Von evolutionärer Kulturforschung

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UNIVERSITÄT BASEL

Antonio Loprieno Von evolutionärer Kulturforschung

Schwabe Verlag Basel



Antonio Loprieno Vo n e v o l u t i o n ä r e r K u l t u r f o r s c h u n g

Basler Universitätsreden 107. Heft Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel am 27. November 2009

Schwabe Verlag Basel


Reihe Basler Universitätsreden, herausgegeben von der Stelle für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Basel im Auftrag des Rektorats © 2009 by Schwabe AG, Verlag, Basel · www.schwabe.ch Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Basel/Muttenz Gestaltung: Lukas Zürcher, Riehen ISBN 978-3-7965-2651-0


Vo n e v o l u t i o n ä r e r K u l t u r f o r s c h u n g

Am Anfang Vor genau hundertfünfzig Jahren erschien Charles Darwins opus magnum über die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion – ein epochales Werk, das eine neue wissenschaftliche Ära einläutete.1 Nach anfänglichen Schwierigkeiten2 erwies sich die heuristische Kraft des neuen Paradigmas als derart stark, dass sich ein auf Mutation und Selektion basierendes evolutionäres Denken in vielen Disziplinen und wissenschaftlichen Bereichen allmählich durchsetzte, von der Biologie zur Psychologie, von der Anthropologie zur Sprachwissenschaft, von der Epistemologie zur Medizin.3 Allein in der Kulturforschung hat sich – abgesehen von der wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive4 – das Potential evolutionstheoretischer Modelle bisher wenig entfaltet,5 wohl wegen der nachvollziehbaren ideologischen Gefahr, die Begriffen wie «natürliche Selektion» oder «reproduktive Fitness» anhaftet, wenn sie kritiklos auf menschliche Strukturen angewendet 1

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Charles Darwin, On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life, London 1859. Spezifisch in Bezug auf die Gattung homo sapiens erschien dann zwölf Jahre später The descent of man, and selection in relation to sex, 2 vols, London 1871. Thomas Junker, Uwe Hoßfeld, Die Entdeckung der Evolution. Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte, Darmstadt 22009, 90–96. Chris Buskes, Evolutionair denken. De invloed van Darwin op ons wereldbeeld, Amsterdam 42008 (dt.: Evolutionär denken. Darwins Einfluss auf unser Weltbild, Darmstadt 2008). Im Bereich der Linguistik kann die Sprachtypologie als eine evolutionäre Perspektive eingestuft werden, weil sie von allgemeinen, regelmässigen Tendenzen der Sprachentwicklung ausgeht, anders als etwa die geisteswissenschaftlich orientierte Sprachgeschichte, die mehr an den sprachinternen Einzelphänomenen orientiert ist: Vgl. z.B. Antonio Loprieno, From Old Egyptian to Coptic, in Martin Haspelmath (Hg.), Language Typology and Language Universals, Berlin 2001, 1742–1761. Siehe z.B. die historische Untersuchung der Tafeln in Origin of species durch Horst Bredekamp, Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005. Eine bedeutende Ausnahme ist die archaeology, die Ur- und Frühgeschichte im angelsächsischen Bereich. Für ein fulminantes Beispiel dieser Ausrichtung s. Stephen Shennan, Genes, Memes and Human History. Darwinian Archaeology and Cultural Evolution, London 2002.

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werden.6 Eine potentielle Gefahr zu erkennen, darf jedoch nicht dazu führen, dass man sich aus lauter Angst mit der Materie nicht auseinanderzusetzen traut. Im Gegenteil: Erst durch die kritische Beschäftigung mit einer potentiell geladenen Thematik kann man ihr negatives Potential abwenden. Ich möchte mich deshalb in meiner heutigen Rede mit dem befassen, was ich evolutionäre Kulturforschung nenne. Aus zwei Gründen ziehe ich den Begriff «Kulturforschung» dem im deutschen Sprachraum eingebürgerten Label «Kulturwissenschaft» vor. Zum einen wegen des terminologischen und methodischen Dialogs mit dem Konzept der evolutionary cultural theory, das insbesondere von W. Durham vertreten wurde;7 zum anderen wegen der ausschliesslich geisteswissenschaftlichen Assoziationen der deutschsprachigen «Kulturwissenschaft». Es sind dies Assoziationen, die im Hinblick auf eine evolutionäre, das heisst an einer longue durée orientierte Forschung zu überwinden sind, zumal in diesem intellektuellen Projekt keine Differenz zwischen der geistes- und der sozialwissenschaftlichen Perspektive sinnvoll erscheint.8 Die primäre Funktion einer solchen intellektuellen Bemühung sehe ich darin, nicht die Kontinuität kultureller Formen, sondern den gesellschaftlichen Wandel zu thematisieren, welchen der immer wieder auftretende menschliche Versuch einer Abweichung vom geerbten Muster bewirkt.

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Diese Gefahren sind insbesondere im Bereich des Sozialdarwinismus und der Eugenik ersichtlich: s. Buskes, Evolutionär denken, 285–304. William H. Durham, Advances in evolutionary culture theory, Annual Review of Anthropology 19 (1990), 187– 210; id., Applications of evolutionary culture theory, Annual Review of Anthropology 21 (1992), 331–355. Shennan, Genes, Memes and Human History, 9–22.


Beim Beissen in den Apfel In der ägyptischen Erzählung von der Himmelskuh wird für die Anfangszeit der Menschheit ein Zustand postuliert, in dem Götter und Menschen zusammenlebten. Die Menschen lehnten sich jedoch gegen diese originäre Ordnung auf und wurden dafür durch den Sonnengott bestraft: «Nachdem er das Königtum bekleidet hatte, als Menschen und Götter noch vereint waren, geschah es, dass Re, der erstrahlende Selbstentstandene, alt geworden war. Re erkannte die Anschläge, die von den Menschen gegen ihn ersonnen worden waren.»9 Der Sonnengott sah jedoch von einer vollumfänglichen Vernichtung ab und brachte sein eigenes Auge, d.h. seine je nach Funktion friedliche (Hathor) oder wilde (Sachmet) Tochter zur Trunkenheit, damit sie den Auftrag zur Zerstörung der Menschheit nicht mehr so erfülle, wie der Sonnengott im ersten Zorn angedacht hatte. Dieser Sachverhalt bewirkte zweierlei: Zum einen zog sich der Sonnengott endgültig von der Gemeinschaft mit den Menschen zurück, zum anderen entstand dadurch das «Zubereiten der Schlaftrunke», ein Ritual für das Fest der friedlich-wilden Göttin, das «durch alle Menschen vom ersten Tag an» praktiziert wird. Auch im ersten Buch der Bibel wird von einem Aufstand des Menschen gegen Gott erzählt. Dem ersten Menschen wurde von Gott die Frucht der Erkenntnis des Guten und des Bösen verboten: «… denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben» (Gen 2,17). Die Schlange belehrte jedoch Eva eines Besseren: «Gott weiss, dass welches Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und werdet wie Gott sein und wissen, was gut und böse ist» (Gen 3,5). Und so wurde der Mensch vom Urzustand der glücklichen Ignoranz in einen Zustand der schmerzlichen Erkenntnis versetzt. 9

Erik Hornung, Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh. Eine Ätiologie des Unvollkommenen. Orbis Biblicus und Orientalis 46, Fribourg/Göttingen 31997.

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In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich an der Universität Rom die sogenannte «römische historisch-religiöse Schule» (scuola storico-religiosa romana),10 die von Forschern wie Raffaele Pettazzoni, Ernesto de Martino und Angelo Brelich verkörpert wurde und die für einen sozialund religionswissenschaftlichen Zugang zur Erforschung mythischer Erzählungen und religiöser Geschichte eintrat. Ein Vertreter dieser Strömung, der Autor und Künstler Mario Brelich (1910–1982), beschrieb in einem wissenschaftlichen Roman mit Titel Il sacro amplesso («Die heilige Umarmung») die Folgen der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden als den Übergang von einem «ersten» zu einem «zweiten» Menschen:11 All das, was am Management der Natur Anteil hatte und auch den Menschen während jener überaus langen Zeit leitete, da sich die Lebensereignisse in unendlicher, ununterbrochener, eintöniger Sequenz wiederholten und weder Namen noch Gedächtnis hatten; während jener langen Zeit, da Geburt, Paarung und Tod weder von Spannung und Angst eingeläutet noch von Fest begleitet waren; während jener langen Zeit erzeugte also der unsterbliche Mensch – nicht anders als der Affe den Affen und die Ameise die Ameise erzeugt – immer wieder und unausweichlich einen ersten Menschen. Dieser Zustand dauerte an, bis der Mensch die Frucht des verbotenen Baumes kostete. Dank seiner vom Bewusstsein aufgeklärten Vernunft wurde für ihn ab diesem Zeitpunkt all das, was ihm bis anhin natürlich erschienen war, beängstigend und beängstigend schwer: Nach dem ersten Menschen war der zweite Mensch geboren.

Diese drei Erzählungen – die eine rituellen, die andere mythischen, die dritte literarischen Charakters – beschreiben den epochalen Übergang, der zur Entstehung des modernen Menschen führte; einen Übergang, der nach den 10

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Oder vielleicht «Anti-Schule»: die Vertreter dieser wissenschaftlichen Ausrichtung waren bestrebt, sich vom herkömmlichen Verständnis von «Schule» als programmatisch und organisatorisch kompakter Einheit abzusetzen. Vgl. Angelo Brelich, La metodologia della scuola di Roma, in Paolo Xella (Hg.), Angelo Brelich. Mitologia, politeismo, magia, e altri studi di storia delle religioni (1956–1977), Napoli 2002, 139–140. Mario Brelich, Il sacro amplesso. Biblioteca Adelphi 36, Milano 1972, 202–203.


Erkenntnissen der Paläoanthropologie zwischen dem Mittel- und dem Jungpaläolithikum (in Westeuropa vor 45 000 bis 30 000 Jahren) stattfand. Es ist dies eine besonders dichte Phase der Altsteinzeit, der menschlichen Urgeschichte, die in der neueren Wissenschaft als transition schlechthin bezeichnet wird.12 In dieser Phase der langen Entwicklungsgeschichte der Menschheit habe auch – ob sehr allmählich oder relativ abrupt, lässt sich nicht genau präzisieren – der Übergang von einer primären zu einer komplexeren Stufe von Bewusstsein stattgefunden. Über eine primary consciousness hätten frühe evolutionäre Formen des modernen Menschen, etwa der homo neanderthaliensis, wahrscheinlich verfügt; die higher-order consciousness sei hingegen eine Eigenschaft unserer Gattung, des homo sapiens.13 Die alten mythischen Erzählungen oder die religionswissenschaftliche Hypothese verbildlichen die gleichen Erkenntnisse der Evolutionsbiologie: Was dort als hermeneutische Hypothese in literarischem Gewand erscheint, wird durch die moderne Paläoanthropologie empirisch belegt.14 Diese Feststellung lässt sich übrigens zeitlich und räumlich, d.h. historisch, verallgemeinern. Schöpfungsmythen aus dem Alten Orient setzen oft eine Sequenz von Entwicklungsphasen aus einem ursprünglichen kreativen Ereignis – oder Wort – an, das kognitiv an den Urknall der modernen Physik 12

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David Lewis-Williams, The Mind in the Cave. Consciousness and the Origins of Art, London 2002, 69–100; Steven J. Mithen, The Prehistory of the Mind. A Search for the Origins of Art, Religion and Science, London 1996, 184. Lewis-Williams, The Mind in the Cave, 180–203; Mithen, The Prehistory of the Mind, 147–150; vor allem Gerald M. Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, Harmondsworth 1994, 112–132. Es gab auch, um mit Brelich zu sprechen, eine Phase zwischen dem ersten und dem zweiten Menschen; eine Phase, während der der Mensch beim Beissen der Frucht der Erkenntnis «beobachtet» werden kann. Es ist dies die Châtelperron-Phase (vor 45 000 bis 35 000 Jahren), deren Bevölkerung wahrscheinlich aus entwickelten Neandertalern bestand, die mit dem homo sapiens der Aurignac-Phase (bis vor 28 000 Jahren) in Kontakt standen. Für diese Phase menschlichen Bewusstseins wird eine Art «erinnerte Gegenwart» (remembered present) postuliert, in der dem Menschen eine volle Wahrnehmung, aber keine zeitübergreifende Speicherung von Erfahrungen oder Gefühlen zur Verfügung gestanden sei: Lewis-Williams, The Mind in the Cave, 189–196; Gerald M. Edelman, The Remembered Present. A Biological Theory of Consciousness, New York 1989.

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erinnert, ohne deshalb die radikal unterschiedlichen heuristischen Prozeduren, die zu diesen «Erzählungen» führten bzw. führen, gegeneinander zu messen oder gar miteinander vergleichen zu wollen.15 Mind and culture Was diese höhere Form von Bewusstsein kontrastiv ausmacht, welche dem modernen Menschen eigen ist, lässt sich nicht mit Präzision bestimmen, weil der intellektuelle Horizont früherer Formen des homo von der Wissenschaft nur bedingt rekonstruiert werden kann.16 So lässt sich zum Beispiel noch nicht endgültig sagen, ob die Neandertaler sprechen konnten.17 Das Besondere am modernen Menschen lässt sich mit dem englischen Wort person18 oder vielleicht besser mind umschreiben, einer immateriellen Komponente des Gehirns, die für die typisch menschliche Speicherung, d.h. die verzögerte Verarbeitung von Lebensereignissen, sorgt: Verzögert im Sinne eines Nachlebens der Vergangenheit (wir nennen es Gedächtnis), verzögert im Sinne eines Widerhalls in der Gegenwart (es ist dies die Welt der Gefühle), verzögert im Sinne eines Entwurfes für die Zukunft (etwa die Fähigkeit zu planen). Drei Merkmale scheinen nun jene Speicherung von Lebensereignissen zu begleiten, die wir unter den Begriff «(higher-order) consciousness» oder mind subsumieren und die somit unsere Spezies von allen anderen Lebewesen unterscheidet: die Fähigkeit, sich auf sinnvolle Wei15

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Vgl. die sehr feinen Beobachtungen eines historisch bewussten Evolutionsbiologen zu den Schöpfungsmythen und zur Frage der Theodizee: Werner Arber, Molekulare Basis der biologischen Evolution. Wissenschaftliche Kenntnisse im Einklang mit traditioneller Weisheit, in Norbert Elsner et al., Evolution. Zufall und Zwangsläufigkeit der Schöpfung, Göttingen 2009, 139–164, bes. 158–163. Siehe Mithen, The Prehistory of the Mind, 147–150. Philipp Lieberman, E.S. Crelin, On the Speech of the Neandertal Man, Linguistic Inquiry 2 (1971), 203–222; Ruth Berger, Warum der Mensch spricht. Eine Naturgeschichte der Sprache, Frankfurt am Main 2008, 73–80. Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 1976; Daniel C. Dennett, Darwin’s Dangerous Idea. Evolution and the Meanings of Life, New York 1995, 341–342.


se mit regelmässig geordneten Lauten auszudrücken (Sprache); die Fertigkeit, mit den eigenen Händen Bilder herzustellen (Kunst); die Neigung, wichtige Lebensphasen – besonders den Tod – durch Rituale zu begleiten (Religion).19 Ich brauche nicht zu beteuern, dass die drei Begriffe «Sprache», «Kunst» und «Religion» hier als reine Siglen zu verstehen sind, als lexikalische Notbehelfe, damit dem Leser nicht jedes Mal komplexe Paraphrasen zugemutet werden müssen. Natürlich lässt sich weder «Kunst» auf handwerkliche Fertigkeit reduzieren noch fasst etwa die Bestattung der Toten alle Formen von «Religion» zusammen. Aber manchmal kann ein konnotativ geladenes Wort auch als einfaches Etikett, d.h. unter Ausblendung dessen wissenschaftlichen Diskurses, von semantischem Nutzen sein.20 Nicht nur heben Sprache, Kunst und Religion den homo sapiens von anderen Lebewesen ab, sie weisen auch eine grenzenlose historische und geographische Variationsbreite auf. Sie tragen zur zwischenmenschlichen Kohäsion, zugleich aber auch zur zwischenmenschlichen Distinktion bei. Aus diesem Grund, weil Sprache, Kunst und Religion distinktiv sind, wollen wir sie als Phänomene unter einen einheitlichen Begriff stellen, der auch ihre Kombinierbarkeit, ihre Verbindung zueinander, zu beschreiben vermag. Wir wählen dafür das Wort «Kultur» (culture).21 «Kultur» ist also das Produkt jener Fähigkeiten, die gleichsam den Menschen von anderen Lebewesen und Menschen von anderen Menschen unterscheiden. Im Falle der Sprache kennzeichnet «Kultur» den Übergang von einem rein emotionalen

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Vgl. z.B. Mithen, The Prehistory of the Mind, 151–184. Gerson Reuter, Einige Spielarten des Naturalismus, in A. Becker et al. (Hg.), Gene, Meme und Gehirne: Geist und Gesellschaft als Natur. Eine Debatte, Frankfurt am Main 2003, 29–30. Reuter hat die Problematik bestens erkannt: Jede Übertragung einer bereits etablierten Begrifflichkeit auf einen neuen Forschungsbereich setzt sich der Gefahr aus, die Begriffe metaphorisch und nicht denotativ zu verwenden. Shennan, Genes, Memes and Human History, bes. 35–65.

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Gebrauch von Lauten zu einem geordneten Sprachgebrauch;22 im Falle der Kunst spiegelt «Kultur» den Wechsel zur bewussten Wiedergabe der Welt durch die eigene Hand wider;23 im Falle der Bestattung der Toten – die vielleicht auch von den späten Neandertalern praktiziert wurde24 – geht es um den Übergang von einer Betrachtung der Verstorbenen als «Tote der Gegenwart» zu einer als «Lebende der Vergangenheit» – ganz im Sinne von Mario Brelichs Unterscheidung zwischen den vielen «ersten» und dem einzigen «zweiten» Menschen. Gene und Meme Wir moderne Menschen sind also das Produkt einer doppelten Evolution. Auf der einer Seite hat eine biologische Evolution unsere Gattung nach unzähligen spontanen Mutationen und auf der Basis natürlicher Selektion geformt; auf der anderen Seite hat eine kulturelle Evolution zeitlich und räumlich variierende menschliche Verhaltensmuster und -merkmale entfaltet. Man könnte vielleicht spezifizieren, dass die biologische Evolution eher durch branching, d.h. durch Aufspaltung, die kulturelle Evolution eher durch blending, das heisst durch Verschmelzung bestehender Merkmale erfolgt.25 Auf alle Fälle benutze ich hier das Wort «Evolution» in neodarwinis22

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Vgl. Philipp Lieberman, The origins of some aspects of human language and cognition, in Paul Mellars, Chris Stringer (Hg.), The Human Revolution: Behavioural and Biological Perspectives on the Origins of Modern Humans, Edinburgh 1989, 391–414; Harold L. Dibble, The implications of stone tool types for the presence of language during the Lower and Middle Palaeolithic, ibid., 415–423. Vgl. die Darstellung von Händen in der jungpaläolithischen Chauvet-Höhle: Dominique Baffier, Valérie Feruglio, Les points et les mains, in Jean Clottes (Hg.), La grotte Chauvet. L’art des origines, Paris 2001, 164– 165; «hands-on experience»: Lewis-Williams, The Mind in the Cave, 216–220. R. H. Gargett, Grave shortcomings. The evidence for Neanderthal burial, Current Anthropology 30 (1989), 157– 190; id., Middle Palaeolithic burial is not a dead issue: the view from Qafzeh, Sant-Césaire, Kebara, Amud and Dederiyeh, Journal of Human Evolution 37 (1999), 27–90; Julien Riel-Salvatore, Geoffrey A. Clark, Middle and early Upper Paleolithic burials and the use of chronotypology in contemporary Paleolithic research, Current Anthropology 42 (2001), 449–479. Vgl. Shennan, Genes, Memes and Human History, 83–91.

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tischem Sinne:26 Wie die molekulare Evolution der Gattung homo sapiens ist auch dessen kulturelle Vielfalt (Variation) das Ergebnis von Mutation und Selektion.27 Der primäre Unterschied liegt jedoch darin, dass in einem kulturellen Darwinismus die Tradierung von Informationen nicht über die physische Reproduktion, sondern durch den Lehr- und Lernprozess erfolgt. Kulturelle Evolution kann zuweilen Entwicklungen erleben, die in reproduktiver Hinsicht ausgesprochen inadäquat erscheinen.28 Für den religiösen Bereich denke man etwa an den Märtyrertod als eine Form von Selbstaufopferung im Sinne der empfundenen kulturellen Gemeinschaft.29 Um tradiert zu werden, brauchen vererbbare Merkmale sogenannte Replikatoren, welche für Übertragung ihrer Eigenschaften auf die Nachkommen sorgen. Im biologischen Bereich ist die Existenz dieser Replikatoren seit den Arbeiten von Gregor Mendel vor hundertfünfzig Jahren bekannt.30 Ihren jetzigen Namen bekamen sie vor genau hundert Jahren:31 Man nennt sie «Gene», die Träger von Erbinformationen, die durch Fortpflanzung an die nächste Generation weitergegeben werden. Für den kulturellen Bereich, dessen Replizierung nicht von empirisch beobachtbaren Desoxyribonukleinsäuren, sondern von der Lernfähigkeit des menschlichen Bewusstseins gewährleistet wird, hat sich die Suche nach quantifizierbaren Replikatoren 26

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«Neodarwinistisch» nicht im engeren, Weissmann’schen Sinne, sondern im weitesten Sinne eines «synthetischen Darwinismus»: vgl. Junker, Hoßfeld, Die Entdeckung der Evolution, 154–159 bzw. 214–217; «Erweiterte synthetische Theorie der biologischen Evolution»: Ulrich Kutschera, Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte, München 2009, 305–307. «Molekulare Evolution»: Werner Arber, Elements for a theory of molecular evolution, Gene 317 (2003), 3–11. Vgl. Shennan, Genes, Memes and Human History, 16–18. Hierfür ist natürlich auch eine genetische Erklärung im Sinne der inclusive fitness denkbar: William Hamilton, The genetical evolution of social behaviour, Journal of Theoretical Biology 7 (1964), 1–52. Zu einer eher metaphysischen Interpretation des altruistischen Verhaltens vgl. hingegen Rudolf Hernegger, Anthropologie zwischen Soziobiologie und Kulturwissenschaft. Die Menschwerdung als Prozess der Selbstbestimmung und der Selbstbefreiung von den Determinismen der Gene und Umwelt, Bonn 1989, 63–72. Elof Axel Carlson, Mendel’s Legacy. The Origins of Classical Genetics, Cold Spring Harbor 2004. Wilhelm Johannsen, Elemente der exakten Erblichkeitslehre, Jena 1909.

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erwartungsgemäss schwieriger gestaltet. Einen Durchbruch erreichte im Jahre 1976 Richard Dawkins, der den Begriff «Mem» – eine Abkürzung von «Mimem» – einführte:32 So wie die «Gene» die biologische Information auf die nächste Generation übertragen, so seien «Meme» die Träger distinktiver kultureller Information, die von anderen Menschen übernommen werde. 1986 spitzten Boyd und Richerson die Intuition von Dawkins zu, indem sie menschliche Kultur als ein dem genetischen vergleichbares, auf Vererbung basierendes System beschrieben.33 Seitdem der Begriff des Mems eingeführt und die Frage nach dessen Vererbbarkeit aufgeworfen wurde, hat sich in der Wissenschaft eine rege Debatte über Verortung und Materialität des Mems entfaltet: Ist der memetische Code derart mit dem genetischen vergleichbar, dass auch er materiell darauf ausgerichtet ist, sich zu verbreiten, zu vermehren und zu behaupten, womit der angeblich freie Wille des Individuums deutlich an Relevanz verlöre?34 Oder ist das Mem eher als eine abstrakte Grösse ohne materielle hardware zu sehen, die sich zwar für die Erforschung der Dialektik zwischen genetischer und kultureller Vererbung eignet, die sich jedoch einer strengen wissenschaftlichen Definition entzieht?35 Gene und Meme sind vergleichbare, aber nicht identische Replikatoren. Beide existieren, sind jedoch an unterschiedlichen Orten lokalisiert: Gene 32

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Dawkins, The Selfish Gene. Obwohl die Etymologie von «Mem» aus der griechischen Wurzel mim-» «imitieren» eindeutig ist, nehme ich – poststrukturalistisch – bei der Durchsetzung des Begriffs «Mem» auch den Einfluss von französisch même «identisch» an. Auf diese bizarr anmutende Idee komme ich wegen der grossen Resonanz des Begriffs der mêmeté «(kulturelle) Identität», wie er von der französischsprachigen Philosophie (Paul Ricœur) und Kulturwissenschaft (Marcel Detienne) vertreten wird: Vgl. einstweilen Paul Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris 1990; Marcel Detienne, Où est le mystère de l’identité nationale?, Paris 2008. Robert Boyd, Peter J. Richerson, Culture and the Evolutionary Process, Chicago 1985. Vgl. noch die Essays in Robert Aunger (Hg.), Darwinizing Culture. The Status of Memetics as a Science, Oxford 2000. Diese Meinung wird von Autoren wie Susan Blackmore vertreten: The Meme Machine, Oxford 1999 (dt. Die Macht der Meme. Die Evolution von Kultur und Geist, München 2005); id., Evolution und Meme: Das menschliche Gehirn als selektiver Imitationsapparat, in Becker et al. (Hg.), Gene, Meme und Gehirne, 49–89. Das ist etwa die Position von Dennett, Darwin’s Dangerous Idea, 335–369.

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in unseren Chromosomen, Meme in unserem Bewusstsein (mind). Übertragen werden Gene durch Fortpflanzung, Reproduktion, Meme hingegen durch Nachahmung, Imitation.36 Dieser Sachverhalt bedingt einen gravierenden Unterschied, der bisher von der memetischen Forschung verkannt worden ist: Während erbliche Anlagen wie die Gene nach Optimierung der eigenen reproduktiven Fitness streben, haftet mimetischen Anlagen wie den Memen der Drang nach Verbesserung der Vorlage an. Ich möchte diesen Punkt noch präziser – obschon vielleicht ein bisschen plakativ – formulieren: Das beste Gen ist dasjenige, das sich unbegrenzt zu reproduzieren vermag; das beste Mem ist dasjenige, das sich bei jeder Imitation verbessert. Nachahmung mit Wettbewerb Dass dies eindeutig der Fall ist, zeigt über die longue durée die Geschichte just jener drei Bereiche, die Kultur im weitesten Sinne – als Summe der Merkmale, die menschlicher Variation in Zeit und Raum zugrunde liegen – ausmacht: Sprache, Kunst und Religion. Zu sagen, dass sich die Fähigkeit, zu sprechen, zu malen oder die Toten zu bestatten, seit der transition memetisch reproduziert hat, blendet die evidente Relevanz von Phänomenen wie dem Sprachwandel, der Kunst- oder der Religionsgeschichte ungebührend aus. In evolutionsbiologischer Hinsicht ist die Entwicklung, die seit dem Cro-Magnon-Menschen stattgefunden hat, unvergleichbar kleiner als jene, welche die kulturellen Merkmale menschlichen Lebens und Handelns betroffen hat.37 Wenn wir ein anderes Baseldeutsch als Johann Rudolf Wettstein sprechen oder ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Religion 36 37

Boyd, Richerson, Culture and the Evolutionary Process, 33ff. Der Artenwandel hat sich in der Regel graduell vollzogen, obwohl es im Verlauf der Erdgeschichte durchaus Evolutionsschübe gegeben hat, vgl. Kutschera, Tatsache Evolution, 315.

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und Ästhetik als Hans Holbein der Jüngere haben, so bedeutet es, dass im Laufe eines halben Jahrtausends die entsprechenden sprachlichen, künstlerischen oder religiösen Meme nicht nur eine stete Imitation, sondern auch eine kontinuierliche Evolution erfahren haben. Denn selbst der sprachbewusste Schnitzelbänkler wird nicht darauf verzichten, seiner Pointe eine Prise sprachlicher Kreativität hinzuzufügen; selbst der treue Interpret alter Musik wird danach streben, gerade durch die Rückbesinnung auf alte Instrumente neue Emotionen zu erzeugen; selbst der konservative Priester in ländlichen Gebieten wird nicht vermeiden, in seiner Trauerrede den Hinterbliebenen neue, schöne Seiten des Lebens nach dem Tode beliebt machen zu wollen. Anders als das Gen ist also das Mem kein einfacher, sondern ein aufgeladener Replikator: Es überträgt den Gehalt, der nötig ist, um seinen Empfänger an die Gemeinschaft zu binden, die es ihm vererbt; es weckt jedoch bei seinem Empfänger auch gleichzeitig das Bedürfnis, sich durch den Einsatz dieses namentlichen Mems von anderen Menschen abzuheben. Ich möchte diese Anreicherung, die das Mem von einem einfachen Replikator unterscheidet, Wettbewerb nennen. Es kann auf diese Weise eine interessante Dialektik entstehen zwischen der hier vertretenen, auf der Erkenntnis memetischen Wettbewerbs beruhenden evolutionären Kulturforschung und der kultursoziologischen Perspektive der auf ökonomischem, sozialem, symbolischem und kulturellem Kapital basierenden Distinktion, die vor allem von Pierre Bourdieu propagiert worden ist.38 Nach diesem Modell könnte Distinktion als sozialer Effekt des evolutionären Wettbewerbs ver-

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Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979 (dt.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982.

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standen werden; symmetrisch könnte memetische Evolution als das Ergebnis des Zusammenspiels der vier Formen Bourdieu’schen Kapitals aufgefasst werden. Ein weiterer Vorteil der Betrachtung des Mems als aufgeladenem Replikator, der nicht nur durch Imitation weitertradiert, sondern auch durch Wettbewerb modifiziert wird, besteht in der Neutralisierung eines philosophischen Einwandes gegen die Hypothese des Mems.39 Wenn menschliche Verhaltensmuster allein von genetischen oder kulturellen Faktoren gesteuert werden, wo bleibt der menschliche freie Wille? Wo bleiben unsere individuellen Absichten, die «propositionalen Einstellungen», deren Bedeutung vernünftigerweise niemand leugnen kann? Sind die Ziele, die unsere Meme verfolgen, identisch mit denen, die wir verfolgen? Dem berechtigten Vorwurf der ungenügenden Berücksichtigung der individuellen Absichten kann ich meine These einer nicht nur replizierenden Funktion der Meme entgegenhalten. Die Anreicherung der Meme entspricht genau dem Beitrag des Individuums zur Verbreitung und Vererbung des von ihm imitierten Mems. Unsere individuellen Absichten sind kulturell eingebunden, d.h. sie wirken auf die von uns imitierten Meme zurück und verleihen ihnen eine gewisse semantische Unschärfe. Wenn «Meme» sich nur durch getreue Imitation verbreiten würden, wären sie in sich geschlossene, empirisch überprüfbare Realitäten, und es fiele uns nicht schwer, Kultur überhaupt zu definieren, geschweige denn zu studieren. Das ist jedoch bekanntlich nicht der Fall: Jede Definition von Kultur ist bestenfalls einseitig. Das Unbehagen, das wir bei jeder Definition von Kultur spüren, entspricht dem Unbehagen, das uns beim Versuch der empirischen 39

Vgl. z.B. Ruth Garrett Millikan, Vom angeblichen Siegeszug der Gene und der Meme, in Becker et al. (Hg.), Gene, Meme und Gehirne, 90–111.

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Verifizierbarkeit der «Meme» gegenüber den «Genen» begegnet. Ursache dafür ist der Wettbewerb, die individuelle Absicht, die sich hinter jedem Mem, so häufig imitiert es auch sein mag, hinter jeder Auflage von Goethes Faust und hinter jeder Ausstellung von Tutanchamuns Maske unausweichlich verbirgt.40 Individuelle Absichten stehen nicht in Opposition zur Nachahmung, sondern verschmelzen mit ihr zu einer angereicherten Form von Nachahmung, die auch vom Wettbewerb getrieben ist. Deshalb werden kulturelle Innovationen im Allgemeinen als zielgerichtet (oder «notwendig») angesehen, während genetische Mutationen eher vom Zufall gesteuert sind.41 Eine ägyptische Fallstudie Als Fallbeispiel für eine evolutionär ausgerichtete Kulturforschung möchte ich aus meiner eigenen Disziplin ein Thema wählen, das mit den drei kennzeichnenden Merkmalen des homo sapiens in Verbindung steht: die altägyptischen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod.42 Hier werde ich mich aus Platzgründen auf die schriftliche Dokumentation konzentrieren und jene Neuerungen in der Bestattungskultur nicht berücksichtigen, die für die frühen, schriftarmen Perioden der ägyptischen Kulturgeschichte archäologisch dokumentiert sind. Auch Letztere wären durchaus evolutionär zu verstehen, etwa der Wandel von runden zu rechteckigen Grabanlagen im 40

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Am 9. September 2009 erschien im Kulturmagazin der Basler Zeitung (Seiten 6–7) ein Artikel mit dem Titel «Neuauflage. Beatles-Songs sind klanglich aufgebessert». In diesem Titel zeigt sich eindrücklich, dass sich die Imitation von Memen nicht nur ihre genaue Tradierung, sondern auch ihre Wettbewerbsfähigkeit zum Ziel setzt. Vgl. Shennan, Genes, Memes and Human History, 51–56. Generell s. John Baines, Peter Lacovara, Burial and the dead in ancient Egyptian society. Respect, formalism, neglect, Journal of Social Archaeology 2 (2002), 5–36. Laut Dawkins, The Selfish Gene, ist Religion ein besonders gefährlicher kultureller Virus, weil er die intellektuelle Abwehrkraft seines Wirtes untergräbt. Aber gerade deshalb, würde ich meinen, eignet sich «Religion» bestens für eine evolutionäre Analyse!

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späten vierten Jahrtausend v. Chr.,43 der Übergang von einer Beisetzung des Toten als Hockerleiche zu einer in gestreckter Lage während des dritten Jahrtausends v. Chr.44 oder die Dichotomie zwischen Beisetzung in einem neu angelegten Grab oder in einer schon bestehenden Anlage am Ende des Alten Reiches (spätes drittes Jahrtausend v. Chr.).45 Die drei Formen ägyptischer Existenz nach dem Tod werden in den Texten Ka (kA), Ach (Ax) und Ba (bA) genannt.46 Ka ist seit der Frühzeit (am Anfang des dritten Jahrtausends v. Chr.) der häufigste Begriff und bleibt über die gesamte ägyptische Kulturgeschichte der Empfänger des Totenkultes. Durch den Ka wird die soziale Perspektive thematisiert; er soll gewährleisten, dass zwischen Lebenden und Toten eine über den Tod hinausreichende Solidarität bestehen bleibt. Vom Alten Reich bis in die Spätzeit ist der Ach der Geist des Verstorbenen, der in das Wissen der Mysterien des Jenseits eingeweiht ist. Der Ach ist ein geistiges Wesen, durch das der Tote einer anderen, parallelen – und potentiell gefährlichen – Welt zugewiesen wird. Der Ba erfährt den Höhepunkt seiner Bedeutung für das individuelle Jenseitsleben erst im frühen Mittleren Reich (am Anfang des zweiten Jahrtausends v. Chr.), vor allem im Korpus der Sargtexte und in literarischen Texten, etwa im «Gespräch des Lebensmüden», in dem ein Mann und sein Ba 43

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Vgl. Marcelo Campagno, Space and Shape. Notes on Pre- and Proto-State Funerary Practices in Ancient Egypt, in Susanne Bickel, Antonio Loprieno (Hg.), Basel Egyptology Prize 1. Junior Research in Egyptian History, Archaeology, and Philology. Aegyptiaca Helvetica 17, Basel 2003, 15–28. Salima Ikram, Aidan Dodson, The Mummy in Ancient Egypt. Equipping the Dead for Eternity, London 1998, 15–52. Zur Varietät von Anordnungsnormen in Bestattungen vgl. Maarten J. Raven, Egyptian Concepts on the orientation of the human body, Journal of Egyptian Archaeology 91 (2005), 37–53; Stephan J. Seidlmayer, Die Ikonographie des Todes, in Harco Willems (Hg.), Social aspects of funerary culture in the Egyptian Old and Middle Kingdoms, Orientalia Lovaniensia Analects 103, Leuven 2001, 223–230; Janine Bourriau, Change of body position in Egyptian burials from the mid XIIth dynasty until the early XVIIIth dynasty, ibid., 1–20. Vgl. Stephan J. Seidlmayer, Vom Sterben der kleinen Leute. Tod und Bestattung in der sozialen Grundschicht am Ende des Alten Reiches, in Heike Guksch et al. (Hg.), Grab und Totenkult im Alten Ägypten, München 2003, 60–74; id., Die Ikonographie des Todes, 231–240. «Concepts of life» nennt sie mit einer glücklichen Wortwahl Ragnhild B. Finnestad, On transposing soul and body into a monistic conception of being. An example from Ancient Egypt, Religion 16, London 1986, 359–373.

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Fragen der gesellschaftlichen Einbindung und der individuellen Freiheit miteinander diskutieren.47 Der Ba ist eine metaphysische Komponente: Als Teil des Wesens eines Menschen lebt er nach seinem Tod unter den Göttern weiter. Zum Ka. Der Ka bildet oft den Gegenpol zum körperlichen Leichnam48 und erfüllt eine eminent soziale Funktion: Er stellt eine Solidarität zwischen dem Toten und seinen Nachkommen her. Deshalb erscheint der Begriff seit frühester Zeit häufig auch in Personennamen.49 Ptahhotep, der pseudepigraphische Autor eines Weisheitstextes des Mittleren Reiches, ruft zur guten Behandlung des eigenen Sohnes auf, weil dieser vom eigenen Ka erzeugt worden sei und die Fortdauer des väterlichen Ka vom Einsatz des Sohnes im Totenkult abhänge.50 Die menschliche Gesellschaft sei keine einfache «Wohnstätte», sondern eine solidarische Gemeinschaft von Vertrauten, denen man in Not helfen sollte.51 So bestimmt der Ka die Haltung eines Menschen zu seinem sozialen Kontext: der Ka des aufgeregten Vorgesetzten entfernt sich vom Untergebenen, ist ihm aber nach erfolgter Versöhnung wieder wohlge47

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Vgl. Spruch 75, CT I 394b-c (S1C): «Er schuf mich mit meinem Ba hinter mir, um ihn erfahren zu lassen, was ich weiss.» Zum «Lebensmüden» vgl. Odette Renaud, Le Dialogue du Désespéré avec son âme. Une interprétation littéraire, Cahiers de la Société d’Egyptologie de Genève 13, Genève 1991; Vincent A. Tobin, A Re-assessment of the Lebensmüde, Bibliotheca Orientalis 48, Leiden 1991, 341–363; Bernard Mathieu, Le dialogue d’un homme avec son âme, Égypte, Afrique & Orient 19 (2000), 17–36; Richard B. Parkinson, Poetry and Culture in Middle Kingdom Egypt, 216–226; Sylvie Donnat, Le dialogue d’un homme avec son Ba à la lumière de la formule 38 des Textes des Sarcophages, Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale 104 (2004), 191–205. Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, 132–133. Etwa beim prädynastischen Horus kA (Jürgen von Beckerath, Handbuch der ägyptischen Königsnamen, Münchner Ägyptologische Studien 49, Mainz 1999, 36–37), beim nicht identifizierten frühzeitlichen König snfr-kA (ibid., 46–47) oder bei der Elite in der Frühzeit: David O’Connor, The Ownership of Elite Tombs at Saqqara in the First Dynasty, Studies in Honor of Ali Radwan, Supplément aux Annales du Service des Antiquités de l’Égypte 34, Le Caire 2005, 223–231; Ellen F. Morris, On the Ownership of the Saqqara Mastabas and the Allotment of Political and Ideological Power at the Dawn of the State, in Zahi A. Hawass, Janet Richards (Hg.), The Archaeology and Art of Ancient Egypt. Essays in Honor of David B. O’Connor, Cairo 2007, 171–190. Zbyněk Žába, Les Maximes de Ptahhotep, Prague 1956, 197–205. Ptahhotep 346–349.

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sinnt. Ziel des Totenkultes am Ka des Verstorbenen ist es, nach erfolgter diesseitiger Einbindung seine Sozialisierung post mortem zu bewirken. In diesem ersten Modell des Umgangs mit der Sphäre des Todes geht man von einer gänzlich diesseitigen Perspektive aus. Der Mensch, ob lebendig oder tot, ist durch seinen Ka in die Gemeinschaft der Lebenden integriert. In diesem Sinne stiftet die Überlappung zwischen Leben und Tod, die der Ka ausdrückt, gesellschaftliche Solidarität. Mehr als die anderen Sphären des Überlebens nach dem Tod ist der Ka von der Eigenschaft der wab, «Reinheit», abhängig: Der kA wab, «der reine Ka», ist eine Form der Teilhabe des Menschen an göttlichen Mächten, bei der durch die Einhaltung ritueller Vorschriften die Gefahr, die vom Tod ausgeht, neutralisiert wird.52 Als wahrscheinlichste Etymologie für das ägyptische Wort kA möchte ich die semitische Wurzel *kwr anführen: kwr bedeutet im Arabischen «rollen, aufrollen, rund sein»,53 was auch die logographische Schreibung des Wortes mit dem Zeichen der Umarmung zu erklären vermag; der Tod soll nicht trennen, sondern verbinden. Ka heisst ausserdem «Nahrung», wodurch auch der Tote beim Totenopfer ernährt wird. Zum Ach. Im Falle des Ach sind wir mit einem geistigen Wesen konfrontiert,54 welches dem Raum der Lebenden parallel läuft. Mit einem weissen Gewand angezogen, ist der Ach überproportional gross55 und kann sich 52

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Zum Personennamen kA=j-wab.w, «Mein Ka ist rein» vgl. Hermann Ranke, Die ägyptischen Personennamen, Band I, Glückstadt 1935, 339. Hans Wehr, J. M. Cowan, Arabic-English Dictionary, New York 31976, 845; vgl. Jürgen Osing, Die Nominalbildung des Ägyptischen, Mainz 1976, 380. Siehe John Baines, Society, Morality and Religious Practice, in Byron E. Shafer (Hg.), Religion in Ancient Egypt. Gods, Myths, and personal Practice, London 1991, 123–200, bes. 152–155 («spirits»). Vgl. das Tübinger überproportionale Gewand, das von einem ungefähr 4,5 Meter grossen Ach getragen werden sollte: Günter Vittmann, «Riesen» und riesenhafte Wesen in der Vorstellung der Ägypter, Beiträge zur Ägyptologie 13, Wien 1995, 48–49.

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zwischen Diesseits und Jenseits bewegen, kommt dennoch nur episodisch mit der Sphäre des Lebens in Berührung. Der Status eines Ach ist seit dem späten Alten Reich (2200–2000 v. Chr.) von dessen «Kompetenz» (äg. jorw) abhängig; in der späten Bronzezeit (in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends) gewinnen für die «Verklärung» (äg. sAx «Beförderung zum Ach») die ethischen Qualitäten sowie die Einhaltung ritueller Richtlinien an Bedeutung.56 Der Verstorbene wird zu einem Ach, der Lebende hat ihn in der Regel nicht.57 Das ist auch der Grund, weshalb ein ägyptisches enzyklopädisches Lexikon wie das Onomastikon des Amenemope nur den Ach, und nicht etwa den Ka, als selbständiges Wesen auflistet, und zwar hierarchisch nach dem Gott, aber vor dem König verortet; zur gleichen Zeit werden im ramessidischen Turiner Königspapyrus, der eine Liste der dynastischen Herrscher enthält, die historischen Könige nach einer Dynastie von Göttern (nTr.w), einer Gruppe von Geistern (Ax.w) und nach mythischen prädynastischen Herrschern (Sms.w Hrw) aufgelistet.58 Der «kompetente» (oder «ausgestattete») Ach ist ein Wesen, das die Sprüche, das heisst die Texte kennt;59 er erscheint deshalb oft im Zusammenhang mit magischer Wirksamkeit.60 Die

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Vgl. die so genannten Ax-jqr-n-Ra-Stelen: Robert J. Demarée, The Ax-jqr-n-Ra-Stelae. On ancestor worship in Ancient Egypt. Egyptologische Uitgaven 3, Leiden 1983; Martin Fitzenreiter, Zum Ahnenkult in Ägypten, Göttinger Miszellen 143 (1994), 51–72, bes. 57–64. Vgl. die Aussage von Alan H. Gardiner, Kurt Sethe, Egyptian Letters to the Dead, London 1928, 23, in Bezug auf die Anrede der Anchiri in pLeiden I 371 als Ach jor: «Ankhere is an Ach iqr, she does not possess an Ach iqr in the way she possesses a kA or a bA. » Für eine Ausnahme mit der Anrede «mein Ach», vgl. die oben erwähnten CT 488 und 491 bzw. Assmann, Tod und Jenseits, 549. Der Ach und der Ba stehen hier in Parallele zu «Zauber» und «Schatten»:«mein Ach» ist zu verstehen als «der Ach, zu dem ich nach meinem Tod werde». Alan H. Gardiner, Ancient Egyptian Onomastica, vol. I, Oxford 1947, 38, 13*–14*; Alan H. Gardiner, The Royal Canon of Turin, Oxford 1959. Vgl. Katarina Nordh, Aspects of Ancient Egyptian Curses and Blessings. Conceptual Background and Transmission, Uppsala 1996, 171–173. Alexander Badawy, The Tomb of Nyhetep-Ptah and the Tomb of ‘Ankhm‘ahor, Abb. 23. Vgl. auch Gardiner, Sethe, Egyptian Letters to the Dead, pl. X, 4–6, und aus dem «Zweiwegebuch» CT VII 469g–471g B1L.

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