Melchior Werdenberg. Teilwelten. LESEPROBE

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Melchior Werdenberg

Teilwelten –Geschichten vom Werden

Erzählungen

Melchior Werdenberg Teilwelten –

Geschichten vom Werden

Erzählungen

Elster & Salis wird mit einem Förderbeitrag des Bundesamtes für Kultur für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Verlag

Melchior Werdenberg

Teilwelten – Geschichten vom Werden Erzählungen

Elster & Salis AG, Zürich info@elstersalis.com

www.elstersalis.com

Lektorat/Korrektorat Satz

Umschlaggestaltung

Umschlagbild

Gesamtrealisation

Gesamtherstellung

Patrick Schär

Peter Löffelholz

André Gstettenhofer

Hans Melchior Baumgartner (1855–1919); ca. 1918, unbekannter Fotograf.

www.torat.ch

CPI Books GmbH, Leck

Die Originalauflage erschien 2014 bei der Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich.

Neuauflage © 2021, Elster & Salis AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-03930-016-7

Printed in Germany

5 Inhalt Die Bergfee 7 Das Eiswürfelschnitzen 9 Die Brücke 13 Der schwarze Mann 19 Die Schlange 25 Die dumme Kuh 29 Das Schweigen 35 Sigurd 43 Bigger 51 Lebensretter 55 Wasserstoffsuperoxid 61 Fruchtsalat 65 Sonntags 71 Winterabzug 75 Der Vogt 85 Der Tod kommt über Nacht 87 Die schwarzen Hefte 91 Das Gefühl 95 Schau dich nicht um 101 Friedhof zu Matt 105 Wie mein Vater seinen besten Freund verlor 109 Lisa 117 Oreberg 121

Hoch über dem kleinen Dorf Matt, ein paar hundert Meter, auf ein paar Wiesen, die dieses Wort kaum verdienen, weil alles steil und stotzig ist, leben seit Generationen auf einem kleinen Hof, mehr Hütte als Haus, die Werdenbergs. Oreberg heißt ihr Hoschet, das keinen Flecken ebener Erde sein Eigen nennt. Wind und Wetter überfahren es, wie Gott will.

Im strengen Winter 1912, der Schnee im Tal liegt zwei Meter hoch und die Kinder auf dem Oreberg dürfen seit Wochen nicht mehr zur Schule gehen, erkrankt das Kleinste, das Miggeli. Das Fieber hat es gepackt, es wird geschüttelt, glüht vor Hitze und friert doch ganz fürchterlich. Nach drei Tagen hustet das Kleine Blut.

Der Vater bindet sich wortlos die Schneeschuhe um. Er wickelt das Miggeli, klein und leicht wie ein Laib Brot, in eine Wolldecke und setzt es in seinen Rucksack. Ein kurzer Blick zurück in die furchtsamen Kinderaugen der Geschwister, ein verhaltener Wink. Er macht sich auf den Weg. Der Rucksack verschwindet im Schneegestöber. Irgendwann hört er das Miggeli nicht mehr husten. Er stampft weiter, kommt immer wieder ins Rutschen, befreit sich aus den weißen Massen, die ihn zu erdrücken drohen. Kein

7 Die Bergfee

Weg, nur eine Richtung ist vorgegeben. Nach Stunden im Tal angekommen, den gefrorenen Schweiß am Körper spürt er nicht, geht er am Doktorhaus vorbei zur Kirche.

Anderntags kehrt der Vater zurück zum Oreberg. Mutter und Kinder erwarten ihn hoffnungsfroh. »Ja, das Miggeli, dem geht es gut, die Bergfee hat es zu sich genommen«, berichtet er in kurzen Worten seinen Liebsten, die seine Tränen im schneenassen Gesicht nicht sehen sollen.

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Das Eiswürfelschnitzen

Damals, als es noch wirkliche Winter gab, mit Schnee und Eis, sorgte im Kleintal, dieser schattenlosen Zahnlücke zuhinterst in der Glarner Bergwelt, alljährlich ein Spiel für Unterhaltung. Es war mehr als nur ein Spiel, es war ein Wettbewerb, mit dem Unmöglichen zum Ziel. Am Samstagabend versammelten sich die Kinder auf dem Dorfplatz, unweit der Kirche, die zweimal im Jahr durch das Martinsloch, eine hausgroße Öffnung im Berg, beschienen wird. Wer den Mut hatte, sich am Spiel zu beteiligen, der erschien mit einem kleinen Rüstmesser aus Mutters Küche. Die älteren Schüler brachten große Eisbrocken, die sie aus der winters trägen, halb zugefrorenen Sernf herausgebrochen hatten. Die Brocken wurden verteilt, und es galt, daraus einen Würfel zu schnitzen. Wem dies gelang, dem stand die noch viel schwerere Aufgabe bevor, die sechs Seiten mit je einer anderen Augenzahl zu versehen.

Die Erinnerung an den Abend, als es Geisser Adams Jüngstem gelungen war, auf der letzten noch zu bearbeitenden Seite nach dem fünften Auge auch noch das sechste auszustechen, ist unter den Beteiligten wohl erhalten. Und wer damals nicht dabei war, dem wurde es so oft erzählt, dass es ihm vorkommen musste, als sei auch er dabei gewesen. Der Sepp hielt seinen Eiswürfel nach vollendeter

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Tat in den Händen, hoch über dem Kopf, und drehte sich triumphierend im Kreise. Wie strahlte er, es war, als schiene die Sonne gerade durchs Loch auf sein Haupt.

Da tritt ein kleines hutzeliges Männchen, niemand hat es beachtet, niemand weiß, woher es kommt, aus dem Kreis der Schaulustigen hervor.

»Adams Sohn«, schreit es mit krächzender Stimme, »du freust dich über nichts. Du hast ja nur Eis, nur gefrorenes Wasser in den Händen, gleich wird dein Erfolg zerrinnen. Hör auf mich, versuche dein Glück, für jedes geworfene Auge hast du einen Wunsch frei.«

Sepp ist gefangen von den Worten des Unbekannten. Hat er nichts, oder kann er sich zumindest einen, vielleicht aber auch sechs Wünsche erfüllen? Er wirft den Eiswürfel auf den Boden, wo er in viele Stücke zerspringt. Ein Aufschrei geht durch die Menge, aber da ist das Männchen schon verschwunden und wird nie mehr gesehen.

Auch Geisser Adams Jüngster verlässt am anderen Tag das kleine Bergtal und kehrt nie wieder zurück.

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Die Schweiz ist ein Land von Bergen und Tälern. Und der Kanton Glarus steht dabei in der ersten Reihe. Vorne gibt es etwas Land, dem Sumpf abgerungen, aber hinten wirklich nur Berg und Tal. Und in der Mitte des kleineren der zwei Täler sitzt die Gemeinde Matt, etwas betulich auf einem schönen Fleckchen Erde, auf Kies, den das Wasser während Jahrhunderten heruntergespült hat, und auf ein paar Kartoffeläckern, die mit Liebe und Mühe über viele Jahre gepflegt wurden. In diesem kleinen Dorf, das lange um den letzten Metzger und Bäcker gefürchtet hat und dessen Antlitz trotz der imposanten Bergwelt von einer mächtigen Kirche geprägt wird, übertragen die Dorfkinder schon seit Jahrzehnten von einer Generation auf die andere ein Geheimnis, welches sie den Erwachsenen tunlichst verschweigen. Das Spezielle an diesem Schatz des ungeteilten Wissens besteht darin, dass die Großen, kaum haben sie andere Interessen wie Beruf und Familie vor Augen, jede Erinnerung daran verlieren. So kommt es, dass sich in Matt in Vollmondnächten Dinge abspielen, von denen niemand außer den Matter Kindern die geringste Ahnung hat.

Immer wenn es Vollmond ist, kurz vor Mitternacht, wenn die Eltern schon schlafen, schleichen sich die Kinder im

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Friedhof zu Matt

Alter von sechs bis zwölf Jahren heimlich aus den Häusern. Sie versammeln sich still und leise auf dem Platz vor dem Schulhaus. Dort bilden sie einen Kreis und versichern sich gegenseitig, dass über alles, was in dieser Nacht geschehen wird, eisern zu schweigen sei. Jetzt öffnen sie den Kreis, bilden eine Kette und überqueren Hand in Hand die Dorfstraße. Auf Zehenspitzen betreten sie durch das Eingangstor in der Friedhofsmauer das Kirchgelände. Behutsam beschreiten sie den Kiesweg neben der Kirche, möglichst jeden Laut vermeidend. Am Ende der Mauer biegen sie nach rechts ab und versammeln sich vor der dunklen Eichenpforte, dem Eingang zur mächtigen Kirche zu Matt. Sie bleiben verborgen im Schutz des dunklen Portals. Rechts und links von ihnen widerspiegelt die helle Kirchenmauer das silberne Licht des Mondes und wirft einen bläulichen Schein auf die Gräber der Toten, die sich in geometrischer Sorgfalt um die Kirche scharen.

Die Kinder brauchen nicht lange zu warten. Schlag zwölf weicht die Ruhe auf dem Friedhof. Es scheint ihnen, als gehe ein Zittern durch die wohlgeordneten Gräberreihen. Obwohl kein Wind weht, beginnen die Blumen auf den Beeten zu schwanken. Bei einigen Gräbern durchstoßen Knochenhände das Erdreich, ihnen folgen Arme, Schädel tauchen auf, drehen sich, als wollten sie trotz der leeren Augenhöhlen ihre Umgebung erfassen. Atemlos beobachten die Kinder die Skelette, die in weißen Totenhemden den Gräbern entsteigen. Manche tun sich schwer, brauchen einen oder zwei Versuche, bis sie das Totenbett verlassen

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können, als würde der Teufel sie daran hindern. Andere springen wie junge Hirsche aus dem Grab, begierig nach Freiheit, junge Jäger vielleicht, einst auf der Jagd abgestürzt oder vom Blitz getroffen. Zwei Kleinkinder krabbeln wie verknöcherte Engerlinge aus dem Friedhofsacker. Eine Gruppe von sicher zwanzig Skeletten steht schlussendlich auf dem kiesigen Friedhofsboden. Ihre Zahl ist größer als die der staunenden Kinder. Und nun bewegen sich diese Knochengestalten aufeinander zu, bilden Paare, manchmal passend, manchmal ungleich. Behutsam finden sie sich zum gemeinsamen Tanz. Als würden sie Wärme suchen, umschlingen sie sich. Das Klappern ihrer Knochen gibt den Rhythmus vor, zu dem sich die Leichenschar zuerst noch verhalten, mit der Zeit immer wilder, im Schein des Vollmondes bewegt.

So tanzen auf dem Friedhof zu Matt in jeder Vollmondnacht die Toten, die noch nicht in den Himmel gekommen sind. Im barmherzigen Licht des Mondes wollen sie sich Gott in Erinnerung rufen, um auf sein Geheiß vom nasskalten, schiefrigen Lager erlöst zu werden. Und sollten sie nicht erhört werden, so würde doch die Mühsal des Wartens durch die Abwechslung des nächtlichen Tanzens gemildert.

»Vater, hör auf mit diesem Unsinn, was erzählst du den Kindern, sie werden nicht mehr einschlafen können!«

Der Tod ist nicht das Ende aller Tage, wollte der Großvater noch sagen, unterdrückt das aber. Er wendet sich

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lächelnd der Mutter zu, die mit vorwurfsvollem Blick unter der Tür steht. »Mach dir keine Sorgen«, sagt er zu ihr, »was heute im Alltag den Kindern zugemutet wird, geht doch viel weiter. Ich wollte nur unterhalten, und dies zugegeben mit dem Gedanken, dass mich meine Enkel einmal besuchen kommen, wenn ich dort unten liege. Und wenn sie nicht kommen, dann werden sie sich bestimmt an mich und meine Geschichten erinnern.«

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Sie wuchsen gemeinsam auf, in den Bergen, in einem armen Bauerndorf. Die Kinder hörten es später nicht gerne, wenn der Vater davon erzählte, dass sie damals keine Unterhosen trugen, aus Geldmangel. Hans war der Beste in seiner Klasse, aber das änderte nichts daran, dass das Geld für den Weg in die Sekundarschule fehlte. Nach acht Jahren ging er als Hilfsarbeiter in die Fabrik. Sein Freund Köbi, ein Nachbarskind und ein paar Jahre jünger, konnte in derselben Fabrik eine Elektrikerlehre absolvieren, aber da war Hans der Enge des Bergtals schon entschwunden. Bei der Grenzwache hatte sich ihm ein Tor geöffnet, für ihn wurde die Schweiz die neue Heimat, die er am Rhein zu beschützen hatte. Köbi hingegen verließ nie seine kleine Bergwelt, das Chliital war ihm groß genug. Weiter als Glarus wollte er nicht, ein einmaliger Ausflug nach Weesen ließ ihn schon den Heimatschmerz verspüren. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, am Weltgeschehen interessiert teilzunehmen. Er hatte stets zu allem eine gefestigte Meinung. Er konnte die Amerikaner ebenso gut verorten wie die Russen, die Chinesen und natürlich die Deutschen. In seinem Dachstock sammelte er alte Waffen und Militäruniformen. Vor allem die Säbel und die Flinten hatten es ihm angetan. Wenn Hans seine Mutter besuchte, trafen sie sich zum Jass

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Wie mein Vater seinen besten Freund verlor

in der Sonne, aber dem Politisieren mit Köbi ging er aus dem Weg. Der hatte aus der Zeitung herausgenommen, was ihm in den Kram passte, und davon wich er kein Jota ab – basta. Aber Jassen konnte er, er reklamierte auch nicht, wenn er, wie meist gegen Hans, verlor.

Hans und Köbi waren schon etwas in die Jahre gekommen, da äußerte der Jüngere nach einem Jass den Wunsch, ein eigenes Auto zu besitzen. Er habe schon ein paar Fahrstunden genommen, aber hier hinten im Tal gebe es ja keine günstigen Occasionen. Er, Hans, der Weltgewandte, solle sich doch in Zürich für ihn nach einem Wagen umsehen. Hans war kein guter Geschäftsmann. Er fürchtete sogleich, er könnte von einem gewieften Händler übers Ohr gehauen werden, zum Nachteil seines Freundes. Und dieser würde es ihm dann verargen. Aber nein sagen konnte er auch nicht. Köbi dankte es ihm überschwänglich. »Du hast freie Hand, 7000 Franken darf er kosten.«

Zwei Wochen später fuhr Hans mit einem silberblauen Käfer in sein Heimatdorf. Während der ganzen Fahrt hatte er schweißnasse Hände. Es durfte nichts passieren, der Motor nicht aussetzen, kein Steinchen den Lack verkratzen. Köbi hatte schon Stunden auf dem Bänklein vor seinem Haus gewartet. Als er den Käfer auf der Dorfstraße heranfahren sah, rannte er mit großen Schritten hinunter zum Haus von Hans, das an der Straße stand. Fast hätte sich Hans beim Anhalten verschaltet, den hässlichen Ton hatte er schon im Ohr, aber er konnte rechtzeitig nochmals auf die Kupplung stehen. Der Bremsstopp fiel etwas grob

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aus, aber Köbi als Fahrschüler fiel das nicht auf, zu groß war seine Freude über den Prachtswagen. Hans übergab ihm feierlich die Schlüssel und hatte gleich noch eine zweite Überraschung bereit. Er hatte unmittelbar an der Straße eine Fertiggarage aufstellen lassen. Nach der Pensionierung wollte er hierher zurückkehren, aber jetzt sollte sie Köbi zur Verfügung stehen.

Köbi sorgte für seinen Käfer wie für ein leibliches Kind. Nie wäre er in eine Waschstraße gefahren, es gab auch keine im ganzen Tal. Liebevoll strich er mit dem schaumigen Schwamm über das kalte Metall und lederte dann den nassen Wagen trocken. Er polierte mit Watte die filigranen Zierleisten aus Chrom und bestrich die Reifen mit Frostschutz, um auch sie glänzen zu lassen. Köbi war glücklich mit seinem Käfer. Meist fuhr er im zweiten Gang hinunter zur Fabrik, manchmal durch das Dorf und einmal im Monat in den Hauptort zum Großeinkauf. Wenn er überholt wurde, ärgerte ihn das nicht. Ihm gefiel das Motorengeräusch seines Käfers, speziell im zweiten Gang. Den dritten Gang hatte er gedanklich etwas in Vergessenheit geraten lassen, den vierten kannte er nicht. Den Hebel mit dem runden Knopf am Ende zuerst nach rechts und dann nach oben zu bewegen, das schien ihm irgendwie fremd, unpassend. Er ließ es besser sein.

Nach dem ersten Winter trübte sich die Freude von Köbi. Der Käfer sah noch immer sehr gut aus, strahlte dank der Hochglanzpolitur so sehr, dass sich die Bergwände links

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und rechts in ihm spiegelten. Aber seinem kritischen Auge war nicht entgangen, dass sich punktkleine Rostflecklein, so klein wie die roten Steinläuse auf dem Mäuerchen neben der Garage, bemerkbar machten. Köbi schluckte seinen Ärger hinunter und machte sich über Rostschutzmittel schlau. Den Wagen stellte er immer in die Garage, sommers wie winters. Und trotzdem vermehrten und vergrößerten sich die Rostflecken auf den Kotflügeln, den Türen, der Kühlerhaube. Er konnte es nicht fassen. Hatte der Händler ihm mit gefälschten Papieren ein altes Auto angedreht? Hatte Hans sich eine Schwarte andrehen lassen oder selbst am überhöhten Kaufpreis partizipiert? Köbi hatte schlaflose Nächte. Er begann, an Hans zu zweifeln. Hatte er seinem Freund zu Unrecht vertraut?

Am Muttertag besuchte Hans seine Mutter. Nach dem Essen ging er in die Sonne zum Jass mit Köbi. Der war etwas missmutig, rückte aber nach einigen Runden mit seinem Hader heraus. »Mein Käfer hat überall Rost, dabei ist er doch keine fünf Jahre alt. Habt ihr mich beschissen?« Das letzte Wort hätte er nicht zu sagen brauchen. Hans hatte bereits zuvor einen hochroten Kopf bekommen. Er hatte getan, was er konnte, aber er war sich seiner Sache nie sicher gewesen. Er verstand zu wenig von Autos, aber hatte seinem Freund in den Bergen den gewünschten Gefallen erweisen müssen. Jetzt geriet er ohne Verschulden in Verdacht und wusste nicht, wie er sich wehren sollte. Er könne nichts tun, die Garantie sei abgelaufen, Occasionen seien stets ein Risiko. Die Mitjasser schwiegen betreten, die beiden

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Freunde beendeten ihre Diskussion, aber nach zwei weiteren Runden wurde der Jass vorzeitig abgebrochen.

Nach einem weiteren Winter war der Käfer unansehnlich geworden. Die vielfältigen Rostschutzmaßnahmen von Köbi hatten nicht gegriffen. Köbi ging seinem Freund aus dem Weg. Auch als Hans nach seiner Pensionierung ins Elternhaus zurückzog und sein nächster Nachbar wurde, traf man sich nicht mehr zum Jass in der Sonne. Der Käfer war verschwunden, und Köbi zog sich vorzeitig ins einzige Altersheim im Tal zurück, das zwei Dörfer weiter hinten betrieben wurde.

Nun stellte Hans seinen Mercedes in die leer gewordene Garage. Auch er hatte das Fahrzeug als Occasion erworben, sonst hätte er sich diese Klasse nicht leisten können. Der Wagen war ihm gewiss nicht so wichtig, wie es der Käfer für Köbi gewesen war, aber er war doch entsetzt, als er nach dem ersten Winter kleine Rostflecken wahrnahm, die das makellose Weiß seines Wagens störten. Hatte er erneut schlecht eingekauft, sich täuschen lassen? Oder hatte sich hier eine Krankheit eingenistet, die erst den Käfer befallen und sich jetzt auf den Mercedes übertragen hatte?

Die Fertiggarage hatte auf der Rückseite ein winzig kleines Fenster, 20 auf 20 cm. Und Köbi wie Hans waren ordentliche Menschen, die stets die Garagentür geschlossen hielten. Mit Winterkälte, Nässe und Straßensalz, der Wärme des Motors und der Sonne schufen sie beide in der Garage

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ein wunderbares Klima für gefräßige Rostkäferchen. Als Köbi früh verstarb, verschied er ohne dieses Wissen. Hans wollte nicht glauben, was einer seiner Söhne ihm zu erklären versuchte. Er stellte seinen Wagen weiter ordentlich in die Garage, nur manchmal kamen ihm Zweifel, dann ließ er das Garagentor halb offen, aber das nützte wenig bis nichts.

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»Je ne regrette rien.« Er mochte ihre Stimme, sie brachte innere Saiten in Schwingungen, tief drinnen, dort, wo man nicht jeden reinschauen lässt, wo man sich schützen muss vor den anderen, und manchmal vor sich selbst. Aber geglaubt hatte er ihr nie. Die Stimme verriet die erlittenen Schmerzen. Gewiss hätte sie vieles ändern wollen, wenn sie gekonnt hätte. Und es hätte wohl auch in ihrer Macht gestanden, das eine und das andere zu ändern, wenn sie sich damals hätte anders entscheiden können. Nein, geglaubt hatte er ihrer Beteuerung nie, aber ihr gerne zugehört.

Je näher der Kirchhof rückte, desto stärker wurde der Wunsch, Bilanz zu ziehen. Auch Edith hatte dieses Verlangen gespürt und der Welt zum Trotz ihr Bekenntnis entgegengeschmettert. Die Welt hatte es dankbar aufgenommen, als Trost, als Zuversicht, als Hoffnung. Gestorben ist sie einsam. Melchior war aus anderem Holz geschnitzt. Als er im Spital an Allerheiligen das Licht der Welt erblickte, die Augen noch verschlossen hielt, höchstens kurz blinzelte wegen der brutalen Helligkeit, da stach ihn die Schwester mit der Nadel in den kleinen Oberarm. Jahre später war in den Zeitungen etwas über unerlaubte medizinische Versuche an Neugeborenen zu lesen, aber

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Melchior interessierte das nicht. Er wusste schon lange, dass die Schwester ihm damals das Antigen gespritzt hatte. Immer wenn Harmonie herrschte, musste er sie hinterfragen, immer wenn zum Zusammenstehen aufgerufen wurde, musste er Widerstand leisten. An Weihnachten spielte er mit Vorliebe den Antichrist, an Ostern den Veganer, aß nur Rüben und kein Lamm. Ist es unbequem, in einer bequemen Gesellschaft quer zu liegen? Oder ist es bequem, in einer schrägen Umwelt an die Moral zu appellieren? Irgendwann hatte er erkannt, dass sein Habitus das Privileg eines Wohlstandskindes war, dessen Glück es war, von den Verwerfungen großer Katastrophen verschont gewesen zu sein.

Oder verschont geworden zu sein? Melchior verstrickte sich in der Grammatik. Was zählt Sprache, fragte er sich. Sprachlich hatte er sich nie ganz zu Hause gefühlt. Bei den Großeltern im Glarnerland war es ihm am wohlsten. »Schüü«, »friili«, das kam ihm leicht über die Zunge. Mit einem melodiösen Auf-, Ab- und erneuten Aufschwung fast in jedem Wort. In Schaffhausen, Rüdlingen, Trasadingen und Stein am Rhein hatten die Kinder und die Erwachsenen ganz anders gesprochen als seine Eltern. Am liebsten verkehrte er mit den Kindern ennet der Grenze, deren Sprache ihm näher schien als der Klettgauer Dialekt. Als der Vater sich vom Grenzdienst verabschieden konnte, einen Bürojob in der größten Schweizer Stadt erhielt, wurde die eigene Sprache zum Anlass von Konflikten.

Dem großen Bruder wurde das neue Hemd zerrissen, weil

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er auf Kommando das R nicht wie gewünscht zu rollen verstand, die große Schwester wurde an den Zöpfen gezerrt und gehänselt, weil sie beim Zählen nach der Fünf stets Sex sagte. Und natürlich wurde sie immer wieder zum Zählen aufgefordert. Der Ostschweizer Dialekt hatte in Zürich seinen Preis. Der Kleinste rettete sich mit Hochdeutsch, das verlangte nach Achtung, und es blieb an ihm hängen. Wirklich sicher fühlte er sich nur in dieser seiner Muttersprache. Ihre Regeln kannte er und befolgte er gerne, bei seinen Mundarten blieben stets Zweifel.

Melchior erlebte Jahre später als Erwachsener, wie in den Medien alle möglichen Dialekte aufeinanderprallten. Er hörte seine Kinder Elemente aus dem Walliserdeutsch verwenden (die Sportmoderatoren), aus dem Berndeutschen sowieso (nicht die Troubadouren, aber ihre Apologeten wie Züri West und Patent Ochsner) und sogar Baseldiitsch (Marco Streller). Er hatte schon als Kind begriffen, dass Sprache sich veränderte, aber er wusste auch, dass sie ein Kissen sein konnte, auf dem sich ausruhen ließ. Beim Einschlafen waren Winnetou und Old Shatterhand auf Hochdeutsch seine Blutsbrüder gewesen. Blutsbruder konnte man nicht in Mundart aussprechen, das hätte alles zerstört, als wäre der Film gerissen. Mit seiner Mutter hatte er vor dem Einschlafen gesungen: »Ich ghörä äs Glöggli«. Aber das war früher gewesen. Als die Mutter nicht mehr am Bettrand saß, fühlte er sich in ihrer Mundart auch nicht mehr geborgen.

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Täler sind seine Heimat, die Berge tun ihm nicht weh. Immer wieder hatte es ihn in die Schluchten gedrängt, um sich bei sich zu fühlen. Und immer wieder hatte es ihn aus dem Tal in die Höhe getrieben, auf den einen Grat, auf das andere Horn. Manches Tochterkind aus dem Unterland hatte einen Versuch unternommen, hatte ihn begleitet ins Elternhaus, aber war am andern Tag im Tal geblieben und bald traurig ins Unterland zurückgekehrt. Melchior hatte sich auch in die Provence entführen lassen, die Malediven besucht und viele wunderschöne Strände gesehen, aber wenn er aufs Meer hinausschaute,dann musste er blinzeln, mehr nicht, wie viel schöner waren doch seine Berge, mit Firn bedeckt, strahlend, lockend. Dem Bergruf hatte das Meer nichts entgegenzusetzen.

Es ging gegen Abend. Die Gäste würden bald kommen. Von der Seilbahnstation hier hinauf war es eine knappe halbe Stunde zu Fuß. Sein Urgroßvater hatte diesen Flecken Erde 1912 verlassen, nachdem er sein Kleinstes, das Miggeli, nicht rechtzeitig zum Doktor hatte tragen können. Die Bergfee hatte es zu sich genommen.Melchior erinnerte sich, dachte an seinen Schutzengel auf der Hochwacht am Albis. Der Tod ist der Tod, er ist mein Bruder. Melchior hatte sein Häuschen aufgeräumt, wartete auf seine Gäste.

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Bildnachweis

2 Knabenskizze; ca. 1962, unbekannter Künstler.

11 Hans Melchior Baumgartner (1855–1919); ca. 1918, unbekannter Fotograf.

16 Martinsloch. www. Librarything.com/topic/171271.

22 Haus im Sernftal; A. S. Thuolt, ungarischer Maler, 1977.

27 Kinderschar; Hans Melchior Baumgartner, Zöllner, von Engi/GL (1924–2010).

32 Kuh; Roman Casanova, Schweizer Kunstmaler (*1951).

40 Betender Engel; um 1900, Porzellan.

49 Sigurd; Piccolo-Cover von Hansruedi Wäscher (*1928, St. Gallen), Comiczeichner und Comic-Autor, W. Lehning Verlag.

53 Mädchen an der Wandtafel; Hans Baumgartner (1911–1996), Schweizer Fotograf und Lehrer, Thurgau.

58 Weiblicher Akt; Richard Martin Werner, deutscher Bildhauer (1903–1949).

69 Fruchtsalat; www.migros.ch.

82 Sturmgewehr 57 (Stgw 57); admin.ch.

89 Portrait einer jungen Frau; A.S. Thuolt, ungarischer Maler, 1978.

98 Café Odeon, vor dem Umbau 1972; www.odeon.ch.

115 Foto privat.

131 Foto privat.

Melchior Werdenberg (*1954) ist Heimwehglarner, Berggänger, Glauser-Liebhaber, Jurist und Unternehmer. Er wuchs in der Ostschweiz auf und besuchte das Gymnasium sowie die Universität in Zürich. Als Bezirksanwalt, Richter und Rechtsanwalt befasste er sich vorwiegend mit Drogenund Wirtschaftskriminalität.

Foto: Phillipp Rohner
Zum Autor

Melchior Werdenberg bei Elster & Salis

»Halbwelten«, Neuauflage als Taschenbuch, Salis, 2021

»Nachtschatten«, Neuauflage als Taschenbuch, Salis, 2021

»Scheinwelten«, Salis, 2019

»Malefizien«, Salis, 2022

Als Herausgeber:

»Julian Bledowski, Observation«, Bilder mit Gedichten von Friedrich Glauser, Elster 2016

»Schaumkronen«, Gedichte und Aphorismen von Friedrich Glauser, Elster 2013

Neunzehn Erzählungen über eine ganze Lebensspanne –vom Heranwachsen auf dem Land bis zur erwachsenen Unreife: über das Erkunden der Geheimnisse um Bergfee, Brücken und Schlangen, um Leben und Tod im Labyrinth der kindlichen Welt –eine Welterkundung in Schönheit und Entsetzen.

Melchior Werdenberg gelingt es, in kurzen, knappen Skizzen die Seelenlagen eines Heranwachsenden zu beschreiben: Eingebunden in der ländlichen Lebenswelt und festgehalten durch soziale Zwänge werden für ihn Verlustschmerz und tröstende Lüge, Sehnsucht und Scham, Einbildung und Wirklichkeit, Führung und Missbrauch, Vertrauensverlust und Schuld zum ständigen Begleiter. Aus biographischen Halbwahrheiten lässt Werdenberg einen Zyklus von Bildern zur Sozialisation, von der Kindheit bis zur Adoleszenz, entstehen.

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