BFN25: Mark-Georg Dehrmann, Christoph König (Hg.). Zarathustra-Lektüren

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BEITRÄGE ZU FRIEDRICH NIETZSCHE

MARK-GEORG DEHRMANN, CHRISTOPH KÖNIG (HG.)

ZARATHUSTRALEKTÜREN




Beiträge zu Friedrich Nietzsche Quellen, Studien und Texte zu Leben, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches

Andreas Urs Sommer (Hg.)

Band 25


Mark-Georg Dehrmann, Christoph König (Hg.)

Zarathustra-Lektüren

Schwabe Verlag


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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kontexte, Forschung, Kreativität Christoph König: Forschungstopoi: Diagnose, Sprache, Tradition . . . . . . .

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Felix Christen: Buchgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mark-Georg Dehrmann: Werkpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph König: Philosophie, Poesie, Philologie: Dreifache Vernunft . . . .

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Lehren Mark-Georg Dehrmann und Erika Thomalla: Doktrinen: ‹Ewige Wiederkunft› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Elisabeth Flucher und Johannes Schmidt: Doktrinen: Der ‹Wille› . . . . . . . .

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Elisabeth Flucher: Lehre als Textpraxis: Der ‹Übermensch› . . . . . . . . . . . .

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Felix Christen: Lehre als Textpraxis: Tugendlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erika Thomalla: Zarathustras Doppelgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Formen und ihre Funktionen Mark-Georg Dehrmann: Komposition: Erzählung und Sammlung . . . . . .

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Svetlana Efimova: Materialität und Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

Johannes Schmidt: Motti und Selbstzitate: Auktoriales Regime . . . . . . . . . .

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Svetlana Efimova: Gattungen: Funktionen und Dynamiken . . . . . . . . . . . .

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Simon Friedland: Gattungen: Form und Funktion lyrischer Gattungen . . .

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Elisabeth Weiß-Sinn: Klangfiguren: Zarathustras synästhetische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Sprachdenken Christoph König: Idiomatik: Zu ‹Von der grossen Sehnsucht› (Buch 3.14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Turowski: Idiomatik: ‹Über› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Simon Friedland: Idiomatik: ‹Einsamkeit› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mark-Georg Dehrmann: Tropen: Gebrauch und Theorie des Gleichnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph König: Natur: ‹Zarathustra’s Vorrede› – Eine Aktualisierung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gesamtbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Der ‹Zarathustra› war vom Erscheinen seines ersten Teiles an ein schwieriges, ein rätselhaftes und erstaunliches Buch. Nietzsche selbst hat den herausgehobenen Status seines Werkes gegenüber Freunden und in anderen Schriften stets offensiv herausgestellt. Jedoch formuliert der ‹Zarathustra› seine Besonderheit bereits auf dem Titelblatt: Er sei «Ein Buch für alle und keinen». Mit diesem Untertitel, der gleichzeitig Gattungsangabe ist, adressiert das Werk durch die Präposition «für» eine Leserschaft – hält sich an seinem Eingang aber gleichzeitig vor ihr zurück. Unter welchen Umständen kann man sich eigentlich durch diese Anrede angesprochen fühlen, auf die der Leser als Einzelner trifft, die ihn jedoch ignoriert und sich stattdessen gleichzeitig an das umfassende Kollektiv und an niemanden richtet? Freilich hat die einladende Ausladung des Untertitels von der beginnenden Nietzsche-Verehrung um 1900 an eher anziehend als abschreckend gewirkt: Viele glaubten dieses Nadelöhr durchschreiten und sich denen zuzählen zu dürfen, an die sich das Buch zu wenden scheint. Obwohl der ‹tragische›, oft mit Zarathustra überblendete Nietzsche, der in den ersten Jahrzehnten seiner Wirkungsgeschichte vor allem verehrt wurde, sich heute glücklicherweise verloren hat, bleibt der ‹Zarathustra› enigmatisch und provokativ – vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil er Gefolgschaft nur scheinbar fordert, in Wirklichkeit jedoch über ihre unmögliche Möglichkeit nachdenkt: ein Buch für alle und keinen. Mit seinem spezifischen Charakter behauptet der ‹Zarathustra› auch eine besondere Stellung innerhalb von Nietzsches Schriften. Offen und herausfordernd ist nicht nur die Frage der Adressierung, wie sie im Untertitel aufgestellt wird, sondern auch die der Gattung, wenn man das hapax legomenon ‹Ein Buch für alle und keinen› in seinen Bezügen zu etablierten Genera der Rede abprüfen möchte. Handelt es sich um ein philosophisches Buch oder ein literarisches? Lehrt der ‹Zarathustra›, oder hat er sich als ‹Dichtung› in einen vermeintlich der argumentativen Verantwortung entzogenen Bereich jenseits des Denkens erhoben? Oder, noch einmal anders und mit durchaus anderen Konsequenzen gefragt: Lehrt die Figur Zarathustra eigentlich, oder folgen ihre Reden und Handlungen einer anderen Logik, die nicht in derjenigen des Redens und Argumentierens aufgeht? Und wenn die Figur das eine oder das andere täte, was bedeutete dies für das Buch ‹Also sprach Zarathustra›?


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Einleitung

Die Interpretationen des ‹Zarathustra› gruppierten sich oft genau entlang der Dichotomie, die sich in Fragen wie diesen zeigt. Viele entschieden sich für eine der beiden ‹Seiten› Philosophie oder Dichtung bzw. es bestimmten meist bereits akademische Herkunft und intellektuelles Profil des jeweiligen Interpreten die Art, wie man sich dem ‹Zarathustra› näherte – mit Konsequenzen: Sieht man den ‹Zarathustra› als im Kern philosophisches Werk, so wird man vielleicht dazu neigen, Lehren und propositionale Aussagen aus ihm isolieren zu wollen. Alles, was sich nicht dazu eignet, erscheint dann angesichts der ‹eigentlichen› Botschaft als Beiwerk, bloße Hülle oder Medium – etwa die Sprachlichkeit des ‹Zarathustra›, seine Faktur, Erzählung oder Struktur, seine Reflexivität. Interpretationen, die die Aufmerksamkeit dagegen auf Faktur und Struktur des ‹Zarathustra› richten, spielen oft genug die Sprachlichkeit gegen die Möglichkeit eines philosophischen oder überhaupt sonstigen Gehaltes aus. ‹Zarathustra› erscheint dann als Text, in dem das notwendige Entgleiten eines jeden Signifikanten greifbar wird. Die Auseinandersetzung mit dem ‹Zarathustra›, aus der der vorliegende Band entstanden ist, wollte dagegen weder die Philosophie gegen die Dichtung ausspielen noch umgekehrt. Sie teilt mit den philosophischen Interpretationen den Eindruck, dass es im ‹Zarathustra› um etwas geht – und nicht darum, zu zeigen, dass Sprache ihre eigenen Setzungen notwendig immer unterläuft, dass also eigentlich nichts ‹geht›. Mit den literaturwissenschaftlichen Interpretationen hat sie das Bewusstsein hoher Komplexität gemeinsam – in dieser Komplexität sieht sie jedoch nicht die notwendige mise en abyme jeder sprachlichen Arbeit, sondern vielmehr den spezifischen Modus eines sprachlichen Denkens, das die konstruktive Fortschreibung eines Werkes ermöglichen will. Zu den Momenten des Philosophischen und des Dichterischen tritt noch ein drittes, das für diese beiden konstitutiv ist. Es besteht in der beständigen Reflexivität des ‹Zarathustra›. Er entwickelt mit seinen Verfahren der Resemantisierung eine eigene Sprachlichkeit und eine eigene Sprache. Man muss damit rechnen, dass diese im Zuge ihrer beständigen Bildung und Fortbildung durch die Abschnitte und Bücher hindurch – gerade in ihrer reflexiven Bewegung – zu dem Mittel wird, dem aufgegeben wird, die Ambition des ‹Zarathustra› als Werk zu tragen. Die Reflexivität, die als drittes ‹Bauelement› des ‹Zarathustra› in den Blick genommen werden muss, lässt sich auch als seine philologische oder kritische Dimension bezeichnen: Die Sprachlichkeit wendet sich konstruktiv auf sich selbst zurück, um das Werk auf der Basis dieser Reflexivität fortzuschreiben. Diese Reflexivität ergibt sich also in und durch die Progression der Arbeit, damit aber auch des Werkes als Werk – und sie vollzieht sich über die Brüche und Zäsuren hinweg, an denen die Entstehungsgeschichte des ‹Zarathustra› mit seinen verschiedenen Büchern so reich ist, denn auch diese Momente kompositorischer Zeitlichkeit können reflexiv fruchtbar gemacht werden.


Einleitung

Besteht man auf der Reflexivität des fortschreitenden Werkes, so ergeben sich wichtige methodische Konsequenzen: Die Lektüre muss erstens den Verfolg des Textes ernst nehmen und dabei zweitens ein Bewusstsein für dessen spezifische Verfahren gewinnen. Einzelnes also darf erstens nicht herausgegriffen und damit dekontextualisiert werden, da der Ort im Verfolg des Textes ihm erst seinen spezifischen Sinn verleiht – dies gilt für die jeweilige Logik, in der sich Rede (und Handlung) der einzelnen Kapitel im ‹Zarathustra› vollziehen; es gilt aber auch für die Abfolge der Kapitel, in der eine kompositorische Logik auszumachen ist. In und durch den Verfolg bilden sich zweitens die spezifische Sprachlichkeit und Sprache des ‹Zarathustra›, denn Worte, Begriffe, ‹Lehrsätze›, Reden und Szenen, aber auch Tropen, Figuren, Sprechakte und im Text verwendete Gattungen (wie sie etwa auch durch Verben wie ‹erzählen› oder ‹singen› gesetzt werden), schließlich Anspielungen und Referenzen – sie alle werden hier je erst in ihrer besonderen Bedeutung ausgeprägt. Die Reflexivität des ‹Zarathustra› bildet also ein idiomatisches Verfahren heraus, dem die Deutung gerecht werden muss. Erst in der reflexiven ‹Umwendung› der Referenz auf die eigene Sprache und Sprachlichkeit konstituiert sich der Werkcharakter des ‹Zarathustra›. Dieses Herangehen an Nietzsches Text und die methodische Fundierung – hier nur stichworthaft skizziert – bilden die gemeinschaftliche Basis der hier versammelten Beiträge zum ‹Zarathustra›, ihren Ausgangspunkt und inneren Zusammenhang. Ihr gemeinsames Fundament konnten die Beiträgerinnen und Beiträger im Zuge mehrjähriger gemeinsamer Lektüren und Diskussionen erarbeiten. Nicht von vornherein war dabei an eine Publikation gedacht. Dieses Projekt kristallisierte sich erst im Zuge der gemeinsamen Lektüren, als – vielleicht vergeblicher – Wunsch, die Intensität der Diskussionen festzuhalten, und als Versuch, deren Erträge zumindest teilweise auch nach außen zur Diskussion zu stellen. Es liegt ein Paradox darin, dass aus den intensiven gemeinsamen Lektüren die Motivation zur Publikation entstanden ist, denn in den gedruckten Texten können sich zwar deren Prämissen und Erträge sedimentieren – die Lebendigkeit der gemeinsamen Arbeit aber können sie nicht spiegeln. Dennoch soll dieser ephemere, nicht im Druck fixierbare Teil der Arbeit an dieser Stelle nicht übergangen, sondern vielmehr akzentuiert werden. Denn gerade dies erscheint uns – hier können die beiden Herausgeber für alle sprechen, die über die Jahre an den Treffen teilgenommen haben – als unerlässlich für das wissenschaftliche Leben unserer Fächer: die Existenz von Räumen, in denen die wiederholte und insistierende, über längere Zeit fortgesetzte ‹lecture à plusieurs› (Jean Bollack), die ‹Lektüre zu mehrt›, möglich ist. Als eigenwertiges Prinzip und Verfahren wissenschaftlicher Arbeit wird sie zu selten ermöglicht oder ihre Ermöglichung zu selten angestrebt. Für wissenschaftliche Institutionen – und damit sind einerseits die Universitäten gemeint, andererseits die Förderinstitutionen – erscheint ein über mehrere Jahre sich treffender Kreis gemeinsam Lesender und Diskutie-

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Einleitung

render wenig förderungswürdig. Schon allein aus der dadurch entstehenden Notwendigkeit mittelfristiger Finanzierung ist dies der Fall, mehr aber noch, wenn der ephemere Zweck der Lektüre im Vordergrund steht und nicht der Publikationsertrag, der sich – je nach dem erst zukünftig sich zeigenden Ertrag der gemeinsamen Arbeit – ergeben oder auch ausbleiben mag. Entsprechend ist das Peter-Szondi-Kolleg, in dem wir uns die mehrjährige Lektüre des ‹Zarathustra› erlauben konnten, nur in einem untergeordneten Sinn an institutionelle Strukturen angebunden. Alle Treffen wurden durch die große Gastfreundschaft einzelner Institutionen gefördert. Diesen Institutionen sprechen wir am Ende dieser Einleitung unseren Dank aus. Insgesamt wurden die Treffen finanziell möglich durch die Eigenbeteiligung der Kollegiatinnen und Kollegiaten sowie durch Berufungs- bzw. Lehrstuhlmittel der Herausgeber. Das Peter-Szondi-Kolleg wurde 2006 von Christoph König gegründet. Unter seiner Anleitung gab es einer Gruppe von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern einen Raum zur intensiven Lektüre. Das Prinzip der kritischen gemeinsamen Lektüre greift zurück auf die schon genannte ‹Lektüre zu mehrt›, wie sie Jean Bollack über viele Jahre an der Universität Lille und in seiner Wohnung in der Pariser Rue de Bourgogne praktiziert hat. Nach zunächst von Treffen zu Treffen wechselnden Gegenständen konzentrierte sich die Gruppe auf Rilkes ‹Sonette an Orpheus› und entschied sich im Laufe der Treffen, eine gemeinsame Publikation zu unternehmen.1 Die Beschäftigung mit Nietzsche begann im Anschluss daran 2016. Naturgemäß hatte sich der Charakter des Kreises in der Zwischenzeit verändert. Zwar wurden immer wieder neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgenommen – vor allem solche, die sich noch in frühen Stadien der wissenschaftlichen Laufbahn befanden. Mitglieder aber aus den Anfangsjahren, die weiterhin am Szondi-Kolleg teilnahmen, hatten sich mittlerweile als Hochschullehrer etablieren können. Aus der von Christoph König als Ort einer freien Nachwuchsförderung gegründeten Gruppe ist also ein Lesekreis geworden, der auch in seiner Altersstruktur (und – sozusagen – in den Formen unterschiedlicher Dienstverhältnisse und Qualifikationsstufen) breiter gespannt ist als das Kolleg der Anfangsjahre. Auch die Konzentration auf Nietzsches ‹Zarathustra› hat sich erst im Laufe der gemeinsamen Lektüren ergeben. Bei der ersten Tagung vom 17. bis 18. November 2016 im Bohnenkamp-Haus der Universität Osnabrück standen die ‹Dionysos-Dithyramben› im Zentrum des Kollegs. Das anschließende Treffen vom 23. bis 24. Juni 2017 an der Humboldt-Universität zu Berlin prüfte die Beziehungen der ‹Dithyramben› zum ‹Zarathustra›, vor allem an den Gedichten, Über Die Sonette an Orpheus von Rilke, Lektüren, hg. von Christoph König und Kai Bremer im Auftrag des Peter Szondi-Kollegs, Göttingen 2016. Hier entwickelt Christoph König auch Prinzipien und Modelle guter Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und präzisiert die Möglichkeiten des Peter Szondi-Kollegs (vgl. S. 11–16). 1


Einleitung

die Nietzsche in beiden Kontexten platzierte. Geschah dies anfangs noch mit Bezug auf die ‹Dithyramben›, so wurde hier die Verlagerung des Interesses auf den ‹Zarathustra› beschlossen, dem die anschließende Tagung im Nietzsche-Haus Sils-Maria vom 30. Mai bis 3. Juni 2018 galt. Eine Vielzahl von Kapiteln des ‹Zarathustra› wurde dann auf den Fortsetzungen im Deutschen Literaturarchiv Marbach (30. Mai bis 2. Juni 2019) und im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (7. bis 10. November 2019) intensiv diskutiert. Parallel zu den Treffen des Szondi-Kollegs entstand Christoph Königs Buch ‹Zweite Autorschaft. Philologie, Poesie und Philosophie in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra und Dionysos-Dithyramben› (Göttingen 2021). Dessen Gedanken und einzelne Kapitel wurden auf den Sitzungen diskutiert. Fundamental für die gesamten Diskussionen des Kollegs waren dabei von Beginn an der hier vertretene methodische Ansatz der insistierenden Lektüre sowie die Annahme einer triadischen Bewegung im ‹Zarathustra› zwischen Philosophie, Dichtung und Philologie. Das Manuskript des Buches wurde in der Schreibphase der Beiträge zu diesem Band abgeschlossen und konnte in sie einfließen. Exemplarische und der Systematik des vorliegenden Buches entsprechende Kapitel werden daher hier – in neuer Kontextualisierung dazu – abgedruckt. Auch in Berlin entfalteten sich parallele und ergänzende Aktivitäten zum Kolleg, indem sich der zweite Herausgeber und die an der Humboldt-Universität zu Berlin verankerten Beiträgerinnen und Beiträger zusammen mit fortgeschrittenen Germanistikstudierenden (außerkurrikular) zwei Semester lang mit einzelnen Abschnitten aus dem ‹Zarathustra› beschäftigten. Das Modell des Szondi-Kollegs bewährte sich in diesem kleineren Maßstab als kolloquiale Lehrform. Die Anlage des Szondi-Kollegs – vor allem als der Lesekreis, zu dem es sich entwickelt hat – bringt es mit sich, dass zwischen den Beiträgen einerseits eine Familienähnlichkeit herrscht. Sie beruht auf den gemeinsamen methodischen Prämissen, den gemeinschaftlich in den Diskussionen erarbeiteten Koordinaten – aber auch den Streitpunkten. Die Prägung durch Christoph König und – im Hintergrund – Jean Bollack sowie natürlich durch die Arbeiten des Namensgebers Peter Szondi macht ein wichtiges Fundament aus, auf dem sich die Mitglieder in den gemeinsamen Lektüren treffen konnten. Zu diesen ‹Treffen› aber kamen die Beteiligten gleichsam aus unterschiedlichen Richtungen, ausgestattet mit verschiedenen akademischen und methodischen Hintergründen. Diese Vielfalt der Herkünfte und Interessen können und wollen die Beiträge des Bandes weder verbergen noch vermeiden. Auch sie schlägt sich in der jeweiligen Interpretation nieder; eine Homogenisierung der jeweiligen Lektüren, die über die in den Treffen gemeinsam erarbeiteten Grundüberzeugungen hinausging, war nicht beabsichtigt. Insofern sprechen die jeweiligen Autorinnen und Autoren zwar von einem gemeinsam verantworteten und geteilten methodischen Ethos aus – aber sie tun dies gleichzeitig dezidiert in ihrem je eigenen Namen. Dies gilt auch für die Auseinandersetzung mit der reichen Forschung zum ‹Zarathustra›.

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Einleitung

Die Gruppe teilt zwar grundsätzlich den Eindruck des Ungenügens einer – wie oben skizziert – einseitigen Herangehensweise an Nietzsches Buch. Aber der Anschluss an eine je konkrete Forschungsposition – oder aber ihre Ablehnung – geschieht ebenfalls jeweils nur im eigenen Namen. Der Band – das soll hier explizit gesagt werden – soll kein ‹Handbuch› zum ‹Zarathustra› sein. Er versucht nicht, dieses Buch in all seinen Aspekten und Facetten gleichsam ‹abzudecken›. Das würde schon der Herangehensweise des Kollegs widersprechen, die durchgehend in einer Lektüre einzelner Kapitel bestand, im Nachvollzug ihres jeweiligen inneren Verfolgs und mit Blick auf ihre Einbettung in die Sequenz des Ganzen. Gleichwohl haben wir uns entschieden, die Beiträge nach systematischen Fragestellungen, Gedankenfiguren und Wörtern auszurichten, die für den gesamten Text wichtig erscheinen. Die Beiträge gehen dabei aber dennoch von Lektüren aus, die auf die Fragestellungen hin zugespitzt werden – ohne auch hier die Beiträge unbedingt homogenisieren zu wollen. Die ursprüngliche Liste der Stichwörter war noch um einiges länger als in der nun verwirklichten Publikation. Eine Reihe von Artikeln ist der Pandemie zum Opfer gefallen, die die Zeitpläne und Berufsplanungen der Beteiligten – wie auch den Arbeitsrhythmus des Kollegs – zum Teil erheblich durcheinandergebracht hat. Für Gastfreundschaft und Hilfe im Laufe der Jahre danken wir Bernhard Fischer (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar), Marcel Lepper (vormals Deutsches Literaturarchiv Marbach), dem Nietzsche-Haus in Sils Maria. Felix Christen verdanken wir wichtige Beiträge in der Konzeption dieses Bandes. Über die Jahre haben studentische Hilfskräfte wichtige Unterstützung geleistet: Dina Bijelic, Diego Léon-Villagrá, Marie Thiele und Felix Woywode bei der Organisation und Durchführung einzelner Veranstaltungen, Olivia Nicole Gilbert und Matthias Ubl im Rahmen der Redaktion und Drucklegung dieses Bandes. Mark-Georg Dehrmann und Christoph König


Einleitung

Zur Zitationsweise Zitate aus dem ‹Zarathustra› werden in der Form ‹Seite,Zeile› nach der KSA nachgewiesen. Dabei sind Druckfehler nach der Liste der editorischen ‹Berichtigungen› zum ‹Zarathustra› in KGW bzw. KSA (KGW VI 4, 981–983) korrigiert. Die anderen Werke Nietzsches werden unter Angabe der in der Forschung üblichen (und am Beginn der Bibliographie abgedruckten) Werksiglen nach der KSA zitiert und nachgewiesen (mit Band und Seite, aber ohne Zeile). Für nicht in der KSA enthaltene Texte Nietzsches wird die KGW zugrunde gelegt, für Briefe die KSB und – wo nötig – die KGB. Doppelte Anführungszeichen in Zitaten Nietzsches werden als doppelte belassen, sodass mitunter die typographisch ungewöhnliche Aufeinanderfolge zweier doppelter Anführungszeichen entsteht. Hervorhebungen Nietzsches in gedruckten Schriften werden – wie in der KSA und KGW – g e s p e r r t gedruckt; bei Hervorhebungen in Nachlassaufzeichnungen und Briefen wird dagegen die Sperrung der genannten Ausgaben in eine einfache bzw. doppelte Unterstreichung umgewandelt, die Nietzsches handschriftliche Praxis wiedergibt.

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Kontexte, Forschung, Kreativität



Forschungstopoi: Diagnose, Sprache, Tradition Christoph König

Die dreifache Vernunft des ‹Zarathustra› erklärt Topoi und Tendenzen der Nietzsche-Forschung; diese Vernunft liegt, neben dem Werk, auch der Forschung zugrunde, doch wird sie als Bedingung der eigenen Resultate nicht verstanden.1 Tatsächlich können die verschiedenen Forschungspositionen und ihre Mängel darauf zurückgeführt werden, dass sie aus den disziplinär gefassten Vermögen (Philosophie, Philologie, Poesie) sowohl auswählen als auch verkennen, dass die Vermögen im Zusammenwirken ihre (disziplinäre) Identität verloren haben. Im ‹Zarathustra› wird aus der Sprache eine Idiomatik werden, aus der Philosophie emergierende und verschwindende Gedankenfiguren, aus Kritik und Kommentar der (fremden und eigenen) Traditionen die produktive zweite Autorschaft.2 Wie sich die Vermögen ändern, verwandeln sie sich den benachbarten an. Ist der Kommentar nur produktiv denkbar, so ist die philologisch geschaffene Ganzheit philosophisch, und in der poetischen Arbeit wird die philosophische Ganzheit als Idee zum sprachgebundenen Sinn, oder vorsichtiger: zur Arbeit am Sinn mit dem Telos einer philosophischen Idee, die sprach-

Die methodische Verbindung von Interpretation und Wissenschaftsgeschichte gehört zu den wesentlichen Motiven einer neuen, kritischen Hermeneutik (vgl. Christoph König, ‹O komm und geh›, Skeptische Lektüren der Sonette an Orpheus von Rilke, Göttingen 2014, S. 31– 43). Die polemische, ideologiekritische Geste von Jean Bollack erlaubt ihm, die Interessen, die zur Korruption in den Deutungen geführt haben, zu durchschauen. Mein Weg gründet darauf (vor allem eingedenk der Scharfsichtigkeit, die die Polemik schenkt), doch rechne ich mit einer systematischen Verbindung, insofern das Lektürevermögen durchaus sich gegen die eigenen Interessen stellen kann. Insofern ist der Interpretenkonflikt (ein Konflikt, der von den Voraussetzungen der Interpreten ausgeht) von dem Interpretationskonflikt (einem Konflikt, den das Werk kraft seiner Logik selbst schafft) zu unterscheiden. Vgl. auch die Unterscheidung des Werks als Streitsubjekt oder als Streitobjekt in: Michael Woll, Hofmannsthals Der Schwierige und seine Interpreten, Göttingen 2019. Nietzsche hat selbst einen Interpretenkonflikt (der disziplinär bedingt wäre) gelöst und die Konflikte anderswo angesiedelt, kraft jener Lösung – gerade, wie ich zu zeigen versuche, in einem Paradox. So ist die disziplinäre Trennung ein unausgereifter Effekt einer Eigenart der Denkform Nietzsches, deren Unausgereiftheit von der disziplinären Trennung befördert wird. 2 Vgl. dazu in diesem Band meinen Beitrag ‹Philosophie, Poesie, Philologie: Dreifache Vernunft› (S. 75–84); ergänzend in Christoph König, Zweite Autorschaft, Philologie, Poesie und Philosophie in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra und Dionysos-Dithyramben, Göttingen 2021: die Kapitel ‹Grundgedanke und Argument› (S. 7–13) sowie Kapitel I (S. 15–26). 1


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Christoph König

lich von innen her (Ludwig Wittgenstein)3 begrenzt wird. Ähnlich wie in der Gattungsphilosophie der Romantiker werden die Begriffe zu kombinierbaren Adjektiven.4 Meine folgende Konstruktion der Forschungstopoi zeigt, inwiefern die drei Vermögen in der Welt der Forschung disziplinäre Begriffe bleiben, und sie zeigt in diesem Mangel Nietzsches totalisierende Produktivität, aus der wiederum eine Erkenntniskritik der Mängel respektive der Forschungslogik folgen kann. Die Frage, warum die einen dies und die anderen jenes machen, soll vom Werk her erläutert werden, also solange das Missverständnis spezifisch ist (und nicht allein der Willkür der Leser geschuldet5 ). Drei Akzente fallen ins Auge. Die jeweilige Forschung lässt sich historisch reihen, und in der Forschungsgeschichte tritt eine systematische Zeit zutage, in der die Positionen argumentative Defizite anderer auszugleichen suchen. In dem Maße, in dem sich die solcherart mögliche Zeit historisch nicht durchsetzt, entsteht eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die aktuelle Auffassungen an älteste anschließen lässt. Die drei Akzente ‹Diagnose›, ‹Sprache› und ‹Tradition› korrespondieren mit der dreifachen Vernunft des Werks. Ihren systematischen Zusammenhang besitzen sie darin, dass (a) die Diagnose zur Nutzung des Werks im Hinblick auf eine philosophische Position nicht umhinkann, im ‹Zarathustra› dessen sprachliche Oberfläche (durch die hindurch man wie durch Glas auf eine Philosophie oder das Leben blicken will) zu beachten. Diese Oberfläche (b) nimmt sich in der Forschungsgeschichte dichotomisch aus: Entweder gilt der Anspruch, das Sprachliche diene der im Sprung zugänglichen Transzendenz; oder die Sprache wird monothematisch gefasst – dann interessiert das sprachliche Material (etwa die Gestaltung in Aphorismen) ohne weitere Orientierung (und sei es, dass das Philosophische für gegeben gehalten wird). Der Schritt zur Auflösung der Oberfläche liegt sofort nahe, der dritte Akzent liegt nun (c) auf den, wie es heißt, inneren Widersprüchen und nichtgebändigten Traditionen – ein zirkuläres Programm, denn der gerade unter ‹philologischen› Editoren verbreitete Verdacht, es gebe in diesem Werk nichts eigen Gestaltetes, 3 Vgl. die resolute Lektüre von James Conant, der zwei Fragen aufwirft: (a) Wie können die Sätze des ‹Tractatus› «unsinnig» (§ 6.54) und gleichwohl für die Einsicht am Ende nötig sein? und: (b) Inwiefern ist der ‹Tractatus› als Ganzes ‹ethisch›, wie Wittgenstein in Kommentaren außerhalb des Buchs behauptet? Die beiden Fragen fügen sich schließlich in eine einzige: Worin besteht der ‹ethische Sinn› des ‹Tractatus›? ‹Resolut› ist Conants Lektüre, weil sie Wittgensteins Schluss auf alle Sätze des Buchs bezieht; vgl. James Conant, ‹What Ethics› in the Tractatus is Not, in: Religion and Wittgenstein’s Legacy, hg. von Dewi Zephaniah Phillips, Aldershot 2005, S. 39–88, und in dieser Tradition König 2021 (Anm. 2). 4 Vgl. zur Bedeutung der Adjektiva in diesem Band meinen Beitrag ‹Philosophie, Poesie, Philologie: Dreifache Vernunft›, S. 75–84. 5 Als Interpretenkonflikt statt als Interpretationskonflikt; vgl. König 2014 (Anm. 1), S. 156, zum Verhältnis von Lektüre, Interpretation und Exegese.


Forschungstopoi: Diagnose, Sprache, Tradition

führt zu einer Hemmungslosigkeit im Beibringen von Quellen, deren Fülle wie Normen als Bestätigung gilt, dass alles geborgt sei.6 Ich werde nun in exemplarischer Absicht einzelne Interpreten vorstellen. Als allgemeine Maxime für den Umgang mit Texten aus der Forschungsgeschichte gilt: Ferne und auch gedankliche Nähe sind das Ergebnis einer Übersetzung aus der Sprache des vergangenen Texts, weshalb der Gedanke nunmehr in der Übersetzung in meine gegenwärtige Gedanklichkeit möglich ist und seine Eigenständigkeit bewahrt. Die eigene Lektüre ist die Grundlage der Kritik der Interpretations- und Interpretenkonflikte. Der Lektüre verdankt sich der historische Gedanke, mit ihrer Distanz, ja Entzweiung. Der Wille zur Diagnose (a) kennt vor allem zwei Ausprägungen von großer Wirksamkeit. Für den biographischen Sehepunkt wähle ich Lou Andreas-Salomés Nietzsche-Buch als Beispiel, für den philosophischen Martin Heideggers Auslegung. Lou Andreas-Salomé schreibt in ihrer intellektuellen Biographie ‹Friedrich Nietzsche in seinen Werken›7 (1894; der erste der drei Teile ihres Buchs entstand schon 1882, noch im Gespräch mit Nietzsche): In jeder Periode seiner Geistesentwicklung finden wir daher Nietzsche in irgend einer Art und Form der Maskierung, und immer ist sie es, welche die jeweilige Entwicklungsstufe recht eigentlich charakterisiert. «Alles, was tief ist, liebt die Maske … Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske»8 (Jenseits von Gut und Böse 40). […] So ist Nietzsche innerhalb seiner letzten philosophischen Mystik allmählig in jene letzte Einsamkeit versunken, in deren Stille wir ihm nicht mehr folgen können, die uns nur noch, wie Symbole und Wahrzeichen, seine lachenden Gedankenmasken und deren Deutung übrig läßt, während er für uns bereits zu dem geworden ist, als den er sich einmal in einem Briefe unterschreibt: «Der auf ewig Abhandengekommene.»9 Das Ressentiment Jochen Schmidts, des Begründers und langjährigen Leiters (2008– 2014) der Arbeitsstelle des ‹Historischen und kritischen Kommentars zu Friedrich Nietzsches Werken› am Deutschen Seminar der Universität Freiburg, ist exemplarisch; es richtet sich – vom Geniegedanken her – gegen Nietzsche, Schmidts Gegenstand: «Weil er nahezu ausschließlich Kompilator von schon längst Vorhandenem war und hauptsächlich Sekundärliteratur und hastig herangezogene populärwissenschaftliche Publikationen abschöpfte, wollte er sich als Originalgenie, als weltverändernder Philosoph und obendrein als inspirierter Künstler inszenieren. Seine künstlerische Begabung aber reichte selbst nach Einschätzung seines besten Freundes Franz Overbeck, der ihm bis zum Zusammenbruch beistand, über Rhetorik kaum hinaus.» (Jochen Schmidt, Der Mythos «Wille zur Macht», Nietzsches Gesamtwerk und der Nietzsche-Kult, Eine historische Kritik, Berlin und Boston 2016, S. 130). 7 Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894), mit Anmerkungen von Thomas Pfeiffer, hg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt am Main 1983. 8 JGB, ‹Zweites Hauptstück: der freie Geist›, KSA 5, 57 f. 9 Andreas-Salomé 1983 (Anm. 7), S. 41 f. Die hier von Andreas-Salomé zitierte Stelle stammt aus einem Brief von Nietzsche an Paul Rée, 8. Juli 1881, Nr. 124, KSB 6, 102. 6

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Christoph König

Nicht das Werk als Element im fortschreitenden Leben, das darauf wirkt, also das Werk als Teil der Reflexion, das dem Leben als Gedanke gegenübersteht und auf dieses (zurück)wirkt, kennt Andreas-Salomé, sondern den Reflex in Gestalt eines (psychoanalytisch gedeuteten) Symbols, der Maske. Je nach Lebenslage verändere sich die Maske. Mit der ‹Maske› schafft Andreas-Salomé einen wirkmächtigen Topos der Nietzscheforschung. Entscheidend für die Autorin sind die jeweiligen Lebenskonfigurationen Nietzsches, deren Geschichte sie in fünf Stufen nachzeichnet.10 Gibt sie im ersten und zweiten Teil ihrer Studie die Werkgeschichte als Geschichte der im Leben sich herausbildenden Weltanschauung, so stellt sie im dritten Teil das (vor allem das Spätwerk betreffende) philosophische System Nietzsches dar. Das von mir gewählte Zitat handelt von dem fünften und letzten Stadium, in dem Nietzsche sein «religiöses Genie»11 zeige, das religiös sei, insofern es sich auf das Opfer verstehe, das auf eine überpersönliche Objektivität gerichtet sei, die er (der Pfarrerssohn) in sich selbst einrichte – als religiöse Zuversicht an der solcherart Maske werdenden Oberfläche. Die psychoanalytische Differenz ist für Andreas-Salomé nicht im sprachlich-material gedachten Symbol überbrückbar, sondern (wie später gerade auch in ihrer Rilke-Deutung12 ) das Symbol an der sprachlichen Oberfläche sei sekundär gegenüber der festen Symbolsprache des Lebens. Tatsächlich sind die Werke nicht die symbolischen (und beim späten Nietzsche obskuren) Masken, von denen sie spricht, sondern Zur Deutung von Nietzsche und Rilke durch Andreas-Salomé vgl. König 2014 (Anm. 1), S. 46–68. Der Gedanke, dass Nietzsche hinter der Maske seine Persönlichkeit verberge und sobald sie erstarrt sei, eine neue äußere, verbergende Form suche, hat Nachwirkungen beim Rilkeforscher Otto H. Olzien, der die Dichtersprache (wie Andreas-Salomé) erkennt. Olzien geht von einer Störung der Unmittelbarkeit aus, mit der Nietzsche zum dichterischen Ausdruck dränge; Olzien schreibt: «Das Werk muß verneint werden, sobald es mit der Absolutheit und Objektivität seines ästhetischen Seins dazwischentritt und das unmittelbar Persönliche dieser Beziehung zu stören droht.» (Otto Heinrich Olzien, Nietzsche und das Problem der dichterischen Sprache, Berlin 1941, S. 43) Olzien studiert Nietzsches Stilbemühen, um in einer «Zwiespältigkeit des Gesamteindrucks» (ebd., S. 45), zwischen Symbol und Gleichnis bzw. Allegorie, das alte Ziel zu erreichen. Die Bilder werden als ‹Sinnbilder› verstanden, die in der Ausdeutung der Bilder nach einer gedanklichen Absicht die Form des Verbergens (also der Maske) wiedergewinnen. Olzien rekonstruiert die Entstehung einer neuen Sinnhaftigkeit in, wie ich sagen würde: resemantisierten Wörtern, denen freilich die symbolische Kraft fehle – sie werden zu ‹Schlagworten›: «Das betreffende Wort behält dann seinen besonderen Sinn für immer, losgelöst von dem einmaligen Zusammenhang seiner Entstehung.» (Ebd., S. 64) Olzien kann trotz dieser über Andreas-Salomé hinaus in ein symbolistisches Sprachverstehen reichenden Auffassung ein neues Referenzsystem sich nicht vorstellen, das seinerseits in der Künstlichkeit die Kraft einer das Symbol ermöglichenden ‹Natur› besitze; das Artistische müsse als eine «äußerste Seite von Nietzsches Sprachstil in Beziehung zur Mitte gesetzt» (ebd., S. 70) werden – die Mitte wäre Nietzsches Verständnis des Lebens. 11 Andreas-Salomé 1983 (Anm. 7), S. 61. 12 Lou Andreas-Salomé, Rainer Maria Rilke, Mit 8 Lichtdrucktafeln, Leipzig 1928. 10


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