«Randalierende Lehrerinnen»

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Die Herausgeberin Ursa Krattiger hat den Basler Lehrerinnenstreik als Schülerin erlebt und nach dem ­Studium in Geschichte, Soziologie und politischen Wissenschaften zum Thema «Mündigkeit. Ein ­politischer Begriff in der Schweizer Sozialgeschichte» promoviert. Sie war nach Einführung des Frauen­ stimmrechts die erste Inlandredaktorin der «Basler Nachrichten» und nachher 20 Jahre Programmschaffende beim Schweizer Radio DRS. Heute ist sie freiberuflich tätig als Publizistin, Referentin und Ritualgestalterin (www.ave-ave.ch).

I S B N 978-3-7965-2612-1

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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783796 526121

«Randalierende Lehrerinnen» Ursa Krattiger (Hrsg.)

Mit Beiträgen von Antonia Schmidlin, Elfriede Belleville Wiss, Luciana Thordai-Schweizer, Roger Morger, Martin Vosseler, Luzius Gessler, Gaby Sutter und Ursa Krattiger.

Ursa Krattiger (Hrsg.)

188. Neujahrsblatt 2010

Es war eine Sensation, die sogar die New York Times vermeldete: Nach dem massiven MännerNein zum Frauenstimmrecht in der Schweiz vom 1. Februar 1959 traten die Lehrerinnen des ­Basler Mädchengymnasiums geschlossen in den Streik – «aus Protest ­gegen die erneute Missachtung des staatsbürgerlichen Rechtsanspruchs der Schweizer Frauen». Bei den Streik-Lehrerinnen ­gingen Schmähungen und Lob, Kuchen, Blumen und ein Spielzeug-Teppichklopfer ein. In den (damals noch sechs) Basler Zeitungen tobten heftige Leser(innen)briefschlachten. Die redaktionellen ­Stellungnahmen waren in den bürgerlichen Blättern unisono negativ und in den linken Medien ebenso einhellig positiv. Der Verein für Frauenstimmrecht lud zur Sympathiekundgebung ein. Die meisten Basler Grossräte rügten die Lehrerinnen aufs heftigste; ihr wärmster Verteidiger war – der Ehemann einer der ­Rädelsführerinnen. Was war das für eine Zeit – 14 Jahre nach Kriegsende, 12 Jahre vor dem Durchbruch des Frauenstimmrechts? Das Buch lässt, ausgehend von der 50-Jahr-Feier am Gymnasium ­Leonhard, Zeitzeuginnen aus dem Lager der Lehrerinnen und Schülerinnen zu Wort kommen. Historische ­Beiträge zur Stimmrechts-, Schul- und Frauengeschichte, alte und neue Fotos sowie Abbildungen von Dokumenten von damals und eine CD mit Radiobeiträgen erlauben aufschlussreiche und ­amüsante Einblicke in eine historische Episode, auf die Basel stolz sein kann.

«Randalierende Lehrerinnen» Der Basler Lehrerinnenstreik vom 3. Februar 1959

188. Neujahrsblatt





Ursa Krattiger (Hrsg.)

« Randalierende Lehrerinnen» Der Basler Lehrerinnenstreik vom 3. Februar 1959

Mit Beiträgen von Antonia Schmidlin, Elfriede Belleville Wiss, Luciana Thordai-Schweizer, Roger Morger, Martin Vosseler, Luzius Gessler, Gaby Sutter und Ursa Krattiger 188. Neujahrsblatt Herausgegeben von der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel

Schwabe Verlag Basel


© 2009 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Reto Zingg Umschlaggestaltung: Thomas Lutz Abbildung auf dem Umschlag: Dr. Rut Keiser, die Initiantin des Lehrerinnenstreiks im Gespräch mit Kolleginnen (von links nach rechts: Dr. Maria Schubiger, Pauline Müller, Dr. Rut Keiser, Dr. Elisabeth Flueler), SLZ 11/91, S. 8, «20 Jahre Frauenstimmrecht» Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN: 978-3-7965-2612-1 www.schwabe.ch


Inhalt

Grusswort der Präsidentin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein Stückchen «Integrat» Einleitung und Dank Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

«Frauen werden auf frauliche Art weiterkommen!» Über den Basler Lehrerinnenstreik im Rahmen der Schweizer Frauenstimmrechtsbewegung Antonia Schmidlin .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Geschichte des Basler Mädchengymnasiums Vom «Affenkasten» zum Gymnasium Leonhard Elfriede Belleville Wiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Wenn Frauen an der Schule Frauenpolitik machen – die Brisanz des Lehrerinnenstreiks Was am 3. Februar 1959 am Mädchengymnasium passierte und warum Elfriede Belleville Wiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Die Nachrichten auf Radio Beromünster habe ich restlos genossen! Als junge Lehrerin dabei bei der Protestaktion der Lehrerinnen Luciana Thordai-Schweizer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Ein Tag mit Retardeffekt Eine Erinnerung an den 3. Februar 1959 Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Am politischen Geschehen ganz nah dran Erinnerungen von Schülerinnen des Mädchengymnasiums, die damals dabei waren Elfriede Belleville Wiss / Ursa Krattiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

«Grabe, wo du stehst» 1959–2009: Der Basler Lehrerinnenstreik als Unterrichtsstoff Roger Morger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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«Kateridee» oder «gut eidgenössische Haltung»? Aus dem Postkorb der Streiklehrerinnen Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Pfarrerlob für die Streiklehrerinnen. Und wie stand es um die Kirchenfrauen? Im Gespräch mit Pfarrerin Ruth Epting Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

«Eine Frau mit einem so überlegenen Verstand» Dr. Rut Keiser (1897–1968) Paul Gessler / Luciana Thordai-Schweizer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Von «Tante Rut» zu «Rut» Prägende Freundschaft mit Rut Keiser Martin Vosseler .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Zivilstand, Löhne und Altersvorsorge Zur rechtlichen und wirtschaftlichen Lage der Lehrerinnen Elfriede Belleville Wiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Frl., def., oder Frau, feste Vikarin 1959 gab es – selbstverständlich! – noch Frauen und Fräulein Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Offensichtliche Sympathie für die streikenden Frauen Über meinen Vater Paul Gessler (1899–1981) Luzius Gessler .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

«Dieser grosse Befreiungskampf der Frau» Aus der Ansprache am Ende des Schuljahres 1958/59 Paul Gessler / Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Vom Lehrerinnenzimmer ins Stadt-, Rat- und Bundeshaus Nach 1959: Streiklehrerinnen in politischen Ämtern und Würden Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

«Ein sehr wesentliches, grundlegendes Werk» Iris von Roten und ihr Buch «Frauen im Laufgitter» von 1958 Gaby Sutter .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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«Ihr habt nichts zu sagen, weil es das Gesetz so will. Und das Gesetz könnt ihr nicht ändern, weil ihr nichts zu sagen habt.» 1959 publiziert Iris von Roten ihr «Frauenstimmrechts-Brevier» Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Der Lehrerinnenstreik erfüllte eine «staatsbürgerliche Aufgabe» Emile Villards Schrift zum Frauenstimmrecht vom 20.2.1959 Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Goldene Lettern auf dem Venusspiegel Im Gespräch mit der Bildhauerin Bettina Eichin Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Streik im Kostüm, Schule im Jupe Was die Mode über Frau und Mann in den 50er Jahren aussagt Ursa Krattiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

«Irrwege zum Ruhm. Die keiserliche Rebellion am Kohlenberg» Lehrerinnenstreik und Laufgitter vereint an der Fasnacht Elfriede Belleville Wiss / Ursa Krattiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Autorinnen und Autoren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Literaturverzeichnis (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Abbildungsnachweis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

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Grusswort der Präsidentin Fragte man heute junge Frauen, wie lange Schweizerinnen schon stimmen und wählen könnten, wie viele würden wohl mit «seit weniger als vierzig Jahren» antworten? Es ist heute fast nicht mehr vorstellbar, dass alle Grossmütter dieser jungen Frauen – sofern es sich um Schweizerinnen handelt – eine Zeit erlebt haben, in der sie von den Männern, die bestimmten, wer im Staate etwas zu sagen hatte, für unfähig befunden wurden, Einfluss auf die politischen Tagesgeschäfte und auf ihre eigene Situation im Staate zu nehmen. Dass die Rechte, die unsere Bundesverfassung allen Schweizern gibt, auch den Schweizerinnen zustehen, ist mittlerweile selbstverständlich. 1959 war das anders. Da wurden Frauen, die sich mit der Unterdrückung ihrer Ansprüche durch eine Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht abfinden wollten und dagegen protestierten, beschimpft. Eine Mehrheit im Besitz von Rechten spricht diese einer Minderheit im Staate – vielleicht sogar der Mehrheit? – ab, wogegen sich diese aus Mangel an Rechten nicht wehren kann. Eine interessante Problemstellung, nicht nur als Aspekt der Geschlechtergeschichte. Hier reibt sich ein bestimmtes Verständnis von Demokratie an einem anderen, Althergebrachtes muss sich an Neuem messen, bewähren oder abdanken. Ein Paradebeispiel für die Lebensfähigkeit einer Demokratie. 1959 war die Schweiz offenbar noch nicht bereit für diesen Schritt nach vorne. Nicht zuletzt dank dem Protest und Engagement von Frauen wie den «Streik»-Lehrerinnen und ihren weiblichen wie männlichen Gesinnungsgenossen hat sie ihn 1971 aber getan. Auf den folgenden Seiten finden Sie Hintergründe, Protagonistinnen, Stimmungsberichte und Analysen zum Streik der Basler Gymnasiallehrerinnen. Ich würde mir wünschen, dass der Rückblick, den dieses Neujahrsblatt ermöglicht, auch offen macht für die Überlegung, ob manche «Randalierer» von heute vielleicht die Heldinnen von morgen sein könnten? Doris Tranter Präsidentin der Kommission zum Neujahrsblatt der GGG

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Ein Stückchen «Integrat» Einleitung und Dank Ursa Krattiger

Lassen Sie mich zum Einstieg eine etwas verstiegene These wagen: Dieses 188. Neu­ jahrsblatt der GGG über eine grossartige Aktion bewundernswürdiger Frauen ver­ danken wir einem klugen Mann – und damit ist der vorliegende Band über die «randalierenden Lehrerinnen» und ihren Streik am Basler Mädchengymnasium vom 3. Februar 1959 ein klitzekleines Stück Wirklichkeit gewordenes «Integrat». «Inte­ grat»? Da staunen Sie! Der fast gänzlich vergessene Kulturphilosoph Jean Gebser be­ zeichnet so die Geschlechterordnung, die dem Matriarchat – es gehört zur ­mythischen Bewusstseinsphase der Menschheit – und dem Patriarchat, der Ausdrucksform des mentalen Zeitalters, folgen soll. Mit «Integrat» umreisst er die Gestalt, die die Bezie­ hungen zwischen Frau und Mann in der Kulturepoche des «integralen Bewusstseins» annehmen werden – im Zeichen von Gleichwertigkeit, Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe, Ganzheit und einer die gesamte Menschheit in einer Weltinnenpolitik umfassenden Verbundenheit. Wie das im einzelnen aussehen könnte, sagt Gebser (leider) nicht; er wirft bloss den Begriff in die geistige Landschaft. Denn noch ist das «integrale Bewusstsein» Zukunftsmusik, auch wenn Gebser erste «Manifestationen der aperspektivischen Welt»1 seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufzuzeigen weiss. Roger Morger, dem Rektor des ehemaligen Mädchengymnasiums vulgo ­«Affenkasten», verdanken wir dieses Buch, weil er als Rektor des heutigen Gymna­ siums Leonhard 2008 den Entschluss fasste, den 50. Jahrestag des Basler Lehrerinnen­ streiks nicht einfach Geschichte sein zu lassen, sondern ihn in den Schulalltag des 3. Februar 2009 zu tragen und diesen Meilenstein in der Geschichte seiner Schule mit einem Festakt zu würdigen. Er steht damit in einer guten Tradition seines Hauses, denn bereits 1991 hat die Schule unter Konrektorin Cornelia Teuber bewusst den Schweizer Frauenstreiktag mitgefeiert, und 1999 wurde zum 40-Jahr-Jubiläum des Lehrerinnenstreiks die von Bettina Eichin gestaltete Gedenktafel in der Eingangshalle festlich eingeweiht; in diesem Buch erzählt die Bildhauerin, warum diese Tafel so wurde, wie sie sich uns heute zeigt. Damit Frauengeschichte Menschengeschichte wird

Für die Herausbildung des historischen Wissens und Bewusstseins von Nachfahr(inn)en genügt es nicht, dass Vorfahr(inn)en Grosses leisten. Es muss auch überliefert und erzählt, gewusst und bewusst gemacht werden. Und einer der wichtigsten Gründe für das magere Wissen um die Bedeutung von Frauen und ihrer Leistungen bei allen Menschen – und des entsprechend angeschlagenen Selbstwertgefühls der Frauen als «classe bio-sociale»2 – ist die Nichtexistenz, die Auslassung, die Nichtberücksichtigung von Frauen und ihres Denkens und Tuns in der allgemeinen Geschichtsschreibung

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und der öffentlichen Kultur des Erinnerns. Während der Neuen Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre haben Historikerinnen die verlorene, verdrängte, ungeschrie­ bene Geschichte der Frauen ausgegraben und ans Tageslicht des Bewusstseins und der Darstellung gehoben, Schicht um Schicht, Schritt für Schritt, Thema um Thema. Und dasselbe ist gleichzeitig in fast allen Wissenschaften passiert: in Linguistik und Literatur­wissenschaft, in der Geschichte der Naturwissenschaften und in der Theo­ logie und Kirchengeschichte, in den Rechtswissenschaften und der Psychologie, in Medizin und Kunstgeschichte. Aber all dies bleibt ein «Sonderthema», wenn es nicht in den allgemeinen Kanon des Wissens und des Wissenswerten übernommen wird. Und wird ohne diese «Weihe» wieder vergessen – bis es von einer folgenden Welle der Frauenbewegung wieder neu ins Licht des Wissens und Bewusstseins gehoben wird. Dazu ein kleines Beispiel: Ich bin aufgewachsen mit Kunstbüchern, die ich zu Hause als kleines Mädchen mit der gehörigen Achtsamkeit anschauen durfte. Seit jeher liebte ich die Impressionisten – die männliche Form ist Absicht, denn es gab für mich nur Impressionisten. Eine Impressionistin kam mir ja nie vor die Augen. Später stellten uns Frauenforscherinnen dann Malerinnen und Bildhauerinnen aus vielen Jahrhunderten vor – und uns gingen die Augen über! In einer Ausstellung der Fonda­ tion Giannada über Berthe Morisot war im Sommer 2004 in Martigny zu entdecken, dass diese führende Impressionistin zu Lebzeiten berühmt und unter ihren Kollegen hoch geachtet war und zudem gut verkauft hatte. Erst die Geschichtsschreibung hat sie durch Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen und Nicht-Überliefern wieder von der Bild­ fläche verschwinden lassen und unsichtbar gemacht. Vier Jahre danach zeigte 2008 die renommierte Kunsthalle Schirn in Frankfurt die spätes Aufsehen erregende Aus­ stellung «Die Impressionistinnen» – der Katalog dazu war innert Kürze ausverkauft. Nun sind die Impressionistinnen – endlich! – in den Kanon der kulturgeschichtlichen Überlieferung aufgenommen. Die feministische Kunstgeschichte hat das zwar alles vor- und aufbereitet, aber die «Kanonisierung» konnte erst der sogenannte normale, allgemeine Kulturbetrieb erwirken. Auch die beiden 90jährigen Künstlerinnen Louise Bourgeois – 2007/08 in der Tate Modern in London – und Maria Lassning – 2009 im Museum für moderne Kunst in Wien – sind wohl dank dieser Ausstellungen in den Tempeln der Hochkultur nicht mehr vom Vergessen bedroht. Nun ist dank dem Neujahrsblatt 2010 der GGG als regulärem Band in einer Reihe über Basiliensia auch der Basler Lehrerinnenstreik im Kanon der Schweizer Geschichte angelangt – nicht «nur» dem der Frauengeschichte, sondern dem der Geschichte tout court, der integralen, menschheitlichen Geschichte sozusagen. Schon bei den wissenschaftlichen Arbeiten darüber hat früh ein Mann zur Feder gegriffen: Charly Liebherr mit seinem Artikel «Wenn Lehrerinnen wollen, ist keine Schule!» von 1993 in der Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, und im selben Jahr gab es den denkwürdigen Basler Frauenstadtrundgang ­«FrauenMachtGeschichten», den Antonia Schmidlin miterarbeitet und im Buch über die Frauenstadtrundgänge publiziert hat. Beide Artikel finden sich im Dossier, das Rektor Morger im Blick auf das Jubiläum bei der früheren Geschichtslehrerin an seiner Schule, Dr. Elfriede Belleville Wiss, in Auftrag gegeben hat. Dieses reichhaltige Dossier, ihr umfassender Artikel für das «Basler Schulblatt» vom Februar 2009 sowie die drei Referate am

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Festakt – die Fotos dazu verdanken wir Werner Laschinger – von Antonia Schmidlin als Historikerin, von Luciana Thordai-Schweizer als damals am Streik beteiligter Lehrerin und von mir als einer den Lehrerinnenstreik miterlebenden Schülerin bilden das Herzstück des 188. Neujahrsblatts der GGG. Das Herzstück und seine weiteren Beilagen

Nachdem mir die Herausgabe anvertraut worden war, sprudelten rasch die Ideen, wie dieses Herzstück mit weiteren Beilagen zu bereichern wäre. Rektor Morger wurde um einen Bericht über den Schulunterricht am 3. Februar 2009 zum 50-Jahr-Jubiläum des Lehrerinnenstreiks gebeten. Zwei führende Persönlichkeiten weckten die ­Neugierde, die Streikanregerin Dr. Rut Keiser und der mit seinen Lehrerinnen mehr als nur sym­ pathisierende Rektor Dr. Paul Gessler. Über seinen Vater zu schreiben, erklärte sich Sohn Dr. Luzius Gessler bereit. Zu Rut Keiser gab es bereits eine Würdigung aus Paul Gesslers Feder; zudem erinnerte sich Luciana Thordai-Schweizer mit Hochachtung an ihre Kollegin, und an einer privaten Zusammenkunft – mein herzlicher Dank gilt den «Rheinfrauen»! – kam mir zu Ohren, dass Rut Keiser die heissgeliebte Tante von Sonnenaktivist Martin Vosseler war. Elfriede Belleville Wiss war bereit, zwei Aspekte ihrer Arbeit zu vertiefen. Zu­ nächst einmal die Vor- und Nachgeschichte der Schule, die 1959 das Mädchengymna­ sium war. Und dann irritierte das Dokument, das Paul Gessler am 14. Februar Erzie­ hungsdirektor Zschokke abzugeben hatte mit den Namen der fehlbaren Lehrerinnen. Fein säuberlich waren darin die Frauen und Fräuleins aufgelistet. Denn der Zivilstand war damals für die Frauen nicht bloss Sache ihrer persönlichen Befindlichkeit, sondern in einem Ausmass relevant für ihre Anstellungsbedingungen und Altersvorsorge, wie wir uns das heute kaum mehr vorstellen können. Das galt damals übrigens auch für die Theologinnen; und im Blick auf die vorwiegend positiven Kommentare vieler Pfarrherren zum Lehrerinnenstreik wollte ich von einer der ersten Pfarrerinnen in Basel – Ruth Epting – wissen, warum sie eigentlich so lange nur Pfarrhelferin gewesen war. Über die Anstellungsbedingungen der Lehrerinnen recherchierte Elfriede Belle­ ville Wiss weiter, während ich dem Verschwinden der Anrede «Fräulein» nachging. Hier mein Dank an Ständerätin Anita Fetz für ihre Forschungsassistenz; denn dank ihrem Auftrag konnten die Parlamentsdienste bei Bundesarchiv und eidgenössischem Gleichstellungsbüro den nötigen Support auslösen; er hat mir dort weitergeholfen, wo ich vorher aufgelaufen war. Die Streiklehrerinnen: frauenpolitische Powerfrauen

In der näheren Beschäftigung mit den Streiklehrerinnen vertiefte sich der Eindruck, dass wir es hier mit einer aussergewöhnlichen Frauenkonstellation zu tun haben. Die Lehrerinnenschaft am Mädchengymnasium war ein Gremium hochgebildeter, engagierter, gescheiter und warmherziger Frauen von überdurchschnittlicher Statur. Dr. Rut Keiser war damals auch Vizepräsidentin der Basler Vereinigung für Frauen­ stimmrecht, und deren Präsidentin Anneliese Villard-Traber war zudem mit Dr. Dora Allgöwer befreundet. In den 70er und frühen 80er Jahren hatte ich über den Ver­ band für Frauenrechte und später dank der Fachredaktion Frau bei SR DRS engen

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­ ontakt mit Anneliese Villard-Traber, und eines Tages schenkte sie mir die Schrift K ihres Mannes Dr. Emile Villard, der kurz nach dem Lehrerinnenstreik als Kollege dieser Frauen seine kluge Schrift zum Frauenstimmrecht verfasst hatte; Sie finden sie hier in Auszügen. Und mich reizte die Frage, wer aus diesem Frauenkader am Mäd­ chengymnasium später, als es dann möglich war – und in der Basler Bürgergemeinde war das ja bald der Fall –, in politischen Ämtern zu finden sein würde. 1958 und 1959 waren Jahre mit dicht gedrängten, starken Frauenakzenten: Die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA im Sommer 1958, die Publikation von Iris von Rotens «Frauen im Laufgitter» im Herbst 1958, das Ja zum Frauenstimm­ recht in den Bürgergemeinden Basel und Riehen (vom Nein der Bettinger schweigt der Historikerin Höflichkeit). Und in Basel gibt es zudem die grosse räumliche Nähe zwischen dem «Affenkasten» oben am Kohlenberg und dem Wohnsitz von Iris von Roten am oberen Heuberg 12. Inhaltlich war die Nähe jedoch nicht da, denn von Frauenseite wurde beim Lehrerinnenstreik nie auch nur mit einem Sterbenswört­ chen auf «Frauen im Laufgitter» Bezug genommen, wofür sich Iris von Roten in ihrem «Frauenstimmrechts-Brevier» – im Unterschied zu Emile Villard in seiner fast gleichzeitigen Schrift – mit dem Totschweigen des Lehrerinnenstreiks revanchierte; hier finden Sie eine reiche Auswahl bemerkenswerter Zitate auch aus von Rotens Brevier. Mit diesem «Frauenstimmrechts-Brevier» mit seiner eng fokussierten Frage­ stellung fand von Roten übrigens eine viel wohlwollendere Aufnahme als mit ihrer umfassenden Patriarchatskritik ein Jahr zuvor, was die Historikerin Gaby Sutter in ihrem Beitrag nachzeichnet. Fast in eins setzte die beiden Themen hingegen die Fasnacht vom Februar 1959, die mit allen Waffen vom Florett bis zum Zweihänder sowohl auf «die Frauen im Lauf­ gitter» und ihre Autorin als auch auf die unbotmässigen Lehrerinnen und zusätzlich noch auf die SAFFA einstach. Ich kann mich erinnern, wie mir als jungem Mädchen damals beim «Gässle» die unverhohlene Aggressivität mancher fasnächtlicher Äus­ serungen an die Nieren ging und diffuses Unbehagen verursachte. Elfriede Belleville Wiss hat die gedruckten Quellen und Fotos zur Basler Fasnacht von 1959 recherchiert; ich habe sie gesichtet und das Einschlägige zusammengestellt. Ein Sammelband mit Texten, Dokumenten und Bildern

Im 188. Neujahrsblatt der GGG finden Sie zu den einzelnen Beiträgen viele Do­ kumente von damals abgedruckt und neben Plakaten und Karikaturen auch Fotos, manche von Streiklehrerin Luciana Thordai-Schweizer. Unmissverständlich strahlen sie Haltungen und Stimmungen der 50er Jahre aus – was lag da näher als der Griff zur Frauenzeitschrift «Annabelle», die den Frauen – auf jeden Fall jenen der Mittel­ schicht – aufzeigte, wie sie sich zu kleiden und zu geben hatten. Und obwohl sich die Frauen damals so wenig wie heute sklavisch nach den Diktaten der Modebranche richteten, ist auf den historischen Fotos der Einklang mit dem modischen Zeitgeist, wie er sich in der «Annabelle» manifestiert, auffallend. Ein inzwischen amüsantes Zeitzeugnis ist auch das «Frauenstimmrechts-ABC», das von der Gegnerseite für die Basler Abstimmung von 1946 lanciert worden war: Schwarz auf weiss und etwas kleiner als eine Postkarte im Hochformat. Die als ABC gestaltete Serie von Karika­

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FrauenstimmrechtsABC Titelblatt

turen gegen das Frauenstimmrecht war wie mit erhobenem Zeigefinger gewidmet «All denen, die Gedächtnis und Selbstbesinnung verloren haben, zur Auffrischung». Das alles anonym und mit witzigen Zeichnungen, deren Esprit gelegentlich in kras­ sem Widerspruch zum argumentativen Niveau der die Karikaturen begleitenden Zweizeiler steht. So wird von A bis Z der naturgegebene Zwiespalt der ­Geschlechter

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Buchstabe O aus dem FrauenstimmrechtsABC

Buchstabe W aus dem FrauenstimmrechtsABC

beschworen: Frau Eva verführte den Adam und brachte dem Mann den Verlust des Paradieses ein. Es gilt als ontologisch feststehende Gewissheit: Die Frau ist schwatzhaft und streitlustig, geistlos und ungebildet, herrschsüchtig und eitel, auf einen begrenzten Horizont fixiert, sei es das tändelnd elegante Leben einer Dame

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oder das dienstfertige Aufgehen in Haushalt und Mutterpflichten. Alles Höhere in Geist, Kultur und Politik ist ihr von ihrem Wesen her fremd und versperrt; begibt sie sich dennoch auf solche Gebiete, macht sie sich zwangsläufig lächerlich: «Die Gans, die Politik beschnattert …». Frauen sind letztlich nur als Sexualobjekt und ­Liebesgefährtin, Hausfrau und Mutter von Interesse und (wenn auch immer von zweifelhaftem) Nutzen. Und Männer, die sich für das Frauenstimmrecht engagie­ ren – wie etwa der Liberale Alfred Oeri, Chefredaktor der «Basler Nachrichten –, müssen sich sagen lassen, sie seien eben keine Frauenkenner. Zustimmend wird der Paulus-Spruch «Die Frau schweige in der Gemeinde» zitiert, und der Abstinenz­ lerin wird wehleidig unterschoben, sie missgönne dem Pantoffel-Pascha auf dem Sofa seine kleinen Freuden: «Zu Kanaan, da trank man Wein/Im Frauenstaat wird’s Wasser sein.» Na dann: Prost! Die Inhaltsbeschreibung macht klar, dass dieses Buch keine systematisch durch­ gestaltete Monographie ist, sondern ein Sammelband mit sehr unterschiedlichen Beiträgen. Niemand wird ihn wohl von A bis Z durchlesen, sondern je nach Lust und Laune beim einen oder anderen Beitrag einsteigen und dann kreuz und quer weiterlesen. Dieses Buch ist kein Menu, das in fixer Abfolge serviert wird; es ist ein Buffet zur Selbstbedienung. Deshalb musste auch jeder Artikel so redigiert werden, dass er für sich alleine stehen kann – unabhängig davon, was vorher oder nachher vielleicht auch noch ausgeführt wird. Aus diesem Grund haben sich Wiederholun­ gen nicht vermeiden lassen. Dafür bitten wir um Verständnis und Nachsicht. Zum Abschluss der herzlichste Dank an alle Autorinnen und Autoren, an die kritisch Manuskripte und Fahnen prüfende Herausgeberkommission des Neujahrsblattes der GGG und an die kompetent und freundlich unterstützenden Buchbetreuer/-innen im Schwabe-Verlag: mes honneurs an Marlies Pichler, Dr. Reto Zingg und Verlagslei­ ter Dr. David Marc Hoffmann. Dank auch den mitdenkenden Köpfen und helfenden Händen im Staatsarchiv Basel – Andreas Barth, Yolanda Cadalbert, Dieter Leu und Dr. Hermann Wichers –, in der ­Basler Plakatsammlung – Dr. Thalmann –, in der Bürgergemeinde – Karin Senn –, in der Universitätsbibliothek Basel, in der WWZBibliothek und in der Zürcher Zentralbibliothek. Jetzt ist angerichtet. Ich wünsche allen, die das 188. Neujahrsblatt der GGG zur Hand nehmen, einen guten Appetit beim Lesen: Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse, Begreifen und Schmunzeln, Ermutigung und hoffnungsvolle Zuversicht. Denn das «Integrat» ist erst im Werden.

Anmerkungen

1 Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, Bd. II, dtv , München 1973, S. 698 f. 2 Morin, Edgar: Pour sortir du vingtième siècle, Editions Fernand Nathan, Paris 1981.

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«Frauen werden auf frauliche Art weiterkommen!» Über den Basler Lehrerinnenstreik im Rahmen der Schweizer Frauenstimmrechtsbewegung Antonia Schmidlin

1959 wurde in der Schweiz zum ersten Mal auf eidgenössischer Ebene über das Frauenstimmrecht abgestimmt. Der Weg dahin war lang und steinig. Das Nein der Schweizer Männer zum Frauenstimmrecht veränderte den Kampf für die politischen Rechte der Frauen. Seit 1893: Frauenstimmrecht in Neuseeland

Im Zuge der Französischen Revolution von 1789 kam die männliche Bevölkerung nach und nach in den Genuss politischer Rechte. Im 19. Jahrhundert war man der Ansicht, dass Männer und Frauen «von Natur aus» andere Aufgaben hätten: Wäh­ rend die Öffentlichkeit (also die Politik) den Männern zugeordnet wurde, sollten die Frauen sich ausschliesslich um das Private (also um die Familie) kümmern. Das Frauenstimmrecht setzte sich deshalb erst spät durch: Als erster Staat gewährte Neuseeland 1893 den Frauen die politischen Rechte.1 In Europa wurde das Frauen­ stimmrecht zuerst in Skandinavien eingeführt (Finnland 1906, Norwegen 1913, Dänemark und Island 1915), zuweilen zusammen mit einer neuen Staatsform (1917 in der Sowjetunion oder 1918 in Deutschland und Österreich). Bis 1919 kannten fol­ gende weitere europäische Staaten das Frauenstimmrecht: Die Niederlande, Gross­ britannien, Nordirland, Luxemburg, Polen, Tschechoslowakei und Schweden. Andere europäische Staaten führten das Frauenstimmrecht mit oder nach dem 2. Weltkrieg ein, wie etwa Frankreich 1944, Italien, Albanien und Ungarn 1946. Anders als in der Schweiz waren es nicht die Stimmbürger, sondern die Parlamente, welche diese Wahlrechtsreformen beschlossen. Die Schweiz führte als einer der ersten Staaten das «allgemeine Stimm- und Wahlrecht» bereits 1848 ein. Das war aussergewöhnlich, denn vielerorts war damals das Wahlrecht eingeschränkt (etwa durch das Zensuswahlrecht, bei dem lediglich Vermögende wählen konnten). Gestützt auf Artikel 4 der Bundesverfassung («Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich») erhielten hingegen in der Schweiz 1848 alle mündigen Männer, sofern sie nicht Juden waren, das Stimmrecht. Nirgends steht ausdrücklich, dass Frauen vom Stimmrecht ausgeschlossen waren.2 Schwei­ zerinnen hatten somit zwar das passive Bürgerrecht, nicht aber das aktive Bürger-, d.h. Stimmrecht. Dieser Umstand führte dazu, dass Juristinnen keine anwaltlichen Vertretungen vor Gericht übernehmen konnten, weil dafür das aktive Bürgerrecht Voraussetzung war.

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Abb.1

Antonia Schmidlin am Festakt «50 Jahre Basler Lehrerinnenstreik».

«Ebenso neu als kühn»: die rechtliche Gleichstellung der Frau

Emilie Kempin-Spyri, erste Juristin Europas, wandte sich deswegen an das Bundes­ gericht und verlangte gestützt auf Artikel 4 der Bundesverfassung «die volle rechtli­ che Gleichstellung der Geschlechter auf dem Gebiete des gesamten öffentlichen und Privatrechtes».3 Der sogenannte Interpretationsweg, d.h. eine zeitgemässe Lesart der Bundesverfassung, wäre juristisch unbedenklich und politisch mittels einer Gesetzesän­ derung durch die Legislative einfach zu realisieren gewesen.4 Die Antwort des Bundes­ gerichtes auf Kempin-Spyris Antrag von 1887 ist zum historischen Bonmot geworden: Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter sei «ebenso neu als kühn» und könne nicht gebilligt werden.5 Es brauchte schliesslich eine vom männlichen Volk befürwor­ tete Verfassungsänderung, um das Frauenstimmrecht einzuführen (siehe S. 171 ff.).

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