Martin Mosimann. Die Schwierigkeit mit dem Wissen

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Die Schwierigkeit mit dem Wissen Überlegungen

ausgehend von Sokrates

MARTIN MOSIMANN

Die Schwierigkeit mit demWissen

Überlegungen ausgehend von Sokrates

Verlag
Schwabe

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Abbildung Umschlag:Die Statue des Sokrates, Akademie von Athen;Foto:C messier; überarbeitet durch icona basel gmbH (CCBY-SA 4.0)

Korrektorat:Nina Sophie Weiss, Laufenburg

Cover:icona basel gmbh, Basel

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:CPI books GmbH,Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4910-6

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4911-3

DOI 10.24894/978-3-7965-4911-3

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Was kann ich wissen?

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft

Mine bøker har alltid vært motivert av håp. Åskrive er åkartlegge og gi form til noe uforstått med håp om til slutt ånåden klarheten man søker.

Lars Fr. H. Svendsen, Håpets filosofi

Inhalt Kapitel 1 – Ausgangslage:Wissen, Nichtwissen .. ... ... .... ... .... 9 Kapitel 2 – Formen des Wissens .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... ... ... . 25 Kapitel 3 – Verschleierungen und Selbstverhexungen 33 Kapitel 4 – WissenimAlltag .. ... .. .. .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... 55 Kapitel 5 – Wissenauf Zusehen hin gewinnen 63 Kapitel 6 – Existentielle Bedeutung von fehlendem Wissen… .. .. ... 73 Kapitel 7 – Scheinwissen, Nichtwissen, unmöglich erreichbares Wissen .. ... .. .. .. .. .. ... .. .. .... ... .... 83 Kapitel 8 – Ich weiss, dass ich nicht(s) weiss .. .. .... ... .... ... .... 93 Anmerkungen 99 Literatur .. ... ... .... ... .. .. ... .... .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. ... . 135

Kapitel 1 – Ausgangslage:Wissen, Nichtwissen

Fast jedermann kenntdie dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschriebene Aussage «Ich weiss, dass ich nicht weiss», jedenfalls in der später zugescharften Version «Ich weiss, dass ich nichts weiss», die Eingang in den allgemeinen Zitatenschatz gefunden hat.1 Mit der in diesem Satz zu Tage tretenden, kritischen Einstellung gegenüber menschlichem Wissen scheint der Satz gewissermassen den Inbegriff einer philosophischen Aussage darzustellen.2 Ohne dass man vielleicht im Einzelnen genau verstünde, wie er gemeint ist, scheint in der in ihm zum Ausdruck kommenden, reflexiven Haltung gegenüberalltäglichen Überzeugungen das Gestalt anzunehmen, was man gemeinhin unter Philosophie versteht. Im Alltag bezweifelt man, mit Ausnahme von Sinnestäuschungen, wie sie zuweilen vorkommen, ja gewöhnlich nicht, was man zu erkennen und zu wissen meint (was immer man dann unter «erkennen»und «wissen»versteht). Philosophie

im Rahmen jener elenden unehrlichen Überhöhung, die man ihr als angeblicher (wie man gönnerhaft sagt)«Liebe zur Weisheit»zubilligt3 – mag sich dann aber ergeben, dass solche im Alltag nie infrage gestellten Überzeugungen bei sorgfältiger Betrachtung in Wirklichkeit fragwürdig sein könnten. Und obwohl man im Alltag immer weiter darauf vertraut, dass man einen richtigen Zugang zur Welt und zum Wissenüber sie habe, mag man anerkennen, dass sich in Studierstuben, weit ab von der «Wirklichkeit», in der man lebt, Menschen tiefere Gedanken dazu machen, was ein solches Wissen wert sei.

Zusätzlich mag man dann noch irgendwie zu wissen meinen, dass Sokrates mit seiner berühmten Aussage nicht nur irgendwie die Grenzen des menschlichen Wissens thematisiert, sondern gar behauptet, in der von ihm vorgetragenen Einsicht bestehe gerade paradoxerweise die grösstmögliche(menschliche)Weisheit. (Das ist es ja in der Tat,was aus den Nachforschungen Sokrates’ hervorzugehen scheint.4 )Freilich lässt man im Alltag einen solchen Widerspruch gewissermassen einfach stehen,statt sich mit der Frage auseinanderzusetzen,was aus ihm hervorgehe. (Wenn man das täte, müsste man ja seinem Alltag mit dem grössten Misstrauen begegnen; und umgekehrt scheint das, was man im Alltag erlebt, den philosophischen Satz ja durchwegs Lügen zu strafen.)

Diesen Gedankennachzugehenist deswegenvon Bedeutung, weil in ihnen jene eigenartige Spaltung zwischendem Alltagsverständnis und dem Zugeständnis, dass es so etwas wie Philosophie gibt, welche den Alltag prägt, Gestalt annimmt. Solange man nicht im Alltag mit Zweifeln und Kritik belangt wird, mag

man es gelten lassen, dass sich Philosophenund Philosophinnen «tiefer»mit gewissen Aspekten des Lebens auseinandersetzen – das sollen sie tun, und es mag auch recht interessant sein, was sie dann herausfinden,aber die Alltagsvorstellungen lässtman sich dann dennoch nicht nehmen;und die spätestens seit dem Abgesang der Scholastik etablierte Diskreditierung der Philosophie als Haarspalterei trägt dann das Ihre dazu bei, dass man Erkenntnisse, zu welchen sie gelangen mag, nicht wirklich ernst nimmt.5

Dazu tritt, dass das, was man ohne weiteres Nachdenken als Gehalt der Aussage hält, gelten lassen kann, solange es nur einen allgemeinen (und damit unbestimmten)Charakter hat. So wie viele Menschen, ohne zu zögern, allenfalls die Meinung äussern können, dass es den modernen Menschen «viel zu gut»gehe (ohne dass sie dann aber im Konkreten irgendwelche Abstriche an ihren Ansprüchen machen würden) oder dass der Mensch im Grunde ein «Egoist»sei (immer mit der Einschränkung, dass das für sie und etwa ihre Partner und Eltern oder Angehörige ihrer Gruppe nicht gelte bzw. sie es umgekehrt als selbstverständlich entgegennehmen,dass sich ihre Bezugspersonen, etwa Mütter und Ehefrauen, ihnen gegenüber gütig erweisen), sind sie durchaus auch bereit einzugestehen, dass das Wissendes Menschen fragwürdig sei und dass man «nicht alles wissen»könne. Auch davon nimmt man aber wie selbstverständlich das eigene Wissen, das Wissen etwa der Partei, der man angehört, oder – wie das zur Zeit der Corona-Pandemie der Fall war – das Wissen jener «Experten»aus, welche sich anmassen, im Namen der «Wissenschaft»zusprechen. Eine Brücke zwischen der angeblichtiefen Einsicht in die Hinfälligkeitdes menschlichen Wissens auf der einen Seite, und der Tatsache auf der anderenSeite, dass man in seinem Lebensbereichdoch immer von unhinterfragbarem Wissen ausgeht, schlägt man nicht. So wäre es durchaus möglich, dass ein Politiker etwa anlässlich einer kulturellen Veranstaltung, zum Beispiel anlässlich der Verleihung eines Preises an einen Schriftsteller, salbungsvoll davon schwafelt, dass der Schriftsteller in schonungsloser Weise die Grenzen der menschlichen Erkenntnis geissle etc.; wenn es dann aber darum geht, eineMassnahme zu treffen, die in das Leben von Millionen von Menschen eingreift, das, was er «anordnet», ohne Zögern und Bedenken als zweifelsfrei geboten darstellt. Verlangt wäre ja, wenn das eine gälte,dass man dann auf der anderenSeite an seinen Überzeugungen tatsächlich zweifelte, statt sie etwa als «alternativlos»darzustellen.

Im Falle der berühmten Aussage Sokrates’ kann der Alltagsverstand am Ende dann erst noch – oft zusätzlich – geltend machen, dass sie sich ja sowieso «widerspreche»; und diese Erkenntnis mag dann auch gleich wieder darein münden, dass man sich herausnimmt, philosophische Erkenntnisse am Ende doch abzuwerten. Wenn jemand behaupte, nichts zu wissen, so könne er doch – so der banale Schluss – nicht gleichzeitig behaupten, dass er doch etwas wisse: eben, dass man nicht(s) wisse. So scheint zum Schluss alles beim Alten zu bleiben: Man kann, so scheint es, dann wenn man feierlich oder etwa religiös oder «tief»

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aufgelegt ist – oder jemanden diskreditieren will –,auf die Fragwürdigkeit allen menschlichen Wissens hinweisen, im eigenen Lebensbereich oder dann, wenn man seine Interessen durchsetzen will, aber bedenkenlos das Gegenteil vertreten. So wird jedoch Philosophie (wie früher die Theologie, etwa in Form des Nächstenliebegebots)einerseitsauf einen Gegenstand von Sonntagsreden reduziert, andererseits (und das ist ja das durch und durch Fragwürdige dieses Sachverhalts) können ihre Ergebnisse nicht als Erkenntnissewirksam werden. Genau das aber wäre wirklich von Bedeutung, weil sie allenfalls eben doch zu Einsichten gelangt, welche sich in den Alltag einspeisen müssten. Auch hier wieder mag in Sonntagsreden oder Sonntagsfeuilletons (oder unterdessenauch im Rahmen eines sich offen gebendenManagergehabes)inschönenWorten beteuert werden, dass Philosophie (freilich ganz praxisfern)eine wichtige Orientierungshilfe und Hilfe dabei, Dingeeinzuordnen, geben könne.6 Die Pointe dabei ist aber, dass das wirklich stimmt – einesolche Einsicht könnte indessennur wirksam werden, wenn Sonntagsreden und Sonntagsfeuilletons in ihrer Folgenlosigkeit und ihrem Schönreden ein Ende finden würdenund die Philosophie tatsächlichernst genommen würde.7

Vordem Hintergrund solcher banalen Haltungen sowohl gegenüberder Philosophie als Ganzer wie auch gegenübereiner zum Allgemeingut gewordenen philosophischen Aussage ist es angezeigt, zunächst erstens genau zu bestimmen, was diese wohl wirklich zum Ausdruckbringen will – bzw. in welcher Weise sie als sinnvoll erscheinen mag – ,und sich dann zweitens vor Augen zu führen, in was für ungerechtfertigte Interpretationen sie hineinführenmag, wenn man sich nicht die Mühe nimmt, sie zu ergründen.

Zunächst findet man Folgendes:ImSatz Ich weiss, dass ich nicht(s)weiss ist in Wirklichkeit von zwei Bereichenbzw. Gegenstandsbereichen von Wissen die Rede. Der erste Bereich besteht in einem Wissen von Gegenständendes Wissens; also von dem Bereich, den man gemeinhin im Auge hat, wenn man von Wissen redet. Im Alltagsverständnis wird ohne weitere Diskussion vorausgesetzt, dass man ein solches Wissengewinnen kann, und das scheint ja auch in weiten Bereichen der Fall zu sein.8 Sokrates’ Satz bezieht sich nun aber noch auf einen zweiten Bereich von Wissen:nicht auf das Wissen in Bezug auf Gegenstände, sondern auf das Wissen in Bezug auf dieses Wissenbzw. den Wert oder die Bewertung der Gültigkeit dieses Wissens. Diese Frage scheint einen abstrakten und abgehobenen Charakter zu haben, ist aber, recht besehen, nicht so weit vom Alltagsverständnis entfernt, wie man meinen mag. Wenn jemand erzählt, mitten durch Moskau sei ein Seil gespannt,9 stellt man sich sofort die Frage, ob das wahr sein könne bzw. genauer:woherder, der das erzählt, das wisse. Sokrates geht nun einfach noch einen Schritt weiter. Er prüft nicht, ob eine bestimmte Quelle in Bezug auf einebestimmte Aussage Vertrauen verdient oder eine bestimmte Aussage Geltung hat, sondern was von menschlichem Wissen an sich zu halten ist,

Kapitel 1 – Ausgangslage: Wissen, Nichtwissen 11

ganz losgelöst von einzelnen Quellen oder Sachverhalten. Und da kommt er nun zum

grundsätzlichen und eben philosophischen – Ergebnis, dass man in Bezug auf das, was einem als Wissen erscheint, zugestehen müsse, dass es nicht wirklich bestehe.10 Bei einem solchen Wissen handelt es sich um ein anderesWissen als bei jenem Wissen, das sich auf Gegenstände des Wissens bezieht:Esbesteht vielmehr in einem Wissen über Wissen bzw. einem Wissen in Bezug auf die epistemologische Situation, in der man sich als Mensch befindet. Einfacher gesagt, bezieht es sich nicht auf Gegenstände, sondern auf die Ergründung der Möglichkeit menschlichen Wissensgewinns an sich. Die Aussage Ich weiss, dass ich nicht(s) weiss macht sich also nicht eines Widerspruchs schuldig, sondern unterscheidet in Tat und Wahrheit zwei Gegenstandsbereiche des Wissens. So verstanden sagt sie aus, aus, dass man im Rahmen des einen Gegenstandsbereiches (Wissen über Wissen)zum Ergebnis kommen müsse, dass Bemühungen im Gegenstandsbereich des Wissens von Gegenständen diese nicht wirklich erreichten, auch wenn man meinen mag, dass man in Bezug auf sie Wissen gewinnen könne. Und seine Weisheit bestehe dann darin – so gibt uns Sokrates zu bedenken –,dass er, im Gegensatz zu anderenMenschen, die Grenzen seines Erkennenkönnens erkennen kann.11 (Dazu gehört dann zweitens – dieser Gedanke wird nicht so sehr explizit ausgeführt als mitgedacht, ist aber ebenfalls bedeutungsvoll –,dass er diese Erkenntnis anerkennenkann;statt sich etwa an ihr vorbeizumogeln,wie dies die Menschen im Alltag tun.)

Auf der Stelle erheben sich dann aber die folgendenFragen. Wie kann ich eigentlich sicherwissen, dass ich (auf der Gegenstandsebene)nicht(s) wissen kann?Und, damit in Zusammenhang stehend:Lehrt mich die Erfahrung, im Gegenstandsbereich allenfalls (doch)etwas wissen zu können, indem ich zum Beispiel im Alltagein Erfolgserlebnis habe, nicht,dass die kategorische Aussage (auf der Verfahrensebene), nicht zutrifft, mit dem Ergebnis, dass ich zum Schluss kommen muss, dass es allenfalls doch etwas wie Wissengeben kann. (Einen solchen Schluss zieht ja der Alltagsverstand :Ermag zugeben, dass es Dingegebe, die er nicht weiss, will dann aber daraus nicht den Schluss ziehen, dass man überhaupt nichts wisse. Aus der empirischen Erfahrung, dass man Wissen gewinnen zu können scheint, scheint gewissermassen von hinten her abzuleiten sein, dass die allgemeine Aussage über das Wissenkönneneingeschränkt werden muss bzw. dass die sokratische Vorstellung voreilig ist und als Ganzes in eine philosophische Verallgemeinerung mündet, die nicht haltbar ist.)

Zur ersten Frage:Ineinem schwachen Sinne gehört es natürlich auch zum Alltagserlebnis, dass man in gewissenSituationen zu wissen meinen mag, dann aber davon überzeugt werden kann, dass das, was einem als Wissen erschienen ist, nicht mit der vorgefundenen Wirklichkeit übereingestimmt hat. Man mag zunächst immer erleben können, dass man sich irrt. Man mag etwas für richtig erachten – weitere Nachforschungen,Korrekturen durch andere Menschen oder das, was man in der empirischen Welt vorfindet, überzeugen einen dann aber

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allenfalls davon, dass nicht zutrifft, was man für zutreffend gehalten hat. Das führt dann zur Einsicht, dass Irren menschlich sei und der Mensch irre, solange er strebe (oder jedenfalls in irgendeiner Weise etwas zu erkennen versucht12 ). Das ist aber zum einen einebanale Einsicht, so tiefsinnig sie auch daherkommen mag, und berechtigt einen zum anderen zudem noch lange nicht zur Behauptung, der Mensch könne überhaupt nicht(s) wissen, sondern eben nur zu der, dass er hinsichtlich seines Wissens manchmal nicht sicher sein kann. Auch wenn der Mensch hin und wieder irren mag, folgt daraus ja nicht, dass er immer irrt, sondern sich irren kann. Dass er sich zuweilenirrt, stellt gewiss keine erwähnenswerte Tatsache dar. Vorallem aber ist in ihr immer die Vorstellung eingeschlossen, dass er korrigiert werden kann – der Begriff des Irrtumshat ja nur dann einen Sinn, wenn gleichzeitig vorausgesetzt werden kann, dass (irrige)Aussagen zurechtgerückt und so korrigiert werden können;dass es mit anderen Worten also einen an sich bestehenden festen Bezugspunkt gebe, an dem die Berechtigung einer Aussage gemessen werden kann. Bedeutungsvoll ist eine solche Einsicht höchstens in der Hinsicht, dass sich der Mensch, wenn er Anordnungen oder Behauptungen im Grossen vorbringt, immer darüberRechenschaft geben muss, dass auch unberechtigt sein könnte, was er gewiss zu wissen meint. Die Folge der Einsicht, dass er sich irren kann, bestünde dann aber selbstverständlich nicht darin, dass er nichtsmehr unternehmen und denken solle, weil er nicht gewiss sein kann, nicht einem Irrtum zu unterliegen, sondern dass er immer in Rechnung stellenmuss, allenfalls doch in die Irre zu gehen, und nach Möglichkeit eine Form von sicherem oder zumindest sichererem Wissen anstreben müsste;etwa, bevor er handelte. Eine solche Einsicht würde ihn dann darauf verpflichten, erstens nie zu meinen, dass gewiss sei, was er für richtig hält, und zweitens alle Anzeichen, die darauf hindeuten,dass er sich entgegen seiner Überzeugung doch irren könnte, zu beachten (und als Folge dieser Einsicht nicht so zu handeln, dass er sich nicht mehr korrigieren könnte, wenn er später eines Irrtums gewahr werden würde;wie er es zum BeispielimZusammenhang mit der Vollstreckung von Todesstrafen tut).13

Die Behauptung, dass man nicht oder gar nichtswisse, geht freilich in mehr als einer Hinsicht viel weiter und mündet in eineernstzunehmende epistemologische Aussage, die, wenn sie gelten würde,die grössten Konsequenzen hätte. Sie stellt menschliches Wissen grundsätzlich infrage;eben, indem sie bestreitet, dass es überhaupt menschliches Wissen gebe (und die Folge einer solchen Erkenntnis wäre dann, dass auch alles (gerechtfertigte)Handeln des Menschen, insofern es ja immer auf für wahr gehaltenes Wissenbezogenist, fragwürdig würde). Freilich muss man sich, wenn man einer solchen Allaussage (nach der es also angeblich überhaupt kein menschliches Wissen gebe)gegenübersteht, darüberRechenschaft geben, dass Allaussagen (wie schön gesetzte, dichterische Worte) allgemein eine verführerische Kraft innewohnt;sodass man sie erstaunlicherweise eher gelten lässt als (beschränkte)Einzelaussagen. Obwohlausgerechnet sie ja

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kaum je bewiesen werden und bewiesen werden können, aber schnell widerlegt werden können, scheinen sie gewissermassen den Inbegriff des Wissens darzustellen, weil ja in ihnen alles weitere Ergründen zu einem Ende kommen würde, wenn sie gälten. So erwecken sie immer schnell den Eindruck, besonders «tief» zu sein.14 Auch wenn man sich leichtfertig von der (angeblichen) erklärenden Kraft einer Allaussage einnehmen zu lassen versucht ist, kann doch nichts darüber hinwegtäuschen, dass die Aussage, es gebe kein menschliches Wissen, eine starke Aussage darstellt, die genauer betrachtet werden muss. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen: zum einen die genetische Frage, wie der Zweifel an menschlicher Erkenntnis entstanden ist bzw. worin der Zweifel an menschlichem Wissen gründet, und zum anderendie ganz andere Frage, wie man die Allaussage, dass der Mensch nicht(s) wisse, begründen könnte. Allaussagen sind ja erst dann gültig, wenn der Beweis geführt ist, dass sie auf alle Fälle und in jeder Beziehung gelten.

Was die Entstehung des Zweifels an der Geltung menschlichen Wissens betrifft, so ist man wohl allein auf Vermutungen angewiesen (und die Verteidigungsrede Sokrates’ gibt darüber keinen Aufschluss, weil sie schon voraussetzt, dass man solcheZweifel haben kann). Eine Wurzel von ihnen stellt wohl das dann religiös (und später philosophisch)verarbeitete Erleben menschlicher Kleinheit gegenüber der vorgefundenenWelt dar;verbunden dann mit der Unterstellung, dass einem solchen Ungenügen irgendwo, irgendwie ein göttliches oder einsichtiges, überlegenes Überwissen gegenüberstehen müsse.15 Eine weitere etwas handfestere – freilich banale – Gelegenheit dazu zu ahnen, dass das, was man als Mensch oder Menschengruppe zu wissen meint, allenfalls nicht zutrifft, bietet dann weiter etwa die Erfahrung des Lernens bzw. die Begegnung mit (in Bezug auf einen Gegenstand oder die Philosophie an sich)Kundigen. Man mag –zu einem gewissenZeitpunkt – gemeinthaben, Kenntnisse in Bezug auf einen Gegenstand gehabt zu haben, wird nun aber, vorausgesetzt, dass man sich dem Wissen der anderen öffnen kann, später eines Besseren belehrt.16 Das Erlebnis, vorher gemeint zu haben, etwas zu wissen, nun aber zu erfahren, dass es mehr oder ganz anderes gibt, das zutrifft, kann etwa mit jener grundlegenden Erweiterung des Wissens, wie es Lernen mit bringt, einhergehen. Oder man kann erkennen, dass direkte Sinneseindrücke tatsächlichen Befunden widersprechen(indem man erfasst, dass die Erde eine Kugel darstellt, oder indem man nicht direkt sichtbare Gesetzmässigkeiten, wie sie etwa Mondfinsternissen oder Sonnenfinsternissen zugrunde liegen, zu verstehenbeginnt.17 Indem man eine solche Erfahrung iteriert, mag man dann zum Ergebnis kommen, dass es in Bezug auf jedes menschliche Wissen möglicherweise eine noch umfassendere oder genauere Form des Wissens geben könne, die Suche nach Wissen gewissermassen bis in die Unendlichkeit reiche und damit umgekehrt der Mensch – möglicherweise –nicht wirklich etwas wisse. Freilich geht aus einer solchen Erkenntnis erneut noch längst nicht hervor, dass der Mensch grundsätzlich nicht(s) wissen kann,

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Kapitel

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sondern allein, dass die Möglichkeit besteht, dass er noch nicht alles weiss (und er mag sogar immer noch meinen, dass er mit seinen Bemühungen nicht jetzt, wohl aber dereinst zu einem Ende käme).(Via einewie demütig erscheinende Verlängerung dieser Einsicht könnteman dann zum Ergebnis kommen, dass es nur einem göttlichen Wesen vorbehalten sei, alles zu wissen – eine solche Verallgemeinerung enthielte freilich immer noch starke Annahmen;unter anderem die, dass Wissen einen irgendwie festen Korpus (analog zu einem Lexikon)darstelle und es nichts gäbe, das man grundsätzlich nicht wissen könne, weil es gar nicht möglich sei, es zu wissen.18 )Die philosophische Einsicht in Bezug auf den Wert des menschlichen Wissens bestünde dann erst darin,dass man sich nicht auf einen Bestand von Wissen versteifen dürfe, sondern immer weiter offen bleiben und die Vorstellung zulassen müsse, dass Wissenerweitert werden könnte. (Und man könnte den Gedanken entwickeln, dass das bisher erreichte Wissen, auch wenn es nicht umfassend wäre, doch immerhin schon weit reiche.)

Einen ganz anderenCharakter nimmt das Erlebnis menschlichen Unwissens dann aber im Zusammenhang mit der Frage an, ob es ein Wissen um die Zukunft gebe. Der Mensch mag (quälend)erleben, dass er in Bezug auf die Zukunft keine gewissenKenntnisse hat.19 Zwar mag er versuchen, die Zukunft mit gewissen Methoden in den Griff zu bekommen – indem er häufig gemachte Erfahrungen in die Zukunft extrapoliert,20 indem er allerlei Gurus folgt,die angeben, über Wissenauch in Bezug auf die Zukunft zu verfügen,21 indem er mittels allerlei magischer Verfahren aus jetzt sich zeigenden Gegebenheiten, «Omina» genanntenBefunden, zu erschliessen versucht, was sie in Bezug auf die Zukunft bedeuten22,mittels Erschliessung von Gesetzen vorauszusehen versucht, was der Fall sein wird (was bekanntlich in der Antike im Falle einer Sonnenfinsternis angeblich von Thales geleistet worden ist), oder endlich ein (freilich zweideutiges)Wissen um Erwartungswahrscheinlichkeiten erwirbt. Aber auch wenn das im einen oder anderen Falle von Erfolg gekröntsein mag, kann doch nichts darüber hinwegtäuschen, dass es dem Menschen nicht gelingt, das grosse Ganze der Zukunft wissend zu ergründen;und so mag es spätestens hier auf der Hand liegen, die Möglichkeiten des menschlichen Wissens abzuwerten. (Auch hier bietet sich wieder die Möglichkeit an, das dem Menschen verwehrte Wissen göttlichen Wesen zuzuschreiben;freilich mit dem Nachteil, dass sich daraus auf der Stelle eine Reihe von unangenehmen Fragen, wie etwa jene des Determinismus, stellen.)

An dieser Stelle mag es sinnvoll sein, die abstrakten Reflexionen zum Themades Wissenkönnens (von Gegenständen), wie auch des Wissenkönnens in Bezug auf die Beurteilungdieses Wissens zu unterbrechen und sich Rechenschaft darüber zu geben, wie Sokrates Wissen bzw. eben Nichtwissen darstellt. Er tut dies auf indirektem Wege, indem er belegt, dass ausgewählte (aber als für die athenische Gesellschaft repräsentative)Gruppen von Menschen23 auf irrtümliche Weise 15

vorgeben zu wissen, dann aber, wie sich herauszustellen scheint, bloss meinen zu wissen, nicht aber wirklich wissen. Er selbst – so ist dann das Ergebnis seiner Untersuchungen zu verstehen – scheint gegenüberden Befragteninsofern weiser zu sein, als er wie diese nicht(s) wisse, aber auch nicht zu wissen meint,und weil die Befragten in der Gesellschaft unter anderem deswegeneine hohe Stellung einnehmen, weil sie als besonders wissend erscheinen, von Sokrates aber als Unwissende entlarvt werden können, erscheint per Umkehrschluss die Einsicht Sokrates’ in das menschliche Unwissen umso grösser.24

Als Gegenüber dienen ihm der Reihe nach die Politiker, die Dichter und die Handwerker. (Und man müsste diesen Gruppen jene von Sokrates nicht ins Spiel gebrachtenAlltagsmenschen hinzufügen, die im Alltag (und nicht zuletzt im Rahmen seines Prozesses), meinen etwas zu wissen – auch ihr Urteilen ist ja, wenn auch vielleicht auf eine verborgene Weise, auf Ansichten darüber, was der Fall ist und was nicht, geprägt.) Eine genaue Betrachtung seiner Beispiele zeigt nun aber, dass in ihnen, ohne dass er selbst darauf hinwiese, je verschiedene Formen eines verfehlten Anspruchs zu wissen Gestalt annehmen. Ein Ergebnis dieses Befundes ist, dass so dann auch das, was Sokrates als angemasstes Wissen bezeichnet, einen je anderen Charakter zeigt. Aus Sokrates’ Darlegungen geht also nicht irgendwie hervor,was Nichtwissen an sich ist oder wie man die Behauptung, dass der Mensch nicht(s)wissen könne, begründen könnte, sondern was für Formen es annehmen kann. Als unaufmerksamer Leser mag man am Ende dann meinen, Sokrates habe das Allgemeine (die Allaussage, dass der Mensch nicht(s) wissen könne)belegt – in Tat und Wahrheit hat er jedoch nur an (freilich schlagenden)Beispielen ausgeführt, wie angemasstes Wissenaussehen mag.

Als erstes versucht Sokrates die Behauptung des Orakels von Delphi, dass er der weiseste Mensch sei, damit zu widerlegen, dass er in ein Gespräch mit einem Politiker eintritt – in einem solchen müsse sich ja schnellergeben, dass der Politiker weiser sei als er.25 Dabei habe sich aber erwiesen, dass der Politiker davon überzeugt sei zu wissen, aber in Tat und Wahrheit nichts wisse und insofern, als das der Fall sei, Sokrates tatsächlich unterlegen sei, dennerselbst wissejaebenfalls nicht(s),meine aber auch nicht, etwas zu wissen. (Jemand, der sich in Bezug auf den Wert seines Wissens so sehr im Irrtum befindet, könne aber gewiss nicht als weise bezeichnet werden.) In welchem Sinne der Politiker sich der Verfehlung, entgegen seines Unwissens dennoch zu meinen zu wissen, schuldig macht, wird freilichaus dem Text nicht klar;und es mag die ewige Erfahrung mit der Anmassung von Herrschern sein, welche Menschen gemacht haben, die dazu beiträgt, dass man Sokrates sofort glaubt, dass zutreffe, was er vorbringt.

Sokrates unterstellt vielleicht Folgendes (das ist freilich eineAuslegung): Im Falle von (erfolgreichen)Politikern scheint ja deren Behauptung, dass sie über ein wie immer geartetes unbezweifelbares Wissenverfügten (sogesehen also «weise»seien), geradezu die Grundlage ihres Daseins und Auftretens zu bilden.

16 Kapitel 1 – Ausgangslage:
Wissen, Nichtwissen

Ihre Macht scheint, abgesehendavon, dass sie in der Folge auch über die Macht verfügen, das ihnen als richtig Erscheinendedurchzusetzen, eben darin zu bestehen, dass sie meinen zu wissen, ohne je daran zu zweifeln, dass zutreffe, was sie zu wissen meinen. Wenn das nicht der Fall wäre, ja wenn sie gar Zweifel daran hätten, dass sie Zugang zu richtigem Wissenhaben, müsste sich ein solcher Zweifel auch auf die Ausübungvon tatsächlicher Macht auswirken, und die durchschlagende Kraft, mit der sie in Erscheinung treten, wäredann früher oder später geschmälert. Aus diesem Grunde kann Macht wohl gar nicht zweifeln (und nicht abwägen und nicht diskutieren),26 weil sie Zweifeln an sich als Eingeständnis von Machtlosigkeit erleben müsste. Wenneine solche Interpretation zutreffen würde, so begegnete Sokrates bei den Politikerneiner Form von Wissen, die sich nicht anders als absolut auffassen kann. Eine solcheWissensauffassung würde sich dann also dadurch auszeichnen, dass sie gewissermassen zweiwertig wäre:Auf der einen Seite scheint es Wissenzugeben – auf der anderenSeite aber dann bloss völlige Verfehlung und damit Unwissen. Schon die geringste Abweichung von einem so absolut gesetzten Wissenkäme in einer solchen Interpretation dem Eingeständnis von Unwissen gleich, was dann zur Folge hätte, dass jede Abweichungvon dem angeblichzweifellosen Wissen unter den Tisch gewischt werden müsste bzw. gegen alle Gegenbeweise geleugnet werden müsste, dass es solche (auch nur)geben kann. In seinem Absolutheitsanspruch und der völlig fehlenden Unfähigkeit, sich zu korrigieren oder zu erweitern, stellt ein solches Wissensverständnis das stärkste Gegenteil dessen dar, wofür Sokrates steht: Es behauptet erstens, dass es nur ein einziges richtiges Wissen gebe,27 und dass es zweitens möglich sei, ein solches absolutes Wissen zu gewinnen:Eben Politiker seien dazu imstande. Freilich schliessen sich an eine solche Behauptung gleich zwei Folgerungen an. Zum einen ist das Vorgehen der Politiker immer früher oder später zum Scheitern verurteilt.Sie mögen mit den Mitteln der Macht verhindern, dass die Mängel ihres Wissens zu Tage treten, aber keine Macht ist so durchschlagend, dass ihre Anmassung nicht doch eines Tages offenbar werden müsste (indemsich zum BeispielEinschätzungenvon ihnen als verfehlt erweisen, weil sie keinen Zugang zu sicherem Wissen in Bezug auf die Zukunfthaben können). Und zum andern – um wieder auf Sokrates’ Beweisführung zurückzukommen – geht aus der Aufdeckung der Tatsache, dass Politiker mit ihrem Allwissenheitsanspruch in die Irre laufen werden, nicht grundsätzlich hervor, dass menschliches Wissen nicht bestehenkann. Es ist ja gerade umgekehrt besonders einfach, Allaussagen zu Fall zu bringen:ein einziges Gegenbeispiel reichtdazu bekanntlich aus. Auch wenn Allwissenheitsansprüche verfehlt sind, bleibt also selbstverständlich immer noch offen, ob es nicht doch eine Form gültigen menschlichen Wissens geben kann;zum Beispiel in Bezug auf gewisse eingegrenzte Gegenstände oder irgendwie damit, dass es offen gegenüberKorrekturen bliebe und Wissen in dem Sinne genannt werden kann, dass es immer weiter in sich aufnimmt, was sich erweisen mag.

Kapitel 1 – Ausgangslage: Wissen, Nichtwissen 17

In den Dichtern begegnet Sokrates einer im Grunde genommen ganz anderen Form von Anmassung.28 Er findet in den Gesprächen mit ihnen, dass sie sich zwar auf der einen Seite – wie man sagen könnte – dichtend das Recht anmassten, Werke zu schaffen, welche allgemeineGeltung beanspruchen, nicht aberbegründen könnten, wieso sie ihreWerke so verfassen, wie sie sie verfassen. Wenn sie so Gestalten schaffen und diese Aussagen über die Welt machen lassen, die den Anspruch haben, zuzutreffen,sowürde das voraussetzen, dass ein solches Erschaffen aus Wissen erfolge. Davonkann aber bei den Dichtern nicht die Rede sein:Sie scheinen diese stattdessenaus einer speziellen Dichterbegabung heraus geschaffen zu haben;also, wie es scheint, ohne Berechtigung, die irgendwie in Wissen begründetwäre. Und am Ende mögen sie sich dann erst noch dazu befähigt fühlen – weil sie dichten können –,sich in Bezug auf Gegenstände zu äussern, zu denen sie als Dichter gar keinen ausgezeichneten Zugang haben.29

Das Beispiel der Dichter mag einen überzeugen, wenn man nur intellektuell begründeten Schöpfungen Geltung zumessen kann (wie dies Sokrates tut) – in Bezug auf die Aussage, dass der Mensch nicht(s) wisse, folgt aus ihm dann aber wenig. Es erweist sich an ihm allein, dass sich erstens Menschen oder bestimmte Menschengruppen, was ihr Wissen betrifft, falsch einschätzen können, und zweitens, dass es Gebilde gibt, die sich als Produkt von Wissen ausgeben,nicht aber wirklich in Wissen begründet sind, sondern das Ergebnis aus schwer einschätzbaren Formen von Erfindung sind, die sich zu grossen Teilen nicht aus Wissen nähren. Beides ist aber eigentlich nicht weiter erstaunlich. Es gibtMenschen oder Menschengruppen, welche ihre Grenzen, genauer die Grenzen ihrer Zuständigkeit nicht kennen – daraus folgt aber in Bezug auf die grundsätzlicheFrage, ob menschliches Wissen möglich ist oder nicht, nichts. Es gibt in die Irre gehende Anmassungenvon Menschen, die sich einreden mögen, über ein aus irgendwelchen Quellen gezogenes tieferes Wissen zu verfügen– zur Diskussion gestellt muss aber sein, ob aller Anspruch des Menschen, Wissen gewinnen zu können, unangebracht ist.30 Das scheint ja die Hauptaussage von Sokrates zu sein. Ein wieder anderesErgebnis ergibt die Befragung der Handwerker.31 Das Hauptgewicht der Darlegungen von Sokrates liegt hier darauf zu belegen, dass die Handwerker meinten, weil sie ein gewissesWisseninBezug auf ihre (Handwerks)Kunst bzw. Tätigkeit hätten, dazu berechtigt zu sein, anzunehmen, sie verstünden auch in Bezug auf andere Dinge etwas. Etwas Ähnliches rügt er auch im Falle der Dichter – hier aber liegt das Gewicht darauf, dass die Handwerker (im Unterschied zu den Dichtern, die allein aus «Begeisterung»handeln, also ohne zu verstehen, was sie tun)indem Sinn eine Form von erkennbarer Kompetenz zeigen, als sie ihr Handwerkkorrekt ausführen können. (Ohne dass Sokrates selbst eine solche Präzisierung vornehmenwürde,könnte man in diesem Zusammenhang klärend geltendmachen, dass die Dichter in mancher Hinsicht in die Leere hinaus dichten, während die Handwerker zum Voraus definiertenAnsprüchen genügen müssen:Ein neues Drama von Euripides beispielsweise mag zwar

18 Kapitel 1 – Ausgangslage: Wissen, Nichtwissen

gewisse formale (Gattungs‐)Vorschriften erfüllen, erschafft aber sowohl in den vom Dichter erdachtenSituationen wie in dem, was in seinem Rahmen aus diesen folgt, etwas Neues (das dann als Neues nicht auf der Basis eines bestehenden Massstabes beurteilt werden kann), während der Schuster das, was als (richtige) Schuhe gelten,herstellt.) Das – so ist Sokrates vielleicht zu verstehen – führt dann dazu, dass sich Handwerker hinsichtlich ihres Wissens überschätzen:Sie mögen sich in einem gewissen Bereich zwar wirklich als fähig erweisen, können aber nicht erkennen, dass das, was ihnen als Wissenerscheint, allein auf einen bestimmten Gegenstandsbereich (ihr Handwerk) beschränkt ist. (Schon den Ansprüchen, die man an einen Zimmermann stellt, könntezum Beispielein Schuster nicht genügen.)

Aus Sokrates’ Darlegungen gehen dabei zwei Dingehervor (ohnedass er dies freilich explizit machte):Indem er so argumentiert, räumt er erstens beiläufig ein, dass es entgegen seinerGrundbehauptung jedenfalls in Bezug auf ein (eingegrenztes)Handwerkdennoch funktionsfähiges Wissen gibt. Indem er nun aber diesem Befund keine Beachtung schenkt bzw. einem solchen Wissen keine Anerkennungzollt, unterstellt er zweitens, dass es verschiedene Wissensbereiche, bzw. dass es WisseninBezug auf Gegenstände verschiedener Bedeutung und verschiedenen Wertes gebe. Handwerker haben nicht überhaupt kein Wissen, sondern kein Wissen in Bezug auf «wesentliche»Gegenstände,meinenaber, auch in Bezug auf sie kompetent zu sein;und das, was sie «wissen»mögen, ist allenfalls einfach nicht der Rede wert32 – so muss man lesen, was er vorbringt. VonBedeutung – so unterstellt er weiter – ist umgekehrt nur ein (freilich nicht umschriebenes)Wissen in Bezug auf die wirklich wichtigen Gegenstände, Wissen (wie immer man sich das vorstellen mag)inBezug auf jenes Grundsätzliche und Umfassende, das, wie es scheint, der vorgefundenen Welt zugrunde liegt;und auf dieses haben Handwerker mit ihrem beschränkten Handwerkswissen keinenZugang.

So wird spätestens in der Befragung der Handwerker ersichtlich, dass die Argumentation Sokrates’,sosehr sie einem auf den ersten Blick einleuchten mag, von einer Reihe von versteckten Zusatzannahmen geprägt ist. Diese gruppieren sich, recht betrachtet, um den von ihm eingesetzten Begriff des «Wissens»und, damit im Zusammenhang, um die Unterstellung, dass es gewissermassen verschiedene Schichten von «Wissen»gebe.

Auf den ersten Blick scheint der Begriff des «Wissens»unproblematisch zu sein, weil man meinen mag zu wissen, was darunter zu verstehen ist.33 Das ist aber, wie sich nun bei genauer Betrachtung nach und nach ergibt, nicht der Fall. Zunächst einmal muss man sich darüber Rechenschaft geben, dass der Begriff selbst einen irreführenden Charakter hat, insofern als er in sich abgeschlossen erscheint:Esgibtselbstverständlich nicht einfach «Wissen»ansich, sondern «Wissen»ist «Wissen von (etwas)»,34 ist also auf Gegenstände bezogen, um die es dann «weiss»(oder nicht). Man kann wissen, dass Sokrates «gesagt»hat, Ich

Kapitel 1 – Ausgangslage: Wissen, Nichtwissen 19

weiss, dass ich nicht(s) weiss, man kann wissen, was das bedeutet;man kann (allenfalls)wissen, was Philosophie bedeutet.Man mag wie Wagner im Drama Faust die Sehnsucht haben, alles zu wissen, was die vorgefundene Welt hergibt (wie immer man dann meint, so ein Ziel zu verwirklichen). Man kann den Satz von Pythagoras kennen;man kann wissen, wie man ihn anwendet. Man kann allenfalls ein Wissendarum entwickeln, wie man weiteres Wissen gewinnen könnte. Man kann wissen, wie man Schuhe anfertigt. Man mag sich endlich danach sehnen zu wissen, was (ummit Faust zu sprechen)die Welt «imInnersten zusammenhält». Und man mag allenfalls wissen, wo die Grenzen des menschlichen Wissens liegen, wie das Sokrates mit seiner Aussage behauptet. Ganz losgelöst zunächst von der Frage, wie solche verschiedenen Bereiche von menschlichem Wissen zu bewerten seien, muss man, indem man sie unterscheidet, zum Ergebnis kommen, dass verschiedene Gegenstände auch die Ausprägung des jeweiligen Wissens von ihnen mitbestimmen. Ein WissenumTatsachen etwa hat einen anderen Charakter als ein Wissen, das in Verstehen mündet;ein Wissen darum, wie man gewisse bestimmte Fertigkeiten ausübt, hat einen anderenCharakter als ein Wissen darum, wie man Wissen generiert, etc. Das hat zunächst zur Folge, dass die Frage,obmenschliches Wissen bestehenkönne oder nicht, (auch) in Abhängigkeit zum Gegenstandsbereich des Wissens steht. Die Frage, ob der Mensch über Tatsachenwissen verfügt, hat einen ganz anderen Charakter als etwa die Frage,oberdie Tatsachen, die er vorzufinden meint, richtig versteht oder überhaupt verstehenkann;und diese Frage hat wieder einen ganz anderen Charakter als die Frage, ob er bestimmen kann, wie die letzten Zusammenhänge, die sich im Hintergrund der vorgefundenenWelt verstecken mögen, aussehen.In Bezug auf sogenannteTatsachen stellen sich etwa die Fragen, was überhaupt eine Tatsache ist, ob der Mensch (jetzt gerade)Zugang zu allenTatsachen (wenn es solche gibt)hat und schliesslich,oberjemals (inder Zukunft)alle Tatsachen finden kann. In Bezug auf Verständnisleistungen stellt sich die Frage, ob er, was er zu verstehen meint, «wirklich», d. h. in all seinen Aspekten verstanden hat, und – wieder – dereinst alles verstehen können wird, was es zu verstehen gibt. In Bezug auf den Hintergrund der vorgefundenen Welt stellt sich die Frage, wie der Mensch durch das Vorgefundene hindurch zu irgendwie Grundsätzlichem vorstossen könne bzw. ob es einen solchen grundsätzlichen Hintergrund überhaupt gibt oder geben kann (Sehnsüchte, wie sie Faust hat, unterstellen ja ohne weitere Begründung, dass es das gibt, was sie sich ersehnen – Sehnsüchte begründen aber nichts).

Und erst dazu tritt die ganz andere Fragestellung, ob es eineHierarchie der Gegenstandsbereiche bzw. der Wissensbereiche gibt, die irgendwie an sich besteht, (und natürlich wieder die Frage, ob man erfassen bzw. wissen kann und wie eine solche Fragestellung aussehen müsste). Man mag (weil man ja in einer Interpretationstradition steht)schnell etwa geltend machen, dass ein Wissen, das über ein grösseres Gebiet Aufschluss gibt als ein anderes als irgendwie bedeuten-

20 Kapitel 1 – Ausgangslage: Wissen, Nichtwissen
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