ORTung 2019

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ORTung

Mit Marius Schebella (AT) Gertrud Fischbacher (AT) Bettina Landl (AT) Michael Hieslmair (AT) Birgit Schlieps (D) Tinka Legvart & Katharina Schaar (D)

Bild: paulspooner.net, Grafik: Bartholomäus Traubeck

2019

Hintersee Ein RĂźckblick



Index

1. Das war die ORTung 2019, ein RĂźckblick 2. Die KĂźnstlerInnen 2019 Marius Schebella Gertrud Fischbacher Bettina Landl Michael Hieslmair Birgit Schlieps Tinka Legvart & Katharina Schaar 3. Berichte zu den Veranstaltungen Impressum


1. Das war die ORTung 2019, ein Rückblick


Hintersee durchlebt momentan den, für ganz Österreich bevorstehenden, Wandel im Wintertourismus. Besonders Hintersee steht nun vor der Herausforderung, der Schnee ist da, aber die Skilifte stehen still. Was tun in einer Region, die vom Wintertourismus abhängig ist. Demnach, mit dem Schnee kommt nun Kunst und Kultur nach Hintersee. Im Rahmen des Künstlersymposium ORTung wurde der Ort Hintersee (Flachgau) wieder für drei Wochen zur Heim- und Werkstätte von nationalen und internationalen KünstlerInnen. Eine gesunde Gemeinschaft und eigenständige Kultur ist eine mögliche Schiene diesen Wandel selbstbewusst zu gestalten. Verstärkt wird dieses Thema dadurch, dass der regionale Raum immer größere Schwierigkeiten hat Zugehörigkeit herzustellen und der Abwanderung entgegenzutreten.

Mit dem Schnee kommen somit nicht nur sechs zeitgenössische KünstlerInnen nach Hintersee um dort zu arbeiten und zu wirken, sondern wir luden auch zum offenen Dialog zum Thema des Wandels. Neben einigen spannenden Programmpunkten, in denen die künstlerischen Arbeiten im Mittelpunkt stehen, widmeten wir uns besonders im Rahmen des Symposiums, der Lebens umfassenden Realität des Wandels. Erstmals wurde die Teilnahme an der ORTung 2019 als offener Wettbewerb ausgeschrieben. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler aus dem In- und Ausland haben sich beworben und wurden von einer unabhängigen Jury (Wolfgang Seierl, Erik Hable, Kerstin Klimmer) ausgewählt. In diesem Jahr ware die Künstlerinnen aus Salzburg, Wien, Graz und Berlin. Alle haben während ihres Aufenthaltes im Gasthof Hintersee gelebt, gelacht und gearbeitet.



Wir bedanken uns f체r die herzlich f체r eine weitere erfolgreiche ORTung und freuen uns schon auf J채nner 2020. Kerstin Klimmer & R체diger Wassibauer


2. Die KünstlerInnen



Marius Schebella, AT Medienkunst, Musik Marius Schebella arbeitet an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Wissenschaft und ist seit 2008 an der FH Salzburg angestellt. Darßber hinaus ist er seit mehreren Jahren Obmann des Vereins Subnet und als solcher unter anderem in die Programmierung der Medienkunstfestivals Basics und Digital Spring involviert. Seine kßnstlerischen Arbeiten umfassen Kompositionen, Sound- und Video-Installationen und interdisziplinäre Kollaborationen. Thematisch geht es in seinen Arbeiten um die Auseinandersetzung mit zwischenmenschlicher und Mensch-Maschineller Kommunikation, Aspekte der vernetzten Gesellschaft, gesellschaftliche Konventionen, Vorurteile und Strukturen.


Im Rahmen der Ortung entstanden Klang-Arbeiten, von denen drei als „Drei Tänze“ bei der abschließenden Werkschau präsentiert wurden. In den Arbeiten ging ich unterschiedlichen Fragestellungen nach, die das Thema Winter und Wandel teils konkret, teils im übertragenen Sinn behandelten. Ein grundsätzlicher Wandel, mit dem wir bei der Produktion von Musik und Klängen heute konfrontiert sind, ist der Einsatz von Computern und die zunehmend kreativen Arbeitsprozesse, die dabei von Computern übernommen werden. Who is in control? Eine der Kompositionen beschreibt in abstrakter Weise diesen Austausch zwischen Mensch und Maschine, das Verwaschen der klaren Positionen, indem die Klänge, die aus der Maschine kommen nicht mehr von den live erzeugten Klängen zu unterscheiden sind. Es beschäftigt sich mit der Verzweiflung und Kränkung der Menschen, die durch die zunehmende Einflussnahme der digitalen Technologie ihre evolutionäre Vorreiterstellung zu verlieren drohen. Ein zweites Thema kommt aus dem generellen Bedürfnis heraus, nach Dingen zu suchen, denen zu wenig Platz im Bewusstsein gegeben wird. In einem Gespräch schwingen immer zusätzliche Eindrücke mit, die über das Gesagte hinaus gehen – der umgebende Raum, die Stimmung, viele weitere Details. Die Wahrnehmung von Computerprogrammen beschränkt sich allerdings auf (wenige) diskrete Werte und die virtuelle Sicht unserer Welt durch Computer ist limitiert, und hier wird auf der Ebene des Hörens versucht, auch dem scheinbar unbedeutenden Aufmerksamkeit zu widmen.

Letztlich ging es in einer Arbeit auch um das Thema Fake-Truth und an welchem Punkt die Wahrheit beginnt, von der Wahrheit abzufallen, ein schleichender Prozess, der in einer Auflösung von Sinn-Inhalten resultiert.


Gertrud Fischbacher, AT Bildende Kunst Gertrud Fischbachers künstlerische Praxis ist die Natur als Bild das Ergebnis einer interpretativen Recherche. Es geht ihr um die Idealvorstellung und Konstruktion von (reiner) Landschaft, einer Annäherung über das Strukturhafte, Immanente, nicht um die dokumentarische Sicht und Verortung (vgl: Hyperrealität bei Jean Baudrillard). Natur im Zeitalter ihrer allgegenwärtigen Verbildlichung, ihrer medialen Präsenz wird in einer purifizierenden Sicht auf Grundsätzliches hinterfragt: Natur ist Licht, Zeit, Raum, Struktur und die Auseinandersetzung mit Realität bzw. dem äußeren (An-)Schein der Dinge. Dieses Bild der Natur geht in ihren Serien und Werkgruppen einen steten Weg der Veränderung: vom Abbild und Vorbild bewegt sich der Bildfindungs-/ Mutationsprozess kontinuierlich hin zu einem künstlerischen Konstrukt. Themenkomplexe realisiert und inszeniert sie fotografisch (seriell), zeitbasiert als Video und als mediale Rauminstallation. Naturund Landschaftsdarstellungen suggerieren Zeitlosigkeit, im Kontrast zu den verwendeten Medien, bei denen Zeit, die entscheidende Rolle spielt.



Gertrud Fischbacher Die Hinterfragung der fotografischen Möglichkeiten bezüglich eines heute relevanten Naturbildes, beschäftigt mich. In meiner künstlerischen Praxis ist die Natur als Bild das Ergebnis einer interpretativen Recherche. Es geht mir um die Idealvorstellung und Konstruktion von „reiner“ Landschaft, einer Annäherung über das Strukturhafte, Immanente, nicht um die dokumentarische Sicht und Verortung. ORTung 2019 ORTung stellte mir den wunderbaren Rahmen, den Raum und den Ort zur Verfügung, um drei Wochen, im Austausch mit KollegInnen in künstlerischer Reflexion und Kooperation verbringen zu dürfen. In scheinbarer zeitlicher Endlosigkeit, finde ich mich, nach perspektivischen Raumerfahrungen in der Landschaft suchend, im scheinbar leeren Zwischenraum. Der Bildraum löst sich in athmosphärischen Lichtqualitäten auf, der Horizont verschwindet.


In der Natur, werde ich zur Wetterbeobachterin, Naturereignisse und physikalische Phänomene erfahrend. Wenn jede Schneeflocke ein Unikat ist, dann ist jedes Bild von Schnee... Welche Farbe hat der Schnee?


Bettina Landl, AT Kunstgeschichte, Literatur Bettina Landl interessiert sich für Räume und Literatur/Kunst als sozialen Prozess, und widmet sich verstärkt den Themen Poesie und Form. Ein Aufenthalt an einem Ort ist immer Äußerung, Zeichen eines Innen und Außen zugleich: wie es sich zusammensetzt und wodurch; Texte, verstanden als Hybrid– zwischen Prosa, Lyrik, Essay; zwischen Sehen und Fühlen, zwischen bildender Kunst und Literatur; Dialog; ein Forschen: der Versuch die Welt zu verstehen, handhabbar zu machen, Gegenstände abzutasten, sie zu beschreiben, zu kategorisieren, Gesetzmäßigkeiten der Phänomene abzuleiten. Und in all dem Kreisen um Objekte/Gebilde – geistiger und körperlicher zugleich: Bedeutung, ein Glitzern; Träumerei –ein Zustand, der vom ersten Augenblick an vollständig hergestellt ist. Man sieht kaum, wo sie anfängt, und doch beginnt sie immer auf die gleiche Weise. Sie flieht das nahe Objekt, und sogleich ist sie weit weg, anderswo, in dem Raum des Anderswo.



ORTung 2019 | Ein Erfahrungsbericht | Bettina Landl

fertility Auf der Erde angekommen, 
 beginnt die Metamorphose. Labor

Hydrologie

Biosphäre [

] sublimieren

resublimieren

ungeregelter Prozess

und du sagst: 
 das Dasein ist rund
 ist Material und
 the sky is a great place
 you Þnd fragments und du erkennst
 das sich Außšsen der Kšrper

Man fühlt, dass es hier anderes auszudrücken gibt als das, was sich objektiv der Beschreibung darbietet. (Gaston Bachelard) Ich interessiere mich fŸr RŠume und Literatur/Kunst als sozialen Prozess, und widme mich verstŠrkt den Themen Poesie und Form. Ein Aufenthalt an einem Ort ist immer Äußerung, Zeichen eines Innen und Au§en zugleich: wie es sich zusammensetzt und wodurch; Texte, verstanden als Hybrid Ð zwischen Prosa, Lyrik, Essay; zwischen Sehen und FŸhlen, zwischen bildender Kunst und Literatur; Dialog; ein Forschen: der Versuch die Welt zu verstehen, handhabbar zu machen, GegenstŠnde abzutasten, sie zu beschreiben, zu kategorisieren, GesetzmŠ§igkeiten der PhŠnomene abzuleiten. Und in all dem Kreisen um Objekte/Gebilde Ð geistiger und kšrperlicher zugleich: Bedeutung, ein Glitzern; TrŠumerei Ð ein Zustand, der vom ersten Augenblick an vollstŠndig hergestellt ist. Man sieht kaum, wo sie anfŠngt, und doch beginnt sie immer auf die gleiche Weise. Sie ßieht das nahe Objekt, und sogleich ist sie weit weg, anderswo, in dem Raum des Anderswo.


Die ORTung war für mich eine absolut wunderbare Erfahrung. Es waren drei Wochen, in denen ich mich völlig dem Raum und der Zeit anvertrauen konnte. Dem Gewohnten und Gewöhnlichen entrückt, war es mir möglich, mich auf die Entwicklung eines Textes zu konzentrieren, indem ich in einem ersten Schritt den konkreten Ort, die Landschaft und insbesondere die wetterbedingten Veränderungen erforschte. Während des fortwährenden Austauschs mit den anderen Teilnehmenden entstand eine Sammlung an Beobachtungen und Notizen, die in einem zweiten Schritt in plastischer Form auf einem weißen Blatt Papier verortet wurden. Aus einer Vielzahl an Worten und Ideen schienen zwei Begriffe besondere Relevanz zu besitzen und forderten meine weitere Aufmerksamkeit. Ich entschied mich also, mich eingehend mit dem Erhabenen als philosophischem und dem Whiteout als meteorologischem Phänomen zu beschäftigen. In einem dritten Schritt nahm der Text nach und nach seine endgültige Form an. Wenn Ortung ein Verfahren bezeichnet, mit dem die räumliche Position entfernter Objekte im Verhältnis zum Beobachtenden ermittelt wird, ist der entstandene Text in gewisser Weise dessen Analogie, ist Folge einer Messung, Analyse, Reßexion Ð eines Wahrnehmens und Nachdenkens, dem ein Bilden, Begreifen, Um-schreiben entspricht oder vielmehr entspringt.

you are longing for something that brings order into chaos vertikale Linie horizontale Linie Organisation texture and proportion dann: Formulierung die Idee von Schönheit als Ordnung [Strukturprinzip]
 und der natürliche Sinn des Menschen für Ordnung
 ein Entpacken der Informationen, die in der Natur gespeichert sind sie sind nicht gemacht vom Menschen, sondern sie sind da
 [Erkennen]
 Konstruktion


Michael Hieslmair, AT Architektur, Theorie In seiner künstlerischen wie architektonischen Praxis beschäftigt sich Michael Hieslmair mit transnationaler Mobilität, Migration, Massentourismus und Logistik. Neben sozialräumlichen wie urbanistischen Fragestellungen gilt sein besonderes Interesse Formen der Wissensgenerierung und -vermittlung, unter Verwendung von einer Kombination unterschiedlicher Darstellungs-Techniken und -Formaten, wie: Mapping, Comic-Zeichnung, 3-dimensionale Kartographie, Modell. Grundlage dafür bildet der jeweilige Kontext, der sich aus einem Zusammenspiel von sozialen, politischen, ökonomischen wie räumlichen Einflüssen ergibt. Jeder Raum ist durchdrungen von multiplen Teil-Öffentlichkeiten. Darin eingeschrieben liegen relationale Beziehungen und Machtverhältnisse, die sich über eine Auseinandersetzung mit involvierten Akteuren sowie mittels Blick in die (jüngere) Geschichte lesen lassen. Die künstlerischen Arbeiten und selbstinitiierten Ausstellungen — zusammen mit Michael Zinganel — begreift er nicht nur als Endprodukt, sondern als wesentlichen Bestandteil der Recherche. Die prozessual angelegten visuellen ‚Übersetzungen‘ werden dabei zum Trigger, über den es gelingt Leute zu involvieren und verschiedenste Wissensorten zu generieren. In der Verknüpfung von Anliegen, Idee, Material, kombiniert mit Form, wird ein Kreislauf aus stetem Sammeln, Darstellen und Vermitteln in Gang gesetzt.

Auf der Suche nach Sissi In Hintersee kursiert das Gerücht, dass ein Teil der Inneneinrichtung und Ausstattung der legendären „Disko Sissi“ noch in einem Bauernhof als Bar weiter genutzt wird. Außerdem hätten die neuen Besitzer die umfangreiche Platten- und Musikkassetten-Sammlung nach der Schließung der Disko übernommen.

Räume wie Landdiskos sind in kleineren wie mittleren Dörfern wichtige Treffpunkte vorübergehender Gemeinschaften, die sich als Dreieck aus Besucher*innen der Region und außerhalb, sowie den beschäftigten Dienstleistern stets neu formieren. Als „Social Condenser“ für eine große Bandbreite sozialer


Milieus, eröffnen solche Orte einen sinnlichen Freiraum. Der Innenraum der Disko war in den Nächten eine eigene, besondere ‚Welt‘ auf Zeit, atmosphärisch eine Mischung aus spezieller Lichtstimmung, lauter Musik, Rauch, Alkohol und teils ausgelassenen feiernden Gästen. In den langen Nächten Erlebtes hat sich tief ins kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen an Besucher*innen eingeschrieben. Um mehr über die den Stellenwert, die Gestaltung und das soziale Gefüge in der Disko Sissi zu erfahren, bediente sich der Autor eines in der Kulturanthropologie gebräuchlichen Ansatzes. Er ließ sich, ausgehend von einer Begegnung mit einem örtlichen Stammgast im Gasthaus Ebner und einem Gespräch über die verschwundene Disko an weitere ehemalige Gäste weitervermitteln – von einem/ einer Gesprächspartner*in zum/ zur Nächsten. Neben Erzählungen suchte er auch nach originalen Artefakten und Fotos. Bereits in einem der ersten Gespräche mit einem

Paar das sich in den 1990er Jahren in der Disko Sissi kennengelernt hatte, wurde er an Frau Rosi Kloiber weiter gereicht, als jemand jemand beschrieben der im Ort dafür bekannt ist so gut wie‚alles‘ zu fotografieren. Neben der Dokumentation aller nur erdenklichen Anlässe der Dorfgemeinschaft, startete Rosi Kloiber 1993 ihr Projekt, jedes Haus in Hintersee in weniger als einem Sommer zu fotografieren. Das Ergebnis ihrer konzeptuellen Recherche fasste sie in einem dicken Fotoalbum zusammen. Genau darin sollte sich auch ein Foto des Disko-Gebäudes finden. Doch das Foto von aussen war recht unspektakulär, weil es tagsüber aufgenommen worden war und die Hauptattraktion der Diskoraum im Keller lag. Auch bei weiteren Treffen mit ehemaligen Disko-Besucher*innen blieb die Suche nach Fotos erfolglos. In Folge wurde die Recherche in Form einer skizzenhaft zeichnerischen Rekonstruktion v.a. des Innenraums der Disko Sissi basierend auf den Gesprächen mit ehemaligen Besucher*innen weiter geführt.


Jedes Haus im Tal von Hintersee Fasziniert vom Fotoalbum, der obsessiven wie konzeptuellen Herangehensweise der Gestalterin und Fotografin Rosi Kloiber, beschlossen Michael Hieslmair und Gertrud Fischbacher ausgehend von diesem Fund eine künstlerische Arbeit zu entwickeln. Rosi Kloibers Fotoalbum entstand im Sommer 1993. Für ihre dokumentarisch angelegten Erkundungen war zu Fuss oder mit dem Rad unterwegs. Zu im Tal weiter entfernt liegenden Gebäuden wurde sie mangels Führerschein von ihrem Mann mit dem Auto gefahren. Die Fotos waren von Beginn an als Serie gedacht, der Bildausschnitt jeweils sorgfältig und möglichst selbstähnlich gewählt. Unter diesen (wie viele genau?) ‚portraitierten‘ Gebäuden finden sich Typologien wie Bauernhöfe, Stadel, Wirtschaftsgebäude, Einfamilienhäuser, Garagen, Bienenhäuser, die Kirche, Kapellen, aber auch Bildstöcke, Zäune, Brunnen, Garten-Skulpturen, Naturdenkmale, Miniaturlandschaften und Arrangements in Gärten, usf. Durch die Fülle und die akkurate Ordnung der ‚Einzelportraits’ erschließt sich der dichte Überblick der Kulturlandschaft des Tales, insbesondere beim Durchblättern des Albums. Ähnlich einem Soziogramm der Talbewohner*innen wird in dieser Serie der Wandel von Gestaltungsansätzen, Phasen des Umbaus, die Modernisierungsschübe deutlich. Darüber hinaus erscheinen die einzelnen Gebäude als Assemblage von Zeichen, die neben reiner Zweckmäßigkeit mitunter auch als Selbstdarstellung seiner Bewohner*innen gelesen werden können.

Um das Album als Objekt aber auch in seiner Gesamtheit zu erschließen, haben die beiden Künstler*innen Frau Kloibers Hände beim blättern durch das Album an ihrem Küchentisch gefilmt – unter Verwendung einer Haushalts-Stehleiter zur improvisierten Verlängerung eines konventionellen Kamera-Stativs. Für die Präsentation als Installation wird die Perspektive umgedreht und auf diesem Konstrukt anstatt der Kamera ein Projektor montiert, der auf ein weisses Tischtuch gerichtet ist. Als weitere dokumentarische Ebene zum Video fungiert eine Fotoserie, die Einstellungen aus der Wohnumgebung sowie von den Dreharbeiten zeigt in Kombination mit der geliehenen Fototasche von Frau Rosi Kloiber. Obwohl aus einem völlig anderen kulturellen Kontext erinnert das Album in seiner konzeptionellen Strenge an Ed Ruscha. Der berühmte US-Amerikanischen Künstler wurde insbesondere durch seine selbst produzierten und publizierten Foto-Künstlerbücher, wie „26 Gasoline Stations“ oder „Every Building on the Sunset Strip“ bekannt. Er wurde damit zum Dokumentaristen des autoorientierten Amerika der 1960er und 1970er Jahre. In Anlehnung daran trägt die Videoinstallation den Titel „Jedes Haus im Tal von Hintersee“.



Birgit Schlieps, DE Fotografie, Theorie Urbane Bildhauerei: Areal der künstlerischen Arbeit von Birgit Schlieps ist der urbane Raum als Phantom, Mythos und Konstruktion. Der von geschichtlichen Entwicklungen und Repräsentationen durchwirkte urbane Raum ist wie eine Skulptur, die betrachtet und gleichzeitig begangen werden kann. Urbane Landschaften werden zum bildhauerischen Material für Übersetzungen in verschiedene Medien wie Fotografie, Video, Zeichnung, Text, dreidimensionale Objekte und raumbezogene Installationen. Birgit Schlieps interessiert sich für die zufälligen und psychischen Dimensionen des Bildes, die spekulative Erzählungen, unsichtbare Landschaften und Landschaften mit unsichtbaren Geschichten hervorrufen. Die entstehenden künstlerischen Arbeiten funktionieren wie Ellipsen, die mit leichten Bedeutungsverschiebungen in der Repräsentation und dem Gebrauch eines Materials, eines Mediums ein Thema umkreisen. Im Sinne einer investigativen und imaginativen Revision der Moderne, versteht sich ihre Arbeit als eine Form bildnerischer Gegenwartsarchäologie mit der die komplexe Topographie und Topologie eines Ortes wahrnehmbar wird.


Nahezu eine Woche waren wir aufgrund des extremen Schneefalls mehr oder weniger eingeschlossen im Dorf Hintersee bei Salzburg. Es war zu gefährlich zum Spazierengehen im Wald, da schwer mit Schnee beladene Bäume drohten umzufallen oder deren Äste abzubrechen. Keine Skiloipen wurden gespurt, da alle verfügbaren Kräfte damit beschäftigt waren, den Schnee von den Dächern und den Straßen zu schaufeln. Die Straßen wurden durch die Schneemaßen zu Schluchten und eine enorme Maschinenkraft war im Einsatz um den Schnee beiseite zu schaffen, als hätte er eine gesteinsähnliche nicht schmelzende Materialität. Und der nächstgelegene Skilift stand sowieso still, weil der chinesische Investor nichts für dessen Wiederinbetriebnahme in die Wege geleitet hatte. Aber das ist eine andere Geschichte und hat nichts mit den ungewöhnlichen Schneefällen zu tun. Oder es sind zwei Geschichten, die ineinander greifen, die der globalen Ökonomie und die,

der mehr und mehr von Menschen beeinflussten Naturgewalten. Tagtäglich gab es Berichte von Unvorsichtigen, die sich trotz vehementer Warnungen zu Skiwanderungen und Abfahrten abseits der Pisten verleiten ließen. Als ob die Gefahr des eigenen Verschwindens in einem Whiteout eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft besäße. Ein Whiteout ist ein optisches Phänomen hervorgerufen durch eine meteorologisch bedingte Zusammensetzung der Atmosphäre bei dem die Reichweite des Sehfelds und die Kontrastwahrnehmung extrem eingeschränkt sind, die zu totaler Orientierungslosigkeit führen kann. Verantwortlich dafür ist ein blockiertes, reduziertes und gestreutes Sonnenlicht, dass entsteht durch ein Zusammentreffen von Sonnenlicht mit Schneekristallen fallenden Schnees, Wassertröpfchen tief liegender Wolken oder lokalen Nebels oder mit extrem windverwirbeltem Wasser und Schnee.


Mich interessiert diese Negation als Gegenstand einer möglichen Darstellung. Der russische Konstruktivist Kasimir Malewitsch hatte nach dem 1915 entstandenen schwarzen Quadrat auf weißem Grund 1918/19 ein weiteres gemalt: ein Weißes auf weißem Grund. Er unterwirft damit die Form des Quadrats selbst dem Postulat der Gegenstandslosigkeit. Um diese Negation darstellen zu können muss er zwischen der eigentlich gewünschten Nicht-Differenzierung und der notwendigen Differenzierung im Gebrauch unterschiedlicher Weiß-Töne hin- und her oszillieren. In meinem Schneediagramm versuche ich in eine weiße Fläche vermittelt über den Bildausschnitt einer Kamera auszukreuzen. Ich benötige dafür eine Vorzeichnung, um das »Kreuzen« in die Bildmitte setzen zu können. Die Vorzeichnung wirkt im Bild planparallel zur Bildebene, während beim Nachzeichnen mit Langlaufschiern deutlich wird, dass die weiße Fläche eine perspektivische Ausdehnung hat. Darüberhinaus ist die ganze Zeichnung in der körperlichen Bewegung als eine Schlaufe angelegt, die sich teilweise jeweils seitlich im Off-Screen, dann oben an der Bildkante oder »hinten im Feld« als horizontale Verbindungslinie ereignet. Und dann am Ende und am Anfang nur hörbar und nicht sichtbar ist als ein sich Entfernen und sich wieder Annähern an die Kamera. Die gewählte Qualität der Aufnahme erzeugt zusätzlich ein Flimmern, der den einzelnen weiß-farbigen Pixeln die bildliche Konsistenz von Schneekristallen verleiht. Die Bildebene selbst oszilliert ebenso zwischen der Funktionsweise eines weißen Blattes Papier und der Darstellung eines schneebedeckten Feldes. Die zu einem Parallelogramm verzogene Deckenprojektion in der Hinterseeer Dorfkirche unterstützte den Eindruck eines beweglichen Blatt Papiers. Die Eisenkette des zentralen Kirchenleuchters warf einen weiteren, das Bild peripher kreuzenden Schatten und ein hölzerner Arm in einem hellblauen Gewand, befestigt an einer Seitenkanzel, winkte mit einem Kruzifix.



Tinka Legvart & Katharina Schaar, DE Theater, Musik, Film, Medienkunst Katharina Schaar In Theorie und künstlerischer Praxis untersucht Katharina Schaar besonders die Schnittstelle zwischen Film und Kunst, sowohl formal als auch inhaltlich. Theoretisch hat sie sich wiederholt mit der Annäherung von Kunst und Kino auf der Ebene räumlicher Spezifika (Black Box im White Cube), der Rezeptionsbedingungen (bewegte vs. unbewegte Betrachter) und der künstlerischen Aneignung von Kinofilmen in Videoinstallationen beschäftigt. Zunehmend dominiert das Dokumentarische in ihrer Arbeit. Tinka Legvart Born in Slovenia, lives and works in Berlin. Tinka Legvart is a Theatre-, Film- and Media-scientist, designer and artist, experienced in theatre and dance performance, production, theatre management and theory. She is especially interested in participatory designand art research/methods regarding urban and social structures in public space.


Die ORTung 2019 stand mit dem Schneechaos im österreichischen Hintersee im Januar unter besonderen Vorzeichen, die wir in unsere künstlerische Arbeit, bestehend aus dem Video PULVER und der Soundinstallation SKI-NAH, integriert haben. Die Feuerwehrleute als auch die Menschen in Hintersee waren rund um die Uhr im Einsatz, um den Schneemassen von 94 Millionen Kubikmeter Einhalt zu gebieten. In vielen Kulturen gibt es Wettergötter, Wetter selbst wurde lange Zeit als Kommunikation der Götter mit den Menschen interpretiert. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts werden Wettererscheinungen weitläufig säkularisiert. Noch heute werden Wettertiefs und -hochs durch menschliche Namen personifiziert. Schnee ist ein Verwandlungskünstler des Wassers und betont mit seiner gewaltig-stillen Macht die Fragilität alles Organischem, die Verletzlichkeit des Menschen. Durch sozialen und technischen Fortschritt birgt der Winter weniger Gefahren und ihm werden zunehmen romantische Qualitäten zugeschrieben: Während in vorindustrieller Zeit der Schutz vor Schnee im Vordergrund stand, ist er mittlerweile Bedingung eines bedeutenden Tourismuszweigs. Die Videoinstallation PULVER (4:22 Minuten, Loop) zeigt zunächst die dem Schnee immanente Erhabenheit und setzt zunehmend den Kampf gegen die erdrückenden Schneemassen ins Bild, zunächst durch diverse Maschinen und schließlich im Zweikampf Schnee - Mensch. Der Split Screen steht einerseits die Dialektik des Schnees aus Bedrohung und Schönheit als auch für die doppelte Autorschaft. Die Soundinstallation SKI-NAH (3:01, Loop) nimmt die misslungene Investition eines chinesischen Unternehmers in das Skigebiet Gaissau Hintersee ins Visier, durch die der einzige Skilift des Ortes zum Stillstand verpflichtet ist. Zusammenge-

schnittene Audioaufnahmen eines amerikanischen Politikers, der gern seine Freundschaft mit China betont, dienen als Kommentar zur durch die Globalisierung zugezogene Schlinge. Die zunehmende Globalisierung seit Beginn des dritten Millenniums wird auch als „Krisen-Epoche“ beschrieben. In der chinesischen Sprache hat der Begriff „Krise“ mehr als eine Bedeutung: Der erste Wortteil des entsprechenden chinesischen Wortes „weji 危機“ steht für „Gefahr“, während der zweite Wortteil „Gelegenheit bzw. Chance“ bedeutet. Die Krise, die mit der Globalisierung einhergeht, birgt also sowohl Chancen als auch Gefahren.




3. Berichte zu den Veranstaltungen


Die intensiven Arbeitstage wurden von unterschiedlichsten Veranstaltungen begleitet, die teilweise auch öffentlich zugänglich waren. Zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und dem zwanglosen Kennenlernen der Gruppe untereinander hat diesesmal der viele Schnee beigetragen. Da die Straßen

zeitweise gesperrt waren, das Internet aber glücklicherweise funktionstüchtig war und auch genügend Lebensmittel im Haus waren, fand im wahrsten Sinne eine ausgiebige Arbeits- Klausur statt während dieser viele Ideen und Kooperationen für Folgeprojekte entstanden.


Am ersten Wochenende stellten die KünstlerInnen sich und ihr Arbeitsgebiet vor. Gefolgt von einem Symposium zum Thema “Winter und Wandel”. Nach einem kurzen Impuls von Reinhard Lanner (Salzburger Tourismusprofi, Leiter der Digitalisierungsagenden (Chief Digital Officer) und Ansprechpartner Tourismuswirtschaft bei der Österreich Werbung) diskutierten wir offen über das Thema des Wandels und des Winters. Gemeinsam mit den ORTungs KünstlerInnen konnten wir so einen neuen Blickwinkel auf dieses Thema öffnen und vergangene Ansätze hinterfragen. Am Sonntag gab es trotz erschwerter Erreichbarkeit und ungünstigen Wetterbedingungen eine gut besuchte und mit regem Austausch begleitete Winterwanderung.

Am zweiten Wochenende besprachen wir die ersten Erfahrungen und Arbeitsfortschritte mit den KünstlerInnen. In Hintersee wurde von den KünstlerInnen bereits intensiv zur Vergangenheit recherchiert und natürlich war auch der Schnee sowie die gesperrten Lifte ein großes Thema. Am Samstag sind wir mit Fackeln durch riesige Schneewände gewandert. Gemeinsam mit einem Herren Chor, dieser stimmte bei der neu eingeweihten Stille Nacht Kapelle auch gleich “Stille Nacht” an. Zum Aufwärmen gab es anschließend Glühwein und spannende Gespräche am Lagerfeuer. Weil es so schön war, sind wir am Sonntag gleich nochmal gewandert um den Kopf frei zu machen und die letzte Arbeitswoche einzuleiten.


Die wieder sehr gelungene Werkschau zeigte die entstandenen Arbeiten und die KünstlerInnen führten rege Gespräche mit den Interessierten zu ihren Werken. Gab es wirklich mal eine Disko Sissi (es gibt tatsächlich keine Fotos von damals?)? Wie war das mit dem Transport in Hintersee? Warum wurde das Skigebiet gesperrt? SKI-NAH? Wie ist das mit dem White Out? Und kann sich die Orgel selber spielen? Hört man den Unterschied? ….so viele Fragen…

Weitere Beiträge auf schmiede.ca/ORTung Bilder: instagram.com/explore/tags/ortung19 und eine wunderschöne Dokumentation von Fräulein Flora auf https://fraeuleinflora. pageflow.io/ortung#190858




Impressum Herausgeber: Schmiede Hallein, Verein zur Förderung der digitalen Kultur ZVR: 887186914 Text: Rüdiger Wassibauer, Kerstin Klimmer, Bettina Landl, Birgit Schlieps, Gertrud Fischbacher, Marius Schebella, Michael Hieslmair, Tinka Legvart & Katharina Schaar Fotocredits: Fräulein Flora, Schmiede Hallein, Birgit Schlieps, Paul Spooner Grafik & Layout: Bartholomäus Traubeck Titelbild: paulspooner.at

Gemeinde Hintersee



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