MeinPferd Leseprobe 08/14

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ie Zahlen sprechen leider eine eindeutige Sprache. Etwa 60 Prozent aller Sportpferde und 90 Prozent der Rennpferde leiden unter Magengeschwüren. 35 Prozent aller abrupt abgesetzten Fohlen entwickeln Verhaltensauffälligkeiten wie Koppen, Weben oder Boxenlaufen. 24 Prozent der Reitschulpferde, die im Rahmen einer französischen Studie beobachtet wurden, zeigten Symptome einer Depression. Offenbar gibt es bei Pferd und Mensch deutliche Parallelen: Die Verhaltensforscherin Carole Fureix, verantwortlich für diese Studie, ging vorab davon aus, dass Pferde uns ähneln und unter bestimmten Arbeitsbedingungen leiden. So nehmen auch bei Menschen stressbedingte Krankheiten seit einigen Jahren immer mehr zu – ist das gefürchtete Burn-out-Syndrom jetzt auch bei Pferden auf dem Vormarsch? Die Verhaltensbiologin und Autorin Marlitt Wendt beschäftigt sich seit Jahren mit der komplizierten Psyche der Pferde. Sie setzt sich vor allem für ein harmonisches Miteinander von Pferd und Mensch sowie entspannte und pferdgerechte Trainingsmethoden ein. Im Interview mit Mein Pferd erläutert sie, welche Faktoren für Stress bei Pferden verantwortlich sind – und was man tun kann, um Stress zu reduzieren. Mein Pferd: Stress bei Pferden – ein weit

verbreitetes Problem?

Marlitt Wendt: Ja, leider. Und viel zu oft ein unerkannter Prozess, unter dem die Pferde schleichend jahrelang leiden. Das Problem betrifft nicht nur Turnierpferde, sondern auch viele Freizeit-, Zucht- und sogar Beistellpferde. Beispielsweise gehen Forscher bei Magengeschwüren – eine häufige Folge von chronischem Stress – davon aus, dass sogar mehr als 40 Prozent aller Freizeitpferde unerkannt betroffen sind.

Hat der Stress bei Pferden in den letzten Jahren zugenommen oder sind die Pferdebesitzer heute aufmerksamer als früher?

Beides vermutlich. Die typischen Problemfelder haben sich zum Beispiel verschoben: Waren früher eher Turnierpferde betroffen, haben heute auch viele Freizeitreiter enorme Ansprüche an ihre Tiere. Freizeitpferde sind auch häufigen Stallwechseln ausgesetzt, leiden unter undurchdachten Haltungskonzepten (hier sind auch besonders die an sich großartigen Offenställe zu nennen) und sollen reiterlich in vielen Disziplinen glänzen sowie ihr Können bei Veranstaltungen unter Beweis stellen. Entsprechen das Talent des Pferdes und das Können des Reiters nicht den eigenen Wünschen, ist es meist das Pferd, das mit Stress auf unrealistische Anforderungen reagiert. Während früher aus Unwissenheit oder Mangel an Informationen zu spät oder gar nicht gehandelt wurde, werden heute viel zu viele Hausmittel probiert und wird das Pferd dabei häufig überlastet. Das Pferd gerät z. B. durch die häufigen Methodenwechsel (sei es von Trainer, Hufpfleger oder Sattler) und Futterwechsel (auch mit Zusatzstoffen, Müslis etc.) unter Stress. Welche sichtbaren Faktoren begünstigen Stress bei Pferden?

Im Prinzip kann alles Stress mit sich bringen. Zusätzlich zu den oben genannten Ursachen fallen mir vor allem die Herdenzusammensetzung, die Trennung von Artgenossen und Ausrüstungsgegenstände ein. Ein gewisser

Boxenhaltung gehört zu den Stressfaktoren par excellence

Grad an Stress ist im Leben jedoch normal. Das Pferd ist dafür gemacht, Reize wahrzunehmen und durchaus mit ihnen zurechtzukommen. Allerdings ist jedes Tier einzigartig: Was für das eine Pferd noch völlig in Ordnung ist, kann für ein anderes ein enormer Stressor sein. Die Empfindlichkeit eines Pferdes für bestimmte Stressoren ist abhängig von seiner Persönlichkeit, seinen Vorerfahrungen und natürlich auch der Kombination der unterschiedlichen Stressoren. Welche unsichtbaren Faktoren führen ebenfalls zu Stress?

Schmerz ist einer der häufigsten, gravierendsten und am meisten unterschätzten Stressfaktoren. Da sich die unterschiedlichen Stressoren quasi summieren und dann in ihrer Gesamtheit zu den typischen stressbedingten Problemen führen, ist es

Ein dauerhafter Geräuschpegel macht empfindliche Pferde krank

Im Offenstall sollte Futterneid unbedingt vermieden werden

08/2014 www.mein-pferd.de

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