JB-Gespräche 40: Wolfgang Ernst. Vom Recht in der Weltgeschichte

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Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen

Band 40


Wolfgang Ernst

Vom Recht in der Weltgeschichte

Schwabe Verlag


Die Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen wurden im Rahmen der Römer-Stiftung Dr. René Clavel begründet von Dr. iur. Dr. phil. h. c. Jacob Frey-Clavel.

Direktorium: Prof. Dr. Gottfried Boehm · Prof. Dr. Gunnar Hindrichs · Prof. Dr. Kurt Seelmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Direktorium der Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen, Universität Basel, und Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Direktoriums der Jakob Burckhardt-Gespräche und des Verlags in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: icona basel gmbh, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design Satz: textformart, Göttingen Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4958-8 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4965-6 DOI 10.24894/978-3-7965-4965-6 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


Inhalt I

Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Drei Vignetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Caesar überschreitet den Rubikon . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Heinrich VIII. bricht mit Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3. Lincoln erlässt seine Emancipation Proclamation .. . 15

III Recht in der Geschichte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 IV Ohne geschichtliche Jurisprudenz geht es nicht . . . . . . . 25 V

Teilnehmende Juristen und beobachtende Rechtshistoriker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

VI Historisches Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 VII Geschichte im Recht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

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I Fragestellung Welche Rolle spielt das juristische Argument im Geschichts­ verlauf? Was ist das Verhältnis zwischen allgemeiner Geschichte und Rechtsgeschichte? Zur Veranschaulichung sei mit drei Vi­ gnetten begonnen, die Ereignisse der sogenannten Weltgeschichte betreffen: Caesar überquert den Rubikon, Heinrich VIII. bricht mit Rom, Lincoln erlässt seine Emancipation Proclamation. Von diesen Ereignissen erfährt man in jedem Geschichtsbuch für die Mittelschule. Ich betrachte sie mit der spezifischen Fragestellung, wie viel Rechtliches in diesen weltgeschichtlichen Ereignissen steckt, wie viel man von der zeitgenössischen Rechtsumgebung verstehen sollte, um den historischen Vorgängen gerecht zu werden. Die Beispiele sollen zu der Frage hinführen, was man wissen muss von der Immunität der Magistrate der römischen Republik, vom kanonischen Recht der beginnenden Neuzeit und von der U. S.-Verfassung im 19. Jahrhundert, um die rechtliche Dimension dieser Konflikte zu verstehen. Die folgenden Nacherzählungen sind bewusst eng geführt, auf die rechtliche Seite von Vorgängen beschränkt, in deren vergangener Realität sich politische, militärische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Aspekte mit dem juristischen Element verwoben finden.

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II Drei Vignetten 1. Caesar überschreitet den Rubikon Die Instrumentalisierung von Strafverfolgung für Zwecke politischer Auseinandersetzung war schon in der Antike nichts Ungewöhnliches. Insbesondere in den immer schärfer werdenden Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte der römischen Republik kam dieses Instrument vermehrt zum Einsatz. Es konnte daher ein grosser Vorteil sein, dass man als römischer Magistrat Immunität genoss. Die römischen Magistrate waren auch während ihrer Amtszeit dem Strafrecht unterworfen. Sie konnten aber während ihrer Amtsdauer nicht strafrechtlich verfolgt werden, da die Strafverfolgung eine Sache der Magistratur war. Bei den republikanischen Ämtern, die auf Zeit verliehen waren, konnten Strafprozess und Strafverurteilung erst stattfinden, nachdem die Amtszeit ausgelaufen war. Strafklagen ruhten bis zur Beendigung der Amtszeit; danach war der Angeschuldigte gezwungen, dem Ladungsbefehl zu folgen. Der Amtsantritt wurde durch den Tag bestimmt, an dem das Amt des Vorgängers endete. Bis zu diesem Zeitpunkt war auch der bereits gewählte Nachfolger, der designatus, noch der Strafverfolgung ausgesetzt. Gehen wir zurück ins Jahr 50 v. Chr.1 Caesar hatte Kriminalklagen seiner Gegner zu befürchten, war aber für die Dauer 1

Die Schilderung im Text ist keineswegs unangefochten; zu Einzel­ heiten s. Lorenzo Gagliardi, Cesare, Pompeo e la lotta per le magistrature. Anni 52–50 a. C., Mailand 2011; ders., L’approbation de la lex Pompeia de iure magistratuum en 52 av. J. C., Rev. Hist. Droit 89 (2011), 473–490; ders., Cesare e le guerre civili, Mailand 2019; G. R. Stanton, Why did Caesar cross the Rubicon?, Historische Zeitschrift für Alte Geschichte 52 (2003), 67–94, jeweils mit Nachweisen älterer Werke.

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seines Prokonsulats, seiner Statthalterschaft in Gallien, noch vor der Strafverfolgung geschützt. Dieses Kommando war bis zum letzten Tag des Februars 49 v. Chr. befristet. Für die Zeit danach hatte er erneut das Konsulat in Aussicht genommen, das ihm wiederum Immunität verliehen hätte. Weil das Konsulat nur zu bestimmten Terminen angetreten werden konnte, tat sich eine riskante Immunitätslücke auf. Caesar kam immerhin zugute, dass sein Amt in Gallien fortdauerte, bis sein Nachfolger, der in Rom zu wählen war, eintraf. Er musste also nur die Wahl eines Nachfolgers so lange hinauszögern, bis er selbst in das Konsulat eingerückt war. Bei all dem spielten komplizierte rechtliche Regeln zu Ämtern und Wahlen eine entscheidende Rolle. Für Caesar war zunächst wichtig, dass er von Gallien aus kandidieren konnte. Eine Gesetzesänderung im Jahre 52 v. Chr. hatte neu vorgeschrieben, alle Kandidaturen für das Konsulat seien persönlich in Rom anzumelden. Durch eine Volksabstimmung hatte sich Caesar allerdings vorsorglich von diesem Erfordernis ausnehmen lassen. Diese Ausnahme war jedoch in dem von seinen Gegnern durchgebrachten Gesetz nicht mehr enthalten und damit wohl hinfällig. Auf Caesars Beschwerde hin wurde sein Sonderrecht noch nachgetragen, aber ohne dass dies erneut vors Volk kam. Seitdem war seine Berechtigung, die Kandidatur von Gallien aus zu erklären, nicht mehr rechtlich zweifelsfrei. Nach altem Herkommen durfte auf das Prokonsulat nur derjenige Anspruch erheben, der unmittelbar zuvor sein Konsulat oder seine Prätur beendet hatte. Caesar hatte mit Pompeius verabredet, die Wahl des ihn ablösenden Prokonsuls über den 1. März 49 v. Chr. hinaus aufzuschieben. Dadurch ging das traditionelle Anrecht auf das Prokonsulat von den Konsuln des Jahres 50 v. Chr. auf diejenigen des Folgejahres 49 v. Chr. über, die noch nicht feststanden und erst für die Zeit nach Ablauf ihres städtischen Amtes, also ab Anfang 48 v. Chr., zu Prokon10


suln gewählt werden konnten. Caesar konnte sich ausrechnen, bis Ende 49 v. Chr. kommandierend in Gallien zu bleiben und ohne Immunitätslücke in das Konsulat für das Jahr 48 v. Chr. überzutreten. Seine Gegner sorgten indes für eine weitere Gesetzesänderung und liessen nun auch solche Ex-Konsuln zur Wahl zum Prokonsul zu, deren Amtszeit schon Jahre zurücklag. Ohne an dem versprochenen Wahltermin etwas zu ändern, wurde es so möglich, noch im Frühjahr 49 v. Chr. einen Prokonsul nach Gallien zu entsenden und Caesar abzulösen, dem damit die Lähmung durch Strafprozesse drohte. Als Caesar erkannte, dass man in Rom das Kartenhaus der Immunitätspläne zum Einsturz gebracht hatte, entschloss er sich, mit seinen Truppen in das eigentliche römische Staatsgebiet einzumarschieren. Er überquerte mit seinen Truppen den Rubikon, der die Provinz Gallia Cisalpina, wo ihm das Imperium zustand, von Italien abgrenzte. Dies war seinerseits ein Rechtsbruch – und zugleich die Eröffnung des Bürgerkrieges. Das Endspiel der römischen Republik war eröffnet. 2. Heinrich VIII. bricht mit Rom Im Jahre 1527 begann Heinrich VIII., die rechtliche Trennung von Katharina von Aragón zu betreiben. Eine Ehescheidung im modernen Sinne gab es nicht, sodass es um die Feststellung ging, dass die 1509 geschlossene Ehe von Anfang an, ab initio, ungültig gewesen war.2 Mit einer solchen Feststellung würde er, als noch Unverheirateter, frei, die Ehe mit einer anderen einzugehen. Heinrich wollte die Hofdame Anna Boleyn heiraten, mit der er bereits eine Beziehung unterhielt.

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Hermann Lange, Recht und Macht, Politische Streitigkeiten im Mittelalter, Frankfurt / M. 2010, 193 ff., mit Nachweisen älterer Werke.

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Das Ehehindernis, auf das sich Heinrich VIII. stützte, war das der Schwägerschaft in der Seitenlinie. Acht Jahre vor der Eheschliessung mit Heinrich VIII. war die damals 15-jährige Katharina von Aragón entsprechend einer von den Herrscherhäusern Spaniens und Englands seit Langem getroffenen Vereinbarung mit Heinrichs älterem Bruder, Prinz Arthur, verheiratet worden. Dieser war kränklich und starb viereinhalb Monate nach der Heirat. In der Zeit zwischen seinem Tod und der Eheschliessung von Heinrich und Katharina starb der englische König Heinrich VII., sodass sein jüngerer Sohn als soeben gekrönter König in den Stand der Ehe trat. Damit entsprach er einem Arrangement seines Vaters, dem er sich zuvor noch kurz widersetzt hatte. Von Anfang an hatte man die rechtliche Schwierigkeit der Eheschliessung mit der Witwe des Bruders im Auge gehabt. Als man im Anschluss an den Tod des Prinzen Arthur die Verheiratung Heinrichs und Katharinas arrangierte, ersuchte man vorsorglich Papst Julius II. um einen Dispens vom Ehehindernis der Schwägerschaft. Dieser wurde unter dem Datum vom 26. Dezember 1503 erteilt. Damit war die spätere Streitfrage angelegt, ob das Ehehindernis der Schwägerschaft durch päpstlichen Dispens überwunden werden kann oder ob es absoluter Natur ist. Eine andere juristische Überlegung ging dahin, dass die Ehe zwischen Katharina und dem kränklichen Prinzen Arthur in der kurzen Ehezeit womöglich niemals vollzogen worden war. Damit hätte das Ehehindernis der Schwägerschaft in der Seitenlinie von vornherein nicht bestanden. Der erteilte Dispens wäre dann nicht erforderlich gewesen. Auf die Ungültigkeit der Ehe konnte man sich nicht einfach berufen, diese musste vielmehr gerichtlich festgestellt sein. Heinrich VIII. hatte also den Rechtsweg zu beschreiten. Das gesamte Eherecht war kirchliches Recht und die Feststellung der Ehenichtigkeit konnte nur durch ein kirchliches Gericht erfolgen. Das Bemühen um die Bildung eines Gerichts von englischer und 12


überwiegend königstreuer Geistlichkeit blieb erfolglos. Der Papst beendete das Ringen um die Gerichtsbildung, indem er 1528 ein gemischtes Gericht bestimmte, das aus einem päpstlichen Legaten und dem englischen Kardinal Wolsey gebildet wurde. Es sollte in London sitzen und wurde nach einiger Verzögerung eingerichtet, doch bereits nach einem weiteren Monat übte Julius II. den päpstlichen Jurisdiktionsprimat aus und zog den Prozess nach Rom. Diesem Schritt hatte sich Heinrich VIII. unter Berufung auf die englische Souveränität («take back control») vehement widersetzt. Schon früher hatten die Parteien begonnen, Gutachtenaufträge an Fakultäten und einzelne Professoren, sowohl Juristen als auch Theologen, zu vergeben, von denen sie sich eine Unterstützung ihrer Standpunkte versprachen. Es seien beispielhaft nur zwei der grossen Namen genannt, die sich involvieren liessen: Philipp Decius (1454–1535/6) und Franciscus de Vitoria (1483–1546). Der Vatikan bestand konsequent darauf, dass dergleichen Parteigutachten, von wem auch immer sie kamen, für ihn unverbindlich sein mussten. Die Rechtsfrage wurde jedenfalls europaweit diskutiert. Erasmus warf sie in einem Brief an Amerbach auf (16.1.1530), warb einfühlsam im Interesse auch der tranquilitas publica um Verständnis für Heinrichs Position und fragte Amerbach nach seiner Rechtsansicht.3 In seiner Antwort setzte Amerbach sich mit allen Argumenten kritisch auseinander, um die Unverbrüchlichkeit der christlichen Ehe zu bekräftigen.4 Während sich der Prozess in Rom hinzog, weil zunächst einmal um die korrekte Vertretung der Prozessparteien gestritten wurde, liess sich Heinrich VIII. zum Oberhaupt der angelsächsischen Kirche erklären. Durch Parlamentsbeschluss wurde ihm das kanonische Recht unterstellt. Dies war dasjenige Ereig3 4

Alfred Hartmann, Die Amerbachkorrespondenz, Bd. III – Die Briefe aus den Jahren 1525–1530, Basel 1947, Brief Nr. 1407, S. 483 f. Brief Nr. 1409 vom 2.2.1530, ebenda S. 485 ff.

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nis, das Thomas Morus veranlasste, von seinem Amt als Lordkanzler zurückzutreten. Für die Sache wurde nun ein Gericht in der englischen Provinz gebildet, dem der dem König absolut ergebene Thomas Cranmer vorsass. Ungeachtet dessen, was wir als Einrede anderweitiger Rechtshängigkeit bezeichnen, und ungeachtet auch des Fernbleibens von Katharina, die das Gericht als unzuständig zurückwies, wurde die Ehe 1533 für ungültig erklärt. Heinrich VIII. hatte Anna Boleyn bereits vier Monate zuvor heimlich geheiratet und liess diese kurz nach dem Urteil zur Königin krönen. Sechs Wochen nach dem englischen Urteil erklärte der Papst zunächst den Eheschluss mit Anna Boleyn für unwirksam, weil Heinrich VIII. damit einer früheren, prozesssichernden Verfügung des Papstes zuwidergehandelt hatte, während des laufenden Verfahrens nicht zu heiraten. Im Anschluss entschied er das Verfahren zugunsten von Katharina, doch wurde sein Urteil in England nicht mehr anerkannt. Eine Berufung gegen das in England ergangene Urteil, wie sie traditionell durch Weiterzug an den Papst möglich gewesen wäre, hatte man in England gesetzlich verbieten lassen. Bekanntlich brachten die soeben geschilderten Vorgänge zugleich die Abspaltung der anglikanischen von der römischen Kirche und den Beginn der Reformation in ihrer anglikanischen Prägung. Die zentrale Rechtsfrage, um die herum sich weitere Fragen tatsächlicher und verfahrensrechtlicher Art rankten, war die der Disponibilität des Ehehindernisses der Schwägerschaft in der Seitenlinie. Für das kanonische Recht waren biblische Rechtsaussagen verbindlich. Verschiedene alttestamentarische Texte sprechen sich gegen eine Verbindung mit dem Weib des Bruders aus. Die Hauptstelle findet sich in Leviticus, weshalb vom Verbot der Leviratsehen gesprochen wird. Es besteht ein Spannungsverhältnis zum mosaischen Gebot, die kinderlose Witwe des Bruders zu heiraten. Von grosser Bedeutung war eine Bestimmung im Decretum Gratians, dass Rechtaussagen des Alten und des Neuen 14


Testaments nicht zur Disposition des Papstes stehen.5 Die frühere päpstliche Rechtssetzung hatte die absolute Natur des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft bekräftigt.6 Nahm man hierzu die Aussage des Decretum Gratiani, dass Schwägerschaft und Verwandtschaft eine Verbundenheit gleicher Art bedeuten, konnte man dazu kommen, den Dispens von Papst Julius II. für rechtlich wirkungslos und Heinrichs VIII. Ehe mit Katharina für ungültig zu halten. Die päpstliche Dispenspraxis hatte sich freilich nicht auf dieser Linie bewegt. Vielmehr hatte der von Julius II. erteilte Dispens Vorbilder in Dispensen, welche die Päpste Martin V. und Alexander VI. in vergleichbaren Fällen erteilt hatten. 3. Lincoln erlässt seine Emancipation Proclamation Abraham Lincoln lehnte die Sklaverei ab: «If slavery is not wrong, nothing is wrong.» In seinem Wahlkampf 1860 hatte er freilich deutlich gemacht, dass ihm das angestrebte Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten keine Handhabe geben würde, die Sklaverei zu beenden. Nach der Verfassung der Vereinigten Staaten lag die Zuständigkeit für die Frage, ob Sklaverei als Rechtsinstitut anerkannt war oder nicht, bei den einzelnen Bundesstaaten. Dementsprechend standen sich «Free States» und «Slave States» gegenüber. Seit Jahrzehnten gab es ein Tauziehen darum, die zu neuen Staaten aufgewerteten Territorien im Bereich der Expansion nach Westen in das eine oder andere Lager zu ziehen. Die «Slave States» sahen das Gleichgewicht der beiden Lager gefährdet und fürchteten, dass eine Wahl Lincolns das Ende ihres Widerstandes heraufbeschwören würde. Kampfhandlungen begannen etwa fünf Wochen nach Lincolns Amtsantritt. Lincoln setzte sich der Sezessionsbewegung 5 6

Decretum Gratiani C. 25 q. 1 c. 6. X 2.13.13.

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mit militärischen Mitteln entgegen. Der unmittelbar auslösende casus war nicht die Sklavereifrage, sondern das von Lincoln bestrittene Recht der Sezessionsstaaten, einseitig aus der Union auszutreten. Die Frontlinie verlief nicht zwischen «Nord» und «Süd», wie man gemeinhin sagt, sondern zwischen den Staaten, die austreten wollten, auf der einen Seite und der Union auf der anderen. Für die Sezessionsstaaten ging es um die (Wieder-)Herstellung einer von der Unionszugehörigkeit uneingeschränkten Souveränität, die es ihnen zugleich ermöglichen würde, weiterhin an der Institution der Sklaverei festzuhalten. Die Staaten, die sich das Recht zum Austritt zuschrieben und es ausübten, gründeten einen eigenen Staatenbund, die Confederation, doch bestritt Lincoln hiergegen bereits die Eigenstaatlichkeit der in Sezession begriffenen Bundesstaaten. Die Emancipation Proclamation erging nach rund eineinhalb Jahren militärischer Auseinandersetzung.7 Es handelte sich zunächst, im September 1862, um eine Ankündigung der Sklavenfreilassung verbunden mit einer Frist für die Sezessionsstaaten, zur regulären Mitgliedschaft in der Union zurückzukehren. Wären die Sezessionsstaaten dieser Aufforderung nachgekommen, hätte sich an der rechtlichen Situation der Sklaven nichts geändert. Als die Frist erfolglos verstrichen war, erging am 1. Januar 1863 die Emancipation Proclamation als präsidiale Executive Order, ohne jede Beteiligung der Legislative. Auf erste Sicht überrascht die Massnahme, hatte doch Lincoln der Union und seinem Amt die verfassungsrechtliche Befugnis abgesprochen, in die Sklavereifrage einzugreifen. In den vorausgegangenen Monaten war eine andere Rechtsgrundlage geprüft worden, auf die man sich nach einigem Zögern gestützt hatte. Das Kriegsvölkerrecht erlaubt – damals wie heute – die 7

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Burrus M. Carnahan, Act of Justice. Lincoln’s Emancipation Proclamation and the Law of War, Lexington 2007.


Beschlagnahme von Eigentum der Staatsangehörigen des Kriegsgegners. So hatten es römische Juristen befunden, in deren Sicht das, was Eigentum des Kriegsgegners war, einfach als res nullius, als herrenlos, erschien, und damit der Aneignung offenstand. Diese Rechtsregel war von den Gelehrten der Frühen Neuzeit, die aus dem römischen Recht ein geschlossenes Völkerrecht entwickelten, Alberico Gentili, Hugo Grotius und Emer de Vattel, übernommen worden. Auch Gerichte in den U.S.A. hatten diesen Rechtssatz als geltendes Recht bestätigt.8 Hierauf baute das zentrale juristische Argument auf: Der Präsident der Union ist als Oberkommandierender nach Kriegsrecht befugt, sich Privateigentum von Bürgern des Kriegsgegners anzueignen, daher kann er auch – als wesensähnliche Massnahme – dieses Eigentum beenden, ohne es auf sich überzuführen, sprich die Sklaven in die Freiheit entlassen. Nur am Rande sei bemerkt, dass emancipare ein technischer Rechtsausdruck ist, der eine Handlung beschreibt, durch die der Gewalthaber jemanden in die Freiheit entlässt, ihm den Status einer freien Person verschafft. Die Emancipation Proclamation beendete nicht unionsweit das Rechts­ institut der Sklaverei, sie war keine abolition, aber sie machte alle Sklaven, deren Eigentümer Bürger von Sezessionsstaaten waren, zu freien Menschen. Als Rechtsakt setzte die Emancipation Proclamation geradezu voraus, dass an Sklaven ein anerkanntes Eigentum bestand. Die Emancipation Proclamation ist in erster Linie nicht ein Dokument des Humanismus, sondern des Legalismus, wie eine genaue Lektüre ohne Weiteres zeigt. Die Emancipation Proclamation war eine Massnahme von zweifelhafter Rechtmässigkeit. Dies war niemandem deutlicher bewusst als Lincoln, der ein «great legal mind» war. Die Mass­ nahme griff nur gegenüber den Sezessionsstaaten, nicht aber gegenüber den vier «Slave States», die in der Union verblieben 8

Brown v. United States, 12 U. S. 8 Cranch 110 (1814).

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waren, Delaware, Kentucky, Maryland und Missouri: Hier konnte die Emancipation Proclamation, so wie sie rechtlich begründet war, am Status der Sklaven nichts ändern. Die Effektivität der Massnahme beschränkte sich sodann auf diejenigen Gebiete der Sezessionsstaaten, die unter die Kontrolle der Armee der Union gebracht worden waren. Zwei weitere Argumente liessen sich grundsätzlich gegen die Rechtmässigkeit der Emancipation Proclamation vorbringen. Zum einen erlaubte das Kriegsvölkerrecht die Konfiskation gegnerischen Privateigentums nur unter der Voraussetzung der necessitas, der Notwendigkeit. Man denke an Nahrungsmittel und Heu, das zur Ernährung von Soldaten und Pferden notwendig ist, die sich im Feindesland befinden. Inwieweit war aber die Freilassung der Sklaven für die Aufrechterhaltung der Unionsarmee notwendig? Zum anderen litt das Ganze an einem Grundwiderspruch: Aus der Sicht Lincolns befand man sich gar nicht in einem Krieg. Er sprach den Bundesstaaten, die ihre Sezession erklärt hatten, ab, dass sie die Union rechtswirksam verlassen hätten. Die von ihm bekämpfte Gegnerschaft sah er nicht als einen anderen Staat (oder als den Staatenbund der Confederation), sondern als Rebellen, wir würden heute sagen: Terroristen. Ihnen kam keine Staatsqualität zu. Die Gegenseite war bei dieser Sichtweise nicht nach Kriegsrecht zu behandeln, sondern nach dem geltenden Strafrecht, was zur Einstufung als Hochverrat führen musste. Damit fehlte eigentlich die Grundvoraussetzung einer Anwendung des «Law inter Nations» und des Enteignungsrechts des Befehlshabers. Im römischen Recht, auf das das Völkerrecht hier aufbaut, war die Unanwendbarkeit des Enteignungsrechts im Bürgerkrieg sogar ausdrücklich ausgesprochen: Der Bürgerkriegsgegner war ja auch römischer Bürger, seine Sache keine res nullius.9

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D. 49,15,21,1 Ulpian.


Die wechselseitigen Sichtweisen waren hier asymmetrisch: Die Sezessionsstaaten sahen sich als souveräne, in einem neuen Staatenbund zusammengekommene Staaten. Folglich war der Konflikt aus ihrer Sicht sehr wohl ein Krieg. Die Notwendigkeiten des Konflikts hatten aber bereits zu pragmatischen Zugeständnissen geführt, die auf eine de facto-Anerkennung wesentlicher Teile des Kriegsvölkerrechts hinausliefen, etwa betreffend die Behandlung von Kriegsgefangenen. Die juristischen Bedenken schienen Lincoln so schwerwiegend, dass er befürchtete, nach Ende der militärischen Auseinandersetzung könnte die Emancipation Proclamation gerichtlich angefochten werden. Eine sichere Grundlage für die Zukunft war nur durch eine Verfassungsänderung zu erreichen. Lincoln setzte das 13th Amendment durch: «Neither slavery nor involuntary servitude […] shall exist within the United States.» Dies ging den gegenläufigen Regelungen im Recht aller «Slave states» vor. Damit war die Sklaverei als Rechtsinstitut aufgehoben: abolition. Das 13th Amendment hat nicht einfach die Emancipation Pro­clamation in Verfassungsrecht umgesetzt. Vielmehr handelt es sich rechtlich gesehen um etwas ganz anderes, mag auch die voran­gegangene Emancipation Proclamation die Sklaverei in einer Weise unterminiert haben, die die Annahme des 13th Amendment erst ermöglicht hat.

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