Bilder des Unerkennbaren

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Eranos blickt auf eine lange Tradition zurück. Seit der Gründung 1933 steht die Tagung im Zeichen der Begegnung der Kulturen, aber auch des Dialogs zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, wobei der Psychologie und der Religionswissenschaft eine wichtige Mittlerrolle zukommt. «In Ehrfurcht das Geheimnis des Geistes aufzunehmen, das Sagbare zur Sprache zu bringen, das Unsagbare gegenwärtig zu wissen», wie es der Biologe Adolf Portmann einmal formuliert hat, in diesem Geist soll auch heute noch die Arbeit von Eranos stehen. Die Autoren kommen aus den unterschiedlichsten Fachgebieten. Seit einigen Jahren sind der Ägyptologe Erik Hornung und der Psychotherapeut Andreas Schweizer Organisatoren der Tagung und Herausgeber der Beiträge.

Inhalt Tagung 2007: Das unzerstörbare Leben Bernhard Maier, Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten Herbert Pietschmann, «Etwas ist lebendig nur insoferne es den Widerspruch in sich enthält» (Hegel) Othmar Keel, Ist das ein Leben? Elemente eines gelungenen Lebens in der alttestamentlichen Literatur Ruedi Högger, Das indische Linga – Ursprung und Werdekraft des Universums Tagung 2008: Bilder des Unerkennbaren David Senn, Verborgener Bauplan und sichtbare Abwandlungen bei schwimmenden, fliegenden und greifenden Wirbeltieren Philipp Felsch, Humboldts Kosmos – Zur Geschichte einer Überforderung Gotthilf Isler, Einige Überlegungen zum unus mundus – Die Ganzheit der Welt als Erkenntnisproblem Hubert Herkommer, Was kein Auge gesehn und kein Ohr gehört – Sinnliche Wege zum Übersinnlichen

Beiträge der Eranos Tagungen 2007 und 2008

23.8.2011

Bilder des Unerkennbaren

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Bilder des Unerkennbaren Beiträge der Eranos Tagungen 2007 und 2008

Hrsg. Erik Hornung / Andreas Schweizer I S B N 978-3-7965-2638-1

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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Bilder des Unerkennbaren Beiträge der Eranos Tagungen 2007 und 2008

Herausgegeben von Erik Hornung und Andreas Schweizer

Schwabe Verlag Basel


Die Abbildung stammt aus dem altägyptischen Papyrus von Heruben um 1000 v.Chr. (Ägyptisches Museum Kairo) und stellt das wiedergeborene Licht im Bilde des Sonnenkindes dar. Dieses hat sich im chaotischen Nichtsein regeneriert, das durch die sich in den Schwanz beissende Schlange (Uroboros) symbolisiert wird. Das Ganze wird von zwei nicht näher bestimmten göttlichen Armen umfangen. Sie verkörpern die regenerierenden Kräfte, welche die Sonne bewegen. Die vorliegende Ausgabe von Eranos Beiträgen soll unter diesem Zeichen stehen. Der das Sonnenkind umschlingende Uroboros, der «Schwanzbeisser», vermittelt uns eine Ahnung davon, dass die Wandlung des Bewusstseins und des kollektiven Zeitgeistes immer dann möglich wird, wenn sich die Gegensätze (Kopf und Schwanz) miteinander verbinden. Das ist der ungeheure, schöpferische Moment, wo das Alte dem Neuen weicht, wo das Sonnenkind der chaotischen Tiefe entsteigt, beschützt von einer geheimnisvollen Macht, die diesen Regenerationsprozess begleitet. Umschlaggestaltung: Schwabe AG unter Verwendung eines Signets von Andreas Brodbeck Satz und Layout: Andreas Gerber, Küsnacht © 2009 bei den einzelnen Autoren und bei Schwabe AG, Verlag, Basel Herstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz / Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2638-1 www.schwabe.ch www.eranos-ascona.ch


Inhalt Vorwort ..................................................................................................... 7

Tagung 2007 DAS UNZERSTÖRBARE LEBEN Bernhard Maier Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten .............. 15 Herbert Pietschmann «Etwas ist lebendig nur insoferne es den Widerspruch in sich enthält» (Hegel) .......................................................................... 37 Othmar Keel Ist das ein Leben? Elemente eines gelungenen Lebens in der alttestamentlichen Literatur .......................................................... 59 Ruedi Högger Das indische Linga – Ursprung und Werdekraft des Universums .......... 69

Tagung 2008 BILDER DES UNERKENNBAREN David Senn Verborgener Bauplan und sichtbare Abwandlungen bei schwimmenden, fliegenden und greifenden Wirbeltieren .................... 107 Philipp Felsch Humboldts Kosmos – Zur Geschichte einer Überforderung ................. 127 Gotthilf Isler Einige Überlegungen zum unus mundus – Die Ganzheit der Welt als Erkenntnisproblem ..................................... 147 Hubert Herkommer Was kein Auge gesehn und kein Ohr gehört – Sinnliche Wege zum Übersinnlichen ................................................... 197 Die Autoren .......................................................................................... 258



Vorwort Die Eranos Tagungen haben erfolgreich ihren Fortgang genommen, und wir freuen uns, hier den bereits vierten Band einer neuen Serie vorlegen zu können – in Fortsetzung einer langen Tradition von Jahrbüchern. Unter dem Namen Eranos findet inzwischen eine Vielzahl von Aktivitäten statt. Eine neue Stiftung Eranos etwa, die ihren Sitz wiederum in Moscia hat, spannt den Rahmen ihrer Aktivitäten sehr weit. Wir unsererseits beschränken uns ganz bewusst auf das «Kerngeschäft», die jährlichen Tagungen, wie sie von Olga Fröbe-Kapteyn ins Leben gerufen, und wie sie jahrzehntelang von C. G. Jung und später von Adolf Portmann geprägt worden sind. Diese Treffen sollen sich auch weiterhin von der Beliebigkeit des üblichen Tagungsbetriebs abheben und Eranos immer neu zu einem Erlebnis machen. «Das unzerstörbare Leben» war das Thema der Tagung im August 2007, die wiederum, wie auch 2008, in der Casa Serodine, diesem wunderschönen Gebäude im Herzen von Ascona, abgehalten wurde. Eröffnet wurde sie durch Bernhard Maier mit einem Vortrag über die «Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten». Der Begriff der «Kelten», einst ein Sammelbegriff für Völker in Mittel- und Westeuropa, wurde erst im 18. und 19. Jahrhundert auf die Bewohner der Britischen Inseln und Irlands ausgeweitet. Die antike Vorstellung von einer keltischen Seelenwanderungslehre und von pythagoreischen Einflüssen auf die Druiden hält der neueren Forschung nicht stand. Auch Caesars Bericht von den Druiden ist mit Skepsis zu begegnen. Die späteren Berichte sind meist christlich gefärbt. So sieht Bernhard Maier in der berühmten Erzählung vom Königssohn Connlae eine christliche Erzählung, in welcher die geheimnisvolle Frau den Helden von der heidnischen Welt der Druiden ins christliche Paradies entlockt. Der Vortrag hat deutlich gemacht, wie schwierig die Quellenlage der keltischen Religionsgeschichte ist. Es folgte das Referat von Herbert Pietschmann, der uns als theoretischer Physiker in eine neue Welt eingeführt hat. In gewohnt souveräner Weise verbindet er schwierige Fragen der Mathematik und der Quantenmecha7


Vorwort nik mit philosophischen Ausblicken. Nach einer Einführung über den Aristotelisch-logischen Weg und die Dialektik des Platon, welch letztere sich ausdrücklich mit Aporien (unauflösbaren Widersprüchen) beschäftigt, wird die Frage aufgeworfen, wie die Mathematik das Phänomen der Aporien angeht. Was Pietschmann als «operationale Bewältigung» bezeichnet, ist die Erkenntnis, dass die Mathematik lernen musste, anders mit Aporien umzugehen, als sie einfach im Sinne eines logischen Widerspruches zu eliminieren. In der Physik führte der Weg zunächst zum gänzlichen Verzicht auf die Beschreibung der gegebenen Welt (17. Jh.). Diese Entwicklung gipfelte im 18. Jahrhundert in einem vollständigen Determinismus, in welchem alles (erfüllte) Leben und damit auch der Mensch in seiner Freiheit eliminiert wurden. Das änderte sich fundamental mit der Einführung der Quantenmechanik, die der Vortragende in einem Satz zusammengefasst hat: «In der Quantenmechanik werden die Eigenschaften eines Objektes durch die Messung nicht festgestellt, sondern erst hergestellt!» Die Beobachtung der komplementären Natur des «Welle-Teilchen-Dualismus» führt eine echte Synthese herbei, die ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, um den Menschen und sein widersprüchliches Wesen wieder in echter Weise in die Wissenschaft einzubeziehen. Othmar Keel ist im letzten Moment für einen Redner eingesprungen, der sich krankheitshalber entschuldigen musste. Sein Referat befasste sich mit dem hebräischen Denken, in dem Leben in erster Linie bedeutet, lebendig zu sein im Sinne der Lebensfülle. Entsprechend werden Krankheit, in der Fremde weilen müssen, und andere Leidenszustände mit der Nähe zum Tod verbunden. Zu einem guten Leben gehören Gesundheit, Brot und Wein, all jene Gaben, die Gott dem Menschen schenkt. Im Gegensatz zur christlichen Interpretation von Genesis 1,27, die die Aussage, dass Gott den Menschen männlich und weiblich geschaffen hat, gerne ignoriert, betont die jüdische Tradition, dass nur beide zusammen, Mann und Frau, eine Ganzheit bilden und so Gott abbilden können. Othmar Keel zeigt auf, dass auch die etwas ältere Geschichte von der Erschaffung des Menschen in Genesis 2 als Erschaffung von Mann und Frau zu verstehen ist, denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Nur im Gegenüber ist ein erfülltes Leben möglich, und trotz aller Widrigkeiten des Lebens scheiden die meisten Menschen nach dem Tenor der Hebräischen 8


Vorwort Bibel mit der Überzeugung aus dem Leben: «Wie es auch sei, das Leben, es ist gut!» Der Abschluss der Tagung 2007 bildete Ruedi Höggers Vortrag über «Das indische Linga – Ursprung und Werdekraft des Universums». Das in die prähistorische Indus-Tal-Kultur zurückgehende Symbol der phallischen Gottheit unbekannten Namens ist in geschichtlicher Zeit mit Shiva verbunden worden, um dessen göttliche Schöpferkraft zum Ausdruck zu bringen. Schon in den Upanischaden wird das linga auch als Ausdruck seelischer Wirklichkeit gedeutet. Hier weist es auf das unzerstörbare Wesen des inneren Feuers, das heisst der göttlichen Essenz, in jedem einzelnen Menschen hin. Das linga bedeutet weit mehr als naturhafte Fruchtbarkeit; es symbolisiert eine körperliche und seelische, physiologische und spirituelle Schöpferkraft. Als männliches Symbol wird das linga durch die yoni – durch das weibliche Geschlecht und den Mutterschoss – ergänzt. Schöpferische Potentialität und die oft durch die Schlange verdeutlichte, verwirklichende yoni-Kraft treten in die harmonische Verbindung der Zwei-Einigkeit. Das linga mit den vier oder fünf Gesichtern schliesslich verkörpert die Allgegenwart Shivas im Kosmos, seine den Kosmos füllende Energie, wobei das fünfte Auge, das über den Kosmos hinausblickt, verdeutlicht, dass Ursprung und Ziel des Göttlichen ausserhalb des Kosmos liegt. Von dort, jenseits der Welt aller Erscheinungen (Maya), stammt letztlich alle Schöpferkraft. So ist das linga nicht nur ein Bild des unzerstörbaren Lebens, sondern auch ein Bild des Unerkennbaren, aus welchem die Welt je und je neu erschaffen wird. Die «Bilder des Unerkennbaren» prägten die Tagung im August 2008. David Senn gelingt es, diese Bilder am verborgenen Bauplan, der den verschiedensten Wirbeltieren gemeinsam ist, sichtbar zu machen. Dabei weiss sich dieser Bauplan jeweils dem unterschiedlichen Lebensraum in erstaunlicher Weise anzupassen. Flügel und Arme, Beine und Flossen, sind Zweige am gleichen Stamm der langen Entwicklung, die in der so vielseitig verwendbaren menschlichen Hand gipfelt. In David Senns Referat wird immer wieder die Erinnerung an seinen Lehrer Adolf Portmann wach, dem die vergleichende Morphologie der Wirbeltiere so besonders am Herzen lag.

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Vorwort Philipp Felsch zeigt an einem Thema aus der Wissenschaftsgeschichte, wie das neue ganzheitlich-systematische Bild der Natur, das Alexander von Humboldt zu erarbeiten suchte, angesichts der «Berge von Daten» zur Überforderung führt, zu einem Ringen um Vollständigkeit, die nie ganz zu erreichen ist. Dies wird am Schicksal der Brüder Schlagintweit und ihrer Forschungsreisen in Indien besonders deutlich. Schon Humboldt hatte versucht, den traditionellen Reisebericht durch eine mehr an den Bildmedien orientierte Darstellung zu ersetzen, die reichen Gebrauch von Grafiken und Tabellen mache. Doch auch diese Hilfsmittel konnten die Lesbarkeit der Welt nicht entscheidend verbessern. Im Beitrag von Gotthilf Isler stehen Volkssagen und archetypische Träume in Vordergrund, also Botschaften aus dem Unbewussten, die es zu entschlüsseln gilt. Die im Grunde genommen sehr moderne Frage nach der Ganzheit oder Einheit der Welt, dem unus mundus, hat alle Bemühungen der Alchemie durchdrungen, die Materie als beseelt zu denken, aber sie gewann eine neue Aktualität, als C. G. Jung begann, sich dem Geheimnis der Synchronizität zuzuwenden, der nicht-kausalen Verknüpfung von Ereignissen, in der sich physische und psychische Wirklichkeiten aufs neue schöpferisch miteinander verbinden. Wie der Referent ausführt, scheint es, dass die symbolisch zu verstehenden Träume und Sagen – kompensatorisch zur christlichen und auch modernen Einseitigkeit des bewussten Standpunkts – von der Beseeltheit der Natur, auch der anorganischen Natur, sprechen und zu einer Aufwertung der Materie tendieren. Letztlich ginge es um eine umfassende Anerkennung der Göttlichkeit nicht nur des väterlichen Geistes, sondern auch der Materie und des Weiblichen. Ein solch erweitertes Weltbild beruhte wohl auf einer Weiterentwicklung des menschlichen Bewusstseins, wie sie symbolisch in vielen Volkssagen und auch im Emblem von Eranos in zeitloser Prägung vorgebildet ist. Hubert Herkommer zeigt anhand der Trostschrift des Lutheraners Philipp Nicolai «Freudenspiegel des ewigen Lebens», die inmitten des furchtbaren Wütens der Pest entstanden ist, in eindrücklicher Weise, wie dieser auf das Unfassbare reagiert. Nicolai entwirft eine mystisch-eschatologische Seelenstimmung, eine Liebesmystik, die sich an die himmlische Glückseligkeit im Sinne Augustins und an die Minnelyrik anlehnt. Er fügt 10


Vorwort seinem Freudenspiegel vier Lieder bei, darunter das Lied «Wachet auff / rufft vns die Stimme». Der Bräutigam kommt jetzt! (Matthäus 25,1–13) Darin distanziert sich Nicolai vom Land der Seligen der antiken Mythologie (Homer, Vergil). Die dritte Strophe endet im enthusiastisch-jauchzenden Schluss: «Dess sind wir froh/ jo/ jo. Ewig in dulci iubilo.» Letzteres stammt aus der Vision von Heinrich Seuse von den tanzenden Jünglingen, die mit ihrem himmlischen Reigen das Leiden vergessen machen wollen. In tiefster Not werden uralte Bildquellen aktiviert, die das absolut Unerkennbare umkreisen. Auch die Salve-Regina-Miniatur im SforzaStundenbuch der Margarete von Österreich, die der Autor im zweiten Teil seines Beitrages dem Leser in genialer Weise erhellt, will das Unerkennbare in dieser Welt erkennbar machen. Der Hofmaler Gerard Horenbout hat die fehlenden Teile des Stundenbuches ersetzt und dabei ein marianisch-musikalisches Kleinod geschaffen. Darin rückt der Himmel hörund sichtbar nahe. Das Werk mit seiner Darstellung eines polyphonen Engelgesangs zeugt von einer innigen, ja mystischen Frömmigkeit, wie sie dem Anliegen der Devotio moderna entsprach. An der Tagung 2007 liess der Film «Warda. Unter einer anderen Sonne geboren» die Erinnerung an unsere älteste Teilnehmerin Warda Bleser aufleben, die im Jahr zuvor im hohen Alter von 101 Jahren verstorben war und bis zuletzt voll reger Anteilnahme am Gedeihen von Eranos beteiligt war. Ein Jahr später sahen wir den Film mit dem letzten Interview, das C. G. Jung gegeben hat: «Face to Face with C. G. Jung», ein Dokument, das die grosse Ausstrahlungskraft jenes Mannes zeigt, der in den ersten Jahrzehnten die Eranos Tagungen wie wohl kein anderer geprägt hat. Wir sind der Gemeinde Ascona zu grossem Dank verpflichtet, dass sie uns nun schon seit sechs Jahren den schönen Saal in der Casa Serodine zur Verfügung gestellt hat. Ein herzlicher Dank gilt Andreas Gerber, der mit grossem Engagement die verschiedenen Manuskripte für diesen Band zusammengeführt und die Verantwortung für das Layout übernommen hat. Küsnacht, im April 2009

Die Herausgeber 11



Tagung 2007

DAS UNZERSTÖRBARE LEBEN



Bernhard Maier

Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten* Ein Vortrag über Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten erfordert zunächst eine Klärung des Keltenbegriffs.1 Dabei ist als erstes festzuhalten, dass man der Bezeichnung «Kelten» zuerst bei griechischen und lateinischen Autoren der Klassischen Antike als Sammelbezeichnung einer Vielzahl von Völkern Mittel- und Westeuropas begegnet. Sehr wahrscheinlich geht der zuerst von den Griechen gebrauchte Name Keltoí (lateinisch Celtae) ebenso wie die gleichbedeutende Bezeichnung Galátai und die damit wohl sprachverwandte lateinische Bezeichnung Galli auf die Selbstbenennung nur eines dieser Völker zurück. Sie wurde dann aber – zuerst von den Griechen und später von den Römern – in einem erweiterten Sinn zur Bezeichnung vieler verschiedener, von ihren mediterranen Nachbarn als verwandt empfundener Völker verwendet. Dass alle von den Griechen und Römern als Kelten bezeichneten Ethnien sich auch selbst so nannten oder als zusammengehörig verstanden, ist jedoch kaum anzunehmen. Zeitlich erstrecken sich die antiken Texte über die Kelten von Herodot im 5. Jh. v.Chr. über Poseidonios und Caesar im 1. Jh. v.Chr. bis hin zu Augustinus und Orosius im 5. Jh. n.Chr.

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Anmerkung des Autors: Da mir Wiederholungen und erläuternde Einschübe zwar im freien mündlichen Vortrag, nicht aber in der zur Lektüre bestimmten schriftlichen Fassung eines Vortrags sinnvoll erscheinen, habe ich den folgenden Text unter Rückgriff auf die Archiv-Aufnahme neu verfasst. Er gibt dementsprechend zwar die Gedankenführung und den Inhalt, nicht aber den genauen Wortlaut des Vortrags vom 23. 8. 2007 wieder. Eine erste Einführung in die Geschichte und Kultur der Kelten bietet Bernhard Maier, Die Kelten. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2., überarbeitete Auflage München 2003. Als umfassendes Nachschlagewerk dient jetzt John T. Koch (Hrsg.), Celtic Culture: A Historical Encyclopedia, 5 Bände, Santa Barbara, Calif. 2006. Zur Einführung in die Geschichte und den gegenwärtigen Stand der Forschung auf dem Gebiet der keltischen Archäologie sowie Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaft vgl. Raimund Karl und David Stifter (Hrsg.), The Celtic World. Critical concepts in historical studies, 4 Bände, London 2007. 15


Bernhard Maier Ein Hauptunterschied zwischen dem antiken und unserem modernen Keltenbegriff besteht darin, dass man den Namen der Kelten heute auch auf die antiken Bewohner der Britischen Inseln und Irlands bezieht, obwohl diese von den Griechen und Römern niemals so genannt wurden. Dies erklärt sich daraus, dass man im 16. Jahrhundert die Verwandtschaft des Irischen, Walisischen, Schottisch-Gälischen und Bretonischen mit der Sprache der antiken Kelten entdeckte und seit dem 18. / 19. Jahrhundert alle diese Sprachen – unter Rückgriff auf den antiken Namen der Keltoí / Celtae – als «keltisch» bezeichnete. Wichtige Meilensteine dieser Entwicklung bezeichnen die 1582 veröffentlichte Rerum Scoticarum Historia des Humanisten George Buchanan (1506–1582), in der erstmals die innere Verwandtschaft der heute als keltisch bezeichneten Sprachen festgestellt wird, die 1707 als Archaeologia Britannica erschienene Sammlung sprachwissenschaftlicher Texte und Forschungen des walisischen Gelehrten Edward Lhuyd (um 1660–1709) und schliesslich die 1851 unter dem Titel Grammatica Celtica publizierte erste vergleichende Grammatik der keltischen Sprachen von Johann Kaspar Zeuss (1806–1856). Im allgemeinen unterscheidet man heute die schon in der Antike ausgestorbenen festlandkeltischen Sprachen und die seit dem Mittelalter bezeugten und teilweise noch heute lebendigen inselkeltischen Sprachen. Zur ersten Gruppe gehören Gallisch (vor allem in Frankreich und Belgien), Lepontisch (in Oberitalien) und Keltiberisch (in Spanien), zur zweiten die als «Goidelisch» bezeichneten Sprachen Irisch, Schottisch-Gälisch und Manx sowie die «Britannisch» genannten Sprachen Walisisch, Cornisch und Bretonisch. Festzuhalten ist dabei jedoch, dass die Sprecher dieser «keltischen» Sprachen bis in die frühe Neuzeit weder ein kulturelles oder politisches Zusammengehörigkeitsgefühl empfanden noch sich in irgendeiner Weise der Verwandtschaft ihrer Sprachen mit jener der antiken Kelten bewusst waren. Vielmehr trachtete man danach, die Vorgeschichte des eigenen Volkes an die biblische Geschichte und die Kultur der Klassischen Antike anzuschliessen. In der modernen Archäologie ist die Verwendung der Bezeichnung «Kelten» bis heute uneinheitlich und umstritten. Ausgehend von den Nachrichten der antiken Autoren hatten die frühen Altertumsforscher des 17. und 18. Jahrhunderts so gut wie alle Monumente und Bodenfunde der vorrömischen Zeit den Kelten zugeschrieben. Erst im Laufe des 19. Jh. 16


Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten begann man nach dem Vorbild des dänischen Gelehrten Christian Jürgen Thomsen (1788–1865) in der Vorgeschichte Mittel- und Nordeuropas die drei aufeinanderfolgenden Perioden der Stein-, Bronze- und Eisenzeit zu unterscheiden und die Bezeichnung «keltisch» auf die zuletzt genannte Periode einzuschränken. (Der ältere Sprachgebrauch lebt bis heute fort in der weitverbreiteten Vorstellung von der stein- und bronzezeitlichen Kultstätte Stonehenge als eines keltischen Heiligtums.) Nach Funden aus einem 1846 entdeckten Gräberfeld bei Hallstatt beziehungsweise aus der La Tène genannten Untiefe bei Marin an der Nordspitze des Neuenburger Sees (Lac Neuchâtel) schlug der schwedische Kulturhistoriker Hans Olof Hildebrand (1842–1913) 1874 erstmals die noch heute übliche Zweiteilung der vorrömischen mitteleuropäischen Eisenzeit in eine ältere Hallstatt- und eine jüngere Latène-Periode vor. Zahlreiche Funde erbrachten die seit 1861 beziehungsweise 1865 zunächst auf Veranlassung Napoleons III durchgeführten Ausgrabungen in den keltischen Oppida Alesia und Bibracte sowie wenig später die Erforschung der erstmals 1876 sogenannten «Fürstengräber» der Späthallstatt- und Frühlatènezeit (6.–4. Jahrhundert v.Chr.) im südwestdeutschen Raum. Lange Zeit herrschte jedoch bei vielen Fundstücken im Hinblick auf die Datierung und Zuschreibung an die Kelten Unsicherheit, und erst 1944 veröffentlichte der Archäologe Paul Jacobsthal (1880–1957) im englischen Exil das bis heute grundlegende Werk zur Geschichte der keltischen Kunst, Early Celtic Art. Im deutschsprachigen Raum wird die eisenzeitliche Hallstattkultur zumeist nur in ihrer letzten Phase und in ihrer westlichen Ausprägung den Kelten zugeschrieben, da für die frühere Zeit keine Schriftquellen mit Völkerbezeichnungen vorliegen und sich die letzte Phase der Hallstattkultur auch im archäologischen Fundbild etwa durch das Aufkommen reich ausgestatteter Gräber mit Importgütern aus dem Mittelmeerraum deutlich von den vorausgegangenen Jahrhunderten unterscheidet. Zu beachten ist auch, dass keltische Sprachen nach Ausweis der Ortsnamen sehr viel weiter verbreitet waren als die Latènekunst, während umgekehrt entsprechende Kunstwerke auch bei solchen Personen in Gebrauch gewesen sein mögen, die selbst keine keltische Sprache benutzten. In den meisten religionskundlichen Nachschlagewerken der neueren Zeit findet man Angaben über Kulte, Riten und Mythen im vorchristlichen Irland und auf den Britischen Inseln, in der vorrömischen Eisenzeit Mittel17


Bernhard Maier europas und im römischen Gallien zusammengefasst in einem Beitrag zur «keltischen Religion» oder «Religion der Kelten».2 Dabei wird mitunter ausdrücklich festgestellt, dass diese Regionen eine höchst unterschiedliche Geschichte hatten und weder im Selbstverständnis ihrer Bewohner noch in kultureller, ethnischer, politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht eine Einheit bildeten. Als Rechtfertigung für eine solche Zusammenfassung dient daher zumeist der Hinweis auf den ihnen allen gemeinsamen Gebrauch einer «keltischen» Sprache, der das wichtigste einigende Band zwischen diesen unterschiedlichen Regionen darstelle. Diese unausgesprochene Anerkennung des Vorrangs der Sprache vor allen anderen religionsgeschichtlich wirksamen Faktoren beruht jedoch in erster Linie auf romantischen Vorstellungen von der Sprache als dem Ausdruck eines überzeitlichen Volksgeistes, vom prägenden Einfluss der Individualität eines Volkes und vom Volk als dem eigentlichen Träger der Religion. Diese Vorstellungen können heute jedoch nicht mehr unreflektiert übernommen werden, so dass man auch bei einer Untersuchung der «Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten» nicht mehr sprachwissenschaftliche, historische und archäologische Zeugnisse aus ganz unterschiedlichen Epochen und Regionen auf ein und dieselbe Ebene projizieren und daraus eine fiktive Einheit konstruieren darf. Vielmehr ist stets aufs neue kritisch zu fragen, ob und inwiefern die vielfach isoliert dastehenden und oftmals nur bruchstückhaft überlieferten Zeugnisse verallgemeinert oder miteinander verknüpft werden können. Dabei kann der Erkenntnisfortschritt angesichts der Spärlichkeit unserer Zeugnisse keineswegs nur darin bestehen, dass man den Bereich des gesicherten Wissens immer weiter auszudehnen versucht. Vielmehr gilt es darüber hinaus, durch methodisch reflektierte und kritische Analysen der jeweils aktuell verfügbaren Quellen zwischen gesicherten Aussagen und blossen Möglichkeiten immer wieder möglichst genau zu unterscheiden. Dabei erscheint zunächst ein Blick auf den Gesamtbestand unserer Quellen angebracht. 2

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Eine neuere monographische Gesamtdarstellung unter Berücksichtigung der hier skizzierten Methoden- und Quellenproblematik bietet Bernhard Maier, Die Religion der Kelten. Götter – Mythen – Weltbild, 2., durchgesehene Auflage, München 2004.


Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten Stellt man chronologische und geographische Kriterien zunächst einmal hintan, kann man bei den Quellen der keltischen Religionsgeschichte zunächst einmal grundsätzlich zwischen aussersprachlichen (archäologischen), literarischen und epigraphischen Zeugnissen unterscheiden. Dies empfiehlt sich vor allem deswegen, weil die stummen archäologischen Quellen zwar schwer zu deuten, doch als unmittelbare Überreste religiöser Handlungen von besonderem Wert sind, wohingegen die literarischen Quellen nicht unmittelbar auf die Kelten selbst zurückgehen, sondern als «Tradition» (nämlich der benachbarten griechisch-römischen oder der darauffolgenden mittelalterlich-christlichen Kultur) anzusprechen sind. Die vergleichsweise wenigen epigraphischen Zeugnisse berühren zwar nur einen Teilbereich der keltischen Religion, verbinden jedoch die Vorzüge der beiden zuvor genannten Quellengruppen, indem sie einerseits unmittelbare Überreste religiöser Handlungen darstellen, andererseits durch ihre sprachliche Ausformung wertvolle Anhaltspunkte für die Interpretation liefern. Von zentraler Bedeutung für die Frage nach den keltischen Jenseitsvorstellungen und insbesondere nach einer keltischen Seelenwanderungslehre sind die literarischen Quellen.3 An erster Stelle stehen dabei die Nachrichten der antiken Autoren, die sich allerdings durch eine äusserst bruchstückhafte Überlieferung und eine ausgeprägte weltanschauliche Gebundenheit auszeichnen. Charakteristisch für alle diese Texte ist eine unreflektiert ethnozentrische Einstellung, die dem Leser fremde religiöse Phänomene in aller Regel mit einer der eigenen Kultur entlehnten Begrifflichkeit zu vermitteln versucht und sie dadurch zwangsläufig schematisiert. Darüber hinaus neigt die antike Ethnographie sehr stark dazu, punktuell gültige Aussagen unter Missachtung geographischer und chronologischer Differenzierungen zu verallgemeinern und Unterschiede zu den Kulturen des Mittelmeerraums über Gebühr zu betonen. Eine wichtige Rolle spielt dabei seit dem 4. Jahrhundert v.Chr. die Interpretation von Kulturunterschieden als Ausdruck unterschiedlicher Entwicklungs3

Alle älteren Zusammenstellungen übertrifft die auf drei Bände angelegte, umfassende und ausführlich kommentierte zweisprachige Quellensammlung von Andreas Hofeneder, Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen. Bis jetzt erschienen sind die beiden ersten Bände Von den Anfängen bis Caesar (Wien 2005) und Von Cicero bis Florus (Wien 2008). 19


Bernhard Maier stufen, so dass Griechen und Römer die religiösen Verhältnisse bei den Kelten im Lichte ihrer Vorstellungen von der eigenen Ur- und Frühgeschichte interpretieren. Dabei findet man zum einen Vorstellungen von einer urtümlichen Rohheit der Kelten, wie sie in den zahlreichen Hinweisen auf blutige Opferriten zum Ausdruck kommen, zum anderen aber auch Beispiele einer idealisierenden Verklärung, die im Zusammenhang mit antiken Vorstellungen von der Nähe vermeintlich kulturloser Randvölker zu einem uranfänglichen Goldenen Zeitalter der Menschheit stehen. Zusätzlich erschwert wird die Einschätzung des Quellenwerts einzelner Aussagen durch das Auftreten von Wandermotiven, die von den antiken Autoren ohne eine genaue Prüfung ihrer jeweiligen Berechtigung von einem Fremdvolk auf das andere übertragen werden. Die ältesten literarischen Hinweise auf keltische Jenseitsvorstellungen stammen aus dem 1. Jahrhundert v.Chr. So etwa berichtet der Geograph Strabon (Erdkunde 4,4,4), die Druiden hielten die Seelen für unvergänglich. Ausführlicher schreibt der Historiker Diodor von Sizilien (Bibliothek 5,28,5f.): Sie [die Kelten] haben auch die Gewohnheit, während eines Mahles aus nichtigem Anlass in Streit zu geraten und sich gegenseitig zum Zweikampf herauszufordern, da sie sich aus dem Verlust des Lebens nichts machen. Bei ihnen herrscht nämlich die Lehre des Pythagoras, dass die Seelen der Menschen unsterblich seien und nach einer bestimmten Zahl von Jahren noch einmal lebten, wobei die Seele in einen anderen Körper eingehe. Deshalb werfen auch manche bei den Begräbnissen Verstorbener Briefe an ihre verstorbenen Angehörigen auf den Scheiterhaufen, so als ob die Toten diese lesen würden. Mit einer etwas anderen Akzentuierung und ohne den Hinweis auf Pythagoras erklärt Iulius Caesar (De Bello Gallico 6,14,5): Vor allem wollen sie [die keltischen Druiden] davon überzeugen, dass die Seelen nicht vergehen, sondern nach dem Tod von den einen auf die anderen übergehen, und sie glauben, dass dies ganz besonders zur Tapferkeit ansporne, weil die Furcht vor dem Tode entfalle. In ähnlicher Weise äusserte sich nur wenige Jahrzehnte später zur Zeit des Kaisers Tiberius (14–37 n.Chr.) der lateinische Rhetoriker Valerius

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