Roger Fayet: Ästhetik der Rührung

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Ästhetik der Rührung

Erkundungen auf dem Gebiet eines wenig angesehenen Gefühls

Schwabe Verlag

Publiziert mit der Unterstützung von:

Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung, Basel D&K DubachKeller Stiftung, Zürich

Ulrico Hoepli-Stiftung, Zürich

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Umschlag: Bruno Margreth, Zürich

Lektorat: Regula Krähenbühl, Ammerswil

Korrektorat: Anja Borkam, Langenhagen

Gestaltung und Satz: Bruno Margreth, Zürich

Bildbearbeitung: Andrea Brunner, Andrea Reisner, SIK-ISEA

Druck: Hubert & Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4813-0

ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4814-7

DOI 10.24894/978-3-7965-4814-7

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

9 Vorwort

13 Einleitung

16 Patti Smith singt Bob Dylans A Hard Rain’s A-Gonna Fall

22 Methodische und begriffliche Klärungen

29 Sie hatte keine Arme, aber sie war so standhaft

29 James Elkins’ Pictures & Tears

33 Siegreiche Persistenz: Die Nike von Samothrake

47 Grundgefühle versus Historizität der Emotionen

53 Die moralische Dimension von Rührung

53 Die «seltsame Stimmung» in Platons Phaidon

60 Aristoteles’ Katharsisbegriff

66 Odysseus weint

75 Hektors Abschied

79 Die lacrimae rerum in Vergils Aeneis

85 Die Systematisierung der Gefühle

85 Thomas von Aquins passiones animae

89 B egehrende und überwindende Grundgefühle

95 Das Vorher und Nachher von Emotionen

102 Tränen und Politik: Johan Huizingas Herbst des Mittelalters

108 Die Spannung zwischen Wirklichkeit und Ideal

115 Die systematisierte Gefühlsdarstellung

115 Gefühlsausdruck in Leonardo da Vincis Traktat von der Malerei

124 R adikale Systematisierung: Charles Le Bruns L’expression des passions

126 René Descartes’ Passionen der Seele

133 Le Bruns Modell zwischen Scholastik und Descartes

144 Visualisierte Systematik

Inhalt

151 Kunst als Praxis der Emotionalisierung

151 Staunen, nicht Rührung: Le Brun über Nicolas Poussins Mannawunder

159 Kritik an Le Bruns Modell: Henri Testelin und André Félibien

164 Imagination und Einfühlung: Roger de Piles

168 Emotionalisierung als zentrale Wirkungsabsicht: Jean-Baptiste Dubos

176 Prozessualität und Rührung

181 Ein Porträt des Innern

181 Guste Graff im Porträt von Anton Graff

186 Das Ephemere und das Festgeschriebene: Johann Caspar Lavater

191 Johann Georg Sulzer: Ermutigung versus Verzärtelung

198 Seelenmalerei

202 Vorbehalte gegenüber Sulzers Ästhetik

205 Rührung und das Gefühl des Erhabenen

205 Konzepte des Erhabenen: Pseudo-Longinus, Burke und Kant

210 Rührung in Kants Kritik der Urteilskraft

212 Joseph Anton Koch vor dem Rheinfall

216 William Turners Rheinfall bei Schaffhausen

222 Friedrich Schiller: Das Rührende als Gegenstück zum Erhabenen

227 Die Überwindung des Künstlichen

227 Das Naive: Sieg der Natur über die Kunst

234 Johann August Nahl der Jüngere: Hektors Abschied

246 Johann August Nahl der Ältere: Das Grabmal der Maria Magdalena Langhans

253 Sandstein versus Marmor

260 Grabmal-Rezeptionen: Fühlend von der Unendlichkeit überzeugt

265 Das «lang ersehnte Glück» in Franz Fickers Ästhetik

269 Im Angesicht des toten Kindes

269 Friedrich Rückerts Kindertodtenlieder

280 Gustav Mahlers Vertonung

285 Albert Ankers Kinderbegräbnis-Bilder

297 Das Rührende als Kitsch

298 Aufkommen des Begriffs

301 Fritz Karpfen: Das Phrasenhafte

303 Norbert Elias: Formunsicherheit und Gefühlsintensität

306 Hermann Broch: Reaktionäre Technik des Effekts

309 Clement Greenberg: Ersatzkultur

313 Theodor W. Adornos Schöne Stellen

313 Kitsch als Behälter überkommener Formen

318 Vom Kitsch zur Kulturindustrie

320 Rehabilitierung der «schönen Stellen»

325 Leitmoment der Versöhnung

331 Marina Abramović: The Artist Is Present

335 Gefühle messen und neurophysiologisch erklären

340 Wirksamkeit des Vorwissens

347 Theater HORA und Jérôme Bel: Disabled Theater

348 Sich selbst spielen

351 Emanzipation und Selbstdistanzierung

356 B eklemmung, Befreiung, Anerkennung

359 Schluss: Empfindsamkeit jenseits der Postmoderne

359 Schmerz und Versöhnung: Flora von Hubbard/Birchler

370 Neue Empfindsamkeit

377 Literatur

391 Namenregister

399 Abbildungsnachweis

Vorwort

Mein Interesse am Gefühl der Rührung setzte ein vor einigen Jahren, als ich bemerkte, dass ich häufiger als in der Zeit davor in eine Gemütslage geriet, die ich als eine Mischung aus Schmerz und Glücksempfinden erlebte und die ich unschwer als Zustand des Gerührtseins identifizieren konnte. Bei aller Deutlichkeit und Vertrautheit der Emotion gelang es mir aber nicht, mir die Entstehung dieses Gefühls genauer zu erklären. In der Folge wurde ich aufmerksam gegenüber Phänomenen der Rührung auch in jenen Bereichen, mit denen ich als Wissenschaftler zu tun hatte, und ich begann, mich mit einschlägigen Beiträgen der ästhetischen Theorie zu beschäftigen. Dabei entstand die Idee – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der umfangreichen emotionstheoretischen Forschungen der letzten Jahre und Jahrzehnte –, meine Fragen und die daraus resultierenden Antworten zur Diskussion zu stellen, zunächst in Rahmen meiner Unterrichtstätigkeit, dann in Form einer Publikation. Meine Arbeit nahm ich unter der Annahme auf, dass selbst ein verhältnismässig spezifisches und wenig aufdringliches Gefühl wie Rührung schon zahlreiche und differenzierte Deutungen erfahren haben musste. Die Ästhetik der Rührung, die ich zu entfalten gedachte, sollte demnach eine solche in historischer Perspektive sein, wobei ich zugleich von der besonderen Relevanz des Themas für die Diskussion gewisser aktueller künstlerischer Phänomene überzeugt war und bin.

Es ist für die Natur dieses Buches einigermassen prägend, dass Teile davon aus den Vorbereitungen zu einer Vorlesung entstanden, die ich im Frühlingssemester 2019 an der Universität Zürich hielt. An gewissen Stellen lässt der Text noch immer die Anforderungen einer solchen Lehrveranstaltung erkennen. Dazu gehört der etwas basale Charakter der Einleitung, in der nicht nur begriffliche und methodische Prämissen erläutert werden, sondern die den Studierenden auch einen möglichst

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unmittelbaren und anschaulichen Einstieg ins Thema ermöglichen sollte. Auch die Schilderung persönlicher Erlebnisse und die Verwendung der Ich-Form sind vor allem den Entstehungsumständen geschuldet. Gerade weil diese aber auch in der inhaltlichen Anlage wirksam geblieben sind, habe ich mich dafür entschieden, die in der ersten Person gehaltenen Formulierungen nicht vollständig zu tilgen.

Mit der im Untertitel des Buches artikulierten Charakterisierung der Rührung als ein wenig angesehenes Gefühl habe ich versucht, auf zwei Gründe hinzuweisen, weshalb es sich lohnen könnte, sich mit ihr zu beschäftigen. Zum einen ist dieses Gefühl in dem Sinne «wenig angesehen», als man sich – entgegen meiner Annahme – bislang verhältnismässig wenig mit ihm befasst hat. Diese Behauptung mag in Anbetracht des Umfangs der nachfolgend behandelten Werke und Theorien überraschen, aber mit Ausnahme der ästhetischen Diskurse um 1800 ist das Interesse, das der Rührung entgegengebracht wurde, deutlich geringer als jenes, mit dem die Wissenschaft Gefühle wie Angst, Liebe, Hass oder Scham bedacht hat. Das dürfte zum einen damit zu tun haben, dass Rührung nicht zu den Emotionen gehört, die uns Probleme bereiten oder die gar therapiert werden müssten. Zum anderen spielt aber möglicherweise auch eine Rolle, was mit der weiteren Bedeutung von «wenig angesehen» gemeint ist, nämlich, dass Rührung auch kaum je positiv auffällt, ja, dass ihr oftmals sogar ein schlechter Ruf anhaftet. Schnell wird sie, gerade wenn sie im Kontext von Kunst auftritt, als Anzeichen für fehlende Tiefe gesehen – sei es des Kunstwerks oder derer, die es betrachten. Besonders im Zusammenhang mit Kitschtheorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird von negativen Urteilen über das Rührende ausführlich die Rede sein. Es ist jedoch nicht das Programm dieser Arbeit, Rührung im Kontext ästhetischer Erfahrung als minderwertig auszuweisen, sondern das Interesse liegt darin, sie – im Lichte historischer und gegenwärtiger Theorien und in der Auseinandersetzung mit möglicherweise rührenden Kunstwerken – zu verstehen. Dabei gehören zu dem Versuch, sie zu begreifen, auch Fragen nach den normativen Interessen, die hinter der Produktion rührender Kunst stehen, und solche nach ihren Wirkungsfolgen. Oder um es aus einer persönlichen Perspektive zu formulieren: Momente der eigenen Rührung sehe ich nicht per se als Momente falscher,

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Vorwort

da übertriebener Gefühligkeit, sondern ihnen eignet für mich, auch wenn sie sich im Kontext ästhetischer Erfahrung ereignen, zunächst einmal etwas Geheimnisvolles, das zu seiner Ergründung auffordert.

Schon eine kursorische Durchsicht des Buches beziehungsweise ein Blick ins Inhaltsverzeichnis wird eine weitere Eigenheit des Vorhabens offenbaren: Es macht nicht an den Grenzen der Kunstwissenschaft als einer auf visuelle Erscheinungen fokussierten Disziplin halt, sondern reicht auch in Gebiete anderer Medien, etwa der Dichtung oder der Musik wie auch der Philosophie, selbst wo diese den Bereich rein ästhetischer Probleme verlässt. Wie wissenschaftlich riskant ein solches Unterfangen sein kann, ist mir nur allzu bewusst – in der Einleitung werde ich erläutern, weshalb ich mich dennoch dafür entschieden habe. An dieser Stelle einzig der Hinweis: Ohne die Hilfe und den kritischen Blick von Kolleginnen und Kollegen auch aus benachbarten Disziplinen wäre der eingeschlagene Weg nicht gangbar gewesen. So danke ich besonders Wolfgang Brückle, Giancarlo Marinucci, Christoph Merki, Christoph Reusser, Kurt Steinmann und Stefan Wülfert für wertvolle Hinweise und Ratschläge. Viel schuldet der Text auch seiner Lektorin Regula Krähenbühl, die mir eine unentbehrliche Gesprächspartnerin war und deren präzise redaktionelle Eingriffe dem Buch sehr zugute kamen. Hier schliesse ich den Dank an den Gestalter Bruno Margreth an, mit dem mich eine langjährige freundschaftliche Zusammenarbeit verbindet.

Wer das Buch tatsächlich von A bis Z lesen sollte und jederzeit eine konzise Führung durch die untersuchten Gegenstände erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Da führt kein fest gezwirnter roter Faden auf geradem Weg zu einem von vornherein definierten Ziel. Und doch verbinden feinere Fäden, geformt durch bestimmte Begriffe und Konzepte, einzelne Kapitel und verweben sich, so hoffe ich, im Gesamten zu einem Bild dessen, was Rührung im Kontext ästhetischer Erfahrung bedeuten könnte. Zugleich bieten sich die Kapitel auch zur gesonderten Lektüre an, jener Form des Lesens, die für die meisten von uns die alltäglichste Form des Umgangs mit Texten solchen Zuschnitts bilden dürfte. Der im Untertitel verwendete Begriff der «Erkundungen» spielt daher nicht nur auf die fachlich-wissenschaftliche Gastperspektive an,

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Vorwort

die für einige der Abschnitte kennzeichnend ist, sondern ist ebenso als Aufforderung gemeint, sich auch nur auf einzelne der Streifzüge einzulassen. Der Modus des Umherstreifens, der für die Entstehung des Buches bestimmend war, darf es auch für den Vorgang des Lesens sein.

Zürich, im Frühling 2023

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Vorwort

Einleitung

In diesem Buch geht es um Rührung. Was unter dem so bezeichneten Gefühl hier verstanden wird, kann vorerst nur angedeutet werden. Der Begriff der Rührung hat sowohl einen breiteren wie auch einen engeren Sinngehalt: Er bedeutet emotionale Bewegung im Allgemeinen und umfasst damit unterschiedliche Gefühle wie Traurigkeit, Mitleid, Freude oder Stolz. Gerührt zu sein in diesem eher unspezifischen Sinn heisst, in einer nicht näher bestimmten Weise durch etwas emotional affiziert zu sein. Das Gegenteil von gerührt sein wäre unter diesen Voraussetzungen gleichgültig, gelassen oder beherrscht sein. Rührung kann aber auch etwas genauer Bestimmtes meinen, eine spezifische Art von Gefühl, die zwar ebenfalls eine gewisse Bandbreite umfasst, aber doch etwas klarer Umrissenes bedeutet, etwas, was weder mit Traurigkeit noch Mitleid noch reiner Freude identisch ist. Im Alltag findet dieser stärker definierte Begriff Verwendung, wenn davon die Rede ist, dass sich jemand rührend um andere kümmert oder dass uns das Ende einer Geschichte gerührt hat.

Darum gebeten zu schildern, was ihr beim Wort Rührung in den Sinn komme, hat mir eine Studentin vor einiger Zeit folgende Antwort gegeben, die mir eine treffende erste Annäherung an das Phänomen zu leisten scheint:1 Gerührt sein heisse für sie, bewegt, ja manchmal sogar aufgewühlt zu sein und kurz die Kontrolle zu verlieren, aber in positiver Hinsicht. Manchmal habe sie Tränen in den Augen und bekomme Gänsehaut. Möglicherweise sei gerührt zu sein gleichbedeutend mit berührt zu sein. Rührung sei tendenziell ein temperiertes Gefühl – sie nannte es «mittel-sensibel» –, es führe zu einer ruhigen inneren Freude. Es setze voraus, dass zwischen der Person, die Rührung empfinde, und der Person oder Situation, auf die sich dieses Gefühl beziehe, eine

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1 Die Studentin hat mich um die Anonymisierung ihres Namens gebeten.

Bindung bestehe. Rührung sei plötzlich da, überraschend und ohne Vorwarnung. Es sei kein Gefühl von langer Dauer, sondern tauche in bestimmten Momenten auf und sei alles in allem eher selten. Es gebe Situationen, da fühle man sich durch das eigene Gerührtsein peinlich berührt.

Die Psychologin Karin Nohr beschrieb den Zustand des Gerührtseins in ähnlicher Weise als ein uns überraschend und tief ergreifendes Gefühl, das aber nicht eine dermassen starke oder negative Zumutung darstelle, dass es bekämpft werden müsse: «Rührung kommt überraschend, dringt in alle seelischen Tiefen, wird aber nicht negativ –etwa als Überrumpelung und Auslieferung – empfunden. Sie ergreift uns ganz und gar, strapaziert jedoch offenbar unseren Innenraum nicht so, dass sie abgewehrt werden muss.»2

Im wörtlichen Sinn hat Rührung etwas zu tun mit der Tätigkeit des Rührens als physischer Bewegung, das heisst mit dem kreisenden Bewegen einer flüssigen Masse, deren Bestandteile durch das Rühren in Bewegung versetzt und vermischt werden. Rühren, besonders in der reflexiven Form des Sich-Rührens, kann aber auch bedeuten, ein Körperglied beziehungsweise sich selbst zu bewegen; meist ist hier eine sachte Bewegung gemeint. Als Anrühren bezeichnet es das vorsichtige Anfassen eines anderen oder einer Sache. Rühren meint demnach ein äusserliches oder innerliches In-Bewegung-Setzen, und es kann, möglicherweise als Folge davon, eine ursächliche Beziehung zum Ausdruck bringen, etwa in der Formulierung: «Dies rührt daher, dass …». Etymologisch betrachtet kommt das Wort Rühren vom althochdeutschen (h)ruoren und mittelhochdeutschen rüeren oder ruoren, die zusammen mit den Bildungen (ahd.) bi(h)ruoren und (mhd.) berüeren, beruoren und anerüren ein breites Bedeutungsspektrum umfassten, unter anderem bewegen, rühren, berühren, spielen, schütteln, erreichen, anfassen, antreiben, angreifen, in Bewegung setzen. Seit dem 18. Jahrhundert werden das Substantiv Rührung sowie die Partizipien rührend

2 Karin Nohr, «Was ist Rührung? Eine essayistische Annäherung an ein wenig beachtetes Thema», in: Zum Phänomen der Rührung in Psychoanalyse und Musik, eine Publikation der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik, hrsg. von Karin Nohr und Sebastian Leikert, Gießen: Psychosozial-Verlag, 2016, S. 143–151, hier S. 144.

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Einleitung

und gerührt zur Bezeichnung innerlicher Regungen verwendet. Das Adjektiv rührig meint – von den älteren Bedeutungen munter, beweglich, in Blüte stehend abgeleitet – eifrig tätig, betriebsam; rührselig bezeichnet eine übertriebene Neigung zur Rührung.3

Ein Problem stellt die Übersetzung des Begriffs Rührung in andere Sprachen beziehungsweise sein Verhältnis zu inhaltlich verwandten fremdsprachlichen Wörtern dar. Hier stellvertretend ein kurzer Blick in den englischen und französischen Sprachraum: Das englische to move oder to be moved hat mit der Fokussierung auf das Bewegen beziehungsweise Bewegtwerden zwar eine Entsprechung zum deutschen Wort rühren, in der Regel wird es aber allgemeiner aufgefasst als dieses, das heisst, es meint eher generell eine emotionale Erregung, unabhängig von ihrem genauen Gefühlsgehalt. To touch oder to be touched liegt näher bei den Bedeutungsvarianten berühren oder anrühren und kann für rühren oder gerührt sein stehen, bezeichnet aber oftmals ein Gefühl von eher schwächerer Intensität. Im Französischen bilden die Begriffe émouvoir und toucher beziehungweise être ému(e) und être touché(e) ein ähnliches semantisches Feld; dabei verstärkt die Verwandtschaft von émouvoir und émotion eine Bedeutungserweiterung von être ému(e) im Sinne emotionaler Erregung im Allgemeinen.

Umgekehrt hat das Wort émotion deutlich mehr Nähe zum Begriff Rührung als das englische emotion, ja es kann unter Umständen genau diese meinen.

Mit einem Beispiel, das den hier zu untersuchenden Gegenstand sowie einige seiner Voraussetzungen zumindest im Ansatz exemplarisch aufscheinen lässt, möchte ich vorab eine anschaulichere Vorstellung davon geben, welche Art von Emotion im Zentrum dieser Abhandlung steht.

3 Vgl. «Rührung», in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/Rührung, Stand 5.2.2019.

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Einleitung

Patti Smith singt Bob Dylans A Hard Rain’s A-Gonna Fall

Im Jahr 2016 verlieh die Schwedische Akademie den Nobelpreis für Literatur an den US-amerikanischen Musiker und Lyriker Bob Dylan «für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition»,4 wie es in der offiziellen Mitteilung der Akademie heisst. Es war das erste Mal, dass die Auszeichnung an einen SingerSongwriter ging. Die Entscheidung fand in der Literatur- und Musikkritik nicht nur Zustimmung, sondern wurde zum Teil als paternalistisch-arrogante Geste einer elitären Institution gegenüber einer Kunstform gesehen, die sich gerade den Mechanismen der Kanonisierung verweigere. Bob Dylan selbst teilte zwar mit, der Preis sei ihm eine Ehre, sagte aber seine Teilnahme an der Preisverleihung ab. Für den musikalischen Akt wurde schon vor der Bekanntgabe des Preisträgers Patti Smith angefragt, auch sie eine Ikone der US-amerikanischen Punk- und Rockmusik sowie des Singer-Songwriter-Genres. Als Patti Smith erfuhr, dass die Auszeichnung an Bob Dylan gehe, fand sie es, wie sie später schreiben sollte, nicht länger passend, einen eigenen Song vorzutragen, sondern entschied sich für die Interpretation von Bob Dylans A Hard Rain’s A-Gonna Fall.

Die von der Nobelstiftung veröffentlichte Videoaufzeichnung5 gibt einen Eindruck von der Atmosphäre, in welcher der Auftritt von Patti Smith stattfand: In der Stockholm Concert Hall steht die Sängerin zusammen mit dem Orchester auf einem langgezogenen Balkon oberhalb der Bühne, wo, in Abendrobe und Frack, die Angehörigen der schwedischen Königsfamilie, die Preisträgerinnen und Preisträger sowie Mitglieder der Vergabegremien sitzen. Eine Büste des Stifters Alfred Nobel thront in der Mitte der Bühne unterhalb des Balkons, rechts vorne befindet sich das mit einem Porträtmedaillon Nobels

4 Sara Danius, Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2016 – Pressemitteilung, Medienmitteilung der ständigen Sekretärin der Schwedischen Akademie am 13. Oktober 2016, https://www. nobelprize.org/prizes/literature/2016/8246-bob-dylan-2016-3/, Stand 6.2.2019.

5 Vgl. Patti Smith performs Bob Dylan’s «A Hard Rain’s A-Gonna Fall» – Nobel Prize Award Ceremony 2016, von der Nobelstiftung veröffentlichte Videoaufzeichnung, https://www.youtube.com/watch?v=941PHEJHCwU, Stand 5.2.2019.

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Einleitung

geschmückte Rednerpult. Auf dem Bühnenboden liegt ein blauer Teppich, der vorne in der Mitte mit dem Logo der Nobelstiftung –einem grossen «N» in einem Kreis – versehen ist. Das Publikum im Parkett und auf den Balkonen ist festlich gekleidet. Die Gitarre, zunächst das einzige Begleitinstrument, setzt ein und Patti Smith beginnt ihre Darbietung. Sie singt konzentriert, vorsichtig, etwas zögerlich. In der Mitte der zweiten Strophe, bei der Zeile «I saw a room full of men with their hammers a-bleedin’», verliert sie den Faden, sie stockt, bricht ein erstes Mal ab und entschuldigt sich. Daraufhin versucht sie, wieder in den Text zu finden, muss jedoch erneut abbrechen. Sie bittet abermals um Verzeihung, wendet sich zur Dirigentin und ersucht sie, den letzten Teil nochmals zu wiederholen. Sie lächelt und richtet sich an das Publikum mit den Worten: «I apologize. Sorry. I am so nervous», wofür sie Applaus erntet. Patti Smith setzt die Interpretation fort, in der dritten Strophe kommt es nochmals zu einem Moment der Unsicherheit und zu einem kurzen Unterbruch, den die Sängerin aber auffängt. In der vierten und fünften Strophe, in der sich zu akustischer und Pedal-Steel-Gitarre leise das Orchester gesellt, gewinnt sie an Sicherheit. Die inhaltliche Wende, die der Songtext in der fünften und letzten Strophe nimmt (und wovon hier noch die Rede sein wird), setzt sie in gewisser Weise auch gestisch um, indem sie nun eine bestimmtere Haltung einnimmt. Der Applaus, der daraufhin anhebt, ist langanhaltend und warm.

Wie sehr wir beim Anschauen des Videos auch persönlich gerührt sein mögen oder nicht, die Aufzeichnung liefert den Beweis für das Aufkommen dieses Gefühls zumindest bei einem Teil des Publikums. Dabei haben die Produzenten des Videos die Sequenzen offenbar bewusst so gewählt, dass die emotionalen Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer sichtbar werden. Dass es der Nobelpreis-Organisation ein Anliegen war, die Wirkung der Performance ins Bild zu rücken, zeigt sich daran, dass das von der Organisation selbst auf YouTube platzierte Video angekündigt wird mit den Worten «Soloist Patti Smith performs a moving rendition of Bob Dylan’s A Hard Rain’s A-Gonna Fall».6 Auch die Kommentare auf YouTube betonen immer wieder das Aufrichtige,

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Ebd. Patti Smith singt Bob Dylans A Hard Rain’s A-Gonna Fall

Bescheidene, Menschliche der Aufführung und die emotionale Betroffenheit, die sie ausgelöst habe. Wiederholt ist die Rede davon, dass die Performance zu Tränen gerührt habe: «Tears streaming down my face. Absolutely beautiful.» – «Dear, dear Patti Smith, this is the version that made me cry.» – «Nothing short of a brilliant performance. Raw, vulnerable, touching.» – «I cried. We all cried. I couldn’t speak for a few minutes.» – «Incredible moving performance! so deep and so mighty!» – «Tears streaming down my face. Absolutely beautiful.» –«This has to be one of the most touching moments ever.»7

In einem Artikel mit dem Titel How does it feel, erschienen einige Wochen nach dem Auftritt im New Yorker, schreibt Patti Smith darüber, wie sie die Vorbereitungen, die Performance und die Zeit kurz danach erlebt hat.8 Sie erklärt, dass sie mit A Hard Rain’s A-Gonna Fall einen Song gewählt habe, der ihr von Jugendjahren an viel bedeutet habe und der auch ihrem verstorbenen Ehemann wichtig gewesen sei. Ihre Mutter hatte ihr das erste Bob-Dylan-Album gekauft, und das darauf befindliche A Hard Rain’s A-Gonna Fall wurde zu ihrem Lieblingsstück; da sie selbst Mutter eines «blue-eyed son» sei, habe sie die Worte beim Singen immer wieder an sich selbst gerichtet. Sie betont, wie sorgfältig sie sich auf den Auftritt vorbereitet habe und dass die Probe mit dem Orchester perfekt verlaufen sei. Und dass eigentlich alles in Ordnung gewesen sei, während sie neben der Dirigentin auf ihren Einsatz gewartet habe. Als die ersten Akkorde des Lieds erklungen seien, habe sie sich selbst singen gehört. Die erste Strophe sei etwas zittrig, aber ganz passabel gewesen, und sie sei zuversichtlich gewesen, dass sie Sicherheit gewinnen werde. Aber plötzlich habe eine Flut von Emotionen sie übermannt, so lawinenartig und heftig, dass sie unfähig gewesen sei, damit umzugehen. Aus dem Augenwinkel habe sie den grossen Arm der Fernsehkamera gesehen und all die Würdenträger auf der Bühne und das Publikum im Parkett. Dann:

7 Ebd.

8 Patti Smith, «How does it feel», in: The New Yorker, 12. Dezember 2016, https://www.newyorker.com/culture/cultural-comment/patti-smith-on-singing-at-bob-dylans-nobel-prize-ceremony, Stand 6.2.2019.

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Einleitung

Nicht vertraut mit einem so überwältigenden Anfall von Nervosität, war ich unfähig fortzufahren. Nicht dass ich die Worte vergessen hätte, die nun ein Teil von mir waren. Ich war schlicht unfähig, sie hervorzubringen. Dieses seltsame Phänomen schwächte sich weder ab, noch ging es vorbei, sondern blieb grausam an mir haften. Ich musste aufhören und um Verzeihung bitten und es dann in diesem Zustand noch einmal versuchen und sang mit meinem ganzen Wesen, aber immer noch stolpernd. Es war mir nicht verborgen geblieben, dass das Narrativ des Songs mit den Worten «I stumbled alongside of twelve misty mountains» beginnt und mit der Zeile «And I’ll know my song well before I start singing» endet. Als ich meinen Platz einnahm, spürte ich den demütigenden Stachel des Scheiterns, aber auch die seltsame Erkenntnis, dass ich irgendwie in die Welt des Textes eingetreten war und diese wirklich gelebt hatte.9

Patti Smith beendet ihren Bericht mit der Schilderung dessen, was am folgenden Morgen geschah: Im Frühstücksraum des Hotels sei sie von mehreren Nobelpreisträgern angesprochen worden. Sie hätten Anerkennung gezeigt für ihr Ringen in der Öffentlichkeit und gesagt, sie habe gute Arbeit geleistet. Auf ihren Einwand, sie wünschte, sie hätte es besser gemacht, sei ihr entgegnet worden, keiner wünsche sich das, denn ihr Aufritt sei zur Metapher geworden für das Ringen von ihnen allen. Die Worte der Freundlichkeit hätten den ganzen Tag über angehalten, und am Ende habe sie sich mit der wahrhaftigeren Natur ihrer Pflicht abfinden müssen:

Warum tun wir unsere Arbeit? Warum treten wir auf? Es geht vor allem um die Unterhaltung und Transformation der Menschen. Es ist alles für sie. Das Lied verlangte nach nichts. Der Schöpfer des Songs bat um nichts. Warum sollte ich also um etwas bitten?10

Ich glaube, dass am Beispiel dieser durch die Umstände und den überraschenden Verlauf so ungewöhnlichen Bob-Dylan-Interpretation vieles von dem aufscheint, was für die Entstehungs- und Wirkungsdimension von Rührung bedeutsam ist: Die Interpretin war von Anbeginn an in einem besonderen Mass emotional involviert; der Auftritt bedeutete ihr viel, aber auch der Song selbst, von dem sie das Gefühl

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9 Ebd., Übers. des Verf. 10 Ebd., Übers. des Verf.
A-Gonna Fall
Patti Smith singt Bob Dylans A Hard Rain’s

hatte, dass er sie mit ihrer eigenen Jugend, mit ihrer Mutter, ihrem verstorbenen Ehemann und mit ihrem Sohn verband. Die Umstände des Auftritts waren schwierig, nicht nur wegen der grossen medialen Aufmerksamkeit, mit der das Ereignis verfolgt wurde, sondern auch, weil sich das ebenso gediegene wie steife Umfeld eigentlich gegen die Protestnatur des Songs stemmte. Die Interpretation selbst wurde für Patti Smith zum Kampf mit den eigenen Emotionen, den sie in einem bestimmten Moment verlor – oder zu verlieren schien –, den sie aber mit ihrer Entschuldigung und ihrem Geständnis, so nervös zu sein, auf  eine andere Weise doch gewann. Glaubt man den zahlreichen Kommentaren auf YouTube, hatten die Zuhörerinnen und Zuhörer offenbar das Gefühl, einem Ereignis beizuwohnen, in dem Menschlichkeit über kalte Perfektion triumphierte und Verletzlichkeit zur Stärke erhoben wurde.

Eine wichtige Rolle spielte hierbei zweifellos die Schlichtheit der Sätze, mit denen sich Patti Smith ans Publikum wandte: «I apologize. Sorry. I am so nervous.» In ihrer beinahe naiven Einfachheit war an diesen Sätzen nichts, was vom Hauptgehalt der Aussage hätte ablenken können. Eine kompliziertere oder eloquentere Formulierung hätte zur Folge gehabt, dass an die Stelle einer unmittelbaren Empfindung die kognitive Auseinandersetzung mit der Form des Gesagten getreten und es dadurch zu einer Distanzierung vom Geschehen gekommen wäre. Ein weiterer Grund für die starke emotionale Wirkung lag überdies im Unerwarteten der Situation; das Publikum hatte zweifellos mit einer tadellosen Darbietung gerechnet und war entsprechend überrascht von dem, was sich auf der Bühne ereignete. Die wesentlichsten Elemente bei der Entstehung von Rührung waren aber das – auch in den Kommentaren zum Video immer wieder betonte – Sich-Behaupten von Menschlichkeit angesichts von Verhältnissen, in denen äusserliche Form und Strenge dominierten, und die unerhörte Stärke, die gerade im Bekenntnis zur eigenen Verletzlichkeit zum Ausdruck gelangte.

In den Blick genommen werden muss aber auch, dass die im Geschehen sich entwickelnde Gefühlsdynamik – also der unerwartete Übergang von negativen Emotionen wie Angst, Schrecken und Scham in

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Einleitung

positive Gefühle wie innere Stärke und Vertrauen – mit der emotionalen Dynamik des Songtextes von A Hard Rain’s A-Gonna Fall korrespondierte. Auch dieser entfaltet seine Wirkung im Antagonismus von adversiver Wirklichkeit und humaner Reaktion darauf. So beginnt jede der fünf Strophen mit einer Frage, die sich an «my blue-eyed son» und «my darling young one» richtet, also an ein jugendliches und –wie wir daraus möglicherweise schliessen – noch zu Empathie fähiges und unkorrumpiertes Gegenüber. Es wird in den ersten vier Strophen danach gefragt, wo in der Welt es gewesen sei, was es dort gesehen und gehört und wen es getroffen habe: «Oh, where have you been, my blueeyed son? Oh, where have you been, my darling young one?» – und so fort. Die Antworten berichten ausnahmslos von negativen Erlebnissen, Orten der Dunkelheit, von Leiden und Gewalt: «I’ve been ten thousand miles in the mouth of a graveyard», «I saw a room full of men with their hammers a-bleeding», «Heard one person starve, I heard many people laughin’», «I met a young child beside a dead pony», um aus jeder Strophe eine Zeile zu zitieren. Selbst dort, wo sich für einen Augenblick etwas Glückliches anzukündigen scheint, «I met a young girl, she gave me a rainbow», wird das zaghafte Aufscheinen von Schönheit durch die nachfolgende Zeile sofort wieder relativiert: «I met one man who was wounded in love». Der im Text beschworenen Allgegenwart der Grausamkeit und ihrer Unausweichlichkeit entspricht musikalisch die permanente Wiederholung derselben absteigenden Tonfolge in den Versen. In der fünften und letzten Strophe will der Fragende vom jugendlichen Gegenüber schliesslich wissen, was es jetzt tun werde: «Oh, what’ll you do now, my blue-eyed son?» Die Antwort besteht zunächst noch einmal in einer Schilderung von Grausamkeiten, ausführlicher noch als in den vorangehenden Strophen, um dann in einen Gestus des Widerstands überzugehen. Dieser äussert sich darin, dass der Antwortende, in der Rolle des Sängers, die Leiden der Menschheit ausspricht, die Leiden selbst bedenkend, fühlend und körperlich in sich aufnehmend (sie geradezu «einatmend», wie es heisst), und dass er sie wie ein Spiegel auf einem Berg «allen Seelen» sichtbar macht. Endlich stellt er sich christusgleich auf den Ozean, auf dem er so lange singt, bis er versinkt, vor allem aber in der Gewissheit, dass er sein Lied beherrscht:

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A
A-Gonna Fall
Patti Smith singt Bob Dylans
Hard Rain’s

And I’ll tell it and think it and speak it and breathe it And reflect it from the mountain so all souls can see it Then I’ll stand on the ocean until I start sinkin’ But I’ll know my song well before I start singin’

Und selbst wenn am Schluss, wie am Ende jeder Strophe, der starke Regen fällt, «It’s a hard rain’s a-gonna fall», so steht dem Übel nun die Vorstellung der sängerischen Anteilnahme und einer Gemeinschaft von mitfühlenden und solidarischen Seelen gegenüber. Der Songtext selbst führt also von der ostinaten Konfrontation mit der Übermacht des Bedrückenden – die durch die jeweils analoge Textstruktur der Verse und den musikalischen Parallelismus eine doppelte Steigerung erfährt – zu Bildern des künstlerischen und menschlichen Widerstands und damit zu einer emotionalen Befreiung aus dem Leiden an der Welt. Nota bene nimmt die erste Verszeile, die diese Befreiung einleitet, «And I’ll tell it and think it and speak it and breathe it», in ihrer Binnenstruktur den Parallelismus der vorangegangenen Strophen auf, intensiviert ihn durch die Verdichtung zusätzlich und setzt sich damit besonders nachdrücklich und zuversichtlich vom Vorherigen ab. Allerdings geht der Auftritt von Patti Smith noch über den Song selbst hinaus: Während der Text den Übeln der Welt mit einer Haltung des Widerstands begegnet, die, obschon Ausdruck menschlichen Mitgefühls sowie moralischer Integrität und obschon von geradezu heroischer Art, im Status der reinen Widerständigkeit verbleibt, wird in der gelebten Realität der Performance das Verlangen nach Menschlichkeit eingelöst. Und dieses Sich-Behaupten von Menschlichkeit angesichts einer scheinbaren Vorherrschaft anders gerichteter Kräfte ist es, was bewegt.

Methodische und begriffliche Klärungen

Das Beispiel von Patti Smith’ Nobelpreis-Performance sollte erste Anhaltspunkte dafür liefern, welches Gefühl im Zentrum dieser Untersuchung steht. Ein differenzierterer Begriff von Rührung kann hingegen erst in der Auseinandersetzung mit den hier zur Sprache kommenden

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Einleitung
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