Stefan Goldmann. Topik und Memoria

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TOPIK UND MEMORIA

Beiträge zu einer anthropologischen Literatur- und Kulturwissenschaft

STEFAN GOLDMANN

Topik undMemoria

Beiträgezueineranthropologischen Literatur- und Kulturwissenschaft

Schwabe Verlag

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Abbildung Umschlag:Kupferstich von Giovanni Battista Piranesi:Frontispiz, Fantasie von Ruinen mit einer Minerva-Statue im Vordergrund, aus Vedute di Roma.Italien ca. 1748

(https://www.metmuseum.org/art/collection/search/362911)

Cover:icona basel gmbh, Basel

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:Hubert &Co., Göttingen

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-4842-0

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4896-3

DOI 10.24894/978-3-7965-4896-3

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Inhalt Vorerinnerung .. ... ... .. .. ... .. .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 7 1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius .. .. .... 13 2Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindungder Mnemotechnik durch Simonides von Keos .. .. ... .. .. ... ... .... ... .... ... .... 31 3Topoi des Gedenkens. Pausanias’ Reise durch die griechische Gedächtnislandschaft ... .... ... .... ... .... 55 4Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiografie .... 73 5Lesen, Schreiben und das topische Denken bei Georg Christoph Lichtenberg .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 91 6Topik und Memoria in Sigmund Freuds Traumdeutung .... ... .... 103 7Höhle. Ort der Prägung, Erinnerungund Täuschung bei Platon und Kleist 121 8Das Netz im Prozess der Zivilisation .. .. .. ... .... ... .... ... .... 137 9Die Meteorologie der Seele. Zu einer Denkfigur Georg Christoph Lichtenbergs .... .. .. .. .. .. ... .. .. .... ... .... 145 10 Georg Forsters Rezeption der Antike oder Anmerkungen zur Affektstruktur des Zitats .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 169 11 Der Mythos von Trojas Untergang. Zur Archäologie eines Erinnerungsbildes in Heinrich Schliemanns Autobiografie .. ... .... 185 12 Zur neuzeitlichen Geschichte des Topik-Begriffs ... ... .... ... .... 199 Drucknachweise .. .. .... .. .. .. .. .. .... ... ... .. .. .... ... .... .. .. ... 213

Vorerinnerung

Es scheint aber etwas Großartiges zu sein und schwer zu fassen, der Topos. Aristoteles, Physik, IV, 212a

Die hier zusammengestellten Beiträgesind in den 1990er Jahren in Zeitschriften und Sammelbänden erschienen. Diese Studien wandten sich der damals marginalisierten Topos-Forschung aus unterschiedlichen Perspektiven zu, stellten neue Fragen, verfolgten alte Spuren und erprobten ihr interdisziplinäres und hermeneutisches Potential. Im Rückblickpräsentieren sich diese Untersuchungen,die ihren Ausgangspunkt von Ernst Robert Curtiusʼ Monografie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948)genommen hatten, mitunter als eine Archäologie rhetorischer Begrifflichkeit. Dabei galt es, den Zusammenhang von Topik und Memoria, von Stoffsammlung und Gedächtniskunst herauszuarbeiten, ihre kulturanthropologischen Grundlagen freizulegen und ihr Fortwirken in der neuzeitlichenLiteratur und Wissenschaft punktuell aufzuweisen. Wennauch die aufgefundenen Mosaiksteinchen, wie Goethe sagen würde, nur zu einem Fragment des Fragments sich fügten, so lässt sich dennoch auf diesem das Motiv klar und deutlich erkennen, Topos-Forschung als Methode einer philologisch basierten anthropologischen Kulturwissenschaft darzustellen und zur weiteren Ausarbeitung zu empfehlen.

Es war Lothar Bornscheuer, der 1976 mit einem Plädoyer für die Unschärfe und Polyvalenz des aristotelischen Topos-Begriffs Bewegung in die literaturwissenschaftlich orientierteTopos-Forschung brachte. Er wies den Weg zu den Quellen, zu Aristoteles, Ciceround der antiken Rhetorik, arbeitete verschiedene Strukturmomente des Topos-Gebrauchs heraus und zeigte, wie dünn der Faden ist, der die antike Topik mit Curtiusʼ »historischer Topik« verbindet. So stellte sich die Frage, woher, wenn nicht von Aristoteles,der Topos-Begriff von Curtius denn stammte. Die Antwort darauf findet sich im ersten Kapitel, das die Latinistik um 1900 als den Ort bezeichnet, an dem »eine Topik der Motive in Poesie und Prosa« entschieden gefordertund von einzelnen klassischen Philologen schon auf eine Weise betrieben wurde,wie wir sie von Curtius kennen. Diese frühe altphilologische Topos-Forschung, das sei besonders hervorgehoben, war von Beginn an ein interdisziplinäres Unternehmen, an dem Religionswissenschaft und Ethnologie, Theologe und Psychologie beteiligt waren, Fächer, die heute aus der modernen Kulturwissenschaft nicht mehr wegzudenkensind.

Topik und Memoria zählten innerhalbdes Systems der antiken Rhetorik zu den Kernaufgaben (officia oratoris)eines jeden Redners, die er bei der Verferti-

gung einer Rede der Reihe nach zu bewältigenhatte. Am Anfang stand für ihn die Stoffsammlung (inventio), auf die die Stoffanordnung (dispositio)und die stilistische Durcharbeitung(elocutio)folgten, um dann die entworfene Rede zu memorieren(memoria)und sie schließlich aus dem Gedächtnis vorzutragen (pronuntiatio). Die Mnemotechnik beruhte darauf,die Teile einer Rede auf feste Plätze (loci)eines imaginierten Raums, der einem Haus, einer Straße oder einer Landschaft nachgebildet war, zu verteilen und ihren Inhalt zu ausdrucksstarken Bildern (imagines agentes)zuverdichten. Beim Vortrag schritt der Redner entlang der fest angeordneten Plätze und erinnerte sich beim Anblick der Bilder an den Wortlaut der Rede. Curtius verankerte die »historische Topik«, die »das Werden neuer Topoi« untersuchen sollte, in der inventio und separierte sie von der memoria,die seinesErachtens in der Antike geringen Raum eingenommen habe. Diese Vernachlässigungder Memoria ist verwunderlich, da Curtius zur Topos-Forschung u. a. durch einen ihn beeindruckendenVortrag des Kunstwissenschaftlers Aby WarburginRom angeregt worden war, der anhand sogenannter »Pathosformeln«, den Gesten leidenschaftlicher Bewegung in der Kunst der Renaissance,das Nachleben der Antike sowie die Funktion des individuellenund kulturellenGedächtnisses methodisch erforschte. Diese Quellen wieder zum Sprudeln zu bringen und aus ihnen zu schöpfen, Pathosformeln und Topoi in Beziehung zu einer Theorie des kulturellen Gedächtnisses zu setzen – die der Topos-Forschung ermangelte – war Ansporn genug, sich mit der »Art of Memory«, wie sie in der Warburg-Schule monografisch von Frances Yates behandelt worden war, auseinanderzusetzen.Den entscheidenden Anstoß, sich mit der Mnemotechnik des Rhetors zu beschäftigen, bildeteallerdings der Hinweis des Aristoteles,erhabe den Topos-Begriff der Mnemotechnik entlehnt. Die Gedächtniskunst ging dieser Lesart zufolge der Topik voraus. Um dem Verhältnis von Topik und Memoria auf die Spur zu kommen, galt es, zunächst die Gründungsgeschichte der Memoria, wie sie von Quintilian erzählt wurde,zuanalysieren, wobei ihreVerwurzelung im Totenkult aufgedeckt und die analoge Struktur von Gedächtnisraum und Totenreich erörtert wurde (Kapitel 2).

Diese Analogie von Gedächtnisraum und Hades erwies sich als wegweisend zu einer Neuinterpretation von Pausaniasʼ Reisen durch das spätantike Griechenland (Kapitel 3), einem Werk, dem Walter Benjamin und der Berliner Flaneur Franz Hessel starke Impulse zu einer »Archäologie des 19. Jahrhunderts« verdankten. Pausanias bewegt sich in der griechischen Landschaft wie in einem imaginären Gedächtnisraum, besucht der Reihe nach die festen Plätze (loci), die durch Naturmale, Standbilder (imagines)und Denkmäler markiert sind. Diese Topoi lokalisieren die Erinnerung an die Ursprünge der im Kult verbundenen Sozietät und definieren zugleich deren Territorium. Erinnerungsorte (loci memoriae)sind in diesem Fall, der unter schriftlosen Völkern verallgemeinert werden dürfte, mit den Beweisstellen (sedes argumentorum)identisch. Gemeinsam bilden sie das Prägewerk sozialer Identität. Ziel der Erinnerungsarbeit auf der Reise

8Vorerinnerung

durch das untergegangene Griechenland ist die Vermittlung des Wissens über den Kreislauf des Lebens und die Grundlagen der Zivilisation, eineVermittlung, die als Initiation und Heilprozess beschrieben wird.

Diesen Arbeiten zur Mnemotechnik der Rhetorik und ihrer literarischen Rezeption ging die Frage voraus,welche Erinnerungsmechanismeninder Autobiografie des 18. Jahrhunderts wirksam sind. Wie und was erinnert der Autobiograf? Mit der hermeneutisch geforderten Kenntnisder Gattungsgeschichte der Autobiografie und der ihr nahestehenden Gattungen zeichnete sich eine Topik ab, die auf die argumenta apersona der antiken Gerichtsrede zurückgeführt werden konnte (Kapitel 4). Beim Verfassen eines Lebenslaufs dienen diese loci als mnemotechnische Hilfsmittel, liefern die Gesichtspunkte der argumentativen Darstellung und strukturierendie Auswahlder Erinnerungen. Neben diesem traditionellen Topoikatalogbegegnen im pädagogischen Zeitalter weitereTopoi zur Beschreibung der eigenen Kindheit. Da die charakterbildenden Erlebnisse in der frühen Kindheit meist der infantilen Amnesie verfallen, erweisen sich frühe Kindheitserinnerungen keineswegs als Erinnerungen aus der Kindheit, sondern als nachträglich gebildete und von Phantasieprozessen bearbeitete Erinnerungen an die Kindheit. Sigmund Freud spricht deshalb von »Deckerinnerungen«, in denen die Affekte von den sie ursprünglich begleitenden Vorstellungen aufgrund von Triebkonflikten getrennt, verschoben, verdrängt und gelegentlich durch Anleihen aus der Heroenmythologie ersetzt oder gesteigert wurden. Ein lehrreiches Beispiel bietet hierzu HeinrichSchliemanns Autobiografie, in der er seine TrojaBegeisterung und seinen Kindheitswunsch, Troja einmal auszugraben, mit einer Kindheitserinnerung begründet, die sich als Deckerinnerung und Pathosformel entpuppt (Kapitel 11). In diesem »visuellen Topos« des aus dem brennenden Troja mit Vater und Sohn fliehenden Aeneassind jene Affekte gebannt, die Schliemann in der Kindheit beherrschten und in ihm weiterhin rumorten. Die Beziehung zwischen antikem formelhaftenZitat bzw. Topos und Affekt wurde des Weiteren anhand der Jugendbriefe von Georg Forster untersuchtund zum Ausgangspunkt einer kleinen Theorie des Zitats genommen (Kapitel 10). Angesichts seiner Orientierung an der Schulrhetorik seiner Zeit überrascht es nicht, dass der junge Forster die mit James Cook unternommene Reise um dieWelt (1778/80)als eineReise in den Hades, in die Vergangenheit des Menschengeschlechts beschreibt. Die Inseln der Südsee sind die Gedächtnisplätze (loci memoriae), an denen ihm die Bewohner wie bewegte Schattenbilder antiker griechischer Statuen (imagines agentes)erscheinen. Die kunstvollplatzierten antiken Zitate fungieren dabei als loci communes,die der moralischen Emphase dienen. Was topisches Denken im 18. Jahrhundert heißt,kann man wohl am besten in GeorgChristoph Lichtenbergs Sudelbüchern studieren. Sie enthalten spontane Aufzeichnungen aller Art, Lesefrüchte, Gedankensplitter, Redewendungen, Träume und Selbstbeobachtungen und dienen der Stoffsammlung (inventio )für die eigenen Schriften. Tatsächlich bilden sie das Laboratorium seines Probedenkens.

Vorerinnerung 9

Experimentiert er mit Ideen, dann steht er methodisch auf dem Boden der Topik, wobei ihm die Analogiebildung, der topische Vergleich und die Paradigma-Lehre als die fruchtbarsten »heuristischen Hebezeuge« gelten (Kapitel 5und 9).

Ohne Zweifel erscheint das 18. Jahrhundert noch im Bann des Regelsystems der Rhetorik. Lichtenbergs Vertrautheit mit den längst ausrangiertgeglaubten loci topici verlangte deshalb nach einem neuen Aufriss der Rezeption von Topik und Topos von Aristoteles über die Epoche des Humanismus bis in unsere Gegenwart (Kapitel 12). Die aristotelische Topik, das ist in Erinnerung zu rufen, besaß zur Zeit dieser Untersuchungen keinen guten Leumund. Sie sei die »uninteressanteste unter seinen logischen Schriften«, hieß es, die zu lesen einer Strafe gleichkäme. Die bahnbrechenden Arbeiten von Ernst Kapp (1942)und Eric Weil (1951) machten jedoch deutlich, dass es sich um ein Lehrbuch der Argumentationstechnik handelt, das den agonalen, streng geregelten Disputationender Akademie zugrunde gelegt wurde. DiesesakademischeStreitgespräch war wörtlich und in übertragenem Sinn ein Kampf um ein Terrain. Mit der Einführung des Begriffs des spatialen Denkens (Kapitel 6), das der aristotelischen Topik eigentümlich ist, und mit der Hervorhebung ihres agonalen Ursprungs dürfte diese lange vernachlässigte Schrift in den Kulturwissenschaften noch einer großen Zukunftentgegengehen. Anhand von Sigmund Freuds Traumdeutung,einem Klassiker der Moderne, konnteder Einfluss der Topik auf Freuds Denkstil und seine Arbeitsweise daraufhin exemplarisch studiert werden. Nach zwei Seiten zu argumentieren (disputare in utriusquam partem)war ihm ebenso geläufig wie jene von Aristoteles aufgezählten Beweisquellen (topoi), die den »unbewussten Schlussprozess« seiner Patienten aufdeckten. Eine »psychischeTopik« verortetnun im seelischen Apparat jene unbewusst ablaufenden Prozesse,die früherals Leistungen des Rhetors angesehen wurden.

Es ist hier nicht der Ort, eineSyntheseoder gar ein System aus diesen Einzelstudien zu entwickeln. Festzuhalten bleibt allerdings, dass eine kulturanthropologische Topos-ForschungFreuds Konzept der Deckerinnerung, Warburgs Konzept der Pathosformel (imagines agentes)und Klaus Heinrichs »Faszinationsanalyse«,wie er sie in seinen Dahlemer religionswissenschaftlichen Vorlesungen an Stoffen der Gattungsgeschichte zu entfalten pflegte, nicht entbehren kann (Kapitel 7und 8). Alle drei Forscher richten aus unterschiedlicher Perspektive ihre Aufmerksamkeit auf Affektäußerungen, denen Triebkonflikte zugrunde liegen. Der Affekt ist eine Kraft, die bewegt (movere), ergreift und mitreißt. Warburg nennt deshalb die Pathosformeln »Energiekonserven«, die unbewusste, affektbesetzte Erinnerungen enthalten. Analog dazu ist der Affekt jene dem Topos inhärenteKraft (vis admonitionis), die Cicero zufolge Erinnerungen evoziert und unentwegt zu musischer, poetischerund rhetorischer Bearbeitung treibt.

Auch die Freunde, die besonders an den altertumskundlichen Studien Anteil genommen hatten, sind an dieser Stelle zu erwähnen,darunter JensBeiderwieden, der seine wohlwollende Kritik an den Beiträgen stets mit geistreichen An-

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knüpfungenund unerwarteten Weiterungen zu verbinden wusste. Christian Brockmann,immer hilfsbereit und stillvergnügt,legte mir manchen Wortindex der Altertumskunde vor, den er jedesMal mit einer köstlichen Anekdote aus seinem Fach begleitete. Und gedenke ich Peter Krumme,der mir in Berlin auf der schmalen Veranda des »Bovril« den (bisweilen )leeren Stuhl angeboten hatte, um zwischen Becher und Lippe die neuesten von ihm rezensierten oder übersetzten Publikationen der Warburg-Schule durchzusprechen, eineLobrede auf die französische anthropologische Altertumskunde zu halten oder Henry Purcells Lamento der Dido in der Einspielungvon Jessye Norman zu empfehlen, dann blitzt diese untergegangene Epoche noch einmal in der Erinnerungauf.

Schließlich dankeich Susanne Franzkeit, der Geschäftsführerin des Schwabe Verlags, sowie der Projektleiterin Jelena Petrovic, dass die hier gesammelten Aufsätze nahezu unverändert, doch erstmals in ihrem gewachsenen Zusammenhang erscheinen können.

Vorerinnerung 11

1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst

ErnstRobertCurtius’ Buch EuropäischeLiteratur undlateinischesMittelalter (1948) istnochimmer dasStandardwerkder Toposforschung undein Klassiker derLiteraturwissenschaft.Indiesesopusmagnumlegte Curtiusdie Ergebnisse einerkonzentrierten,sechszehn Jahrewährenden Forschungsarbeit nieder.Zwar wurdeschon bald nachgewiesen, dass er denTopos-Begriffunhistorischverwendet,1 doch gabes, trotzeiniger Vorbehalte,auchein eloquent überzeugendesPlädoyerfür dieschon in derAntikeanzutreffende Unschärfedes Begriffs.2 Eigener Aussagezufolge3 arbeiteteCurtius erstmals 1932 in seiner Studie über JorgeManriqueund derKaisergedanke4 topologisch. Allerdings erscheintinjenem Aufsatzdas Wort »Topos«wie selbstverständlich,ohnedefinitorischeAnstrengung.5 Nichts weistauf diespätere Karriere desBegriffsund aufdie unsNachgeborenen tief eingeprägte Assoziationvon »Topos«und dessen engagierten, populärenVerfechter Curtius. Dieser Befund indiziertimGegenteil, dass Curtiuseinem gängigen Sprachgebrauch folgt, denererstnachträglich in seinen Mittelalterstudien (1938)6 reflektieren unddie dort entwickelteDefinitioninseinergroßen zusammenfassen-

1 Vgl. hierzu Toposforschung. Eine Dokumentation, hrsg. v. Peter Jehn, Frankfurt/M. 1972 (= Respublica Literaria;10);darin siehe besonders die Aufsätze von Edgar Mertner, Topos und Commonplace (1956), S. 20–68 und Peter Jehn, Ernst Robert Curtius:Toposforschung als Restauration (statt eines Vorworts),S.VII-LXIV.

2 Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/M. 1976. Zum historisch-philologisch »richtigen« und »falschen« Toposbegriff vgl. auch Peter Hess, Zum Toposbegriff in der Barockzeit, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 10 (1991), S. 71–88, bes. S. 75–78.

3 Ernst Robert Curtius, Zur Literaturästhetik des Mittelalters II, in: Zeitschrift für romanische Philologie 58 (1938), S. 129–232, hier S. 137, Anm. 2.

4 Wiederabgedruckt in Ernst Robert Curtius, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern, München 1960, S. 353–372. Zu diesem Forschungsstand zuletzt Dieter Wuttke in: Kosmopolis der Wissenschaft. E. R. Curtius und das Warburg Institute. Briefe und andere Dokumente,hrsg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 1989 (= Saecula Spiritalia;20), S. 27 f., Anm. 15.

5 Siehe Curtius, Gesammelte Aufsätze,a.a.O., S. 365:»Dieser Topos: ›ein guter Kaiser muß Sprachkünstler sein‹,ist ein eigener Aspekt der Kaiseridee, kommt schon in antiker Überlieferung vor und erscheint bei Manrique in der Zuordnung von Hadrian und Eloquenz.« Sowie a.a.O., S. 366, Anm. 29:»Auch diese Theorie und Praxis der ›christlichen‹ Invokation ist feststehender Topos des 15. Jh.s.«

6 Zum »Begriff einer historischen Topik«, vgl. Literaturästhetik II, a.a.O., S. 129–142.

14 1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius

denStudie(1948)wiederholen wird.7 Nunhat schonEdgar Mertnermit zwei Belegenangedeutet, dass dieser Topos-Begriffinnerhalb derKlassischen Philologie verbreitetwar,dochhandelt es sich beiseinenbibliografischenAngaben um eher zufälligeFunde.8 Im Folgendengiltesdagegen,die wirklicheAnregungsquelle für Curtiusfreizulegen undfür denunscharfenTopos-Begriff densystematischenund wissenschaftsgeschichtlichen Ortinnerhalb derKlassischen Philologie aufzuzeigen Wer sich innerhalb der Klassischen Philologie umschaut, trifft baldauf die vonAlfred Gercke und Eduard Norden herausgegebene Einleitungindie Altertumswissenschaft (1910),ein Standardwerk der altphilologischen Zunft, dasden damaligenForschungsstand für den Adepten der Wissenschaft verzeichnet, gegenwärtige Problemstellungen formuliert und Ausblicke auf künftige Untersuchungen bietet.9 Das dreibändige Werk richtet sichausdrücklich an Studenten des expandierenden Fachesund möchte die inzwischenüberholte Encyklopädieund Methodologie derphilologischen Wissenschaften (1877; 1886) von August Boeckhersetzen.Der Göttinger Altphilologe Paul Wendland fordert darin am Endeseiner gemeinsam mitErich Bethe verfassten Darstellung der Geschichte der griechischen Literatur von der Gräzistik, den Einfluss der rhetorischen Theorieauf die literarischeProduktion intensiver als bisher zu berücksichtigen:»Die moderne Kritik hat auszugehenvon der Analyseder Reden, hat Disposition, Topik, Argumentation, Terminologie festzustellen und damit, soweit möglich, die für den Autor maßgebende Technikzurekonstruieren.«10 »AlsfruchtbareThemata« künftiger Forschung, zu der Wendland selbst erste Grundlagen gelegt hatte,11 bezeichnet er die Untersuchungder »Gemeinplätze (z.B.für und gegen Folter), Geschichte der ganzen Topik bei Anax[imenesvon Lampsakos] 15 ff. Aristot[eles] I15. in Theorieund Praxis. Traditionelle und konventionelle Elemente der Proömien und Epiloge. Lehre vonden τελικὰ

(inihrer Geschichte treten sich ablösende

7 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München 1973, S. 79 f. und S. 89–115.

8 Mertner, a.a.O., S. 22.

9 Einleitung in die Altertumswissenschaft,hrsg. v. Alfred Gercke und Eduard Norden, Leipzig, Berlin 1910, Bd. 1, S. IV:Inihrem auf Oktober 1909 datierten Vorwort bedauern die beiden Herausgeber, dass sich die Drucklegung des Bandes fast ein Jahr hingezogen habe.

10 Einleitung,a.a.O., S. 445.

11 Vgl. z. B. Philo und die kynisch-stoische Diatribe, in: Beiträge zur Geschichte der griechischen Philosophie und Religion,hrsg. v. Paul Wendland und Otto Kern, Berlin 1895, S. 63: »In der Entwicklung der Diatribe [wurde]eine Fülle von Gemeinplätzen oft in bestimmten sprachlichen Formen ausgeprägt und in diesen Formen als fester Bestand überliefert wie die Grundgedanken der attischen Panegyrik oder die Hauptthemen der altchristlichen Apologetik. Die Ausprägung dieses Gedankenmaterials, das wir aus Seneca und Musonius, aus Dio Chrysostomus und Epiktet kennen, dürfen wir nun, da Philo als Zeuge hinzukommt, einer beträchtlich früheren Periode zuschreiben.« Und: Anaximenes von Lampsakos. Studien zur ältesten Geschichte der Rhetorik, Berlin 1905, bes. S. 65–70 zum Schema der Topik beratender Rede.

κεφάλαια

Einflüsse derPhilosophien hervor)und ihr Einfluß aufdie Topik der Reden.«12

»Derganze Nachlaßvon Redenbis in die byzantinischeZeit«,heißt es wenig später,»mußnachHauptgattungen und Arten geordnet,die einzelne Redenachden Gesichtspunkten der zu ihrer Zeitgeltenden Theorieund unter Vergleichung mit anderenExemplarender Gattung gewürdigt werden. Traditionelle Topik und Technik, dasMaß der Abhängigkeit oder individuellenFreiheit (die die Rhetoren oft andeuten, indem sieihreAbweichung vomSchema betonen; abermitunter ist auch das konventionell) mußman sich klarmachen;das Überlieferte undAngelernte mußman vonder freienAbwandlung des Schemasund vonwirklicher künstlerischer Produktionzuscheiden wissen. Nur so schreitet man von subjektiven Gefühlseindrücken zu tieferem geschichtlichenVerständnisfort und erwirbt sicherstdas Recht zu absoluten Werturteilen.«13

Wenn hier schonTraditionslinienaufscheinen,die vonden »konventionellen Elementender Proömien undEpiloge«hin zurExordialtopik undSchlusstopikim Sinnevon Curtiusführen,14 so istmit diesen Sätzen allerdings noch nichtder Ausgangspunkt seiner topologischenForschunggefunden. Toposforschung istein Zweigder Quellenanalyse undEinflussforschung. Sieorientiertsichander Arbeitsweiseder Motivgeschichte, dieEntstehungsort undWanderwegeeines Motivs aufzeichnet undverfolgt. Dieses Strukturelementder Methode, in jüngerer Literatur Versatzstückeeiner älterenzusehen,verweistinnerhalb derKlassischen Philologie aufdie Latinistik alsprädestinierten Ort, an demdas Bedürfnisnacheiner Toposforschunglautwerdenkonnte. DieAnwälte derlateinischenLiteratur hatten um dieJahrhundertwendegegenüber der ›urschöpferischen‹ griechischen Literaturdie römische Originalität zu begründenund zu rechtfertigen.

15 Einervon ihnen, der

12 Einleitung,a.a.O., S. 446;die Angaben zu Anaximenes (Rhetorica ad Alexandrum)und Aristoteles’ Rhetorik beziehen sich auf die Quellen der Beweismittel;zuden τελικὰ

κεφάλαια vgl. Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, Leipzig 1885, S. 301 ff.

13 Einleitung,a.a.O., S. 448.

14 Curtius, Europäische Literatur,a.a.O., S. 95–101.

15 Vgl. z. B. Friedrich Leo, Die Originalität der römischen Literatur. Festrede im Namen der Georg-August-Universität zur Akademischen Preisverleihung am 4. Juni 1904, Göttingen 1904, S. 6: »Es giebt nur eine im strengen Sinne originale Litteratur auf der Welt, das ist die griechische;denn die Griechen haben die litterarischen Gattungen gestaltet.« Im augusteischen Zeitalter war die römische Literatur »nicht die Nachahmerin, sondern die Fortsetzerin der griechischen« (a.a.O., S. 13). Für Eduard Norden liegt der eigenartige Reiz der römischen Literatur »gerade darin, daß der griechische Aufzug durch den Einschlag original römischer Fäden zu einem besonderen Gewand umgewoben worden ist. In diesem Sinne als eine im bedingten Maße originale Nach- und Neuschöpfung der hellenistischen Weltliteratur gefaßt, hat die römische Literatur innerhalb dieser sogar einen hervorragenden Platz eingenommen. […]Die römische Literatur [hat]für uns nicht bloß einen relativen Wert, insofern wir viele uns verlorene Gattungen der griechischen nur mehr durch die lateinischen Umbildungen besitzen, sondern sie hat auch einen absoluten,

1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius
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16 1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius

Berliner Latinist Eduard Norden hält deshalbinseinemBeitrag zur Einleitung in dieAltertumswissenschaft,der im Anschlussandie Darstellungder Geschichte der römischenLiteratur »Quellen undMaterialien,Gesichtspunkteund Probleme«der philologischen Forschungerörtert, dieQuellenanalysefür dievordringlichste Aufgabe seines Fachgebietes.16 Da mandie vonder griechischenabhängige lateinische Literaturnicht mehr »aus sich selbst heraus erklären«könne,sobrauchenwir, konstatiertEduardNordenkurzund prägnant,»eine Topikder Motive in Poesie undProsa.«17 Meinenun tiefer zu begründendeThese lautet,dassdieservon Nordenhervorgehobene, programmatische Satz dengeistesgeschichtlichenAusgangspunktfür Curtius’ eigene Toposforschung darstellt

Norden hatselbsteineReihe voneinschlägigen Werken publiziert,indenen er topologischvorgeht.Besondersinseinemgrundlegenden KommentarzuVergils sechstem Buch der Aeneis18 benennterimmer wieder Topoider verschiedenen Redegattungenund Loci communes derliterarischen Tradition. Im Spiegelder Rezeption, z. B. in demzeitgleicherscheinendenBuchüber Virgilsepische Technik (1903) vonRichard Heinze,welcher dertopologischen Forschung gegenübereher skeptischeingestellt ist,19 finden sich diezusammenfassendenWorte:»So hat, nachdemMarxinder 4. Ecloge dasSchemades λόγος γενεθλιακός gezeigthatte, Norden die τόποι des λόγοςπανηγρικός in demLobpreisdes Augustus VI 791ff., des λόγος ἐ

in derKlage um MarcellusVI868 ff.aufgewiesen.«20 Nordens Aufsatzüberden Panegyrikusauf Augustus in VergilsAeneis warschon 1899 im

in ihr selbst liegenden Wert, den auszumünzen sich lohnt, mag auch noch so oft das griechische Gold mit römischem Kupfer legiert erscheinen. Auf Grund dieser Verhältnisse definieren wir die römische Literaturgeschichte als die Geschichte von der Aus- und Umbildung der aus der griechischen Literatur herübergenommenen γένη «(Einleitung,a.a.O., S. 458) – Zum Verhältnis zwischen Latinistik und Gräzistik vgl. auch Peter Lebrecht Schmidt, Wilamowitz und die Geschichte der lateinischen Literatur,in: Wilamowitz nach 50 Jahren, hrsg. v. William M. Calder III. u. a., Darmstadt 1985, S. 358–399.

16 Vgl. Eduard Norden, Einleitung,a.a.O., S. 575:»Seitdem die Abhängigkeit der römischen Literatur von der griechischen das prinzipielle Axiom für ihre Beurteilung geworden ist, ergibt sich als höchstes Postulat die Quellenanalyse.«

17 Einleitung,a.a.O., S. 576:»Was wir brauchen, das ist vielmehr, um es kurz so zu formulieren, eine Topik der Motive in Poesie und Prosa.«

18 Eduard Norden, P. Vergilius Maro Aeneis Buch VI, Leipzig, Berlin 1903.

19 Richard Heinze, Virgils epische Technik,Leipzig 1903, S. 423:»Wir werden uns natürlich hüten müssen, schulmäßige Anwendung der τόποι überall da zu wittern, wo ein poetisches Motiv sich mit einer rhetorischen Vorschrift notdürftig zur Deckung bringen läßt.«

20 In der zweiten Auflage (Leipzig, Berlin 1908, S. 430)wurde dieser Satz wie folgt erweitert: »So hat […]Norden die in der großen Epideixis des Anchises in der Nekyia die τόποι des λόγος πανηγρικός in dem Lobpreis des Augustus (VI, 791 ff.), des λόγος ἐπιτάφιος in der Klage um Marcellus (868 ff.), des ἐγκώμιον ῾Ρώμης im Epilog der Heldenschau (847 ff.) nachgewiesen.«

πιτάφιος

1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius 17

RheinischenMuseum erschienen.21 Besonderseindrucksvollist sein Kommentar zurKlage um Marcellus, denfrühverstorbenenNeffendes Augustus,wie sieVergil im sechsten Buch seiner Aeneis gestaltethat.Nordenvergleicht dieRededes Anchises mitdem durchMenandros überliefertenrhetorischenSchema, wobeisein Topos-Begriffsowohlrhetorische Gesichtspunkte als auch tradierteGrundgedankenund geprägte Formulierungen umfasstund sich nichtgegenüber Gemeinplätzenund Loci communes abgrenzenlässt.22 SchoninseinerJugendarbeit, Dierömische Kunstprosa (1898),inder er »das Fortlebenvon Gedanken unddie Machtder Tradition«23 zu erweisen sucht, verfolgterTopoi,24 Bonmots,25 Sprichwörter und Wortspiele,26 wiesie zwischen dergriechischenund lateinischen, zwischen hellenistischerund christlicher Literaturvermitteltwerden, auch sprichtervon »amönen

τόποι«27 undhebt, unterHinweis aufeineArbeit vonKarl Sittl,28 besondersden

›Toposder affektierten Bescheidenheit‹29 innerhalbdes Proömiumshervor. Später, in seinem Buch Agnostos Theos. Untersuchungen zurFormengeschichtereligiöser Rede (1913),das dieinder Apostelgeschichte(17,22ff.)mitgeteilte Areopagrede vonPauluszum Ausgangspunktnimmt, entwickelterdie »Τόποι in religiösen

διαλέξεις«von Wanderrednern, dasSchemader Missionspredigtmit ihrerExordialtopikund derchristlichenUmprägung überlieferter(stoischer) Topoi.30 Norden interpretiertTexte,indem er siemit ihrerVorgeschichte konfrontiert.Zum einen verfolgt er einzelne Gedanken undMotivehistorisch,zum anderenuntersuchter ihre Stellung innerhalbeiner Vorstellungsreihe, ausder mitunter Rückschlüsse auf Gattungszwängegezogen werden können.Als ErgebnisseinerStudiebetrachteter »den Nachweis desfestenBestandes einesTypenschatzesreligiöserRede, zu dessen Prägungder Orient undHellasingleicherWeise beigetragenhaben«.31 Ausden bisherigenBeispielengehthervor, dass Norden dieFormenanalyse mit der literarhistorischenErforschung der Topoi einzelner Gattungen kombiniert, mithininihm eine eminenteFigur derToposforschung vor Curtius begegnet. Edu-

21 Wiederabgedruckt in Eduard Norden, Kleine Schriften zum klassischen Altertum, hrsg. v. Bernhard Kytzler, Berlin 1966, S. 422–436.

22 Norden, Aeneis,a.a.O., S. 334 ff.

23 Eduard Norden, Die römische Kunstprosa, Stuttgart 1983, Bd. 1, S. IX.

24 A.a.O., Bd. 1, Nachträge zu S. 171 sowie S. 250, Anm. 2; 276;408, Anm. 2; 434, Anm. 2.

25 A.a.O., S. 385 f.

26 A.a.O., S. 24, Anm. 1und S. 490, Anm. 3.

27 A.a.O., S. 283.

28 Karl Sittl, Miscellen,in: Archiv für lateinische Lexicographie 6 (1889), S. 557–562, bes. 5. Rusticitas der theologischen Schriftsteller,S.560 f.

29 Norden, Kunstprosa,Bd. 2, S. 595, Anm. 1und Bd. 1, S. 113;vgl. auch Curtius, Europäische Literatur,a.a.O., S. 93–95.

30 Eduard Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Leipzig, Berlin 1913, S. 31 f., 3, 317, 134, 236.

31 Norden, Agnostos Theos,a.a.O., S. 277.

18 1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius

ard Norden (1868–1941) ist mitFriedrich Leo (1851–1914)der bedeutendste Latinistseiner Zeit.Als Gelehrterumfasst er sowohldie griechischeals auch dielateinische Literatur – mit breiter Kenntnis derLiteratur der Kirchenväter und der Karolingerzeit – bishin zur Renaissance.Als weithinanerkannter Fachgelehrter überschreitet er nicht nur epochale Grenzen, sondern öffnet dasFachauch gegenüber derReligionswissenschaft, Ethnologieund Theologie.Nach Schreibverbot und Verfolgung musste er 1939 in dieSchweiz fliehen, wo er 1941 in Zürich im Exil verstarb.32

Die Forderung nach einer Topik der Motive in Poesie und Prosa ist ein Markstein auf dem Weg der Herausbildungder Toposforschung. Zwischen 1899, dem Erscheinungsdatum von Nordens Untersuchung eines Panegyrikus und der Veröffentlichungder Einleitung in die Altertumswissenschaft (1910)gibt es innerhalb der Klassischen Philologie einezunehmende Tendenz topologischer Forschung, die sich, soweit ich sehe, einmal sogar im Titel eines Schulprogramms manifestiert.33 Plädieren Norden und Wendland gemeinsam für eine koordinierte systematische Erfassung der literarischen Tradition und begünstigenStudien, welche die rhetorische Substruktur antiker Literatur freilegen, so ist nun zu fragen, welche weiteren Autoren dieser Strömung zuzuordnen sind?

Der in Gießen und Leipzig lehrende Altphilologe Wilhelm Süss knüpft in seinem Buch Ethos. Studien zur älterengriechischen Rhetorik (1910)anWendlands Forderung an, die antiken überlieferten Reden nach rhetorischen Gesichtspunkten zu analysieren. Im Zuge der Rekonstruktion des rhetorischen Schemas, das den Reden Antiphons und Isokrates’ zugrunde liegt, konstatiert er ein »Arsenal von Gemeinplätzen«und Topoi.34 Hinsichtlichder Topos-Auffassung von Curtius ist es bemerkenswert, dass Süss schon von einem »klischeeartig übernommenen τόπος«spricht und feststellt, dass ein Topos verblassen und seines

32 Zur Biografie vgl. Bernhard Kytzler, Eduard Norden,in: Classical Scholarship. ABiographical Encyclopedia, hrsg. v. Ward W. Briggs und William M. Calder III, New York, London 1990, S. 341–345, mit weiterführender Literatur;vgl. auch die Erinnerungen an Eduard Norden von seiner Frau Marie Norden, in:Eckart Mensching, Nugae zur PhilologieGeschichte, Heft 6, Berlin 1993, S. 8–84.

33 Siehe S. Dörfler, Beiträge zu einer Topik der römischen Elegiker, Programm Nikolsburg 1905/06. Auch als Sonderdruck:Brünn, o. J. Dörfler stellt sich die Aufgabe, »zunächst die am häufigsten vorkommenden typischen Bilder und Vergleiche« römischer Liebeselegien zu behandeln und dann »diese τόποι auch in der griechischen Dichtung soweit als möglich nachzuweisen.« (a.a.O., S. 1) – Gottfried Bohnenblust, Beiträge zum Topos ΠΕΡΙ

ΦΙΛΙΑΣ, Berlin 1905, untersucht im Anschluss an Wendland (s.o.Anm. 11) Loci communes der Freundschaftsbezeigung innerhalb der Stoa. Eine Begegnung zwischen Bohnenblust und Norden fand offenbar 1926 in Genf statt (Mensching, Nugae,a.a.O., S. 44).

34 Wilhelm Süss, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik, Leipzig, Berlin 1910 (Nachdruck:Aalen 1975), S. 27, 33, 39.

ursprünglichen Sinnes beraubt werden kann.35 Er beschliesst sein Buch mit dem von ihm erarbeiteten Katalog einer »festen Topik der Bescheltung«, wie sie in griechischen Reden praktiziert wurde. Aus der rhetorischen Schmähtopik, die sowohl aus der Komödie als auch aus der rituellen Bescheltung, wie sie in den Carmina triumphalis noch greifbar ist, hergeleitet werden kann,36 hebt er besonders zehn Gesichtspunkte hervor:1)Der Vaterdes Gegners und er selbst sind Sklaven. 2) Eng verknüpft ist damit der Vorwurf der nichtgriechischen, barbarischen Herkunft. 3) Die Ausübungeines Gewerbes bedeutet einen Defekt an Noblesse.

4) Vorwurf eines Diebstahls. 5) Hervorhebung sexueller Vorlieben und Laster. 6) Vorwurf der Gehässigkeit gegenüber Freunden (μισόφιλος). 7) Eng verknüpft hiermit ist der Vorwurf eines mürrischen Wesens(σκυθρωπότης). 8) Eigentümlichkeiten der Kleidung, des Auftretensund des Aussehens. 9) Bezichtigung als Feigling, Schildwegwerfer (ῥίψασπις). 10)Der Gegner hat sein Gut vertan, ist völlig heruntergekommen und von Gläubigern bedrängt.37

Ein Jahr zuvor hatte der Altphilologe und Religionswissenschaftler Otto Weinreich als Anhang zu seiner Heidelberger Dissertationüber Antike Heilungswunder. Untersuchungen zum Wunderglauben der Griechen und Römer (1909) ein Kapitel »Zur Topik der Wundererzählung« verfasst.38 Da Weinreich wiederholt verschiedene Register erstellte – zum Archiv für Religionswissenschaft (1906–1908), dessen (Mit‐)Herausgeber er später wurde (1916 ff.), sowie zu Albrecht Dieterichs (1911) und Hermann Useners Kleinen Schriften (1913)39 – war er für die topologische Forschung gründlich vorbereitet. Tatsächlich verfolgen seine späteren Arbeitenimmer wieder Topoi und Motivkomplexe,40 sodass er,

35 Süss, Ethos,a.a.O., S. 8und 111;vgl. hierzu Curtius, Europäische Literatur,a.a.O., S. 79: Indem die Rhetorik ihren ursprünglichen Sinn verlor, »gewinnen auch die τοποι eine neue Funktion. Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind«.

36 A.a.O., S. 263.

37 A.a.O., S. 247–254.

38 Otto Weinreich, Antike Heilungswunder. Untersuchungen zum Wunderglauben der Griechen und Römer, Gießen 1909 (= Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten;8.1) (Nachdruck:Berlin 1969), S. 195–201;darin hebt er folgende Gesichtspunkte hervor:Die Kunst der Ärzte versagt;Plötzlichkeit des Wunders;Das Paradoxon des Wunders;Der Wunder sind mehr als man erzählen kann.

39 Vgl. das Gesamtverzeichnis der Schriften Otto Weinreichs 1906–1970,in: Otto Weinreich, Ausgewählte Schriften. 1937–1970, hrsg. v. Günther Wille. Amsterdam 1979, Bd. 3, S. 546–576, Nr. 1, 36, 39, 49.

40 Vgl. z. B.: Die Christianisierung einer Tibullstelle (1927), wiederabgedruckt in Otto Weinreich, Ausgewählte Schriften,hrsg. v. Günther Wille. Amsterdam 1973, Bd. 2, S. 211–220; Phoebus, Aurora, Kalender und Uhr. Über eine Doppelfunktion der epischen Zeitbestimmung in der Erzählkunst der Antike und Neuzeit (1937), wiederabgedruckt in: Ausgewählte Schriften,a.a.O., Bd. 3, S. 5–35; Über einige panegyrische Topoi der Schönheits- und Charakterschilderung (1946), wiederabgedruckt a.a.O., S. 223–240.

1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius
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20 1Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius

wie sein Nekrologe Hans Herter schrieb, »wohl ein Anrecht hätte, zu den Bahnbrechern der AllgemeinenLiteraturwissenschaft gerechnet zu werden.«41

Angeregt durchWeinreich analysierteKarlKerényi Diegriechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung (1927).42 In dieser Arbeit untersucht er,wie eineng umgrenzter Topos- undMotivbestand, derkultischenund mythischenUrsprungs ist, denHandlungsverlaufder erotischen Romane desHellenismus strukturiert.InseinemSprachgebrauchorientiertsich KerényiexplizitanNorden undWeinreich.43 Beider Besprechungder Geschichte desApolloniosvon Tyrus findet auch derspätervon Curtiusherausgearbeitete »puer-senex Topos« Erwähnung, derallerdingsnochkeine archetypischeAuslegung erfährt, sonderninden Horizont des»allgemeinverbreitetenund volkstümlichen Motiv[s] vomLehrling, dergescheiterist alsseinMeister«, gestellt wird.44

Schließlich sind noch Karl Trüdingers Studien zur Geschichte der griechischen-römischen Ethnographie (1918)zunennen, eine grundlegende Arbeit zur Topik antiker Ethnografie, auf die schon Mertner aufmerksam gemacht hatte. Anerkennend würdigt Norden die Leistung dieses Autors, der kurz nach der Veröffentlichung seiner Dissertation ums Leben gekommenen war.45 Trüdinger nimmt sich die Forschung von Friedrich Leo zum Vorbild, der das rhetorische Schema der griechisch-römischen Biografik herausgearbeitet hatte.46 Allerdings greift Leo an Stellen, wo er Quintilian zufolgeberechtigt gewesen wäre, von loci bzw. topoi zu sprechen,47 eher auf Begriffe zurück wie »Rubrik« und »Stichwort«.48 In Analogie zur Topik der Biografie entwickelt Trüdinger aus den Schrif-

41 Hans Herter, Otto Weinreich †, in: Gnomon 45 (1973), S. 97–101, hier S. 99.

42 Weinreichs Gesamtverzeichnis,a.a.O., S. 560, Nr. 172, führt ihn sogar als Mitarbeiter an Kerényis Buch auf.

43 Karl Kerényi, Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung, Tübingen 1927 (Nachdruck:Darmstadt 1962), S. 60 und 5. Schon promoviert, hörte Kerényi nach dem ersten Weltkrieg in Berlin u. a. noch bei Eduard Norden:»Ein persönliches Gespräch, damals nicht gesucht, kam erst später, mit Norden, kurz vor seiner Vertreibung aus Berlin, zustande.« (Karl Kerényi, Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Magda Kerényi, Bd. 5.2. Wege und Weggenossen,Bd. 2, München 1988, S. 433).

44 Kerényi, Romanliteratur,a.a.O., S. 38;Curtius, Europäische Literatur,a.a.O., S. 109.

45 Eduard Norden, Die Germanische Urgeschichte in Tacitus Germania, Leipzig, Berlin 1920 (zit. nach der 2. Aufl. 1922, S. 8, Anm. 1und S. 463, Anm. 2)

46 Friedrich Leo, Die griechisch-römische Biographie nach ihrer literarischen Form, Leipzig 1901 (Nachdruck:Hildesheim 1965). Norden hatte schon in der Einleitung,a.a.O., S. 585, die Untersuchung der Gattungsmerkmale der »Perihegese und deren Spezies« gefordert, »wodurch sich eine Grundlage auch für die Geschichte der Ethnographie gewinnen ließe«.

47 Vgl. hierzu Kapitel 4: Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiografie.

48 »Die τόποι«, heißt es ein einziges Mal bei der Darstellung der Grammatiker- und Rednerbiografien Suetons, »die überhaupt behandelt sind, lassen sich […]etwa so auseinander legen:1.Name, Herkunft, Stand;2.Anfänge, Lehrer, Entwicklung;3.natürliche Anlage, moralische Eigenschaften;4.Gönner;5.Schule;6.Erlebnisse außer der Lehrtätigkeit, Le-

TOPIK UND MEMORIA

Topik und Memoria werden in diesem Buch in ihren antiken Grundlagen und ihrer neuzeitlichen Rezeption und Transformation untersucht. Der Autor widmet sich diesen einzuübenden rhetorischen Fertigkeiten anhand von Platon und Kleist, Simonides von Keos und Pausanias, Lichtenberg und Forster, Schliemann, Freud und Ernst Robert Curtius. In unterschiedlicher Akzentuierung erörtert er den komplexen Zusammenhang von Topik und Memoria, von Argumentation und Fantasie, Erinnerung und Affekt. Eine interdisziplinäre Topos-Forschung, die sich ihrer Herkunft und Geschichte, wie sie hier entfaltet wird, bewusst ist, dürfte sich als ein methodisches Paradigma einer anthropologischen Literatur- und Kulturwissenschaft empfehlen.

STEFAN GOLDMANN ist außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Potsdam. Letzte Buchveröffentlichungen : Berühmte Fälle aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Eine Anthologie ( 2015 ) ; « Alles Wissen ist Stückwerk ». Studien zu Sigmund Freuds Krankengeschichten und zur Traum deutung (2019 ).

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