WSU9. Silke Vetter-Schultheiß: Natur- und Umweltschutz als ästhetische Praxis

Page 1

NATUR- UND

UMWELTSCHUTZ ALS

ÄSTHETISCHE PRAXIS

EINE PHILATELISTISCHE

ANNÄHERUNG IN DER ZEIT

DER BONNER REPUBLIK

SILKE VETTER-SCHULTHEI ß

Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU)

Band 9

Herausgegeben von Christian Rohr und Chantal Camenisch, HistorischesInstitut der Universität Bern

Natur- und Umweltschutz als ästhetische Praxis

Eine philatelistische Annäherung in der Zeit der Bonner Republik

Silke Vetter-Schultheiß
Schwabe Verlag

Diese Publikation wurde vom Team der Gleichstellungsbeauftragten am Fachbereich II der TU Darmstadt gefördert.

BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronischverarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.

Abbildung Umschlag:Eleonore Könyves-Tóth /Silke Vetter-Schultheiß

Gestaltungskonzept:icona basel gmbH, Basel

Cover:Kathrin Strohschnieder, stroh design, Oldenburg

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:Hubert& Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4764-5

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4765-2

DOI 10.24894/978-3-7965-4765-2

zugl.: Darmstadt,Technische Universität Darmstadt, Dissertation

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriftenverlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Für Thomas und Jonne und all die anderen.

Aus tiefstem Herzen sage ich Danke an die vielen, die mich bestärkten und mir auf ihre je eigene Art und Weise halfen, diese Arbeit fertigzustellen.

Inhalt 1. Einleitung .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... ... ... .. .. .... ... .... .. .. .. . 11 1.1. Fragestellung und Thesen .. .. ... .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 12 1.2. Forschungsstand .. .. ... .. .. .... .. .. .. .. .. ... .. .. .... ... .... 24 2. Anstöße und Motivationen ... .... ... ... .. .. .... ... .... ... .... 29 2.1. Philatelie als ästhetische Praxis 29 2.1.1. Walter Benjamin und die Philatelie .. .. ... .. .. .. .. ... ... . 29 2.1.2. Andreas Reckwitz und die «ästhetische Praxis». .. .. ... ... . 35 2.2. Naturschutzund Umweltschutz. .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 38 2.2.1. Naturschutzum1900 .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 39 2.2.2. Natur- und Umweltschutzbewegungen 42 2.3. Natur und UmweltimBild. .. ... .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 43 2.3.1. Bilddefinition .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .... ... .... 43 2.3.2. Bilder im Natur- und Umweltschutzdiskurs .. .. .. .. ... ... . 46 2.4. Naturästhetik .... .. .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... .. .. .. . 52 2.4.1. Geschichte der Naturästhetik und Naturethik 52 2.4.2. Ökologische Naturästhetik .. .. ... .. .. .... ... .... .. .. ... 54 3. Kommunikation – mit Briefmarken .. ... ... .... ... .... ... .... 59 3.1 Historischer Abriss über die Entstehung der Briefmarke ... ... ... . 60 3.2. Briefmarkenentstehung in der BRD 61 3.3. Briefmarkenarten sowie ihre Geschichte und Bedeutung ... ... ... . 66 3.4. Briefmarken und ihre Spezifika ... ... ... .. .. .... ... .... .. .. ... 71 4. Um Welt und Mensch:Worum es sich zu kämpfen lohnt ... ... . 75 4.1. Natur als Motiv entdecken:Wandern und Sammeln .. .. .. ... ... . 75 4.1.1. Postwertzeichen als Werbeträger für ästhetisches Naturerleben .. ... .. .. .... ... .... .. .. ... 76
4.1.2. Sammeln und Benennen .. .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 87 4.2. Heimische Tiere:Naturschutz zwischen Ökonomie und Ökologie 94 4.2.1. Die Marke der Marke .. ... .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 95 4.2.2. Tierschutz und die Frage der angemessenen Darstellung .. .. . 106 4.3. Die Sprache der Pflanzen: zwischen kulturellerBedeutung und Gefährdung .. .. .. ... ... ... . 115 4.3.1. «Floriografie»und Briefmarkensprache: Lesen zwischen den Zeilen .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 116 4.3.2. Deutschland in Pflanzen:eine besondere Landkarte .. .. ... . 122 4.4. Berühmte Persönlichkeiten und ihr Wirken ... ... .. .. .. .. ... ... . 138 4.4.1. Seltene Tiere:der Begriffvon Wildnis und die Aufgaben des Tierschutzes. .. ... ... .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 138 4.4.2 Vögel:der Beginnder Naturschutzbewegung im 19. Jahrhundert .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... ... ... .. .. .... 147 4.5. (Regen‐)Waldromantik:zwischen nationaler Ökonomie und globaler Ökokrise 155 4.5.1. Wald:Soziales, Klimaund Wirtschaft .. .... ... ... .. .. .. .. 156 4.5.2. Waldsterbensdebatte:ein nationales Spezifikum .. .. ... ... . 161 4.6. Deutsche und europäische Natur .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... 171 4.6.1. Heimat Deutschland:Was uns lieb und teuer ist ... .. .. .... 172 4.6.2. Heimat Europa:Trennendes und Einendes 194 4.7. Der Blaue Planet:Bedeutungen und Narrative .... ... ... .. .. .. .. 213 4.7.1. Nationale Umweltzeichen:Symbole entstehen .. .. .. ... ... . 214 4.7.2. Umweltschutz:Abstraktes visualisieren .. .. .. .. ... .. .. .... 225 4.8. Energie:unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel .. .. ... .. .. .... 234 4.8.1. Alternative Energien: die Suche nach dem richtigen Symbol .. ... .. .. .. .. ... ... . 234 4.8.2. Energie sparen:zwischen Symbol und Realität .. .. .. ... ... . 244 4.9. Was allen gehört .. .. ... .. .. .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... 254 4.9.1. Globale Meeresverschmutzungund lokaler Nordseeschutz ... 255 4.9.2. Versprechen in die Zukunft: Vorsorgeprinzip und Gemeingüter .. ... .. .. ... .. .. ... ... . 261 5. Fazit .. .... ... .... .. .. ... .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. ... ... . 273 6. Abkürzungsverzeichnis ... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... 283 8 Inhalt
7. Quellenverzeichnis .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. .... ... .... .. .. .. . 287 7.1. Archivalien 287 7.2. Gedruckte Quellen ... ... .. .. .. .. .. .. ... ... .... ... .... ... .... 290 8. Literaturverzeichnis .. ... ... .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... 293 9. Verzeichnisder Internet-Ressourcen 305 10. Abbildungsverzeichnis .. ... .. .. .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... 309 Anhang A: Informationen zu den besprochenen Postwertzeichen .. ... ... .... .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. 313 Anhang B: Postminister, Regierungen und emittierte Postwertzeichen .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... 333 Anhang C: Postgebühren von 1. September 1948 bis 30. Juni 1992 .. ... ... .... .. .. .. .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... 337 Inhalt 9

Der Zoodirektor,Buchautor und Tierfilmer Bernhard Grzimek1 gilt in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch darüber hinaus, bis heute als Ikone des Natur- wie auch des Umweltschutzes. Mit Grzimek verbinden sich Aktivitäten zur Rettung des Zoologischen Gartens Frankfurt am Main oder der Wildnis Afrikas. Dass dieses Beispiel bis heute ganz bestimmte Wertvorstellungen vermittelt, lässt sich nicht nur an Grzimeks Aktivitäten für seine Herzensangelegenheiten festmachen, sondern ganz spezifisch auch auf die bildhafte Bedeutung ausweiten, die in der Bezeichnung «Ikone»steckt. Grzimek setzte auf die Macht der Bilder und prägte mit seiner ganz eigenenBildsprache den Naturschutz der 1950er-Jahre, aber auch den in den 1970er-Jahren aufkommenden Umweltschutz in der Bundesrepublik entscheidend mit.

Der Tierfilmer bediente sich der Massenmedien, um auf seine Aktivitäten und Ziele aufmerksam zu machen. Grzimek wurde unter anderemdurch seinen Dokumentarfilm Serengeti darf nicht sterben (1959)bekannt. Dieser erhielt 1960 als erster deutscher Film nach dem Zweiten Weltkriegeine Oscar-Pramierung als bester Dokumentationsfilm. Das nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandene Massenmedium Fernsehen prägte Grzimek durch seine Tierfilmreihe Kein Platz für Tiere,die er nutzte, um über die bedrohte Tierwelt zu berichten, Spenden einzuwerben und seine Vorstellungen von Natur- und Umweltschutz zu verbreiten.2 Aberauch auf anderemWeg brachte er sein Anliegen der bundesdeutschen Jugend nahe, beispielsweise in der Zeitschrift DerKleine Tierfreund,die zur Sensibilisierungder Kinder der 1950er- und 1960er-Jahre für Natur- und Tierschutzthemen beitrug.3

1 Zu Bernhard Grzimeks Leben siehe unter anderem die Biografie der Biologin und Journalistin Claudia Sewig 2009. Zu seinem filmischen Schaffen siehe den Sammelband Nessel, Schlupmann 2012, darin vor allem die Beiträge Nessel 2012;Keilbach 2012;Worschech 2012.

2 Zur Medialisierung von Natur und Umwelt und der Rolle, die Bernhard Grzimek dabei spielte, siehe Engels 2003 sowie Engels 2006:214–274 (Kapitel 5«Medialer Stilwandel. Natur im Fernsehen und ihre gesellschaftskritische Umdeutung zwischen den fünfziger und siebziger Jahren»).

3 Siehe vor allem die letzten Seiten verschiedener Ausgaben der Zeitschrift Der Kleine Tierfreund aus den 1950er- und 1960er-Jahren, die über Besuche kleiner Zeitschriftenleser*innen bei Bernhard Grzimek in Afrika berichteten. Zur Sozialisierung der Aktivist*innen der Umweltbewegung in ihren Kinder- und Jugendjahren siehe Wobse 2006.

1. Einleitung

Bernhard Grzimek nutzte neben den klassischen journalistischen Medien wie Zeitungen und Zeitschriften sowie Film und Fernsehen auch ein in der Funktion völlig anders gelagertes Bildmedium:das amtliche, von Staaten ausgegebene Postwertzeichen (PWZ). Er sah visuelles Potenzial in diesem kleinen Alltagsgegenstand und stellte in dem hier relevanten Untersuchungszeitraum gleich zwei Mal erfolgreich eineAnfrage beim Bundespostministerium (BPM)der Bundesrepublik Deutschland (BRD): in den 1950er-Jahren zum 100-jahrigen Bestehen des Frankfurter Zoos4 und in den 1970er-Jahren, in seiner vorübergehenden Funktion als Beauftragter der Bundesregierung für den Naturschutz, für den Schutz von Vögeln.5 Grzimek argumentierte beispielsweise mit der kulturellen und wissenschaftlichen Bedeutung von Zoos – und später des Vogelschutzes

für eineGesellschaft, nutzte aber auch ästhetische Argumente. Die kulturelle Bedeutung des Frankfurter Zoos zeige sich darin, dass sich Tierliebe nicht im Zoobesuch erschöpfe, sondern auch und gerade in dem Wunsch, dieser Zuneigung mittels einer bildlichenDarstellung – in diesem Falle einer Briefmarke – Ausdruck zu verleihen. Um seine Anliegen gegenüberdem Postministerium zu verdeutlichen und diese auch gegen postinterne Widerstände durchzusetzen, aktivierte Grzimek zudem in beidenFällen sein weitverzweigtes Netzwerk aus Unterstützer*innen, die ungewöhnlich viele Eingaben an das Ministerium machten.6

Aber auch traditionelle Tier-, Pflanzen- und Naturschutzvereinigungen wie der 1899 gegründete Bund für Vogelschutz (BfV)oder der 1909 gegründete Verein Naturschutzpark baten im Untersuchungszeitraum immer wieder um visuelle Unterstützung für ihr Anliegen mithilfe von Postwertzeichen. Entwürfe, die von ihren Motiven her in Verbindung zu linksalternativenGruppierungen hätten stehen können, kamen jedoch nicht in Druck.

1.1. Fragestellung und Thesen

Die einleitenden Gedanken umreißen sowohl das Thema als auch den hauptsächlich betrachteten zeitlichen und geografischen Rahmen dieser Arbeit:Bilder des Natur- und Umweltschutzeswährend der Zeit der Bonner Republik (1949–1990). Sie zeigen zudem, dass sich Postwertzeichen als historische Quellen eignen, um Fragen nach der visuellen Bedeutung bestimmter Medien für gewisse Personen(gruppen)zustellen. Diese Arbeit versucht, auf diese Fragen sowie jene nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Naturschutz und Umwelt-

4 Die Postwertzeichen werden nach folgendem Schema gekennzeichnet:Land MiNr. (evtl. Ausgabejahr): BRD MiNr. 288 (1958). Auch zum 150-jahrigen Jubiläum des Frankfurter Zoos 2008 verausgabte die Deutsche Post AG eine Briefmarke (BRD MiNr. 2653).

5 BRD MiNr. 901 (1976).

6 Zu den beiden von Grzimek angefragten Postwertzeichen siehe v. a. Kapitel 4.4.

12 1. Einleitung

schutz auf visuellen Darstellungen zu antworten. Briefmarkenmotivedienen hierbei als Referenzpunkt für einzelne Fallstudien, von dem aus sich der Blick auf andere visuelle Medienwie Plakate oder Logos weitet, die für gesellschaftliche Debatten rund um Natur- und Umweltschutz bedeutsam waren.

Wie der 1954 vom damaligenPostminister Siegfried Balke (CSU)eingesetzte Kunstbeirat in seinen «Gedanken zur künstlerischen Form der Briefmarke» bemerkte,sind Postwertzeichen «Träger mannigfacher Ideen».7 Der Philosoph Walter Benjamin sah in diesen kleinen Kunstwerken «Anlaß [sic]und Anstoß»8 nachzudenken.Die vorliegende Arbeit untersuchtanhand von Benjamins «mikrologische[m]»9 Blick auf Basis archivalischer Quellen die Entstehungs- ebenso wie die Rezeptionsgeschichte von Postwertzeichen mit Natur- und auch Umweltschutzthemen aus 41 Jahren bundesdeutscher Geschichte.

Als Hintergrundfolie dieser Arbeit dient Benjaminsumdie Gedankendes Soziologen Andreas Reckwitz erweiterter Blick auf die Philatelie. Dieses Verfahren fungiert als methodischer Zugang. Das Credo Benjamins, im Kleinen die Welt zu erkennen, ist selbst heute noch anwendbar, insbesondere für die Themen Natur und Umwelt. Diese Methodik ist anschlussfähig an das Vorgehen des Umwelthistorikers Joachim Radkau, der (Umwelt‐)Geschichte ebenfalls nicht als eine große Erzählung versteht.10 Dies hängt unter anderem mit Radkaus und BenjaminsDefinition von Wahrheit als stets zeit- und kontextabhängig zusammen.11 Joachim Radkaus These, die Umweltgeschichtsschreibung zerfalle in viele kleine Geschichten, sowie Benjamins Verständnis von Philatelie lassen sich zusammendenken: Postwertzeichen sowie deren Auswahl und Gestaltung können

7 Kunstbeirat:Gedanken zur künstlerischen Form der Briefmarke, Bundesarchiv Koblenz [BArch]B257/45237.

8 Fürnkäs 1988:101.

9 Fürnkäs 1999:374.

10 Zur Umweltgeschichte als Zusammenschau vieler kleiner Geschichten siehe Radkau

2011:v.a.32–37.

11 Wahrheit ist für Benjamin ([1927–1940]1991:578)«an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß [sic]das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee.» Die Zahnung, die den «Markenkörper[]» der Briefmarken umgibt, nennt Benjamin ([1927]1991:135)«weiße[s],spitzengarnierte[s] Tüllkleid». Benjamin ([1927–1940]1991:578)geht es nicht um eine «zeitlose[] Wahrheit», die immer und überall gültig sei. Ganz im Gegenteil sei Erkenntnis zeitlich und personell gebunden, weshalb es für ihn niemals die eine Wahrheit geben könne. Zudem findet sich für Benjamin diese vergängliche Wahrheit eben nicht in den heroischen Erzählungen berühmter Sieger, sondern im «Abfall»der Geschichte (ebd.: 574), in den von der Allgemeinheit vergessenen «Lumpen»(ebd.) und Trümmern des Alltags. Die Bruchstücke vergangenen Lebens seien somit keine starren, unumstößlichen Fakten mit einer darin verborgenen Lehre, der es nachzuspüren gelte;sie böten keine irgendwie geartete Sicherheit. Stattdessen müsse der Mensch die Fragmente an sich heranlassen, sich von ihnen berühren lassen, um etwas über die eigene Gegenwart zu erfahren.

1.1.
13
Fragestellung und Thesen

jenseits der Suche nach einem umfassenden Leitmotiv als Klammerfür die Frage nach der Bedeutung von Darstellungen in den (bundesdeutschen) Natur- wie auch Umweltschutzbewegungen dienen. Anhand dieses alltagsästhetischen Massenmediums lassen sich en miniature gesellschaftlich relevante Debatten eruieren und in nationalen wie internationalen Kontexten verorten.

Joachim Radkau untersuchte zudem die Entwicklung von Natur- wie auch Umweltschutzbewegungen und ihrer Vorläufer anhand ihrer Motive und Wahrnehmungeninlokaler, nationaler und globaler Perspektive sowie ihre gegenseitige Beeinflussung. Er zeigte damit die transnationale Verflechtung von Naturund Umweltschutzbewegungenseit dem 18. Jahrhundert auf. Gleichzeitig beleuchtete Radkauwichtige umweltgeschichtliche Zäsuren wie 1900, 1970 oder 1990.12 Der HistorikerTilmann Grabbe analysierte in «Der kranke Planet». Populäre Imaginationen von Natur in der Bundesrepublik der 1980er Jahre mithilfe der Krankheitsmetapher ebenfalls die Zäsur von 1970 und fand Kontinuitäten umweltgeschichtlicher Debatten über diese Zeit hinweg.13

Auch hier dient die umweltgeschichtliche Epochenschwelle um 1970 nicht als Endpunkt der Arbeit, sondern steht in deren Zentrum, wenn der Geschichte von Naturdarstellungen und eco-images (Gisela Parak)gerade in der für deren Entwicklungspannenden Zeit zwischen 1949 und 1990 nachgegangen wird.14

Hierdurch lässt sich nach «Bedeutungsverschiebungen»und «Bezeichnungsrevolutionen»einer möglichen «neuen Wirklichkeit»fragen und danach,wie tiefgreifend der Wandelbeziehungsweise wie beharrlich die Kontinuitäten im Bildgebrauch waren.15 Dies wird anhand von Motivenund Debatten um Natur- und Umweltschutzbriefmarken der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Dabei ist die Zeit der Bonner Republik besonders interessant. Naturschutz- wie auch Umweltschutzthemen mussten sich erst als mögliche Postwertzeichenmotive durchsetzen.Zuerst ging es um die Etablierung von Naturbriefmarken überhaupt, später um die Frage nach Natur- und Umweltschutzmarken und schließlich um die Kanonisierung des Themas auf Briefmarken.

Es gilt also, die umweltgeschichtliche Zäsur der 1970er-Jahre aus der Perspektive von Bildpraktiken neu in den Blick zu nehmen. Gemeinhin werden die «ökologische Wende»und das Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungenin den 1970er-Jahren als zentrale Zäsur der Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts

12 Vgl. Radkau 2011.

13 Vgl. Grabbe 2018.

14 Zudem wird punktuell auf wichtige Entwicklungen seit 1900 eingegangen, um so das Natur- und Selbstverständnis des frühen Naturschutzes und damit auch dessen Bildpolitiken zu verstehen. Dies entspricht auch einer mediengeschichtlichen Zäsur, denn ab etwa 1900 wurde die Reproduktion von Fotos sowohl technisch einfacher als auch kostengünstiger, was wiederum die Voraussetzung für die massenhafte Verbreitung von Bildern allgemein war.

15 Vgl. Leendertz, Meteling 2016:13.

14 1. Einleitung

angesehen:die Internationalisierungdes vormalsvorwiegend auf Nationalstaaten ausgerichteten Naturschutzes, die stärkere Politisierung und Radikalisierung neuer Protestformen und schließlich auch der Wandelinder Begrifflichkeit von der Dominanz des Naturschutzes hin zum Umweltschutz. Naturschutz als der ältere Begriff bezeichnet den frühen, eher von konservativ-bürgerlichen Schichten geprägten und bewahrenden Schutz der Natur. 1969 übernahm auf Bundesebene eine sozialliberale Koalition unter Kanzler Willy Brandt (SPD)die Regierung. 1971 verabschiedete diese erstmals ein Umweltprogramm.16 Besonders Innenminister Hans-Dietrich Genscher(FDP)war der Umweltschutz ein Anliegen. Der Reaktorunfall von Tschernobyl am 26. April 1986 schließlich gab den Ausschlag, die vorher auf mehreren Ministerien verteilten Aufgaben rund um den Umweltschutz wenige Monate nach dem Unglück in einem Bundesumweltministeriumzubündeln. Mit den linksalternativ ausgerichteten Trägerschichten der Neuen Sozialen Bewegungenwurde der zunächst durch Regierungsbehörden eingeführteund umfassendere Begriff Umweltschutzzueinem wirkmächtigen Konzept und fand von dort aus seine Verbreitung.17

Die Bildpolitiken der Natur- und Umweltschutzbewegungen weisen eine größere Kontinuität auf, als die in den 1970er-Jahren angesetzte Zäsur vermuten lässt, denn einschlägige Bilder fanden auch darüber hinaus Verwendung. In dieser Arbeit geht es unter anderemumdas Verhältnis von Natur zu Umwelt sowie um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischenNatur- und Umweltschutz. Leitend ist dabei die Frage, wie dies bildmotivisch umgesetzt wurde. Es geht folglich um die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten.Zentral richtet sich der Fokus auf diese Bewegung von ‹Mensch und Umwelt› hin zu ‹Mensch in Umwelt›, die der US-amerikanische Umwelthistoriker Finis Dunaway durch eine«ecological lens»schauen nennt.18

Im Natur- wie auch im Umweltschutz besaß das Ästhetische19 eine doppelte Funktion. Menschen näherten sich sowohl Natur- als auch Umweltthemen an, indem sie die sie umgebende Natur sinnlichwahrnahmen; es ging also einerseits um eine ästhetische Erfahrung. Andererseits griffen unterschiedliche Akteursgruppen in Debatten über Natur oder Umwelt mithilfevon eigens entwickelten und/oder bewusst in der medialen Kommunikation eingesetzten Bildern ein. Daher diente ästhetische Naturwahrnehmung auf zwei Weisen zur Argumentation: als spürbare Naturerfahrung oder vermittelt durch visuelle Darstellungen. Auf

16 Deutscher Bundestag:Umweltprogramm der Bundesregierung, Drucksache VI/2710,

14. 10. 1971:21–22, https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/06/027/0602710.pdf, 18. 02. 2023.

17 Vgl. Kupper 2003;Brüggemeier, Engels 2005;Radkau 2011.

18 Dunaway 2015:20.

19 Im Folgenden meint Ästhetik in erster Linie sinnliche Wahrnehmung, vor allem bildlicher Darstellungen. Nur am Rande interessiert die Definition von Ästhetik als ‹das Schöne› Vgl. Reckwitz 2015b.

1.1. Fragestellung und Thesen 15

bildhafte Weise – nicht nur über den Verstand,sondern eben auch über das sinnliche Erleben – konntedie Schönheit der Natur dargestellt und schließlich auch der Dringlichkeit des Naturschutzes Nachdruck verliehen werden.

Sobald Bilder im Natur- wie auch im Umweltschutzfür die Veröffentlichung gedacht waren, hatten sie zusätzlich eine politischeAbsicht – dies nicht erst seit den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, sondern schon seit der Entstehung des organisierten Naturschutzes um 1900.20 Diese Annahme fußtauf der Beobachtung, dass Bilder sowohl im Natur- als auch im späteren Umweltschutz schon seit deren Anfängen eine wichtige Rolle spielten. Der Natur- und auch der Umweltschutz lebte von starkenvisuellen Mitteln, auch wenn sich die Intensität der Bedeutung im Laufe der Zeit veränderte.

Diese Arbeit widmet sich im Speziellen dem Motiv des Bewahrens eines gegenwärtigen Zustandes sowie des Gestaltenseiner möglichen besseren Zukunft. Dies lässt sich auf vielfältige Art und Weise darstellen. Es geht um die symbolische Beziehung zwischenMensch und Natur, die sich in einer bildlich darstellenden Naturästhetik zeigt. Denn Bilder sind nicht nur ein Medium, um Naturerfahrung zu vermitteln, sondern gleichzeitig Ausdruck der Mensch-NaturBeziehung. Bilder dienten denjenigen, die die Natur nicht selbst erleben konnten (sei es aus Gesundheits-, finanziellen oder anderen Gründen), dazu, auf ebendiese sinnliche Wahrnehmung nicht verzichten zu müssen, und sie evozierten die Naturerfahrungderer, die schon länger nicht mehr oder nur sporadisch in der Natur verweilten:eine Art ‹Reise im Lehnstuhl› oder auch eine Reise in die Vergangenheit.

Um das Quellenkorpus abgrenzen und einordnen zu können, verwendet die Studie einen (seriell‐)ikonografischen Zugang über die Motive:Mithilfe des Philatelie-Klassikers MICHEL-Katalog sowie Informationen der Wohlfahrts- und Jugendverbände wird die Zahl der emittierten bundesdeutschenPostwertzeichen und derer West-Berlins in ein Verhältnis zur Anzahl von Briefmarken zu Themen des Natur- und Umweltschutzes gesetzt, außerdem werden Verkaufszahlen sowie Darstellungsarten und Grafiker*innen visualisiert. Zudem wertet die Studie mit Ansätzen zu einer Diskursanalyse21 umfassend Akten aus dem bundesdeutschen Postministerium aus und legt Diskussionszusammenhänge über Themenund Motivwahl für Postwertzeichen offen. Sie liefert damit einen Beitrag zu einer bildwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft im Bereich der Umweltgeschichte und verortet sich zwischenKommunikations-, Politik- und Ideengeschichte. So schließt diese Arbeit in zweifacher Hinsicht eine Forschungslücke: Zum einen kombiniert die Detailstudie Umweltgeschichte und Visual History22

20 Zur Entstehung des organisierten Naturschutzes siehe Schmoll 2004.

21 Auch Reckwitz (2016b:113–114)weist auf eine umfassende Bearbeitung schriftlicher Quellen in Form einer Diskursanalyse hin.

22 Siehe beispielsweise Danyel, Paul, Vowinckel 2017.

16 1. Einleitung

miteinander.Zum anderenbietet sie einen wissenschaftlichen Beitrag zur Postgeschichte.23

Dass Briefmarken in einer umwelthistorischen Arbeit als Leitmotiv dienen können, erklärtsich aus der Bedeutung, die den MotivenimLaufe der Zeit zugeschrieben wurde. Dieserdie Fantasie anregende Blick auf philatelistische Erzeugnisse hilft, sich an eine «kollektive Vergangenheit»zuerinnern24 – in diesem Falle an die Geschichte von 41 Jahren Bonner Republik. Briefmarken als staatshoheitliche Erzeugnisse können als kreatives Verbindungselement zwischen Zivilgesellschaft und Regierung gesehen werden. Der Zugang über die Motive eröffnet die Möglichkeit, die an der Herstellung, Veröffentlichung und Rezeption beteiligten Akteur*innen nebeneinander zu betrachten,unabhängig davon, ob es Einzelpersonen, Organisationen oder Beteiligte aus Politik und Regierung waren. Die Eignung von Briefmarken, für die eigene Sache zu werben, erkannte schon der frühe Naturschutz in Deutschland.25 Dies belegen beispielsweisesieben Aufsätze, die zwischen1927 und 1940 in der vom Bund für Vogelschutz26 herausgegebenenZeitschrift Naturschutz erschienen.27 Diese behandelten das Phä-

23 Vgl. Pilarcyk, Mietzner 2005;Parak 2013;Müller 2003. Visuelle Kommunikationsforschung «untersucht visuelle Phänomene, die sich in Form von Bildern materialisieren»(Müller 2003:14).Sie untersucht sowohl materielle wie auch immaterielle Bilder, geht aber von konkret vorhandenen Abbildern – vom Material selbst – aus, wohingegen sie rein immateriell bleibende Denkbilder ohne Vergegenständlichung nicht untersucht. Es interessiert weniger die Qualität von Bildern in ästhetischer oder künstlerischer Hinsicht und auch nicht die Frage, ob Menschen oder Maschinen diese hergestellt haben. Vielmehr geht es darum, «dass sich Bilder in einer materialisierten Form ausdrücken»(ebd.: 20). Weiterdenken ließe sich die Visuelle Kommunikationsforschung beispielsweise mit der Visuellen Rhetorik. Einen ersten Einblick geben der Sammelband Joost, Scheuermann 2008;vgl. weiter Scheuermann 2011a, 2011b. Zur Postgeschichte vom Altertum bis zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg siehe den Band von Gottfried North (1988)und den Sammelband von Wolfgang Lotz (1989). Zur Verflechtung von Post und Politik siehe den Band von Alfred Eidenmüller (1985). Frank Postler (1991) analysiert die gesellschaftliche Funktion der Post bis 1945 und Karsten Schwarz (2019)die verschiedenen europäischen Briefpoststrategien von der Entstehung europäischer Postgesellschaften wie der Thurn-und-Taxis-Post bis zum sich liberalisierenden Kommunikations- und Nachrichtenwesen des 21. Jahrhunderts. Zur Entwicklung und Neupositionierung des Postwesens in Europa und Afrika seit dem 19. Jahrhundert siehe Springer 2023;Benz 2023 und Kohl 2023.

24 Fürnkäs 1988:104.

25 Die folgenden Ausführungen finden sich nicht ganz so ausführlich auch bei VetterSchultheiß 2019:454–455.

26 Lina Hähnle gründete 1899 den Bund für Vogelschutz. Vögel zu schützen stand von Beginn an auf der Agenda des modernen Naturschutzes. Vögel waren auch bei Motivsammler*innen sehr beliebt und stellten beispielsweise die größte Anzahl an Tiermotiven auf den Marken, die anlässlich des Europäischen Naturschutzjahres 1970 europaweit verausgabt wurden.

27 1920 erschien unter dem Namen Zeitschrift für Vogelschutz die erste Fachzeitschrift Deutschlands zum Thema Naturschutz. Sie wurde 1922 in Naturschutz umbenannt, hieß nach

1.1. Fragestellung und Thesen 17

nomen des Sammelns28 – insbesondere von Natur(schutz)motiven – oder die Abbildungen auf den Marken.29 Lediglich ein einzelner Aufsatz nutzte Postwertzeichen rein zur Illustration.30 Alle Aufsätze enthielten jedoch den kulturpolitischen Appell an das Reichspostamt, sich ein Beispiel an anderen Ländern zu nehmen und für den Schutz der Natur aktiv zu werden. Diese seien mit gutem Beispiel vorangegangen und verwendeten anders als das DeutscheReich, das in jener Zeit eine restriktive Sondermarkenpolitik betrieb,entsprechende Motive.31 Bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden weltweit Postwertzeichen mit Tier-, Pflanzen- oder Landschaftsmotiven und in den 1930erJahren zeigten Marken mehrerer Nationen Naturparks. Politisch so verschieden organisierte Länder wie die USA, Argentinien und Japan oder Kolonien wie Südrhodesien und Belgisch-Kongo benutzten die ikonischenLandschaften ihrer Nationalparksals Briefmarkenmotive. Briefmarken dienten den Naturschützer*innen auch als visuelle Objekte, um sich zu distanzierenund sich selbst mit den eigenen Zielen in diesem weltweiten Netzwerkvon Symbolen zu positionieren. Auch nach 1945 haben sich die europäischen Verfechter*innen des Naturschut-

dem Krieg für zwei Jahrgänge Naturschutz und Landschaftspflege und wird heute unter dem seit 1953 geltenden Namen Natur und Landschaft vom Bundesamt für Naturschutz herausgegeben. Viele der in den sieben Aufsätzen abgebildeten und besprochenen Postwertzeichen stammen aus ehemaligen Kolonien. Zur Frage, wie sich die Bedeutung des Postwesens und von Briefmarken in vormaligen Kolonien bis heute – vor allem in Afrika – entwickelte, siehe Kohl 2023.

28 Zwei Artikel der Zeitschrift Naturschutz thematisierten das Sammeln im Allgemeinen, von Briefmarken im Besonderen und von Naturmotiven im Speziellen sowie die Bedeutung dieser kulturellen Tätigkeit für den Naturschutz. Sie hoben den pädagogischen Nutzen hervor, speziell die Wissens- und Substitutionsfunktion, sodass es nicht mehr nötig schien, eine eigene Sammlung mit realen Tieren anzulegen. Vgl. Effenberger, Walter:Briefmarken und – Naturschutz?In: Naturschutz 9/2 (1927/28): 45–47;Sn.: Naturschutz und Briefmarken. In:Naturschutz 15/5 (1933/34): 100

103. Zur Verwendung von Briefmarken als didaktisches Mittel siehe Könne 2019.

29 Drei von vier Beiträgen in der Zeitschrift Naturschutz besprachen (neu)herausgegebene Serien und unterfütterten das jeweilige Thema der Marken mit Hintergrundinformationen und/oder Originaltexten zum Thema. Ein aus zwei Teilen bestehender Aufsatz begleitete die Ausstellung «Das Tier auf der Briefmarke des Zoologischen Museums der Universität Berlin». Vgl. Moewes, F.: Nationalparke auf Briefmarken. In:Naturschutz 16/5 (1934/35): 112–115; N. N.: Neue Naturschutz-Briefmarken. In:Naturschutz 17/1 (1936): 21–23;N.N.: Eine neue Briefmarkenreihe mit Naturschutzbildern. In:Naturschutz 17/12 (1936): 281–284;Effenberger, Walter:Tierbilder auf afrikanischen Briefmarken. In:Naturschutz 21/7 (1940): 78–81 (Teil 1) und 21/8 (1940): 92–95 (Teil 2).

30 Vgl. Ahrens, Th. G.: Über Natur- und Jagdschutz in Belgisch-Kongo. In:Naturschutz 19/4 (1938): 94–96.

31 Bis in die 1920er-Jahre fanden sich in Deutschland nur einige wenige Landschafts- und Heimatbilder auf Briefmarken. Dies änderte sich bis Ende der 1960er-Jahre nicht und war immer wieder Thema bei schriftlichen Anfragen aus der Bevölkerung und im Postministerium.

18 1. Einleitung

zes auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aufeinander bezogen und das transnationale Prestige genutzt, das mit den kleinen Gebührenquittungen verbunden war. Briefmarken und das ihnen eingeschriebene internationale Referenzsystem fungierten als ästhetische Argumente für den Naturschutz, als ausschließendes und einschließendes Element zugleich.32

Ziel dieser Briefmarken-Offensive solltesein, die Bedeutung von Naturparks hervorzuheben und ein Bewusstsein für die Verwundbarkeitder Natur zu schaffen. Neben der Popularisierung von bereits bestehenden Naturparks mithilfevon Briefmarken konnte der Naturschutz auch durch die Ausweisung neuer Parks unterstützt werden. So warben die Marken mit entsprechenden Motivennicht nur für ein allgemeines Ziel – den Naturschutz –,sondern auch für ein spezifisches Instrument, dieses Anliegen durchzusetzen :die Etablierung von Naturparks.33 Diese Argumentewurden auch in der Bundesrepublik wieder aufgegriffen.

Damit scheint der Natur- und Umweltschutz auf mehrfache Weise für eine Analyse von Postwertzeichen besonders geeignet:

1. WalterBenjaminsPhilatelie und Joachim Radkaus Umweltgeschichte als Zusammenschau einer Vielzahl kleiner Geschichten ergänzen sich.

2. Schon seit Beginndes organisiertenNaturschutzes um 1900 sahen die Umweltschutzbewegten das Potenzial von Briefmarkenmotiven, ihreGedanken zu verbreiten.Die gleichen Argumentefanden auch in der Bundesrepublik wieder Verwendung.

3. Gerade wie Briefmarken die Möglichkeit eingeschrieben ist, Grenzen zu überschreiten, waren auch die Probleme, auf die der Natur- und Umweltschutz reagierte, ein grenzübergreifendes Phänomen.

Sich des MediumsBriefmarke als eines visuellen Leitfadens zu bedienen, hat mehrere Vorteile. Gerade Sonderpostwertzeichen sind für eine solche Analyse prädestiniert,dasie per definitionem jahresaktuelle Ereignisse und Aspekte ansprechen. Die 1153 Sonderpostwertzeichen, die das bundesdeutsche Postministerium im Untersuchungszeitraum von 1949 bis 1990 herausgab, setzen den Rahmen dieser Arbeit, um einen Querschnitt an gesellschaftlich relevanten Themen auszumachenund Kategorien zu bilden. Davon beschäftigten sich 128 Marken mit dem Natur- und dem Umweltschutz. Mit in die Analyse eingebunden wurden auch 50 Wohlfahrts- und 32 Jugendmarken der Deutschen Bundespost Ber-

32 Vgl. Vetter-Schultheiß 2022:308;siehe dazu Hochstraßer, Paul:Postwertzeichen für Naturschutz. In:Natur- und Nationalparke 5/18 (1967): 48–51, BArch B257/42208/147–150.

33 Als Tierdarstellungen vorgeschlagen wurden Elch, Biber und Wisent;Naturschutzgebiete, die sich gut als Miniaturen darstellen ließen, waren:«Kurische Nehrung, Schorfheide, Urwald von Sababurg, Siebengebirge, Bodetal, Sächsische Schweiz, Riesengebirge, Arbersee, Karwendel». Sn.: Naturschutz und Briefmarken. In:Naturschutz 15/5 (1933/34): 100–103.

1.1.
19
Fragestellung und Thesen

Sondermarken: Natur und Umwelt

Sonstige Europa Wohlfahrt Jugend

Sondermarken: Sonstige

Abbildung 1: Anzahl der Sondermarken allgemein im Vergleich zu Sondermarken mit Natur und Umwelt(schutz)als Thema pro Jahr.

lin, da die Themen dieser Zuschlagsmarken sowohl für die bundesdeutsche als auch für die Berliner Post galten und gemeinschaftlich entworfen wurden(Abbildung 1).34 Akten des Bundesministeriums für Angelegenheiten des Fernmelde-

34 Angabe nach eigener Zählung und eigener Kategorisierung mithilfe des MICHEL-Katalogs (2018b)der in der BRD herausgegebenen Sonderpostwertzeichen. Nicht miteingerechnet werden Motive, die sich der menschlichen Gesundheit oder des globalen Südens annahmen, wie auch Landwirtschafts- und Landschaftsdarstellungen im touristischen Sinne. Diese Themen zielten weniger auf die Ursachen und Beweggründe des Natur- oder Umweltschutzes, sondern mehr auf Selbstfürsorge und Mitmenschlichkeit oder Wirtschaft und Tourismus. Bei den Dau-

1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 JAHR Verschiedene Themen 10 2 9 14 15 7 22 22 25 20 19 20 13 15 22 42 27 20 17 30 36 34 38 37 37 35 35 38 35 34 32 33 36 34 35 37 34 36 34 36 35 41 + DBPB
20 1. Einleitung

NATUR- UND UMWELTSCHUTZ ALS ÄSTHETISCHE PRAXIS

Was hat Ästhetik mit Natur- und Umweltschutz zu tun? Dieser Frage widmet sich die Autorin in ihrer Studie anhand von Briefmarken. Sie analysiert die Diskussionen zwischen Postministerium und Bevölkerung über die Bedeutung von Natur- und Umweltschutzmotiven und schärft so das Konzept der «eco-images» (Gisela Parak) als «ästhetische Praxis» (Andreas Reckwitz). Dabei arbeitet sie die Bemühungen von Natur- und Umweltaktivist*innen heraus, mittels Bildern eine eigene Sprache zu finden und zu entwickeln, die ihnen Publikum und Gehör verschaffte. Neben Postwertzeichen als Ausgangspunkt thematisiert und verortet die Autorin punktuell auch weitere Darstellungsoptionen wie Logos oder Plakate. Damit geht sie den vielfältigen Geschichten von der ursprünglichen Deutungsoffenheit von Naturdarstellungen über eindeutiger werdende Motivaussagen der aufkommenden eco-images bis hin zu deren Angreif- und Wandelbarkeit nach, aber auch ihrer Kommerzialisierbarkeit.

DIE AUTORIN

Silke Vetter-Schultheiß studierte Philosophie und Geschichte und promovierte im Rahmen des Graduiertenkollegs «Topologie der Technik» an der TU Darmstadt. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Umweltgeschichte, Visual History und Geschichtsphilosophie.

ISBN 978-3-7965-4764- 5 9 783796

SCHWABE VERLAG www.schwabe.ch
WIRTSCHAFTS-, SOZIAL- UND UMWELTGESCHICHTE ( WSU ) BAND 9
547645
Herausgegeben von Christian Rohr und Chantal Camenisch

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.