RdM10. Klaus Herbers: Aufbruch in eine neue Epoche

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Randgänge der Mediävistik

Herausgegeben von Michael Stolz

Band 10

Klaus

Aufbruch in eine neue Epoche

Vergangenheit und Zukunft im Bericht des Nürnberger Arztes Hieronymus Münzer über seine Westeuropareise 1494/1495

Schwabe Verlag

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Inhalt 7 Hoffnung, Aufbruch, Utopie und mittelalterliche Reiseberichte? Statt einer Einleitung 11 Hieronymus Münzer: Arzt, Humanist, Bürger und Autor des ‹Itinerarium› 17 Die Reise 1494/1495 27 Altes und Neues, Vergangenes und Künftiges 27 Bekanntes und Unbekanntes: die Welt erfassen 30 Wissenschaft, Handel, Expansion: Portugal 33 Dynastische Perspektiven 36 Religiöse Einheit – Reconquista – Jerusalem 45 Wahrheit, Wissen und Zukunft? 46 Neues erfassen 47 Zusatzinformationen sammeln 48 Künftiges ermöglichen 48 Vergangenheitsgestützte Zukunftsperspektiven zwischen Utopie und Handlungswissen 51 Abbildungsverzeichnis 53 Über den Autor

Hoffnung, Aufbruch, Utopie und mittelalterliche Reiseberichte?

Statt einer Einleitung

«… danach richteten wir unsere Schritte zur uralten Stadt Soloturn und nach Bern, den wichtigsten Städten der Schweizer»,1 so heißt es ziemlich zu Beginn des Reiseberichtes von Hieronymus Münzer. Aber die Schweiz ist nicht das große Thema in diesem Itinerarium, andere Länder und Gegenden waren dem Autor wichtiger, sie lagen ferner, waren fremder, und die Vielfalt der Perspektiven ist geradezu charakteristisch für diesen Bericht. Als der Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer 1494 zu einer Westeuropareise aufbrach, nicht nur, um der Pest zu entfliehen, sondern auch, um die «Wahrheit» zu suchen, wie er selbst sagt, nahm er Erwartungen, Hoffnungen und Vorstellungen mit auf den Weg: Hoffnungen auf einen guten Verlauf, Erwartungen und Vorstellungen dazu, was er sehen und erleben würde oder erleben wollte2. Aber wohin ihn die Reise tatsächlich und mental bringen sollte, schien zunächst an keine große Utopie gebunden. Mit diesen einleitenden Sätzen sind drei wichtige Stichwörter genannt: Hoffnung, Aufbruch, Utopie. Aber sind unter Utopien immer nur die großen Entwürfe der Zukunft zu verstehen? An dieser Stelle sind einige kurze Erläuterungen zur Utopie angebracht.

Es ist viel in jüngerer Zeit darüber geredet und gestritten worden, inwieweit Utopien überhaupt im Mittelalter entworfen wurden, inwieweit nicht erst der prä-

1 Hieronymus Münzer, Itinerarium. Unter Mitarbeit von Wiebke Deimann, René Hurtienne, Sofia Meyer, Miriam Montag und Lisa Walleit. Mit einem Beitrag von Tina B. Orth-Müller. Hg. von Klaus Herbers (Monumenta Germaniae Historica, Reiseberichte des Mittelalters 1). Wiesbaden 2020, S. 7; deutsche Fassung: Klaus Herbers, Der Reisebericht des Hieronymus Münzer. Ein Nürnberger Arzt auf der «Suche nach der Wahrheit» in Westeuropa (1494/95). Tübingen 2020, S. 29. – Vgl. zum Hintergrund fortlaufend Einleitung, Kommentar und Literaturverzeichnis in beiden Werken.

2 Der Text des Büchleins basiert auf der in Bern am 7. Oktober 2021 gehaltenen MariaBindschedler-Gastvorlesung im Rahmen der Ringvorlesung ‹Hoffnung, Aufbruch, Utopie: Mediävistische Perspektiven›. – Ich danke Michael Stolz für die Möglichkeit, die Ergebnisse noch einmal etwas ausführlicher schriftlich darzulegen und damit Interpretationen zu entwickeln, die auf meiner Edition und Übersetzung des Reiseberichtes von Hieronymus Münzer basieren, die ich vor kurzem vorgelegt habe, siehe die vorige Anmerkung; das Zitat zur Suche der Wahrheit unten Anm. 31.

gende Roman von Thomas Morus 1516 hier als Zäsur gelten müsse.3 Schon 1975 hatte Thomas Nipperdey mit diesem Werk den Beginn der Neuzeit postuliert.4 Der Roman thematisierte aber im Stil der Zeit die entsprechenden griechischen Wörter, denn der Begriff Utopie leitet sich ab von οὐ / ou ‹nicht› und τόπος / topos ‹Ort›, ‹Stelle›, meint also eigentlich einen ‹Nichtort›. Thomas Morus spielte zugleich mit den Begriffen Utopie und Eutopie, indem er οὐ / ou ‹nicht› und εὖ / eu, ‹gut›, mit τόπος kombinierte. Demnach gibt es etwas, das man ersehnt, aber keinem Ort zuordnen kann, und es gibt ebenso einen Ort, der ein guter Ort ist.5

Wenn dem Mittelalter utopische Entwürfe abgesprochen wurden, liegt dem jedoch meist eine Reduktion des Utopiebegriffs auf ‹Staatsutopien› zugrunde, denen anderes entgegengesetzt werden könnte:6 so die biblischen Konzepte des Paradieses oder Imaginationen, die das Paradies in den Entwürfen einer idealen Gestaltbarkeit der irdischen Welt – im Kloster, in der Architektur oder anderswo –suchten. Hierzu gehören sowohl die Utopie, die Joachim von Fiore (gest. 1202) im ‹Liber Figurarum› mithilfe biblischer Symbolik entwickelte7 und die der Philosoph Ernst Bloch als «folgenreichste Sozialutopie des Mittelalters»8 bezeichnet hat, als auch die Vorstellung vom perfekten Menschen, die Alanus de Insulis (gest. 1202) in seinem ‹Anticlaudianus› entwarf, in dem der divinus homo als Erdenbewohner aufgrund aller Tugenden die Vollkommenheit Adams und Evas wiederherstellen konnte.9 Auch die Suche nach Wunschräumen oder die von Michael Stolz untersuchten Zusammenhänge von Topographie und Topik, die literarische Werke,

3 Vgl. hierzu einführend Heiko Hartmann u. Werner Röcke, Das Mittelalter – ein utopiegeschichtliches Vakuum? Das Mittelalter 18 (2013), S. 3–9 sowie die weiteren Beiträge desselben Themenheftes, die Gegenpositionen entwickeln.

4 Thomas Nipperdey, Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit. In: ders. (Hg.), Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert (Kleine Vandenhoeck Reihe 1408). Göttingen 1975, S. 113–146.

5 Vgl. auch Karma Lochrie, Nowhere in the Middle Ages (The Middle Ages Series). Philadelphia 2016 mit Beispielen von Macrobius bis Thomas Morus.

6 Vgl. die Diskussion bei Hartmann u. Röcke (Anm. 3), S. 4–6.

7 Übersetzung und Kommentar des Liber Figurarum bei Matthias Riedl, Joachim von Fiore: Denker der vollendeten Menschheit. Würzburg 2004, S. 309–334.

8 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Band 2. Berlin 1955, S. 71.

9 Vgl. Alanus de Insulis, Anticlaudianus. Hg. von Massimo Sannelli. Trient 2004 und für die deutsche Fassung: Alain de Lille, Der Anticlaudian oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen. Übers. von Wilhelm Rath. Stuttgart 1966 (mit interpretierender Einleitung S. 15–92).  – Vgl. auch allgemein mit Untersuchung der deutschen Mystik Loris Sturlese, Homo divinus. Philosophische Projekte in Deutschland zwischen Meister Eckhart und Heinrich Seuse. Stuttgart 2007.

Hoffnung, Aufbruch, Utopie und mittelalterliche Reiseberichte? 8
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Klaus

Hoffnung, Aufbruch, Utopie und mittelalterliche Reiseberichte?

Reiseberichte oder Kartenwerke erkennen lassen,10 gehören in diesen Zusammenhang; ganz zu schweigen von Wunschzeiten über eine Abfolge verschiedener Reiche,11 die schließlich zu einem himmlischen Reich führen, das künftig oder auch schon jetzt den «Himmel auf Erden»12 bescheren könne. Ein jüngerer Band des Konstanzer Arbeitskreises zur Zukunft im Mittelalter trägt den Untertitel ‹Zeitkonzepte und Planungsstrategien›.13

In Erlangen sind aus sinologischer und mediävistischer Perspektive solche und andere Fragen in einem Internationalen Kolleg für geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF) ‹Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa› erforscht und jüngst verschiedene Ergebnisse in einem umfangreichen Handbuch veröffentlicht worden.14 Diese Publikation erschließt auch, wie sehr Zukunftsentwürfe und Prognostisches in den verschiedensten Quellengattungen implizit vorhanden und zu sichten sind.15 Reiseberichte sind bisher allenfalls

10 Zum Beispiel mit Rückgriff auf Maurice Halbwachs: Michael Stolz, Kollektive Erinnerung. Topographie und Topik in Walthers ‹Palästinalied›. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 137 (2015), S. 221–239, bes. 222–224. Insgesamt ist die Literatur hierzu unübersehbar, besonders bekannt ist die ‹Navigatio Sancti Brendani›, die in einer hagiographisch-literarischen Tradition den irischen Eremiten Brendan zum Paradies führen sollte. Eindrücklich ist auch die Bezeichnung der Kanarischen Inseln als Insulae Fortunatae. Entscheidend wurde zudem das um 1356 verfasste Werk eines Jean de Mandeville, der Realität, Wunsch und Fiktion miteinander verband und damit einen Bestseller des Mittelalters schuf, vgl. Die Wunder der Erde. Die Reisen des Ritters Jean de Mandeville. Hg. von Eberhard König u. a. Darmstadt 2022.

11 Klaus Herbers, Geschichtsverlauf, Eschatologie und Transzendenz in der lateinischen Christenheit des Mittelalters. In: Klaus Oschema u. Bernd Schneidmüller (Hgg.), Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien (Vorträge und Forschungen 90). Ostfildern 2021, S. 87–106; ders., Christian Perspectives on History, Eschatology, and Transcendence in the Latin Christian Middle Ages. In: Hans-Christian Lehner (Hg.), The End(s) of Time(s). Apocalypticism, Messianism, and Utopianism through the Ages (Prognostication in History 6). Leiden u. Boston 2021, S. 15–31.

12 Richard Landes, Heaven on Earth: The Varieties of the Millennial Experience. New York 2011.

13 Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien. Hg. von Klaus Oschema u. Bernd Schneidmüller (Vorträge und Forschungen 90). Ostfildern 2021.

14 Matthias Heiduk, Klaus Herbers u. Hans-Christian Lehner (Hgg.), Prognostication in the Medieval World. A Handbook. 2 Bde. Berlin u. Boston 2020. Vgl. auch die Überblicksorientierungen: Klaus Herbers, Prognostik und Zukunft im Mittelalter. Praktiken – Kämpfe – Diskussionen. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 2 (2019). Stuttgart 2019.

15 Matthias Becher, Mantik und Prophetie in der Historiographie des frühen Mittelalters. Überlegungen zur Merowinger- und frühen Karolingerzeit. In: Wolfram Hogrebe (Hg.), Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur. Würzburg 2005, S. 167–187; Hans-Christian Lehner, Prophetie zwischen Eschatologie und Politik. Zur Rolle der Vorhersagbarkeit von Zukünftigem in der hochmittelalterlichen Historiografie (Historische Forschungen 29). Mainz 2015; ders., On the Function and Account of Rulers’ Decision-Making in the Works of Thietmar of Merseburg,

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ansatzweise in dieser Hinsicht untersucht worden, hier standen bisher eher Fragen zum Stellenwert der Adelsreise,16 zu Fremdheit und Alteritätserfahrungen im Vordergrund.17 Hinzu treten inzwischen jüngere Arbeiten, die auch aus philologischer Sicht für die lateinischen Texte Fragen der «Imaginierung» von (Pilger)Reisen und der «enzyklopädische[n] Funktion» der Pilgertexte fokussieren.18 So schufen die Texte zuweilen erst die jeweiligen (sakralen) Räume. Münzer schien als Humanist und Kosmograph anders zu schreiben, wenn er Meilenangaben und andere Beobachtungen und Details penibel verzeichnete. Aber erschöpft sich sein Bericht darin? Es könnte sich lohnen, genauer darauf zu achten, welches Zukunftshandeln und welche Zukunftsentwürfe aus Reiseeindrücken und erfahrungen abgeleitet wurden und werden konnten. Dies lässt sich mit dem ‹Itinerarium› des Hieronymus Münzer erproben, um zu ergründen, welche Hoffnungen und Zukunftsvisionen ihn bei seiner Westeuropareise am Ende des Mittelalters vielleicht bestimmten, was er an Neuem entdecken wollte oder entdeckte und inwieweit diese neuen Perspektiven vielleicht auch an Vergangenes gebunden waren.

Zunächst seien deshalb nach diesen einleitenden Bemerkungen der Reisende Hieronymus Münzer sowie sein Bericht vorgestellt, dann werden sein Reiseverlauf und seine Erfahrungen skizziert. Einige Stellen, welche die Thematik der Titelformulierung, den Gegensatz oder das Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft näher erläutern und belegen können, werden ins Zentrum gerückt und die Ergebnisse der Analyse mit einigen abschließenden Überlegungen gebündelt.

Adam of Bremen, Helmold of Bosau, and Henry of Livonia. In: Michael Grünbart (Hg.), Unterstützung bei herrscherlichem Entscheiden. Experten und ihr Wissen in transkultureller und komparativer Perspektive (Kulturen des Entscheidens 5). Göttingen 2021, S. 117–131.

16 Hierzu stellvertretend der Sammelband Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Rainer Babel u. Werner Paravicini (Beihefte der Francia 60). Ostfildern 2005; ebenso Werner Paravicini, Ehrenvolle Abwesenheit. Studien zum adligen Reisen im späteren Mittelalter. Hg. von Jan Hirschbiegel u. Harm von Seggern. Ostfildern 2017 (aktualisierte Aufsatzsammlung).

17 Zu dem seit den 1990er Jahren sehr stark beackerten Feld, bes. zwischen 1995 und 2005, vgl. Manuel Braun, Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie: Kritik und Korrektiv. In: Manuel Braun (Hg.), Wie anders war das Mittelalter?: Fragen an das Konzept der Alterität (Aventiuren 9). Göttingen 2013, S. 7–40, 8–11; Volker Honemann, Deutschsprachige Reiseberichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Gegenstand der Literatur- und Sprachwissenschaft. In: Claudia Alraum u. a. (Hgg.), Zwischen Rom und Santiago. Festschrift für Klaus Herbers zum 65. Geburtstag. Bochum 2016, S. 115–127.  – Vgl. in breiter Perspektive – auch mit Forschungsbericht – für das gesamte Mittelalter jetzt die Beiträge im Sammelband: ‹Otherness› in the Middle Age. Hg. von Hans-Werner Goetz u. Ian Wood. Turnhout 2021.

18 Susanna E. Fischer, Erzählte Bewegung. Narrationsstrategien und Funktionsweisen lateinischer Pilgertexte (4.–15. Jahrhundert) (Mittellateinische Studien und Texte 52). Leiden u. Boston 2019.

Hoffnung,
Utopie
Reiseberichte? 10
Aufbruch,
und mittelalterliche
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Hieronymus Münzer: Arzt, Humanist, Bürger und Autor des ‹Itinerarium›

Die Grundfrage nach der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft erschließt sich nicht zuletzt aus der Biographie und dem Werdegang von Hieronymus Münzer. Welche Voraussetzungen lässt das biographische Profil erkennen?19 Der 1437 in Feldkirch (Vorarlberg) geborene Hieronymus Münzer stammte aus einer armen Familie. Wie Münzer mit seinem Bruder den Weg nach Nürnberg fand, ist bis heute nicht restlos geklärt, möglicherweise spielten Verwandtschafts- und Handelsbeziehungen eine Rolle.20 Münzer wurde ein Studium ermöglicht, zunächst in Leipzig, in dem er 1470 den Magister erwarb. Zu den Leipziger Lehrern könnte der italienische Humanist Jacobus Publicius gezählt haben, aber ebenso Johannes Kreuzlinger (bei dem er seine Magisterprüfung ablegte) sowie Dr. Johannes Burckstaller.21 Später, ab 1476, immatrikulierte er sich in Medizin in Pavia und wurde dort 1479 promoviert. Münzer war offensichtlich zu seinem zweiten Studienort Pavia in seiner Funktion als bediensteter Präzeptor (Zuchtmeister) bzw. Pädagoge aufgebrochen, was ihm freie Kost und Logis einbrachte. Er arbeitete für den Nürnberger Anton I. Tetzel, der 1470–1474 die Artes in Leipzig studiert hatte, vielleicht hatten sie sich dort kennengelernt. In seiner Paveser Zeit dürfte Münzer auch den Grundstock zu seiner Bibliothek gelegt haben, die erkennen lässt, wes Geistes Kind er war und welche Interessen er entwickelte und weiter pflegte.22

Wenig später, 1480, erwarb Münzer für 2000 Gulden das Bürgerrecht in Nürnberg. Dies ermöglichte ihm nicht nur, dort zu heiraten und eine Familie zu gründen, sondern auch dreißig Jahre lang in der Reichsstadt als Arzt zu wirken. Als 1483/1484 eine Pestwelle Nürnberg ergriff, reiste Münzer nach Italien, sogar bis

19 Zum Folgenden wesentlich ausführlicher die einleitenden Bemerkungen in: Münzer (Anm. 1), lat., S. XIII–XLV. Weiterhin Randall Herz, Der Arzt und Frühhumanist Hieronymus Münzer († 1508) aus Feldkirch. Sein Leben und Wirken im Nürnberger Humanistenkreis. Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 105 (2018), S. 99–215. Beide Studien bieten reichhaltige Quellen- und Literaturnachweise.

20 Zu Einzelheiten und den dürren Quellen vgl. Münzer (Anm. 1), lat., S. X V–XVII.

21 Vgl. Münzer (Anm. 1), lat., S. X VII.

22 Vgl. Münzer (Anm. 1), lat., S. X VIII–XX.

Hieronymus Münzer: Arzt, Humanist, Bürger und Autor des ‹Itinerarium›

nach Neapel, und kehrte am 24. Januar 1484 zurück.23 Im gleichen Jahr folgte eine weitere Fahrt nach Lüttich. Danach blieb Münzer zunächst in Nürnberg, unterstützte Handelsunternehmungen seiner Familie und pflegte Kranke, schrieb zuweilen auch medizinische Gutachten.

Münzer unterhielt in Nürnberg enge Kontakte zum Kreis der Humanisten. Mathematik und Astronomie, besonders aber Kosmographie gehörten zu den Schwerpunkten dieses Freundeskreises (Nürnberger Sodalität). Wie breit seine Interessen sich entwickelten, zeigt nicht zuletzt seine von der Forschung rekonstruierte Bibliothek.24 Eigene geographische und historiographische Kompetenz bewies Münzer in Nürnberg mehrfach.25 Besonders eng arbeitete er mit Hartmann Schedel, dem

23 Münzer (Anm. 1), lat., S. 4–6 und Münzer (Anm. 1), dt., S. 28. 24 Inzwischen sind mehr als 200 Titel dieser Bibliothek zuzuweisen, vgl. Münzer (Anm. 1), lat., S. XXVIII.

25 Zu seinen Korrekturen zu «Europa» an der Schedelʼschen ‹Chronik› sowie bei der Schedelʼschen Karte von Deutschland sowie einer möglichen Mitarbeit von Hieronymus Münzer und Conrad Celtis am Text der Schedelʼschen ‹Weltchronik› vgl. Münzer (Anm. 1), lat., S. XXXVII–XLI.

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Abb. 1: Nürnberg in der ‹Schedelʼschen Chronik›

Autor der bekannten ‹Weltchronik›26, und mit Martin Behaim, der maßgeblich an den portugiesischen Afrikafahrten beteiligt war und dem der früheste Globus zu verdanken ist,27 zusammen. Lagen hier wichtige Motive für seine Reisen? Aber Motivationen und Interessen müssen nicht unbedingt mit dem Anlass übereinstimmen, so heißt es zum Beginn von Münzers Reisebericht: «Später, im Jahre des Heils 1494, als eine neue Pestwelle ausbrach, wollte ich zum alten Heilmittel der Flucht greifen, erneut dachte ich daran, mir ein paar aufrichtige junge Männer auszuwählen».28 Frau und Kind blieben zurück. Wollte Münzer egoistischerweise nur seine eigene Haut retten?29 Zuvor hatte er mit Rückgriff auf Aristoteles und in Anklängen an Cicero mit markigen Worten davon gesprochen, dass der Mensch durch Reisen die «Wahrheit» ergründen solle:

«Ich glaube mit Aristoteles, dass der Mensch die Intelligenz und eine natürliche Fähigkeit besitzt, sich der Suche nach der Wahrheit zu widmen. Ich glaube auch, dass, wenn sein Geist frei von allen häuslichen Sorgen und allen verpflichtenden Aufgaben ist, er alle Dinge hören und lernen kann; durch die Kenntnis der verborgenen Wahrheiten und der Wunder der Natur wird er zu einem würdigen und glücklichen Leben geführt werden. Und mit diesem Verlangen danach, die Wahrheit zu erkennen, ist die Größe des Geistes verbunden: Durch sie [die Größe] konnte er, so weit wie möglich, Unsterblichkeit erlangen. Deshalb wollten so viele Menschen Geschichte schreiben, Reisen zu Land und zu Wasser unternehmen, die Lage der Orte untersuchen und, was das eigene einer edlen und erhobenen Seele ist, die Menschen verschiedener Nationen kennenlernen, ihre Sitten sehen und dies im Gedächtnis behalten. Ähnliche Forschungen haben Platon, Pythagoras, die Pompeii, die Fabricii, die Cäsaren, Sertorius und die Christen Hieronymus, Augustinus, Antonius, Aegidius aus Athen und andere in unzähliger Zahl vorgenommen».30

Wie immer man diese sehr unterschiedlichen Bemerkungen Münzers zu Beginn seines Reiseberichtes gewichtet – weder der Drang nach Bildung noch der akute Anlass der Flucht vor der Pest lassen die Motivationen in ihrer Breite erkennen, wie erst eine genauere Analyse des Berichtes offenbar werden lässt. Sehr wahr-

26 Bernd Posselt, Konzeption und Kompilation der Schedelschen Weltchronik (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 71). Wiesbaden 2015.

27 Siehe dazu unten S. 48 f

28 Münzer (Anm. 1), lat., S. 6; Münzer (Anm. 1), dt., S. 28.

29 Paule Ciselet u. Marie Delcourt, Monetarius. Voyage au Pays-Bas (1495). Brüssel 1942, S. 12–15.

30 Münzer (Anm. 1), dt., S. 27–29.

Hieronymus Münzer: Arzt, Humanist, Bürger und Autor
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des ‹Itinerarium›
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Hieronymus Münzer: Arzt, Humanist, Bürger und Autor des ‹Itinerarium›

scheinlich gehörten zu den Zielen von Münzers Reise neben kosmographischen Interessen, Handelskontakten und Neugier auch von Kaiser Maximilian erhaltene diplomatische Aufträge. Gut zweihundert Blätter füllt der Bericht über Münzers große Reise 1494/1495 in einer Niederschrift seines Freundes Hartmann Schedel – geschrieben in Latein, meist in einer relativ anspruchslosen Sprache, aber an manchen Stellen wird auch etwas dunkel formuliert. Der Text ist kulturhistorisch einzigartig, aber bisher meist nur als Steinbruch benutzt worden. Schon deshalb war eine Gesamtedition ein dringendes Desiderat. Wie die Niederschrift – auch mit Unterstützung Schedels – zustande kam, wissen wir seit der neuen Edition besser, weil die einzige Überlieferung in der Münchener Handschrift (Clm 431) außer dem Reisebericht weiteres Material verzeichnet, das zu berücksichtigen aufschlussreich ist.31 Erläutern lässt sich dies am Beispiel der Beschreibung von Fribourg. Hier heißt es nach der Charakterisierung von Bern, Murten und den Kriegen mit Karl von Burgund (in der deutschen Übersetzung):

«Es wäre unglaublich, von diesem Ereignis zu erzählen, denn man müsste sich die vielen Knochen getöteter Gegner anschauen, was ich weiter unten ein wenig geschildert habe.

Nachdem ich nun das Bild des Todes so vieler christlicher Menschen gesehen hatte, bewegten wir unsere Schritte in Richtung Freiburg, der Stadt der Allobroger, dort wurde einstmals die gallische Sprache, nun jedoch größtenteils die deutsche benutzt».32

In der Handschrift findet sich hinten als Einzelnotiz folgender Eintrag:

«1494, 17 Augusti in Friburg

Turris ecclesie sancti Nicolai Friburgi altissim[a] et superbe fabrefact[a] est. Testudo eius habet gradus 361, in quo situs vniuerse ciuitatis egregie videri potest. Circumdat civitatem vallis profunda, in qua fluit Zona, flumen ex montibus, Vallesiis, ortum habens. Li[n]gua bifaria est Gallica et Germanica, invicemque rei publice sceptra gubernant.»33

Die Notiz im Anhang entspricht in der Grundstruktur vielen Beschreibungen an anderen Stellen des ‹Itinerariums›: Es werden Kirchen, deren Höhe, Täler, ein Fluss

31 Eine Aufstellung und Untersuchung der Materialien in Münzer (Anm. 1), lat., S. C XXIII–CXXXIV.

32 Münzer (Anm. 1), dt., S. 29; Münzer (Anm. 1), lat., S. 7–9: Visa itaque illa ymagine mortis tot hominum Cristianorum animo quasi consternati pedem ad Friburgum Allobrogorum urbem divertimus, que olim tota lingua Gallica, nunc in maiori parte Germanica utitur.

33 Münzer (Anm. 1), lat., S. 436.

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und Berge genannt. Aber für Fribourg waren diese Information vielleicht nicht neu genug, so dass sie keinen Eingang in die Endfassung selbst fanden. Zumindest waren ähnliche Notizen für die weiter entfernt liegende fremde Welt wichtiger als für die ziemlich nahe gelegene Schweiz, denn für ferngelegene Orte und Regionen wurden sie offensichtlich verarbeitet.

Das Beispiel zeigt aber, dass wohl Einzelnotizen – vielleicht in vergleichbaren Fällen noch auf Zetteln vorhanden – von den Reisewahrnehmungen zu einer eventuell abweichenden Verschriftlichung im Bericht führten oder führen konnten. Auch andere Materialien, die in die Handschrift aufgenommen wurden, bieten zuweilen ergänzendes Material, um bestimmte Aspekte zu vertiefen.

Hieronymus Münzer: Arzt, Humanist, Bürger und Autor des ‹Itinerarium› 15
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Die Reise 1494/1495

Folgen wir zunächst dem Weg des Nürnberger Humanisten. Vor der Reise wählte Münzer Begleiter aus. Es waren Personen aus reichen Kaufmannsfamilien, die italienisch und französisch sprachen: Anton Herwardt aus Augsburg, Kaspar Fischer und Nikolaus Wolkenstein aus Nürnberg.34 Schon diese Auswahl zeigt, dass nicht zuletzt Fragen des Nürnberger Handels eine Rolle spielten.

Die kleine Gruppe – es war kein großes Gefolge wie bei zeitgleichen Adelsreisen, der böhmische Adelige Leo von Rozmithal reiste 1465–1467 mit etwa fünfzig Personen35 – gelangte von Nürnberg durch Franken und Schwaben, sodann durch die Schweiz und Savoyen bis nach Südfrankreich. Gerade in diesem ersten Teil verweist das Itinerar wiederholt auf hagiographische Traditionen, besonders ausführlich im Zusammenhang mit Maria Magdalena, Lazarus und den drei Marien im Süden Frankreichs. Die auch mehrfach eingefügten Gedichte und Verse verleihen diesem Teil des Itinerars einen durchaus anderen Charakter als die späteren Abschnitte. Danach führte die Route nach Katalonien: Über Barcelona und Valencia, die wichtigen Handelszentren am Mittelmeer, kamen Münzer und seine Begleiter nach Granada und Sevilla, wo sich Münzer – orientiert man sich an der Länge seiner Aufzeichnungen – besonders intensiv umschaute. Nach einem längeren Aufenthalt in Évora und Lissabon erreichte die Gruppe das Pilgerzentrum Santiago de Compostela. Weiter ging es nach Toledo, Madrid, wo Münzer die Katholischen Könige traf, und dann nach Zaragoza, Pamplona und Roncesvalles weiterreiste. Über Frankreich, die Niederlande und Köln führte der Weg zurück nach Nürnberg.

34 Vgl. zu den Personen Münzer (Anm. 1), lat., S. XLIX–LI, 6–8.

35 Zur Reise des Leo von Rozmithal vgl. die Editionen von Johann A. Schmeller (Hg.), Des böhmischen Herrn Leoʼs von Rožmital Ritter, Hof- und Pilgerreise durch die Abendlande. 1465–1467 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 7,1). Stuttgart 1844, S. 1–142 und Karolus Hrdina u. Bohumil Ryba (Hgg.), Commentarius brevis et iucundus itineris atque peregrinationis, pietatis et religionis causa susceptae ab Illustri et Magnifico Domino, Domino Leone, libero barone de Rosmital et Blatna. Prag 1951; zur Sache Peter Johanek, «Und thet meinem herrn gar gross eer. Die rittersreis des Lev von Rožmital». In: Nine Miedema u. Rudolf Suntrup (Hgg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 2003, S. 455–480; Werner Paravicini, Bericht und Dokument. Leo von Rožmitál unterwegs zu den Höfen Europas (1465–1466). Archiv für Kulturgeschichte 92 (2010), S. 253–307; Nachträge hierzu: Werner Paravicini, Ehrenvolle Abwesenheit. Studien zum adligen Reisen im späteren Mittelalter. Hg. von Jan Hirschbiegel u. Harm von Seggern. Ostfildern 2017, S. 582–586.

Obwohl gerade die verschiedenen Wegabschnitte unterschiedliche Interessen und Abfassungsformen im ‹Itinerarium› erkennen lassen, steht hier der spanische Teil der Reise im Vordergrund. Münzer erschloss sich die verschiedensten Welten der Iberischen Halbinsel. Der Bericht lässt die regionale Vielfalt erkennen, die am Ende des 15. Jahrhunderts diesen Raum immer noch kennzeichnete: eigenständige Traditionen in Aragón-Katalonien, dem großen, zum Mittelmeer hin orientierten Herrschaftskomplex, der unter dem Namen Krone Aragón zusammengefügt war, weiterhin das erst 1492 von den Nasriden eroberte muslimische Königreich Granada, wo 1494 noch andere Strukturen und Traditionen in wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Hinsicht dominierten, die Seemacht Portugal mit seiner atlantisch-überseeischen Orientierung, die auch um 1500 immer noch als künstlich empfundene Einheit von Galicien-León und Kastilien sowie das in dieser Zeit sich an Frankreich orientierende Navarra.36

Münzer war nicht der erste Mitteleuropäer, der die Iberische Halbinsel bereiste. Einzelnotizen aus früherer Zeit und etwa ein Dutzend Berichte aus dem 15. und dem beginnenden 16. Jahrhundert sind überliefert.37 Dabei fällt auf, dass insgesamt vergleichsweise viele Deutsche zu verzeichnen sind. Schaut man auf die Reiserouten, so lernte Münzer als erster – eben nach 1492 und der Eroberung des südspanisch-muslimischen Nasridenreiches durch die katholischen Könige – die zahlreichen unterschiedlichen Gebiete der Iberischen Halbinsel kennen.

Trägt man die jeweiligen Strecken auch früherer Spanienreisender des 15. Jahrhunderts in eine Karte ein, so ergeben sich interessante Befunde, die zeigen, wie sehr die zunächst dominierenden Traditionen der Pilgerfahrten nach Santiago de Compostela und der damit verbundene Weg durch Nordspanien durch weitere Aspekte ergänzt bzw. außer Kraft gesetzt wurden. Mitglieder der Familie Rieter aus

36 Vgl. zur allgemeinen Hintergrundinformation neben Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Stuttgart 2007, S. 279–318; Walther L. Bernecker u. Klaus Herbers, Geschichte Portugals. Stuttgart 2013, S. 115–131 sowie zu den Diskussionen im 15. Jahrhundert jetzt den Sammelband Klaus Herbers u. Teresa Jiménez Calvente (Hgg.), Spanien auf dem Weg zum religiösen Einheitsstaat (15. Jh.) – España en el camino hacia un estado homogéneo en lo religioso (S. XV) – Spain on ist Way to Religious Unity (15th c.) (Wolfenbütteler Forschungen 168). Wolfenbüttel 2022.

37 Vgl. den Überblick von Klaus Herbers, Spanienreisen im Mittelalter – unbekannte und neue Welten. Das Mittelalter 3 (1998), Heft 2: Folker Reichert (Hg.), Fernreisen im Mittelalter (1998), S. 81–106, 96–99 sowie ders., «Das kommt mir spanisch vor». Zum Spanienbild von Reisenden aus Nürnberg und dem Reich an der Schwelle zur Neuzeit. In: Klaus Herbers u. Nikolas Jaspert (Hgg.), «Das kommt mir spanisch vor». Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1). Münster 2004, S. 1–30. Nachdruck in: Klaus Herbers, Pilger, Päpste, Heilige. Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Geschichte des Mittelalters. Hg. von Gordon Blennemann u. a. Tübingen 2011, S. 81–107.

Die Reise 1494/1495 18 Klaus Herbers

Nürnberg, Sebastian Ilsung aus Augsburg sowie Arnold von Harff aus dem Rheinland38 folgten mehr oder weniger dem camino francés, der alten Römerstraße durch Nordspanien, die zum Grab des Apostels Jakobus nach Compostela führt. Sie betraten oder verließen die Iberische Halbinsel jedoch über Katalonien und erreichten den ‹Pilgerweg› grob gesprochen durch das Ebrotal.

38 Zu diesen Berichten vgl. jüngst: Lisa Walleit, Nürnberger Patrizier in Santiago: Die Pilgerberichte von Peter Rieter und Sebald Rieter dem Älteren – eine Neubewertung. Überlieferungsgeschichte und kritische Edition. Archiv für Kulturgeschichte 102 (2020), S. 341–380; Volker Honemann, Sebastian Ilsung als Spanienreisender und Santiagopilger. In: Klaus Herbers (Hg.), Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte (Jakobus-Studien 1). Tübingen 1988, S. 61–95; ders., Ein Augsburger Patrizier auf dem Weg nach Santiago: Sebastian Ilsung und seine Reise nach Santiago de Compostela im Jahre 1446. In: Klaus Herbers u. Peter Rückert (Hgg.), Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrten (Jakobus-Studien 18). Tübingen 2009, S. 147–177; Helmut Brall-Tuchel u. Folker Reichert (Hgg.), Rom – Jerusalem – Santiago: Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold Von Harff (1496–1498). Köln, Weimar u. Wien 2007.

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Abb. 2: Reisende des 15. Jahrhunderts

Mit dem böhmischen Adeligen Leo von Rožmital, dem schlesischen Kaufmann Nikolas Popplau39 und Hieronymus Münzer griffen die ‹Rundreisen› des 15. Jahrhunderts von den 1460er bis zu den 1490er Jahren immer weiter nach Süden aus. Obwohl auch sie Santiago de Compostela besuchten – dies gehörte offensichtlich einfach dazu –, bezeugen ihre Reisen, wie sich die Interessenszonen geographisch erweiterten und neue Facetten der Iberischen Halbinsel an Aufmerksamkeit gewannen. Aber das muslimische Reich Granada blieb lange Zeit außerhalb des Erfahrungsbereiches. Der mit Bern verbundene Ludwig von Diesbach wollte mit Hans von der Gruben 1447 angeblich das Reich Granada besuchen, aber ein Diener des Königs von Kastilien sagte, sie könnten «nit sicher in das künigreich von Granada kommen»; deshalb ließen sie diese Reise und gingen nach Santiago de Compostela.40 Der Erste, der sich im Süden intensiver umschaute oder umschauen konnte, war Hieronymus Münzer.

Welche Möglichkeiten bot die Reise, und wie schöpfte Münzer diese aus? Der Kosmograph beobachtete, registrierte und ordnete ein: Schon in Barcelona stieg er auf einen hohen Turm und betrachtete alles aus der Vogelperspektive. Als Resümee steht im ‹Itinerarium› ein Vergleich:

«Ich stieg auf den höchsten Turm und betrachtete wie in einem Spiegel die Stadt und ihre Lage. Welch wunderbares Schauspiel! Die Stadt hat innerhalb und außerhalb ihrer Mauern in einem Umkreis von etwa zwei Meilen mehr als 30 Männer- und Frauenklöster; und ich glaube, dass die Stadt zweimal größer als Nürnberg ist».41

Von Barcelona habe sich – auch wegen der ungünstigen Rahmenbedingungen –der Handel nach Valencia verlagert. Ähnlich wie in Barcelona traf Münzer in Valencia42 dort agierende Vertreter der bekannten Ravensburger Handelsgesellschaft,

39 Zur Reise des Leo von Rozmithal vgl. die Editionen in Anm. 35. Zu Niklaus von Popplau im Vergleich zu Münzers religiösen Kommentaren vgl. Klaus Herbers, Viajes y peregrinaciones a la España del siglo XV. Jerónimo Münzer y Niklas de Popplau comentando la variedad religiosa la Península Ibérica. In: Klaus Herbers u. Teresa Jiménez Calvente (Hgg.), Spanien auf dem Weg zum religiösen Einheitsstaat (15. Jh.) – España en el camino hacia un estado homogéneo en lo religioso (S. XV) – Spain on ist Way to Religious Unity (15th c.) (Wolfenbütteler Forschungen 168). Wolfenbüttel 2022, S. 59–77, 64.

40 Zu Hans von der Gruben und Ludwig von Diesbach vgl. Max von Diesbach (Hg.), Hans von der Grubens Reise- und Pilgerbuch 1435–1467. Archiv des historischen Vereins des Kantons Bern 14 (1894), S. 95–149, hier S. 126.

41 Münzer (Anm. 1), dt., S. 45; vgl. Münzer (Anm. 1), lat., S. 44.

42 Münzer (Anm. 1), lat., S. 55; Münzer (Anm. 1), dt., S. 49.

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die ihm Stadt, Verwaltung, Handel, Politik, geistliches Leben und viele Weitere erschlossen oder zu erschließen halfen.43 In Valencia entstand damals ein neues Handelshaus. Deutsche Kaufleute wie Heinrich Spohrer und Konrad Humpiß führten die Gruppe durch die Handelsstadt. Die Bedeutung als Wirtschaftsmetropole belegen für den aufmerksamen Betrachter schon die vielen exotischen Produkte, die dort hergestellt oder verladen wurden: Mit fast moderner naturwissenschaftlicher

43 Nikolas Jaspert, Hieronymus Münzers deutsche Gastgeber auf der Iberischen Halbinsel. Archivnotizen und Ergänzungen. In: Claudia Alraum u. a. (Hgg.), Zwischen Rom und Santiago. Festschrift für Klaus Herbers zum 65. Geburtstag. Bochum 2016, S. 79–98; Münzer (Anm. 1), lat., S. 62–64; Münzer (Anm. 1), dt., S. 55. Allgemein zur Ravensburger Handelsgesellschaft Andreas Meyer, Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft in der Region. Von der «Bodenseehanse» zur Familiengesellschaft der Humpis. In: Carl A. Hoffmann u. Rolf Kiessling (Hgg.), Kommunikation und Region. Konstanz 2001, S. 249–305.

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Abb. 3: Münzers Reisewege

Der Reisebericht des Hieronymus Münzer bietet zahlreiche Möglichkeiten, die Perspektiven einer Zeitenwende zu erschließen – vor allem auf der Iberischen Halbinsel.

Randgänge der Mediävistik • Band 10

ISBN 978-3-7965-4843- 7

9 783796 548437

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