. Kendi. Man entziehtsich dem Sog dieses Denkens nicht.Und trotzdem: Hat man in einem Gespräch mit jemandem, der uns einen binären Positionsbezugaufdrängte, nicht schon den stillen Drang verspürt, sich diesem «Übergriff» zu entziehen, indem man auf ein anderesThema ausweicht, ausdrucksvollschweigt oder schlicht einen anderenGesprächspartner sucht?Das gilt nicht gerade als argumentativer Comment, gewiss. Aber man kann so zu verstehengeben, dass man das ganze Setting des Gesprächs unterläuft:Ich lasse mich nicht in ein Entweder-oder-Schema zwingen. Ich replizierealso nicht in diesem Diskurs, sondern weise den Diskurs selbst zurück.

Ich bekunde damit einfach die Absicht, eine Gesprächsform zu finden, die nicht immer gleich Konflikt, Konkurrenz, Kampf fordert. Und damit stösst man auf eine tiefe Problemader. Wie Barthesbemerkt:«Insgesamt scheint mir die abendländische Tradition darin problematisch:nicht dass sie entscheidet, dass […]die Welt konflikthaft ist, sondern:dass sie aus dem Konflikt eine Natur und einen Wert macht».2 In der Tat. Ständig hören wir, Leben sei ein anhaltender Kampf, eine Kakophonie disparater Meinungen, von denen eine schliesslich triumphieren müsse. Diese Sichthuldigt dem Kämpfer, dem Siegeswilligen, dem Aktivisten. Der Neutrale erscheint dagegen als Weichdenker, als intellektuelle Molluske (obwohl man nicht vergessen sollte, dass die Molluske sich hervorragend an die Umwelt adaptiert).

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Das «lesbare»Individuum

Es gibteinen anderen, einen beklemmenden Aspekt der Neutralität, der uns existenziell betrifft. Man kann über mich eine noch so lange Liste persönlicher Eigenschaften aufstellen, es bleibt immer ein wesentliches Rest-Ich. «Ich bin nicht Stiller». Ich bin nicht auflistbar. Ich bin weder der noch der noch der … Das ist gerade im Zeitalter der zusehends potenteren Überwachungstechnologie eine eminent politische, eine subversive Aussage.

Die heutigen technikkonformen Konzepte der Identität reduzieren die Person auf das algorithmisch «lesbare»Individuum, das in ein eindeutiges Kategorienprofil passt. Gewiss, wir müssen im Beruf, im öffentlichen Alltag, ja, sogar im privaten Zuhause oft so tun, als wären wir solche Individuen. Aber durch die Einsicht, dass wir sie nicht sein können, gewinnen wir nicht nur an Authentizität, sondern widersetzen uns dem unterschwelligen Zwang zur Identifizierungdurch übergriffige Erkennungstechnologien.Hinzu kommt, dass viele, mittlerweile erschöpft vom unablässigen Bombardement der Fragen «Wer bist du?», «Wostehst du?», sich nach «neutralen»Orten des Unausgesprochenen sehnen, wo sie weder dafür noch dagegen sein müssen, und wo das Nichtwissen, wer sie sind, ihnen nicht ständig als Schuldlast anhängt. Wir verlangen ein Grundrecht auf das Uneindeutige,das Nicht-so-sein;auf das unauslotbare «Neutrum», das jede Person ist. Selbstverständlich identifizieren wir uns immer leichter mit gewissenPersonen als mit anderen. Der Neutrale ist sich dessen bewusst, aber er kämpft zugleich gegen die Reduktion der Person auf ein bestimmendes Merkmal – sprich: gegen die Logik des Rassismus.

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Fünf gerade sein lassen

Zweifellosgibt es Situationen, die keine Uneindeutigkeit dulden. Besonders heute nicht. Aber Neutralität definiert sich immer aus bestimmten Situationen.Sie bedeutet, dass man nicht einfach in der Situation denkt, sondern sie buchstäblich überdenkt. Leben erlaubt kein Unentschieden. Freilich muss man sich nicht immer presto entscheiden. Gebietet die Situation tatsächlich nur das harte Entweder-oder?Oder findet man gerade durch das hinhaltende Weder-noch eine neue Perspektive? Nichts hasst der Neutrale mehrals denerzdummen Satz «There is no alternative».

Neutralität ist auch der Appell zu einem Ethos der Kooperation, in dem Sinn, dass er uns anhält,Konfrontationen wenn möglich zu vermeiden. Ein lebenspraktisches Prinzip drückt diese Neutralität sehr schön aus:Fünf gerade sein lassen.Wer fünf gerade sein lässt, bekundet ein spezifisches Vermögen: Abstraktion.Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen lässt sich nämlich aufheben, wenn man sie als ganze Zahlen betrachtet. «Vereinigungsmenge»nennt das die Mathematik. Ein ungemein wichtiges Prinzip des Zusammenlebens. Man abstrahiert gelegentlich davon, ob man «gerade»oder «ungerade»ist:alt oder jung, weiss oder schwarz, Mannoder Frau. Man begegnet Menschen als «ganzen»Menschen, unter einer neutralen Oberkategorie. Man könnte sie «Person ohne Eigenschaften» nennen (siehe auch «Die liberale Gesellschaft verschlucktsich an ihren Minderheiten»).

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The Medium is the Massacre

Wir sind immer Partei:für oder gegen etwas. Das ist nicht das Problem. Das Problem lautet:Wofür oder wogegen genau? Man entdeckt durch solch beharrliches Nachfragen nicht selten erst seine eigene Parteilichkeit. Man findet vielleicht heraus, dass an der gegnerischen Meinungjadurchaus etwas dran ist, oder dass die eigene Meinung sich als nicht so hieb- und stichfest erweist wie angenommen. Man «neutralisiert»sich also, indem man Meinungsspannungen abbaut:entpolarisiert. Das ist das best case-Szenario. Leider neigen wir zum worst case. Studien über die kollektive Dynamik im Internet zeigen deutlich ein Schwarmverhalten:Polarisierung als systeminhärenten Effekt. Wenn sich in sozialen Netzwerken verschiedene Meinungscluster bilden, dann verringert sich der neutralisierende Austausch zwischen ihnen. Konfrontiert man Probanden eines Clusters mit anderen Meinungen, tendieren sie zur Verfestigung ihrer eigenen Meinung. Dadurch bauen sich Meinungsspannungen zwischen verschiedenen Echokammern eher auf, was zu einer verstärkten Radikalisierung der Lager führen kann:Man lehnt nicht nur die andere Meinungab, sondern mit ihr gleich die Andersmeinenden – man begegnetihnen mit Voreingenommenheit, Unverständnis, Hass. The medium is the massacre.

Und dieser Kampfmodus markiert die Schwelle zum Krieg. Die Regeln der Neutralität sind für die Kriegssituation bestimmt. Es bedürfte ihrer inzwischen auch für die sogenannte Friedenssituation. Mitunter beschleichteinen das Gefühl, auch im Zivil seien wir heute Krieger. Wir lesen von «Kulturkrieg», «Wissenschaftskrieg», «Energiekrieg», «Coronakrieg», «Identitätskrieg», «Genderkrieg» oder vom «Gesinnungskrieg»insozialen Medien. Und man stellt sich fast unweigerlich die Frage,

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ob der Friedendie Fortsetzung des Krieges mit anderenMitteln sei – ein Kriegfrieden.

Adolf Muschg bemerkte in einem Interview, das Entweder-oder-Prinzip verstehe keinen Spass. Genau dagegen wehrt sich der Neutrale als Partisan des Dazwischen. Er pflegt einen besonderenSpass:Erist wissbegierig, reflektierend, anti-reduktionistisch,offen für Argumente anderer Positionen – kurz:Er denkt.

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Esel und Kluge. Die (un)heimliche Macht minoritärer Sturheit

Die liberale Demokratie, so hört man oft, sei ein Hort der Meinungsvielfalt. Zumal Minderheiten fänden in diesem politischen Raum Gelegenheit zur Äusserungund Verbreitung ihrer Positionen. Aber diese Offenheit hatihre Tücke. In steigender Kadenz lesen wir darüber, wie Minderheiten ihre Positionen gegenüber einer Mehrheit durchsetzen. Im Konzert einer weissen Reggaeband fühlen sich einige wenige Zuhörer*innen «unwohl»angesichts der Rastalockeneines Musikers, und schon wird die Darbietung beendet. Laut einer Befragung in Deutschland lehnt eine Mehrzahl das Gendersternchen ab (ich auch), und doch unterwirft man sich der «Gendergerechtigkeit»(auch ich hier). Das ganze Cancel-Unwesen beruht vermutlich auf dem Aktivismus einer Handvoll Eiferer in Sozialen Medien. Man kann in diesem ganzen Bohei ein mediales Phänomen sehen, aber es verbirgteine tiefere soziale Dynamik.

Skin in the Game

Der Publizist Nassim Taleb spricht in seinem Buch «Skin in the Game»(2018)von der «Minderheiten-Regel»:

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Es genügt, dass eine kompromisslose Minderheit […], die in hohem Masse ihre Haut (oder besser ihre Seele)aufs Spiel gesetzt hat, einen bestimmten, sehr niedrigen Schwellenwert erreicht –sagen wir 3oder 4Prozent der Gesamtpopulation –,und die gesamte Population muss sich ihren Prioritäten unterwerfen.3

Eine Schweizer Redensart bringt diese Asymmetrie sehr schön zum Ausdruck:«De Gschiider git nah, de Esel blibt stah» –«der Kluge gibt nach, der Esel bleibt stehen». Unter einem Esel will ich hier schlicht eine Person verstehen, die ihre Meinung unter keinen Umständen ändert;unter einem Klugen, wer seine Meinung je nach Umständen ändert. Es braucht oft nur eine kleine Anzahl Esel, um ziemlich grosse kollektive Effekte –auch unter Klugen – zu bewirken.

Dieses Phänomen ist unabhängig vom Meinungsinhalt, ihm liegt ein Muster kollektiven Verhaltens zugrunde:die Hochskalierung. Ich wandle hier ein Beispielvon Taleb leicht ab. Angenommen, ein Mitglied einer Familie ist unnachgiebiger Veganer. Um Menu und häusliche Harmonie nicht unnötig zu verkomplizieren, stellt die Familie ihre Essgewohnheitenauf vegan um. Der Vorgang kann sich in grösserem Ausmass wiederholen. Die Familie wird zu einer Party mit Nachbarn eingeladen. Da sie für ihre Essgewohnheit inzwischen bekannt ist, und man sie nicht als «Esel»diskriminieren möchte, bietet der Gastgeber nur veganes Essen an. Womöglichsehen sich einzelne Mitglieder anderer Familien nun dazu inspiriert, ihr Essverhalten entsprechend zu ändern.Auf einer Skala höher passt der lokale Einzelhändler sein Angebot der steigenden Nachfrage nach veganen Produkten an. Möglicherweise beeinflusstdas auch den Grosshandel.Soinfiziert die Sturheit des einzelnen Esels dank der sozialen Dynamik die nachgiebige Mehrheit.

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Wie entsteht Radikalität?

Demokratie heisst freier Meinungsaustausch und Abweichung von der Mehrheitsmeinung. Unter den «Abweichenden» tummeln sich natürlich immer auch extreme Meinungen. Soziale Medien sind ihre Biotope.4 Im Namen der Freiheit können sie die Ausbreitung der Radikalität fördern. Dabei muss man Radikalität von Extremismus unterscheiden. Man kann eine extreme Meinung vertreten – etwa dass britische Königsverehrer rückständigeDummköpfesind –,ohne radikal zu sein. Radikal sein bedeutet hier speziell, nicht nur die anderen Meinungen, sondern auch die Andersmeinenden abzulehnen.

Wie entsteht Radikalität?Auch hier spielt die Minderheitsdynamik eine Rolle, wie dies ein Modell von Mathematikerinnen und Mathematikern der University of California in Los Angeles zeigt.5 Der entscheidende Faktor ist das soziale Umfeld der gemässigterenMeinungen. Nennen wir es einfachheitshalber die Mitte. Abweichung von der Mitte erzeugt Meinungsspannung. Ist die Spannung zu gross, kann sie zur Radikalisierung von Personen oder Minderheiten führen. Sie erfolgt oft sprunghaft. Und wiederum ist eine Asymmetrie zu beobachten: Radikalisierung lässt sich, selbst wenn die Situation sich wieder entspannt, schwer rückgängig machen. Die Minderheit löst sich von der Mitte und verbunkert sich in der eigenen Meinung. Die Folgen sind nur zu gut bekannt:Meinungsblöcke, Gesinnungsinzest, Gesprächsdefizienz.

Extrawurst

Hinzu kommt ein weiterer Faktor:die «Extrawurst». Ein demokratischer Betrieb braucht Regeln als gemeinsamen Verhaltensnenner für alle. Dafür muss jeder Einzelne kleine Kompro-

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