WdA1: Jana Kittelmann. Empfindsame Vernunft

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Wege der Aufklärung

Herausgegeben von Elisabeth Décultot und Daniel Weidner

Band 1

Empfindsame Vernunft

Johann Georg Sulzers Kulturen des Briefes

Schwabe Verlag

Die Schrift wurde vom Fachbereich Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2023 als Habilitationsschrift angenommen.

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Satz: Jana Kittelmann, Christoph Wernhard (Berlin)

Druck: Hubert & Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4934-2

ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4935-9

DOI 10.24894/978-3-7965-4935-9

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Gedruckt mit Unterstützung der Alexander-von-Humboldt-Professur für neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
Inhalt 1ZurEinführung ..............................9 1.1BriefschicksalezwischenVerlustundÜberdauern...........9 1.2Briefeuphorie...............................26 1.3EpistolographischerEnzyklopädismusjenseitsdesKanons......31 1.4Exkurs:WasisteinBrief?OntologischeBefunde............36 1.5Asymmetrien.ZuForschungsstandundÜberlieferungssituation...46 1.6ÜberdiesesBuch.Zugänge,AnsätzeundMethodisches........54 1.7EditorischeNotiz.............................61 2SulzersBrieflaboratorien .......................63 2.1AuftaktmitFossilundPflanze......................63 2.2EpistolareVitrinen.VisualitätundObjekthaftigkeit..........79 2.3 FrüheErkenntnisräumeundGaben.SulzersBriefwechselmitHans CasparHirzel...............................84 2.4FragenalsErkenntnisgewinnung.BriefeanJohannHeinrichHegner.101 2.5Private‹Behältnisse›desWissens....................111 2.6 ExperimentierfelderBotanik,Entomologieund«Electrizität».SulzerimBriefgesprächmitJohannAmbrosiusBeurer..........115 2.7‹InAussichtstellen›vonErkenntnisalsMotivundVerfahren.....132 2.8Kontinuitäten:Vermessen,Begutachten,Institutionalisieren.....138 3GeselligkeitundHerzenssprache ..................151 3.1EmpfindsamePeer-Group........................151 3.2GeselligerProfitundGenerierungvonFreundschaft..........164

3.3 «Waßertrinker»trifftAnakreon.SulzerundGleimzwischenScherz undWeltweisheit.............................173

3.4WettenumOdenoderKritikalsFreundschaftsbeweis.........197

3.5Exkurs: CritischeBriefe alspublizistischesModell...........205

3.6AbschriftenundInterepistolaritätalsGeselligkeitsform........212

3.7«UnsergemeinschaftlicherSulzer».EpistolareundlyrischeIdentitäten221

3.8GartenundKabinett.TopographiendesBriefes............233

3.8.1DialogischeWegeführung....................240

3.8.2GeselligeundidyllisierendePraktikenimBrief.........246

3.8.3Entgrenzung,BrisanzundIntimität...............257

3.8.4Spuren/Fährten.GartenundBriefalsRäumedesErinnerns..269

3.9 BriefliebeoderSemantikenderZuneigunginderKorrespondenz mitWilhelmineKeusenhoff.......................278

3.9.1Suggestion,VerdichtungundStabilisierung...........302

3.9.2

6Inhalt
BrieflicheFürsorge.WilhelminesTodalsepistolographischesundliterarischesEreignis.................314 4Briefdialoge.Werkdialoge .......................319 4.1KritischeFelder.LiteraturkritischePraktikenundSchreibformen...319 4.1.1«KlozundseineRotte».VerbaleFormenderAbgrenzung...339 4.1.2GesprächeundBesprechungen.................346 4.1.3 Briefealsvorpublizistische‹Räume›undbeweglicheTextzeugnissevordemWerkstatus..................357 4.2TransformierteGespräche.SulzerundLavaterim(Werk)Dialog...368 4.3EpistolographieundGenerationalität..................383 4.4 «RasereyderSentimentalAutoren».WerkkonfliktealsGenerationenkonflikte...............................402 4.5 DichterinnenwerdungimBrief.AnnaLouisaKarschalsepistolares Phänomen................................413 5PapierneKomplizen.BriefeimKrieg ................441 5.1HeldenverehrungimBrief........................441 5.2 EpistolareAufrüstung.BriefealsKriegsbegleiterundNachrichtenarsenal..................................468
Inhalt 7 5.3Zorndorf:MonstrositätundSakralisierungdesKrieges........481 5.4NationaleStereotypeundFeindbilder..................491 6BündnissedesÜberdauerns.BriefundNachwelt .........501 6.1 Brieflich(e)Leiden.KörperundKrankheitinderKorrespondenz mitJohannGeorgZimmermann....................501 6.1.1BrieflektürealsKörperlektüre..................510 6.1.2«Sterbepost»oderTodimBrief.................515 6.2Vor-undNachlassarbeit.........................521 6.3 RisikendesÜberdauernsoderEditionsgeschichtealsRezeptionsgeschichte.................................534 6.4EpistolareErbschaft.Nachlebenim/alsBrief..............541 7EpilogoderwarumBriefe .......................549 Literaturverzeichnis .............................551 HandschriftlicheQuellen............................551 Primärliteratur.................................557 Forschungsliteratur...............................564 DigitaleEditionenundPortale.........................590 Bildnachweis .................................591 Siglen ......................................593 Personenregister ...............................595 Sachregister .................................605 Dank ......................................611

1.1 BriefschicksalezwischenVerlustundÜberdauern

Am15.JulidesJahres1746warJohannGeorgSulzeruntröstlich.AndenäußerenUmständendürfteesnichtgelegenhaben.DasWetterwarvermutlichschön undsommerlichwarm.1 SulzerhattegeradeeineReiseindenHarzabsolviert. ObgleichdiegeplanteBesteigungdes«Bloksbergs»(Brocken)inklusivebarometrischerundmeteorologischerMessungenundAufzeichnungenausfallenmusste, kehrteerdochmitillustrenEindrückenundErlebnissensowiezahlreichengesammeltennaturkundlichenObjekten,MineralienundPflanzenimGepäcknach Magdeburgzurück.2 Fürden1720inWinterthurgeborenenSchweizer,derseit Ende1743alsHauslehrerimDienstdesliterarischinteressiertenundbestensvernetztenMagdeburgerKaufmannsHeinrichWilhelmBachmannstand,stelltedie ReiseeinewillkommeneAblenkungdar.ObgleicherausseineralpinenHeimat ganzandereBergweltenundHöhengewohntwar,konntederjungeSulzerdem «rauenHarz-Wald»3 einigesabgewinnen.

UnddennochwarSulzerandiesemFreitagimJulibetrübt.DerVerlustvonetwasKostbaremverstimmteihn.Etwas,daserineinem«Garten»«empfangen»und dortauch«verlohren»hatte.4 BeidemOrtdesunglücklichenGeschehenshandelte essichvermutlichumdenGartenBachmanns,dendiesererstkurzzuvorerworbenhatteunddersichbeidenZeitgenossinnenundZeitgenossenSulzersgroßer Beliebtheiterfreute.AlskollektiverOrtderFreundschaftundGeselligkeitfanddas aufeinerHalbinselinderElbegelegeneArealsogarEingangindieempfindsame Topographiedes18.Jahrhunderts.DerGartenerlangteliterarischeundepistolographischeBerühmtheit.KlopstockarbeitetehierimJuli1750anseinem Messias und gabTeiledarausineinerdieZuhörerundinsbesonderedieZuhörerinnenverzau-

1 SulzerberichteteimBriefanJohannWilhelmLudwigGleimvom15.Juli1746voneiner«anhaltendenHize».(GhH,Hs.A4077).

2 SulzerverschriftlichteseineReiseerlebnisseauchgleichimAnschlussandieUnternehmung.Vgl. JohannGeorgSulzer:EinigeBeobachtungen,welcheichaufeinerReisevonMagdeburgnachdemOberharz gemacht.1746,UBBasel,LIa724:Bl.262-267.DasManuskriptistjedocherstposthumvonSulzers Akademie-KollegenJohannIII.Bernoulli,indessenNachlasssichdieHandschriftauchheutenoch befindet,veröffentlichtworden.

3 SulzerbeschriebdasMittelgebirgesoineinemBriefandenNürnbergerBotanikerJohannAmbrosiusBeurervom25.Februar1744.(UBErlangen,H62/TREWBRSULZER).

4 SulzeranJohannWilhelmLudwigGleim,15.Juli1746,GhH,Hs.A4077.

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berndenLesungzumBesten,dieals«CongreßvonFreunden»5 indieLiteratur-und Briefgeschichteeinging.KlopstockselbstbeschriebdieSzenerieimRückgriffauf idyllischeTopoiinseinenBriefenalsbukolisch-empfindsamesAmbienteund«die schwimmendenAugen»seinerZuhörerinnenerinnertenihngarandie«Elysäer felder».6 DochindiesemElysium,indiesem«bezaubertenGarten»wurdennicht nurFreundschaftengeschlossen,Zärtlichkeitenausgetauscht,literarischeWerke (vor)gelesenundgeschaffen,sondernesverschwandendortoffenbarauchDinge, gingenunwiederbringlichverloren.

DerMaterialwertdesVerlorenendürftedabeiehernebensächlichgewesen sein:einpaarBlattPapierbeschriebenmitTinte,sowiesietäglichundhundertfach indieserZeitverfasst,versiegelt,versandt,geöffnetundgelesenwurden.Dieideelle, kulturelleundsozialeBedeutungdes Briefes,denneinsolcherwares,denSulzer schmerzlichvermisste,ließsichhingegennichtbeschreibenundauchnichtersetzen. BeidemVerfasser,demSulzerbalddaraufdenVerlustmitteilenmusste,handelte essichumJohannWilhelmLudwigGleim,langjährigerFreundundWegbegleiter, vondemsichSulzernacheinemeuphorischenundenthusiastischenAuftaktüber dieJahrezwarzunehmendentfernte,dessenzunächstausPotsdamundBerlinund dannmeistausHalberstadtdatiertenundgesandtenBriefeihmaberzeitlebens teuerwaren.AlspersönlichesZeugnis,alskörperlichesZeichen,alserbauliche Geste,alsmitneuenNachrichtenangefüllterInformationsspeicher,alsMedium sowohldersymbolischenDistanzregulierungalsauchderFreundschaftsbekundung,7 konnteundwollteSulzer,derim‹JahrhundertdesBriefes›lebte,aufden epistolarenAustauschnichtverzichten.ObgleichsichSulzerbeiderSuche«alle MühevonderWelt»gab,bliebderBriefverloren,tauchteniewiederauf.Übersein SchicksalkonntenSulzerundihmnachfolgendeGenerationenanEditorinnenund Editoren,dieSulzersBriefwechsellangeZeitohnehinkaumBeachtungschenkten, nichtsmehrinErfahrungbringen.ImmerhinwirktedastraumatisierendeErlebnis nachhaltigaufdieAufbewahrungs-undSammlungspraxisSulzerseinunddieser gelobte,dasserdieBriefeGleims«fortanbeßeraufhebe[n]»würde.DiesesVorhabenerwiessichfreilichschwierigeralsgedacht.LediglichsechsBriefeGleimsan SulzerhabenesindieNachweltundinsArchivgeschafft.Dochdazuspätermehr.

VonNaturausmobilwarenundsindBriefeinebenjenerihnenzuhöchsteigenenBeweglichkeit,LeichtigkeitundfragilenZartheitgenuinprekärundstetsvom Verlustbedroht.ZwarwaraufdiePost-undTransportwegedes18.Jahrhunderts

5 JohannWilhelmLudwigGleimanEwaldChristianvonKleist,17.Juni1750.In:AugustSauer (Hg.): BriefeanKleist.Bd.3(EwaldvonKleist’sWerke).Berlin,Hempel,1880,S.233.

6 FriedrichGottliebKlopstock: Briefe:1738–1750.Hg.vonHorstGronemeyer.Berlin,Boston,De Gruyter,1979,S.104.

7 SiehedazuRobertVellusig: ImaginationundInszenierung.SymbolischeDistanzregulierunginder Briefkulturdes18.Jahrhunderts.In: BriefeundTagebücherzwischenTextundQuelle:Geschichts-und LiteraturwissenschaftimGesprächII.Hg.vonVolkerDepkat,WolframPyta.Göttingen,Duncker& Humblot,2021,S.145–182.

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überwiegendVerlass.PerPostkutsche,reitendemKurieroderKaufmannsfuhren erreichtenBriefedamalsüberraschendschnellundzuverlässigihrZielundihre Empfänger.NichtzuletztdeshalbhatderMedienhistorikerBernhardSiegertdie BriefedieserEpocheeinmalmit«Bluthunden»8 verglichen,diefastjedenaufspüren. DochauchHundekönnensichvonLeinenlosreißen,imDickichtverirrenundverlorengehen.DieSachemitdenBriefenbleibtheikel.SobalderseinenVerfasserund Absenderverlässt,istderBriefletztendlichaufsichalleingestellt.SeinSchreiberhat ihnundseinSchicksalbuchstäblichnichtmehrinderHand.DasinderMittedes 17.JahrhundertsentstandeneTrompe-l’œildesniederländischenMalersWallerant VaillantkannalsVersuchgedeutetwerden,nichtnurdieepistolarenNetzwerkevon indiesemFallFrankfurterGelehrterzuvisualisieren,sondernimwahrstenSinne

1.1BriefschicksalezwischenVerlustundÜberdauern 11
Abb.1: WallerantVaillaint,EinBrettmitBriefen,Federmesserund SchreibfederhinterrotenBändern,1658. 8 BernhardSiegert: Relais.GeschickederLiteraturalsEpochederPost.Berlin,Brinkmann&Bohse, 1993,S.127.

desWortesdenBriefselbstfestzuhalten,ihndauerhaftunterSchnürenzufixieren. DernomadischeCharakterdesPapiers,daszunächstein«Fernhandelsprodukt»9 war,bliebimBriefdes18.JahrhundertsaufeigentümlicheWeiseerhalten.Briefe sindWandererzwischenOrtenundzuweilenauchzwischenWelten.Siewerdenverschickt,verpackt,heimlichzugestecktoderöffentlichübergeben.Siebegleitenauf uraltenRouten,HandelswegenundWegenetzen,10 aufFlüssenundOzeanen,inKutschenoderSchiffendenjenigen,derihrenTransportübernommenhatundderin denseltenstenFällenihrVerfasser,sonderneinmeiststiller,unsichtbarbleibender PateaufZeitist.EsisteinePatenschaftohneGarantien:NichtalleBriefekommen an,werdenverantwortungsbewusstbewahrt,erfolgreichüberbracht,findenihren BestimmungsortundgelangendamitvielleichtinshistorischeBewusstseinodergar indieNachwelt.EinigenehmenmateriellenSchadenaufihrerReise.Sobeschwerte sichetwadiemitSulzerbefreundeteDichterinAnnaLouisaKarschübereinen «nachläßige[n]brieffträger»,indessenTascheder«Umschlag»einesBriefes«vüllig zertragen»warundmandie«blätchensherraußziehen»konnte.11

TatsächlichwurdeBriefenoftzumVerhängnis,dassmansieeinerseitsleicht mitnehmen,inderRock-oderBrieftascheverstauen,alsBeigabeinanderenKorrespondenzenweiterverschicken,überall–soauchinGärtenundinderfreien Natur–empfangen,vorlesenoderKaufleutenaufihrenReisenquerdurchEuropamitgebenundandererseitsebensoleichtfürimmerausdenAugenverlieren undniewiederetwasvonihneninErfahrungbringenkonnte.DieGeschichtedes BriefesistvonBeginnaneineGeschichtevonVerlusten:EpistolareZeugnisseder Antike–alspopuläresBeispielseienhieretwadiealsverlorengeltendenBriefevon PaulusandieChristeninKorintherwähnt–warendavonebensobetroffenwie derbrieflicheAustauschspätererEpochen.SobeginntauchdieBriefgeschichteder NeuzeitmiteinemVerlust.ZwarwurdeChristophKolumbus’sogenannterBrief ausderNeuenWelt,adressiertanseinenFörderer,denspanischenSchatzmeister LuisdeSantángel,insLateinischeübersetztundunterdemTitel Deinsulisinventis (VonneugefundenenInseln,1493)gedrucktundverbreitet.DiealsFlaschenpost versandteersteFassungvonKolumbus’BriefsowiedessenanBordbefindliche zweiteFassunginFormeinerKopiekamenjedochniean.ErstdienachKolumbus’ RückkehrnachLissabonentstandenedritteFassungerreichtedenAdressatenund fandVerbreitung.DasRisikodesVerlustesbleibtdemVerfassenundVersendenvon BriefenüberdieJahrhundertebisindieGegenwarthineininhärent.AlsUnikate,als ObjekteindividuellerAdressiertheit,werdensieimmerwiederneugeneriertund

9 LotharMüller: WeißeMagie.DieEpochedesPapiers.München,Hanser,2012,S.23.

10 ZudenHandelsverbindungenzwischenderSchweizundDeutschlandvgl.u.a.FritzLendenmann: SchweizerHandelsleuteinLeipzig:EinBeitragzurHandels-undBevölkerungsgeschichteLeipzigsund Kursachsensvombeginnenden16.Jh.bis1815.Zürich,PeterLang,1978.

11 AnnaLouisaKarschanGleim,3.Februar1764.In:ReginaNörtemann,UtePott(Hg.): Mein BruderinApoll:BriefwechselzwischenAnnaLouisaKarschundJohannWilhelmLudwigGleim.2Bde. Göttingen,Wallstein,1996,Bd.1,S.199.

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neugeschaffen,undsindzugleichimmerwiederneuvomVerlustbedroht.Waren sie,wieindemFalldesBriefesvonGleimanSulzer,nochnichtarchiviertoderdurch AbschriftenoderKopiengesichert,bliebensieverschwunden.Briefschreibersind Abenteurer.SulzerselbsthatsichinseinenBriefenals«verwegene[n]»«Colombo», dermit«allenSeegeln»in«seinerArbeitüberdieKünste»im«weitenMeer»auf eine«großeundgefährlicheReise»gehtund«bisweilen[...]auchvonweitemLand» erblickte,inszeniert.12

Zugleichregenverlorene,ungeschriebeneoderunvollendeteBriefeundBrieftorsidiePhantasieanundschaffenRäumefürSpekulationendarüber,wasihnen widerfahrenist,welchenInhalt,welcheForm,welchenTon,welchenStil,welche Sprachesiehatten,wieihreWesensart,ihrErscheinungsbildundihrCharakter waren.AufüberlieferteSchreibenlassensichGegenantwortenersinnenodererschließen.AuchwennsieesnichtindieNachweltgeschaffthaben,könnensie dennochSpurenhinterlassen.Obgleichesdurchausphasen-undepochenspezifischeepistolareMustersowieverbindlicheKommunikationsformengibt,hatjeder Briefeineigenes,individuellesWesen,eineneigenen,vonverschiedenenFaktoren beeinflussten,unikalenCharakter,derdavonabhängigist,weranwen,wann,wo undworüberschreibt.

EinsolchesVerständnisdesBriefeshattesichnichtzuletztdurchBriefsteller undprototypischeBriefsammlungenwieChristianFürchtegottGellerts Praktischer AbhandlungvondemgutenGeschmackeinBriefen oderdievonSulzer,Gleimund SamuelGottholdLangeherausgegebenen FreundschaftlichenBriefen inderMitte des18.Jahrhundertslängstverfestigt.DabeihandelteessichumetabliertesWissen undeinenZugang,denSulzernochJahrespäterineinempädagogischenLehrbuch wiedergab.Inseinen1768publiziertenVorübungenzurErweckungderAufmerksamkeitunddesNachdenkens heißtes:«DieRegeln,welchemanzubeobachtenhat, wennmaneinenBriefanjemandschreibt,sindsehrmannigfaltig.Papier,Schrift, Schreibart,ZusammenwicklungdesBriefes,kurzjederUmstandmußsichnach demRangdessenrichten,andenmanschreibt.»13 DieserAnsatzträgtfreilichnoch SpurenregulierterundroutinierterTextbildungsverfahren,wiesiedieBriefsteller um1700vorgabenundformulierten.ZugleicheröffnensichdarinjedochkreativeSpielräumeepistolarerKommunikation,diesichletztendlichauchinSulzers heterogenenBriefwechselnwiederfinden.

GleichzeitigsindBriefeMedienundObjekte,denenDingepassierenundzustoßen,die–andersalsetwapublizierteliterarischeWerke–verschwindenkönnen undaufdiemansomitbesondersAchtgebenmuss.EinmalindieWeltgeschickt, heißtesnicht,dasssiedortbleiben.DernatürlicheFeinddesPapiersundsomit

12 SulzeranMartinKünzli,5.Juni1759,SWB,MsBRH512/73.

13 [JohannGeorgSulzer]: VorübungenzurErweckungderAufmerksamkeitunddesNachdenkens. ZumGebraucheinigerClassendesKönigl.JoachimsthalischenGymnasium.Berlin,FriedrichNicolai, 1768,S.95.

1.1BriefschicksalezwischenVerlustundÜberdauern 13

auchdesBriefesistdasFeuer.EinerheblicherTeilvonSulzersBriefwechselnwurde nachseinemTodvonseinenTöchternverbrannt,obaufWunschdesVerstorbenen hinoderaufgrundPlatzmangelsundfehlendenBewusstseinsumdieBedeutung derHinterlassenschaften,istunklar.SchonzuLebzeitenverlorSulzerzahlreiche PapiereandasFeuer.Im18.Jahrhundertkameshäufigervor,dassManuskripte verbrannten.EinigeBriefesowieTeilevonSulzersHauptwerk AllgemeineTheorie derschönenKünste,daruntereinArtikel,denChristophMartinWielandbeigesteuerthatte,fielenimJahr1757einemBrandaufseinemSchreibtischzumOpfer. DasgleichepassiertedenManuskripten DasBanketderDunse und DieLarve,die SulzersFreundundMentorJohannJakobBodmerseinemjungenSchülerund GewährsmannzurgeplantenPublikationineinemBerlinerVerlagüberlassenhatte unddiediesernachlässigvoneinerKerzeaufseinemTischvernichtenließ.BodmerwareingebranntesKind.DerVersandseinerManuskripteindieHändeund WohnungenderpreußischenDichterbarghoheRisiken.EinigeJahrezuvorwar dieBeschreibungeinerReiseinsAppenzellerLand,dieBodmerdemLaublinger Pfarrer,DichterundPublizistenSamuelGottholdLangeaufVermittlungSulzers hinzurVeröffentlichungübergab,ebenfallsfürimmerverschwunden,nachdem siekurzzuvornochbeiJohannWilhelmLudwigGleimgesichtetwordenwar.14 ImgelehrtenDickichtBerlinsverirrthattesichaucheine Parzival-Übertragung Bodmers,dieerstJahrespäterdenWegnachZürichzurückfand.

NebendemFeuer,dasganzeBriefexistenzenfürimmervernichtenkonnte, drohtunddrohtedemBriefderVerlustseinerursprünglichenEreignishaftigkeit. OfthatersieunddieErinnerungdaranlängstverloren.FreilichnichtohneProtest. DiejüngereBriefforschunghatBriefevermehrtalsEreignissebeschriebenundauf derenMedialitätundMaterialitätaufmerksamgemacht.15 Damitverbundenwar undisteinEinspruchgegeneinereinliteraturwissenschaftlicheFixierungaufdie TextualitätvonBriefen.MitdemDiktum«SobaldBriefeTextesind,sindBriefe keineBriefemehr»16 brachtenAnneBohnenkampundWaltraudWiethölterdiesen EinspruchtreffendaufdenPunkt,obgleichmaneinwendenmuss,dassdieTextualitätvonBriefen–unabhängigvonliterarischenZusammenhängen–fürdie epistolareKommunikationdennochentscheidendundnichtzuletztfürderenSpei-

14 IneinemBriefvom2.Oktober1749teilteLangeBodmermit,dassGleim«dieReisenachGaiß verlegt»habe.(ZB,MsBodmer4.2).LangeselbstmaßdemVerlustkeinegroßeWichtigkeitbei.An Gleimschrieberam21.Januar1750:«DerVerlustderReisenachGaißistvonsolcher importanz nicht, daßSiedeßhalbeinenFürsprechergebrauchthätten,nurbitteichanHrn.Bodmernzumelden,als welcherverlanget,daßichsiedemH.v.Hagedornsendensoll.»(GhH,Hs.A2596).

15 Vgl.u.a.AnneBohnenkamp,WaltraudWiethölter: Einführung.In: DerBrief–EreignisundObjekt FrankfurtamMain,Stroemfeld,2008,S.IX–XI.–JochenStrobel: ZurÖkonomiedesBriefes–undihren materialenSpuren.In: MaterialitätinderEditionswissenschaft.Hg.vonMartinSchubert.Berlin,Boston, DeGruyter,2010,S.63–77.–KatrinHenzel: MaterialitätdesBriefs.In: HandbuchBrief.VonderFrühen NeuzeitbiszurGegenwart.Hg.vonMarieIsabelMatthews-Schlinzig,JörgSchuster,GesaSteinbrink, JochenStrobel.Berlin,Boston,DeGruyter,2020,S.222–231.

16 A.Bohnenkamp,W.Wiethölter: DerBrief:EreignisundObjekt,(wieAnm.15),S.IX.

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cherbarkeit,ÜberlieferungundArchivierunggrundlegendist.17 Gleichwohlsind BriefetatsächlichmehralsnurSchriftundPapier.Siesind‹EreignisundObjekt›, materielleVergegenständlichungundkreativeVerschriftlichungzugleich.18 Was im18.JahrhunderttäglichindenStuben,Häusern,Ateliers,Schlachtfeldernoder GärtenvonGelehrten,Dichtern,Philosophen,Künstlern,Adligen,Militärsund vielenandereneintraf,warennichtbloßeschriftlicheZeichenineinemgefalteten Umschlag,sondernkreativeKommentatorenundvielseitigeBegleiter.EinBrief kamseltenallein.OfthatteerGefährten.TeiltehäufigseinenWeg,seinZielund seineBestimmungmitmitgesandtenWerken,Manuskripten,textuellenoderanderenmateriellenBeigaben.VermutlichhatteauchGleim,wiesooft,demverloren gegangenenBriefanSulzerselbstverfassteVerseoderlyrischenEinsprengseleines FreundesodereinerFreundinbeigelegt.VielleichtwarSulzerdeshalbsoverstimmt überdenVerlust.

Esisterstaunlich,wasallesinBriefenmitgesandt,bei-undeingelegt,verschnürtundversiegeltwerdenkonnte.AlleinmitBlickaufSulzerwürdesichein ganzesNaturalien-undKuriositätenkabinetteröffnen,wolltemandieBeigaben seinerüberdieJahreversandtenundempfangenenBriefeineinemRaumversammeln.PflanzenundPflanzenreste,Samen,aufgespießteundgetrockneteInsekten, gesammelteFossilien,Textilien,Ohrringe,Kleider,Gemälde,Kupferstiche,Porträts, Karten,Melonenkerne,Disteln,NaturstöckeausSchweizerWäldern,fürdieSulzer einFaiblehatte,undsogareinMarmortischundeinBarometerwurdenmitBriefen verschickt,ihnenbeigelegt,vonihnenbegleitet,beschrieben,erklärtunderläutert. Erhaltenhatsichdavonfastnichts.DieErinnerungandieObjekteistalleininihren treuenBegleitern,inBriefen,konserviertundgespeichert.

ÄhnlichverhältessichmitbeigelegtenundmitgesandtenManuskriptenund Büchern.Werke,WerkmanuskripteundBriefebildenim18.Jahrhunderteineheute nurnochschwerzurekonstruierendeEinheit.SolassensichnurVermutungen darüberanstellen,wasderPhilosophundMedizinerJohannGeorgZimmermann meinte,alsereinenBriefanSulzervom14.März1773mitdenWortenendigte«Hier habenSiewiederetwasgedrucktesvonmir.»19 Werkmanuskriptehabensichkaum erhalten.SulzershandschriftlichesManuskripteinererstposthumpubliziertenBeschreibungseinerfrühenReiseindenOberharz,20 seineAkademieschriftAnalysedu Genie,diemanheuteimArchivderBerlin-BrandenburgischenAkademieeinsehen kann,sowieseinebenfallshandschriftlicherEntwurfderpädagogischenAnweisun-

17 Vgl.dazuauchKonradEhlich: TextundsprachlichesHandeln.DieEntstehungvonTextenaus demBedürfnisnachÜberlieferung.In: SchriftundGedächtnis.BeiträgezurArchäologiederliterarischen Kommunikation.Hg.vonAleidaAssmann,JanAssmann,ChristofHardmeier.München,WilhelmFink, 1993,S.24–43.

18 Vgl.dazuauchR.Vellusig: ImaginationundInszenierung,(wieAnm.7),S.148.

19 ZimmermannanSulzer,LBH,MsXLII,1933,A,I,I,93,Bl.76. 20 UBBasel,UBHLIa724:Bl.262-267.

1.1BriefschicksalezwischenVerlustundÜberdauern 15

genfürdasJoachimsthalscheGymnasium(«SulzerscheGesetze»)21 ausdemJahr 1766stellenselteneAusnahmendar.22 DasManuskriptseiner AllgemeinenTheorie derSchönenKünsteistlängstverloren.ÄhnlichverhältessichmitManuskripten,die ermitBriefenmitsandteoderempfing.DasManuskriptseiner Unterredungenvon derSchönheitderNatur,dieerGleimundJohannJoachimSpaldingzurkritischen Lektüreübersandthatte,schaffteesnichtindieNachwelt.MitdemDruckwurde dessenweitereAufbewahrungobsolet.Auchdieausführlichkommentierteund mitMarginalienverseheneKorrekturfassungvonBodmersBibelepos Noah,die SulzerebenfallsperBriefzurücksandte,istnichtüberliefert,obgleichBodmerfast allesarchivierte.AlleinSulzersAnmerkungenüberJohannIIIBernoullis Lettressur différenssujetssinderhaltengeblieben.23 SulzerhatteseinekritischenAnmerkungen undHinweisealsBeilageperBriefversandt.IndiesemFallkommentiertenBriefe Briefe.Aber:BriefistnichtgleichBrief.WährendSulzerseinprivatesSchreibenin bewährterundtradierterManieralsindividuelladressiertesMediumderKritikund Korrekturnutzte,wählteBernoullidieBriefform,umseineaufeinerReisedurch dieSchweiz,FrankreichundItaliengewonnenennaturkundlichenErkenntnisse undErlebnissepublizistischverwertenundaneinbreiteresPublikumvermitteln zukönnen.SulzersHinweiseundAnregungensindvonBernoulli,derebenfallsin BerlinlebteunddortunteranderemdieSternwartebetreute,fastalleaufgenommen undumgesetztworden.

AndersalsindenmeistenFällenmit-bzw.zurückgesandterManuskripte siehtesmitinBriefenabgeschriebenenTextpassagen,Gedichtenodernotierten Korrekturvorschlägenaus.SiesindfestimBriefverwahrtundalsTeilvonihm gespeichert.VerwahrungbedeutetmeistÜberdauern,aberebenauchTrennung. PublizierteWerkeunddiehandschriftlichenBriefeihrerVerfasserundVerfasserinnenwerdenheutemeistunabhängigvoneinanderinBibliothekenundArchiven aufbewahrt.Oftwissensienichtsmehrvoneinander.IhreProvenienzbleibtnicht seltenimDunkeln.DasistimFalldereinstumfangreichenBibliothekSulzers,von dernahezunichtserhaltengebliebenist,nichtanders.ZudenwenigenExemplaren, aufdiemanheuteeherzufälliginBibliothekenstößt,gehörteinBandausdem Jahr1773.ErbefindetsichinderStaatsbibliothekzuBerlinundträgtdenTitel HistorischeLobredeaufJohannJacobBreitinger.DieSchriftstammtausderFeder vonJohannCasparLavater,dersichdarinmitdemim16.Jahrhundertwirkenden ZürcherTheologenbeschäftigte.DasaufdenerstenBlickunscheinbareBändchen überraschtbeimAufschlagenmiteinerkleinenSensation:Diehandschriftliche WidmungdesVerfassers«AnHerrnProfessorSulzerinBerlin»deutetnichtnur

21 SulzersEntwürfeundVorstudienzudenGesetzensindenthaltenin:«ActadieneüeGesezedes gymnasiibetreffendindenJahren1766u.1767»,BLHARep32,Nr.5347.

22 UnteranderemimGleimhausHalberstadtfindensichnochManuskriptevonGellertundLessing, dieGleimexplizitgesammelthatte.

23 JohannGeorgSulzer: BemerkungenzuJohannBernoullisManuskript«Lettressurdifférenssujets» 1777,UBBasel,LIa724:Bl.256-257.

161ZurEinführung

aufdieProvenienzdesBuches,sondernauchaufeinenAustauschzwischenzwei zentralenAkteurenderzweitenHälftedes18.Jahrhundertshin.DasBegleitschreiben,dasessichergegebenhat,isthingegenwiealleBriefevonLavateranSulzer24 nichterhaltengeblieben.

ZugleichkönnenBriefeAuskunftüberungeschriebeneWerkegebenundInformationenzunierealisiertenVorhabenspeichern.DassSulzerMitteder1740er JahreaneinerÜbersetzungvonNoël-AntoinePluches Spectacledelanature25 und übermehrereJahrzehnteaneinem«politischenRoman»26 arbeiteteoderJohann WilhelmLudwigGleimkurznachAusbruchdesSiebenjährigenKrieges«gernedie HistoriedesKriegsschreiben»wollte,27 erfährtmannurausBriefwechseln.Alledrei Projektebliebenunvollendet.Anstellederhistoriographisch-dokumentierenden IntentionrückteimFalleGleimsbekanntlichschnelleinpatriotischesLyrikprojektmitdemTitel KriegsliedereinespreußischenGrenadiers,dasGleimvielRuhm bisweitins19.JahrhunderthineineinbrachteundnochSchriftstellerwieTheodorFontanebeeinflusste.28 ObFontaneauchGleimsBriefe,diewievieleandere KorrespondenzenderempfindsamenKreisevonCarlSchüddekopfEndedes19. Jahrhundertsediertwurden,gelesenhat,isthingegennichtbekannt,abernicht unwahrscheinlich.

Verlusteallerorten?NatürlichfunktionierenBriefeauchohneBücher,ohne ihretextuellenundmateriellenBeigabenundObjekte.Siesindstarkgenug,stehen fürsich,sindnichtseltenTeileinerKommunikation,diedasGesprächüberLiteraturunddenTauschvonObjektenalsBindeglied,abernichtzumExistierenbraucht. DennochgingmitderdurchdieArchiv-undAufbewahrungspraxisspätererEpochenvollzogenenTrennungvonepistolographischenundliterarischenRelationen, vonmobilenEinheitenausTextundObjekteinezentraleWesensartdesBriefes verloren:DerBriefalsMediumderErkenntnisundderdichterisch-gelehrtenArtikulation,alszentralermedialerAkteurundProtekteurimProzessdesTransfers,

24 ZuSulzerundLavatervgl.auchKapitel4.2.DiewenigenSchreibenSulzersanLavatersindin derZBZürichüberliefertundteilweiseediertaufwww.sulzer-digital.de.Vgl.auchJanaKittelmann: «lavaterischdenke[n]».JohannCasparLavaterinBriefenundSchriftenJohannGeorgSulzers.In: Johann CasparLavater.DerbekanntesteUnbekanntedes18.Jahrhunderts.Hg.vonChristianSoboth,Friedemann Stengel.Göttingen,Vandenhoeck&Ruprecht,2023,S.501–520.

25 SulzeranJohannAmbrosiusBeurer,10.Juli1745:«IchsteheimBegriffeinedeütscheÜbersetzung vondem SpectacledelaNatur zumachen,welcheeingewißerBuchhändlerinBerlinherausgebenwill.» (UBErlangen,H62/TREWBRSULZER).

26 Vgl.SulzeranBodmer,25.Oktober1771:«NochwünschteichinmeinemLebendieMuße zuhaben,denschonlangentworffenenpolitischenRoman,voneinemsolchenMiniaturStaatnach völligneüenpolitischenEinrichtungen,auszuarbeiten»(JohannGeorgSulzer,JohannJakobBodmer: Briefwechsel.KritischeAusgabe.Hg.vonElisabethDécultot,JanaKittelmann(SGS,Bd.10).Unter MitarbeitvonBaptisteBaumann.Basel,Schwabe,2020,S.868).

27 Vgl.z.B.SulzeranBodmer,21.Juni1757,ebd.,S.350.

28 Vgl.BaptisteBaumann,JanaKittelmann: «IchwilleinLiedeuchsingen».FontaneunddiepatriotischeLiedkulturderAufklärung.In: TheodorFontaneunddasErbederAufklärung.Hg.vonMatthias Grüne,JanaKittelmann.Berlin,Boston,DeGruyter,2021,S.123–146.

1.1BriefschicksalezwischenVerlustundÜberdauern 17

derZirkulationunddesSammelnsvonWissenundRessourcenwurdesoaufseine überlieferteSchriftlichkeitundZeichenhaftigkeitreduziert.DabeisindBriefewichtigeBegleitersowohlvonGelehrten29 –tatsächlichlangeZeitmeistausschließlich Männer–alsauchvonderenunzähligenManuskript-undBüchersendungen.30 Sie konservierenundvermittelnGedankenundInformationen,gebenHinweisezur LektüreundzurBearbeitung,machenaufmerksamaufliterarischeEntwicklungen, fordernKritikeinund–imFallevonversandtenManuskripten–befördern,lenken undkoordinierenzugleichdiefürdieZeittypischen,nichtseltenLandesgrenzen übergreifendenkollektivenArbeitsweisensowiesoziale,gelehrteoderdichterische Gruppenbildungen.Imprivaten,vorpublizistischenRaumdesBriefeswurdevieles verhandeltundvorbereitet,was(undwer)schließlichunterandereminPeriodika einenAbdruckundsodenWegindieÖffentlichkeitfand.

Andererseitsbliebvielesunausgeführt,unbeantwortet,wohlauchungelesen. AlsalltäglicherBegleiterwarderBriefvondenLebensumständen,demZeitkontingent,derkörperlichenundmentalenVerfassungseinerSchreiber(innen)undnicht zuletztauchvonderMöglichkeitenpostalischenVerkehrsabhängig.31 Diefürdas MediumBriefprogrammatischeUnmittelbarkeitundAktualitätführtedazu,dass vielesgarnichterstgeschriebenwurde.NichtseltenwurdenBriefeabgebrochen, fielenkürzerausalsgewünscht,etwaweilderKaufmann,derdenBriefmitnahm, zurschnellenNiederschriftundzumSiegelndrängte,odermanzwischen«Thürund Angel»32 schrieb.DieBriefedes18.JahrhundertsstrotzengeradezuvorUnterbrechungen,übereiltenAbbrüchen,äußerenStörungenundunbeabsichtigten,schnell ausgeführtenAbschieden.Formulierungenwie«ichmußenden»,«ichmußmeiner BegierdeIhnenmehrzuschreibenalsmirdieZeiterlaubtEinhaltthun»,«ichmuß diesenBriefinvollemGalloppschreiben»,33 «weilichMorgenmußpredigen,muß ichhierabbrechen»,34 «ichhabeeinenFußindemSteigreifen,undkandochnicht fortkommen,daßichEuchnichtnochein petitboutdelettres zuschreibe»,35 «ich mußhieraufhören,weilichgernenochden‹TomJones›auslesenwollte»,36 «Ichbin

29 Vgl.dazuu.a.ErdmutJost: Einführung:Das18.JahrhundertalsFormierungsphasederNetzwerkgesellschaft.In: Briefwechsel.ZurNetzwerkbildunginderAufklärung.Hg.vonErdmutJost,Daniel Fulda.HalleanderSaale,MitteldeutscherVerlag,2012,S.7–14.–ThomasWallnig: Gelehrtenbriefe.In: HandbuchBrief.VonderFrühenNeuzeitbiszurGegenwart.Hg.vonMarieIsabelMatthews-Schlinzig, JörgSchuster,GesaSteinbrink,JochenStrobel.Berlin,Boston,DeGruyter,2020,S.471–483.

30 DassWerkevonAutorinnenundschreibendenFrauenvorallemauchüberMännerverbreitet, lanciertundimliterarischenFeldpositioniertwurden,zeigtdasBeispielvonAnnaLouisaKarschund AnnaDorotheaLange.SiehedazudieKapitel3.6und4.4.

31 Vgl.RobertVellusig: SchriftlicheGespräche.Briefkulturim18.Jahrhundert.Wien,Böhlau,2000, 23f.–B.Siegert: GeschickederLiteraturalsEpochederPost,(wieAnm.8),S.29–49.

32 SulzeranJohannGeorgZimmermann,1.Juni1772,LBH,MsXLII,1933,A,I,I,93,Bl.41.

33 SulzeranGleim,3.Mai1745,GhH,Hs.4055.

34 SulzeranJohannHeinrichHegner,Weyden,ohneDatum[April1743],SWB,MsBRH512/69.

35 BodmeranSulzer,19.Juni1746,J.G.Sulzer,J.J.Bodmer: Briefwechsel.KritischeAusgabe,(wie Anm.26),S.20.

36 SulzeranWilhelmineKeusenhoff,[EndeOktober1750],FDH,Hs.3007.

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schonzumEßengeruffen,ichmußschlüßen»37,«dieTrommelgeht,ichmußauf dieParadegehen»38 oder«BriefeanmeineFreündesindLekerbißen,Gerichteeines feinenNachtisches,diemannichtzugenießenverlangt,wennmannichtvöllige Mußehatzusizensolangemanwill»39 deutenaufdieexistenzielleBedeutungund exklusivePräsenzvonBriefenimAlltagvonDichternundGelehrtenundzugleich aufeinepermanenteGefährdung,ungeschriebenzubleiben,hin.

NebendenkleinenundgroßenAlltagsgeschäftenundprivatenVerhältnissenwarlangeZeitdiePostderstrengsteRegulatorbrieflicherKommunikation. EinerseitsermöglichteundbeschleunigtesiedenepistolographischenAustausch überhaupterst.Andererseitszeigtesiesichgrausamundmächtig,konnteverhindern,verkürzenoderzumAbbrechenzwingen.«Weiterzuschreibenerlaubetder naheAbgangderPostnicht»,40 vermerkteeinsichtlichgehetzterSulzerineinem SchreibenanZimmermann.«Dochichwillsovielschreiben,alsdieUngedulddes Postillions erlaubenwird»,41 istineinemBriefandenWinterthurerFreundund RektorMartinKünzlizulesen.AndersalsbeidemnichtseltenaufMonateund JahreangelegtenSchaffensprozessvonWerkendominierteimFallevonBriefenoft einepermanenteUngeduld,eineEileundeinZeitdruck,dersichmeistunmittelbar aufdieInhalteunddieGestaltdesGeschriebenenauswirkte.MitdemHinweis:

«DennvoreinerStundehabeichIhrenBriefbekommenundineinerStundegeht jemandvonunsersFreündesBachmannLeüthenab,derdiesenBriefbisMagdeb.mitnehmensoll.IchmußmichalsonurbeydenHauptpunktenaufhalten»,42 entschuldigtesichSulzereinmaldafürineinemBriefanGleim.

ZugleichbenötigtenBriefebzw.diebrieflicheKommunikationfortwährend aktuellenStoffundFutter.DieKommunikationmusstemitNachrichten,InformationenundEreignissenamLaufenundamLebengehaltenwerden,sonstwaren dieGrenzendesMediumsoftschnellerreicht,wiemaneinemSchreibenSulzers anKünzlivom11.Mai1751entnehmenkann:«Michdünkt,daßichseitdrey Tagenallesgeschriebenhabe,wassichinBriefenschreibenläßt,sodaßmirjezo garnichtsmehrübrigbleibt,insonderheitdamirdiehiesigenGelehrtennichts zuschreibengeben».43 DerKreativitätundPhantasiederBriefschreiberinnenund BriefschreiberwarenkeineGrenzengesetzt.BliebenBriefeaus,trafendieerhofften Schreibennichtein,konntemansicheinfachwelcheerdenkenodergarerträumen, biswiederNachschubkam:«IchhatteschonlängsteheichihrenBrieferhalten,

37 AnnaLouisaKarschanGleim,20.November1761.In:R.Nörtemann,U.Pott(Hg.): MeinBruder inApoll,(wieAnm.11),S.43.

38 SulzeranGleim,Berlin,25.April1758,GhH,Hs.A4141.

39 SulzeranBodmer,19.März1768,J.G.Sulzer,J.J.Bodmer: Briefwechsel.KritischeAusgabe,(wie Anm.26),S.802.

40 SulzeranZimmermann,13.März1773,LBH,MsXLII,1933,A,I,I,93,Bl.74.

41 SulzeranMartinKünzli,6.Mai1747,SWB,MsBRH512/72.

42 SulzeranGleim,22.Oktober1760,GhH,Hs.A4148.

43 SWB,MsBRH512/72.

1.1BriefschicksalezwischenVerlustundÜberdauern 19

deßenInhaltinihremHerzengelesen,weilmirdeßenedleTriebebekanntsind»,44 stehtineinemSchreibenanKünzlizulesen,daszugleichzeigt,welcheStrategien zurÜberbrückungvonDistanzundAbwesenheitzumEinsatzkamen.

DieAbwesenheitvonFreundenundFreundinnensowiedieRegulierungvon Distanz,dieinderseiteinigenJahrenwiederboomendenBriefforschungwiederholt als das zentraleMotivundalsAuslöserfürintimeBriefwechselidentifiziertund beschriebenwird,45 befördertedieepistolareKommunikationfreilichnichtselten nursolang,bissichdieMöglichkeiteinerpersönlichenBegegnungeröffnete.So berichteteKarlWilhelmRamlerineinemBriefanAnnaLouisaKarschvonseinen Freunden,«diewennsieaufstehen,keinanderesGeschäfttehaben,alseinenBrief vollzuplaudern,bisGesellschaftkömmt,mitdermanmündlichplaudernkann».46 AlleinschondieAussichtaufeinZusammentreffenkonntezumzeitweiligenAbebbenundvorübergehendenEinstellendesBriefwechselsführen:«IchhätteMaterie», schriebSulzeram30.Oktober1751anGleim,«HundertBriefeanzufüllen.Aberdie Zeitreichtnichteinmalzueinemhier.Wirwollendestomehrzusamenplaudern».47 InseineranMetaphernundBildernreichenepistolarenSprachehatSulzer,der auchinseinenphilosophischenSchriftenfürdieErkenntniskraftunddenEinsatz vonMetaphernplädierte,48 BriefeeinmalmitDurstlöschernverglichenundals kurierendesHeilmittelcharakterisiert:

EsthatsehrNot,daßsiemireinmalschrieben,weilichihreAbwesenheitanfingeso zufühlen,daßihrAndenkenmitsehrunangenehmeEmpfindungenverknüpftwar.

44 SulzeranKünzli,9.Dezember1747,SWB,MsBRH512/72.–Vgl.zu‹erträumten›Briefenauch: KarschanGleim,11.August1762:«inzehenTagensahichkeinbrieffchen,dieseNachtlaßicheinsim Traume,derbetrügricheTraum,Erentflohunddasbrieffchenzugleich,icherwachte».(R.Nörtemann, U.Pott(Hg.): MeinBruderinApoll,(wieAnm.11),Bd.1,S.144).

45 Vgl.WolfdietrichRasch: FreundschaftskultundFreundschaftsdichtungimdeutschenSchrifttumdes 18.Jahrhunderts.HalleanderSaale,1936,S.201f.–R.Vellusig: SchriftlicheGespräche,(wieAnm.31), S.61–63.–AlbrechtKoschorke: AlphabetisationundEmpfindsamkeit.In: DerganzeMensch:AnthropologieundLiteraturim18.Jahrhundert.DFG-Symposion1992.Hg.vonHans-JürgenSchings.Stuttgart,J. B.Metzler,1994,S.605–628,S.614f.

46 KarlWilhelmRamleranAnnaLouisaKarsch,26.Juni1762,GhH,Hs.Ramler292.Zit.n.R. Nörtemann,U.Pott(Hg.): MeinBruderinApoll,(wieAnm.11),Bd.1,S.411.

47 GhH,Hs.A72.

48 SoetwamitfolgenderAussage:«EbensohilftunsdieMetapherIdeen,welcheohnedieseHülfe mitderMasseunsrerVorstellungenvermengtbleibenwürden,absondernundfestsetzen,undmachet dasjenigewasdemVerstandeunbegreiflichzuseynscheint,sichtbarundfühlbar.»(JohannGeorg Sulzer: AnmerkungenüberdengegenseitigenEinflußderVernunftindieSpracheundderSpracheindie Vernunft.In: VermischtePhilosophischeSchriften.AusdenJahrbüchernderAkademiederWissenschaften zuBerlingesammelt.Leipzig,WeidmannsErbenundReich,1773,S.166–198,S.189f.).–Vgl.auchden Artikel«Metapher;Metaphorisch.(RedendeKünste).»In:JohannGeorgSulzer: AllgemeineTheorieder SchönenKünsteineinzeln,nachalphabetischerOrdnungderKunstwörteraufeinanderfolgenden,Artikeln abgehandelt.Bd.1.Leipzig,WeidmannsErbenundReich,1771,S.761–763.–Siehedazuebenfalls UlrichRicken: SprachtheorieundWeltanschauungindereuropäischenAufklärung.ZurGeschichteder Sprachtheoriedes18.JahrhundertsundihrereuropäischenRezeptionnachderfranzösischenRevolution. Berlin,Akademie-Verlag,1990,S.247f.

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