Niccolò Raselli: Friedrich Amstutz

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FRIEDRICH AMSTUTZ

Ein Innerschweizer Leben in den Fängen von Psychiatrie und Justiz

NICCOLÒ RASELLI

Friedrich Amstutz

Ein Innerschweizer Leben in den Fängen von Psychiatrie und Justiz

Niccolò Raselli
Schwabe Verlag

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Abbildung Umschlag:Friedrich Amstutz in jungen Jahren (ohne Datum).

Korrektorat:Simone Buckreus, Regensburg

Cover:icona basel gmbh, Basel

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:Hubert &Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4853-6

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4856-7

DOI 10.24894/978-3-7965-4856-7

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«… ich schätze den in die Irrenanstalt abgedrängten Eigenbrötler mit dem innerschweizerischen Charakterkopfsehr und möchte alles vorgekehrt wissen, um Unrecht gut zu machen.»

(ProfessorJakob Klaesi, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau am 21. August 1953 an den Bürgergemeinderat von Engelberg)

Undatierte Aufnahme von Friedrich Amstutz in jungen Jahren.
Inhalt Vorwort ... ... ... .. .. ... .. .. .. .. ... ... .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. ... 9 I. Die Verhaftung .. .. .... ... .... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... .. . 13 II. Was liegt gegen FriedrichAmstutzvor? .. ... ... .... ... .... ... 31 III. Des Gutachters Quellen, Diagnose und Empfehlungen .. ... ... 39 1. Mündliche Informationen ... .. ... ... .. .. ... .. .. .... ... ... 40 2. Gespräche mit Friedrich Amstutz und ärztliche Untersuchung .. 41 3. Des Experten Diagnose und Empfehlungen .. .. ... .. .. .. .. ... 44 IV. Erste Rechtsmittelverfahren .. .. .... ... .. .. . .. .... ... .... ... 51 V. VomBurghölzli über St. Urban nach dem Franziskusheim .. ... 61 VI. VomFranziskusheim nach St. Urban ... .... ... .... ... .... ... 71 VII. Kampf um ein neues Gutachten .. ... ... .... ... .... ... .... ... 75 VIII. Elektroschocks gegen passiven Widerstand .. .... ... .... ... 85 IX. Kampf um Entlassung und Entschädigung .. ... .... ... .... ... 93 X. Sich widersprechende Gutachten 101 1. Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt St. Urban .... ... .. .. ... 101
2. Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau, Bern .. ... ... .... .... ... .... .... ... .... ... .... .... ... ... 105 XI. Keine Rückkehr in die «von Feinden vergiftete Heimat» .. ... 113 XII. Die Versilberung des Vermögens ... ... .... ... .... ... .... ... 117 1. Verlust der Verfügungsbefugnis über das Vermögen .. ... ... ... 117 2. Dokumentierte Landverkäufe .. .... ... .... ... .... .... ... ... 119 3. Friedrich Amstutz tritt das verbliebene Vermögen nicht an .. ... 124 XIII. Friedrich Amstutz wird Knecht und kämpft weiter ... .... ... 125 XIV. Die letzten Jahre .... ... .... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... .. . 133 Ein Nachwort .. ... .. .. .. .. .. .. .. ... .... .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. ... 141 Anhang:Kurzporträts einiger Protagonisten 143 8 Inhalt

Es war zu Beginn der 1980er Jahre – ich war damals Präsident des Obergerichtes des Kantons Obwalden –,als eine betagte Frau aus Engelberg hartnäckig versuchte, ein Verfahren um Rückgabe von Liegenschaften auszulösen, um die sie geprellt worden sei. Es ging um den Nachlass ihres längst verstorbenen Bruders Friedrich. So viel war ihren Eingaben zu entnehmen.Esgab aber nichts mehr zu holen, lag doch die fragliche Erbteilung Jahre zurück.

Dennoch versuchteich herauszufinden, was hinter den Umtrieben der alten Dame stecken könnte, denn die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass Menschen meist nicht grundlos querulieren. Ich beauftragte einen Mitarbeiter, sich bei der Gemeindekanzlei von Engelberg kundig zu machen. Dabei brachte er in Erfahrung,dass es sich bei Friedrich Amstutz um einen vermögenden Landwirt und Betreiber einer Sennerei handelte. In den Dreissigerjahren sei dieser im Zusammenhangmit einer Auseinandersetzung mit dem Gemeinderat wegen Immissionen seines im Dorf betriebenen Schweinestalles verhaftet, bevormundet und in Irrenanstalten versorgt worden. In den Fünfzigerjahren sei er entlassen worden, nachdem ein Psychiater der Klinik Waldau die Anstaltsunterbringung als ungerechtfertigt bezeichnet hatte. Friedrich Amstutz soll sich geweigert haben, nach Engelberg zurückzukehren, zumal die Bürgergemeindevon ihm geltend gemachte Entschädigungsforderungennicht anerkannt habe. Er sei in Münsingen geblieben und habe eine Stelle als Bauernknechtangenommen. Die Geschichteliess mich nicht los. Doch fehlte mir damals die Zeit, ihr nachzugehen.

Noch zu Lebzeiten von Friedrich Amstutz überschütteten seine Geschwister die Behörden von Engelberg, aber auch den Regierungsrat des Kantons Obwalden mit Vorwürfen. Hierauf regte der Regierungsrat den Bürgergemeinderat an, den Fall aufzuarbeiten. Dazu protokollierte der Rat am 28. August 1962:

Vorwort

«Bisherige Bemühungen, den Fall einer rechtlich genügend ausgebildeten Person zur Bearbeitung zu übergeben, sind leider ebenfalls gescheitert, weil sich keiner der Angefragten bereitfinden wollte, diese äusserst zeitraubende Aufgabe zu übernehmen.»

Die Kindes- und Erwachsenschutzbehörde (KESB)des Kantons Obwalden hat mir Akteneinsicht gewährt. Zum einen, weil die Schutzfristen für besonders schützenswerte Personendaten abgelaufen sind;1 zum andern, weil die Konsultation der Akten der Aufarbeitungdes Falles des Friedrich Amstutz und insoweit auch wissenschaftlichen Zwecken dient.2 Die «Universitären psychiatrischen Dienste Bern»und die «Luzerner Psychiatrie» stellten die Friedrich Amstutz betreffenden Akten zur Verfügung, die Gemeindekanzlei von Engelberg die einschlägigen Gemeinderatsprotokolle. Vormir stehen fünf Ordner Vormundschaftsakten der Gemeinde Engelbergund ein Konvolut des Staatsarchivs des Kantons Obwalden. Ich schicke mich an, den Fall des Friedrich Amstutz zu rekonstruieren, und hoffe, damit dem bislang unerfüllt gebliebenen Anliegen des Bürgergemeinderates Engelbergnachzukommen.

Die Darstellung beruht im Wesentlichen auf schriftlichenDokumenten wie Korrespondenzen, psychiatrischen Gutachten, behördlichen Verfügungen und Gerichtsentscheidungen. Werden Dokumente wie namentlich Briefe des Friedrich Amstutz wörtlich wiedergegeben,wird die originale Schreibweise trotz teilweise fehlerhafter Orthographie und Syntax beibehalten. Werden Dokumente in indirekter Weise wiedergegeben,erfolgt das möglichst in Anlehnung an die Originale. Es wird darauf verzichtet, die jeweiligen Quellen in Hunderten von Fussnoten namhaft zu machen, zumal die entsprechenden Akten nicht offentlich zuganglich sind.

1 Art. 10 der Verordnung über das Staatsarchiv Obwalden vom 18. Oktober 1996 (Stand 01. 07. 2005): «Archivgut, das nach Personennamen erschlossen ist und besonders schützenswerte Personendaten oder Persönlichkeitsprofile enthält, unterliegt einer Schutzfrist von 50 Jahren, ausser wenn die betroffene Person einer Einsichtnahme zugestimmt hat.»

2 Art. 11 Abs. 2des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG;SR211.223.13): «Soweit dies für wissenschaftliche Zwecke erforderlich ist, haben weitere Personen das Recht auf Zugang zu den Akten.»

10 Vorwort

Das bis Ende 2012 gültige, die Artikel 360–456 umfassende Vormundschaftsrecht des Zivilgesetzbuches («Die allgemeine Ordnung der Vormundschaft») wurde durch den am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen «Erwachsenenschutz»völlig neu geordnet, nicht nur was Nummerierung der Artikel und Begriffsbildung anbelangt, sondern auch hinsichtlich des Inhalts. Soweit Artikel des früher geltenden Rechts zitiert werden, werden sie, wie das in der juristischen Literatur üblich ist, mit «alt ZGB»bzw. «aZGB»bezeichnet.

Das Schicksal des Friedrich Amstutz könnte in der Form einer faktengestützten Erzählung wiedergegeben werden. Ich entscheide mich gegen einen narrativen Text und ziehe die Form der Dokumentation vor. Die Fakten sprechen für sich, in diesem Fall eine überdeutliche Sprache. Das erlaubt es, auf persönliche Wertungen des Geschehens weitgehend zu verzichten. Lediglich zum besseren Verständnis werde ich da und dort Erläuterungen hinzufügen.

Einen besonderen Dank schulde ich Herrn Ernst Gfeller, der mir über die letzten Lebensjahre des Friedrich Amstutz liebenswürdigerweise Auskunft erteilt und auch die wenigen existierenden fotografischenAbbildungen des Friedrich Amstutz zur Verfügung gestellt hat.

Sarnen, Mai 2023

Vorwort 11

I. Die Verhaftung

Es ist Sonntag, der 17. Januar 1931. In der Frühe des Morgens fahren die Knechte von Friedrich Amstutz mit zwei Jauchefuhrwerken die Engelberger Dorfstrasse hinunter und lassen die Schweinegülle sprudeln. Im Kurort verbreitet sich penetranterGestank. Das ruft die Gesundheitsdirektion, die Kurdirektion, den Kurverein und den Hotelierverein auf den Plan. Sie verlangen vom Statthalteramt Engelberg abzuklären, ob Friedrich Amstutz die in der «Bühlscheune»betriebene Schweinemästerei nicht verboten werden könne.3

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildet der Fremdenverkehr in Engelberg den wohl bedeutendsten wirtschaftlichen Faktor, zumal die Bevölkerungneben der Landwirtschaft ihre fast einzigen Einkünfte aus der Schappekämmelei4 und später aus der Seidenstoffweberei als eine Art Heimarbeit erzielt.5 Inzwischen erfasst der Fremdenverkehr das gesamte volkswirtschaftliche Leben des Bergtales. Laut dem Jahresbericht 1919 der Obwaldner Kantonalbank hat kein anderer Kanton im Verhältnis zur Grösse seines Vermögens und seiner Bevölkerungszahl so viel Kapital im Hotelgewerbe investiert wie Obwalden, namentlich die Talschaft Engelberg. Allerdings wirken sich die Folgen der 1929 aufziehenden Weltwirtschaftskrise bis zuhinterst in die Alpentäler aus. In Engelberg gehen die Ankünfte von Reisenden namentlich aus Deutschland infolge des Sturzes der Reichsmarkund der verordneten

3 Auf diesen Vorfall wird zurückzukommen sein. Siehe unten auf S. 35 f.

4 Es handelt sich dabei um die Mitte des 19. Jahrhunderts namentlich in den Kantonen Zürich, Basel und Bern, aber auch um den Vierwaldstättersee herum verbreitete Verarbeitung von Seidenabfällen (http://www.sgvs.ch; https://www.sgvs.ch/papers/sjesBack Issues/1924_PDF/1924-I-24.pdf(aufgerufen am 22. Februar 2023).

5 VI. Bericht des Kur- und Verkehrsvereins Engelberg, Erinnerungsschrift anlässlich des fünfzigjährigen Bestandes des Vereins, 1933, S. 19 f.

Ausreisebeschränkungen

dramatisch zurück.6 Zwischen 1930 und 1932 ist ein Frequenzrückgang von 70 Prozent vorab in den Luxushotels zu verzeichnen.7 Hinzu kommt, wie im Jahresbericht 1933 der Obwaldner Kantonalbank nachzulesen ist, die «imAusland zunehmende nationalistische Tendenz, ausschliesslich die Kurorte des eigenen Landes zu benutzen».8 Wiewohl die Interessendes aufstrebendenFremdenverkehrs und der herkömmlichen Landwirtschaft seit jeher auch in Engelberg in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen, sah sich der Kur- und Verkehrsverein bislang nicht zu Interventionen veranlasst.Dennoch überrascht nicht, dass das infolge der prekären konjunkturellen Verhältnisse gebeutelte touristische Gewerbe Friedrich Amstutz wegen dieser dreisten Güllenaktion ins Visier nimmt.

Friedrich Amstutz kommt am 16. August 1891 in Engelberg zur Welt. Über seine Kinder- und Jugendjahre, aber auch über seine Familie und Vorfahren ist wenig in Erfahrung zu bringen. Friedrichs Vater, Josef Amstutz, ist Landwirt, betreibt eine Sennerei und führt im Nebenamt das Gültenprotokoll.9 Er gilt als vermögend. Allein seine Frau Marie, geborene Häcki, soll 80’000 Franken in die Ehe eingebracht haben sowie 1/4 der Erbschaft ihres verstorbenen ersten Ehemannes. Sohn Friedrich besorgt nach Beendigung der Primarschule Bauern das Vieh und erlernt beim Vater den Beruf eines Käsers. Er arbeitet mit ihm bis zu dessen Tod im Jahre 1920 zusammen. Die Familie zählt zwölf Geschwister. Mehrere sterben in jungen Jahren. Im Jahre 1918, am Ende seines militärischen Aktivdienstes, erkrankt Friedrich an der Spanischen Grippe. Während zwei seiner Brüder an der Grippe sterben, zieht sich Friedrich als Folge der Erkrankung ein Herzleidenzu. Mehr ist über Friedrichs Kinder- und Jugendjahre nicht bekannt, zumal das am 22. September 1933 über ihn verfasste, 34 Seiten umfassende psychiatrische Gutachten der Anamnese gerade einmal elf Zeilen widmet.

6 Jahresbericht der Obwaldner Kantonalbank 1931, S. 3. Im Sommer 1929 wurden 129ʼ749 und im Winter 1929/1930 46ʼ990 Logisnächte gezählt. Im Jahr 1932 waren es im Sommer noch 53ʼ781 und im Winter 1932/1933 22ʼ679 Logisnächte (siehe Fn. 5, S. 15).

7 Jahresbericht der Obwaldner Kantonalbank 1932, S. 4.

8 Jahresbericht der Obwaldner Kantonalbank 1933, S. 5.

9 Die Führung des Gültenprotokolls dürfte der heutigen Funktion eines Grundbuchverwalters entsprechen.

14 I. Die Verhaftung

Friedrich soll von seinem Vater «alles verlangt»haben, klagt seine Schwester Agnes Matter-Amstutz Jahre später, während sie nichts bekommen habe. Die naheliegende Erklärungliegt im damaligen bäuerlichenBodenrecht begründet:Dem Erben, der sich zur Übernahme eines landwirtschaftlichen Gewerbes bereit erklärt und hierfür geeignet erscheint, wird dieses auf Anrechnungzum Ertragswert ungeteilt zugewiesen. Die Töchter haben das Nachsehen.Sie kommen nur zum Zug, wenn keiner der Söhne das Gut zum Selbstbetriebübernehmen will.10 Allerdings räumt Friedrich seiner Mutter, der Witwe Amstutz-Häcki, sowie seinen beiden SchwesternMarie Amstutz und Rosa Bechter-Amstutz im «Bühlhaus» der Liegenschaft «Bühl» freies Wohnrechtsamt Holz und Anteil am Hausgarten ein. Die Schwester Rosa erhält überdies ein Vorkaufsrechtander Liegenschaft «Bühl».

Der inzwischen 42-jährige Friedrich Amstutz ist vermögender Bauer und erfolgreicher Geschäftsmann. Im Briefkopf präsentiert er sich als:

10 Art. 620 und 621 aZGB (Fassung von 1907). Art. 620 aZGB:«(1) Befindet sich in der Erbschaft ein landwirtschaftliches Gewerbe, so soll es, wenn einer der Erben sich zu dessen Übernahme bereit erklärt und als hiefür geeignet erscheint, diesem Erben zum Ertragswerte auf Anrechnung ungeteilt zugewiesen werden, soweit es für den wirtschaftlichen Betrieb eine Einheit bildet. (2)Mit dem Gewerbe kann der Übernehmer auch die zum Betriebe dienenden Gerätschaften, Vorräte und Viehbestände beanspruchen. (3)Die Feststellung des Anrechnungswertes erfolgt für das Ganze nach den Vorschriften über die Schätzung der Grundstücke.»

Art. 621 aZGB:«(1) Erhebt einer der Miterben Einspruch oder erklären sich mehrere zur Übernahme bereit, so entscheidet die zuständige Behörde über die Zuweisung, Veräußerung oder Teilung des Gewerbes, unter Berücksichtigung des Ortsgebrauchs und, wo ein solcher nicht besteht, der persönlichen Verhältnisse der Erben. (2)Erben, die das Gewerbe selbst betreiben wollen, haben in erster Linie Anspruch auf ungeteilte Zuweisung.

(3)Will keiner der Söhne das Gut zum Selbstbetrieb übernehmen, so sind auch Töchter zur Übernahme berechtigt, sofern sie selbst oder ihre Ehemänner zum Betriebe geeignet erscheinen.»

I. Die Verhaftung 15

F. AMSTUTZ

Milch-, Rahm-, Butter- und Käsehandlung «Bühl»Engelberg

Laut Inventar vom 1. Dezember 1935 beläuft sich sein Vermögen auf über 41’000 Franken, wobei die Schätzungen des landwirtschaftlichen Ertragswerts erheblich unter dem Marktwert liegen dürften. Das Vermögen setzt sich wie folgt zusammen:

Aktiven Schätzung

Heimwesen grosser Bahn (5,7 ha)Fr. 45’000.00

Heimwesen auf dem Bühl

Landgut Grossägertli

WaldparzelleimVogelsang

Waldparzelle& 2Gärten

Alphütte Gerschnialp

Fr. 35’000.00

Fr. 5’000.00

Fr. 1’000.00

Fr. 1’500.00

Fr. 1’000.00

Alprechte Gerschni, Obhag, StoffelbergFr. 10’950.00

SchuldbriefFr. 10’120.00

Mobiliar &Sennereigerätschaft

Fr. 1’972.00

’221.21

Die Milchlieferanten schätzen ihre geschäftlichen Kontakte mit Friedrich Amstutz und heben eigens hervor, er sei ein guter Zahler.11 Seit er nach dem Tod des Vaters dessen Geschäft auf eigene Rechnung führt, hat sich der Umsatz annähernd verdoppelt. Friedrich Amstutz verkauft mehr Milch, kann mehr Käse und Butter absetzen. Doch wird Erfolg nicht vergeben und ruft Neider auf den Plan. Entsprechend wird sich Friedrich Amstutz am 18. Dezember 1933 anlässlich seiner ersten Einlieferung in die Klinik St. Urban äussern:Esgebe in Engelberg noch andere Käser, die auch Milch ausmessen würden. Deren einer, Paul Hurschler, sei Ratsherr und sein spezieller Gegner. Auch der Klostersenn gehöre zu seinen Gegnern. Im Frühjahr hätte er dem

11 Gemäss Verhör vom 12. September 1933 sind das beispielsweise die Landwirte Josef Feierabend (*1870), Karl Feierabend (*1877)und der Wirt Franz Feierabend (*1885).

Forderungen
2
Total Fr. 113’263.21 Fr. 113’263.21 Passiven Fr. 72’058.46 Vermögen Fr. 41’204.75
Fr.
16 I. Die Verhaftung

Ortsplan von Engelberg;Situation der Liegenschaften (rot markiert): Schweinestall (links), Hotel «Edelweiss»(Mitte), Villa «Bella-Vista»(rechts).

18 I. Die Verhaftung

An der Gemeinderatssitzung vom 22. Dezember 1932 wird der inzwischen eingegangene Rapport des Polizisten Ming besprochen. Dazu hält das Protokoll fest:«Diese Einrichtung des Amstutz ist für die Nachbarn belästigend & ist aus gesundheitlichen Gründen nicht annehmbar.» Man wolle zunächst aber Ständerat Walter Amstalden13 konsultieren,bevor die Klage bei der Untersuchungsbehörde eingereicht werde.

Im Sommer 1933 scheintsich die Lage zuzuspitzen. Am 28. Juli 1933 nehmen die Mitglieder der örtlichen Gesundheitskommission – der Arzt Dr. Alfred Odermatt, der Apotheker Dr. Karl Amberg und der Polizist Josef Ming – Augenschein und rapportieren dem Gemeinderat:Der Präsident des Sommerkurvereins Engelberg,Alfred Cattani, habe der Gesundheitskommission mitgeteilt, Kurgäste hätten geklagt, beim Schweinestall des Friedrich Amstutz im Bühl, unterhalbdes Hotels Edelweiss, fliesse Jauche über die Strassenmauer in den Strassengraben und verursache einen entsetzlichen Gestank. Hierauf habe die Gesundheitskommission an Ort und Stelle einen Augenschein genommenund dabei was folgt festgestellt:

«Der erwähnte Schweinestall befindet sich auf einer ca 2m hohen Mauer an der Fahrstrasse des Hotels Terrace, etwa 50 munterhalb des Hotel Edelweiss. Der Miststock, welcher schon seit einigen Monaten dort liegt, ist ganz äusserst auf der Mauer gelagert;von diesem rutschen hin und wieder Teile in die Strasse herab. Unter dem Miststock befindet sich der Jauchekasten;aus demselben fliesst gegenwärtig die Jauche über die erwähnte Mauer herab in den Strassengraben und von da natürlich weiter durch die Strasse fort und verursacht einen entsetzlichen Gestank. Ferner, befanden sich auf dem Miststock und im Strassengraben Schweinefutterresten und eine grosse Anzahl weisser Maden. Dies Ganze hat einen ekelhaften Anblick und sieht gerade herausfordernd aus. Im Stall der Scheune, welcher früher als Kuhstall benutzt wurde, und in der Boni14,welche Amstutz im letzten Herbst als Schweinestall eingerichtet hat, befinden sich mehrere Schweine. Ein derartiges Verhalten muss vom hygienischen Standpunkt aus als gefährlich bezeichnet werden und darf auf keinen Fall weiter geduldet werden. Die Gesundheitskommission stellt daher an den titl. Gemeinderat Engelberg das dringende Gesuch, bei der zuständigen kantonalen Behörde für diesen Stall des Friedrich Amstutz aus Gründen der öffentlichen Hygiene, ein Gebrauchsverbot zu erwirken.»

13 Nähere Angaben zu Walter Amstalden finden sich im Anhang «Kurzporträts einiger Protagonisten».

14 Heuboden in der Scheune (Imfeld, Fn. 12, S. 83).

I. Die Verhaftung 19

Noch am selben Tag ersucht die Gesundheitskommission den Kantonsgerichtspräsidenten telefonisch um eine «Tatbestandsaufnahme dringlicher Natur». Unverzüglich nehmen dessen Suppleanten Carlo Stockmannund Adam Wallimann sowie Kanzleigehilfe Rudolf Gasser als Aktuar vor Ort einen Augenschein in Anwesenheitvon Friedrich Amstutz und des Polizisten Josef Ming, dieser als Vertreter der Gesundheitskommission. Laut dem «Protokoll über eine Aufnahmezuewigem Gedächtnis»befinden sich im Erdgeschoss des «Gädelis»15 vier bewohnte Schweinestallungen.

«Der obere Stock des Gädelis ist von Amstutz im Herbst 1932 ebenfalls zur Unterbringung von Schweinen eingerichtet worden;dort wird das Vorhandensein von fünf Stallungen konstatiert, die augenblicklich alle bewohnt sind. Auf der Vorderseite des Gebäudes (gegen die Strasse)mit ca. 1 1/2 mAbstand von der Gädeli-Mauer befindet sich der Güllekasten;dieser ist ca. 3m lang und 2m breit. Der Kasten ist dermassen gefüllt, dass er überläuft. Der kleine Platz zwischen Strassenmauer und Güllekasten dient zur Ablagerung des Mistes. Gegenwärtig befinden sich ca. 3m3 Mist dort. Die Ueberlauf-Gülle ergiesst sich über die Mauer in die Strassenschale, dabei Mist und Futterreste mitnehmend. Während die Gülle infolge des erheblichen Gefälls abläuft und in dem einige Meter weiter unten angebrachten Schacht verschwindet, bleiben Mist und Futterresten senkrecht unter dem Miststock liegen, darin wimmeln unzählige weisse Maden. Das Vorhandensein dieser Lebewesen ist in erheblich grösserer Zahl auch auf dem Miststock und im Bereiche des Güllekastens festzustellen. Die Unordnung längsseits der Mauer bietet für jeden normal veranlagten Menschen einen ekelerregenden Anblick. Der dadurch ausstrahlende Gestank ist schon auf einige Meter wahrnehmbar. Das Verweilen beim Stalle selbst kostet Überwindung, da hier die Geruchnerven stärker reagieren [ ].«

An seiner Sitzung vom 3. August 1933 nimmt der Gemeinderat16 Kenntnis des Berichts und des Antragsder Gesundheitskommission und beschliesst,

«dem Amstutz Friedrich die Schweinehaltung in diesem Stall zu verbieten auf Grund der Kantonsverfassung Art. 34 &68Abs. d. Amstutz wird aufgefordert die vorfindlichen Schweine innert 48 Stunden da zu entfernen. Bei Zuwiderhandlung müsste beim Reg.’ Rat Obwalden sofort Strafklage erfolgen.»

15 Kleiner Stall (Imfeld, Fn. 12, S. 184).

16 Dem Gemeinderat von Engelberg gehören in den Jahren 1933/34 folgende Mitglieder an:Eduard Infanger (Talammann), Adolf Waser-Cattani (Statthalter), Gottlieb Stierli, Johann Amrhein, Dr. Karl Amberg, Dr. Josef Hess, Franz Waser und Walter Amrhein.

20 I. Die Verhaftung

FRIEDRICH AMSTUTZ

Ein Innerschweizer Leben in den Fängen von Psychiatrie und Justiz

EIN INNERSCHWEIZER LEBEN

Dieses Buch dokumentiert die Geschichte eines Menschen, der zu Unrecht über lange Jahre seiner Freiheit beraubt wurde. Der vermögende Landwirt und erfolgreiche Unternehmer Friedrich Amstutz ist ein unbequemer Zeitgenosse. Sein im Dorfkern gelegener Schweinestall führt zu Streit mit den Nachbarn und dem Gemeinderat. 1933 wird er verhaftet und in die Irrenanstalt Burghölzli verbracht. Der Gutachter sitzt Gerüchten auf, Amstutz sei gemeingefährlich, und beantragt dessen Bevormundung und Internierung. Erst nach 20 Jahren setzt ein führender Psychiater der Ungeheuerlichkeit ein Ende. Doch die Gemeinde weigert sich, den inzwischen gut 60-jährigen Mann zu entschädigen. So verzichtet er auf die Rückkehr in seine Heimat und auf sein verbliebenes Vermögen. Seinen Lebensabend verbringt er als Bauernknecht.

NICCOLÒ RASELLI

Nach dem Studium der Rechtswissenschaften war Niccolò Raselli zunächst einige Jahre lang als Musiker tätig. Nach Erlangen des Anwaltspatentes war er von 1979 bis 1995 Präsident des Obergerichtes und Verwaltungsgerichtes des Kantons Obwalden und von 1995 bis 2012 Richter am Schweizerischen Bundesgericht.

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