Responsible Wealth Review Juni 2008

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Investing on the right side of global change

Responsible

Wealth Review Eine Private Wealth Council Publikation

Privacy Der Private Wealth Council

Ein Forum für den verantwortungsbewussten Umgang mit Privatvermögen. Erik Brenninkmeijer im Gespräch mit dem Gründer Fritz Kaiser.

Die 9 Treiber des globalen Wandels Eine Übersicht von Al Gore.

«Die Welt ist keineswegs flach»

Beatrice Weder di Mauro über die ökonomische Zukunft nach sieben fetten Jahren und einer Finanzmarktkrise.

Aufwachsen mit dem Internet

Ein Generationenkonflikt um die Privatsphäre. Von Jonathan Zittrain

Wie viel Öffentlichkeit erträgt die individuelle Sicherheit? Stephan Lechner über den Zustand eines Bürgerrechts.

Amerikanische Privacy vs. europäische Privatsphäre Thomas Kleine-Brockhoff und Antje Kuchenbecker analysieren ein transatlantisches Dilemma.

«Es braucht Räume der Diskretion»

Roger de Weck im Gespräch mit Erbprinz Alois von Liechtenstein über die strategische Ausrichtung des Fürstentums Liechtenstein.

Juni 2008


Herausgeber: Fritz Kaiser Private Wealth Council Pflugstrasse 12, 9490 Vaduz/FL


Editorial

Die Privatheit oder «Privacy» ist, ähnlich wie die Freiheit, ein wichtiges Grundrecht und ein tragender Pfeiler unserer Gesellschaft. Ein Professor der Soziologie sagte mir, dass sie eine Errungenschaft der Menschheit ist, die uns aus der Barbarei in die Zivilisation geführt hat. Wie dem auch sei, der Schutz der Privatsphäre ist auch heute noch als Grundrecht in vielen Verfassungen der westlichen Welt verankert und kommt unter anderem in der Institution des Bankkundengeheimnisses zum Ausdruck. Seit geraumer Zeit entwickelt sich der orwellsche Alptraum des «gläsernen Menschen» in der breiten Öffentlichkeit schleichend zur akzeptierten Wirklichkeit. Das amerikanische Finanzministerium und die CIA überwachen seit Jahren mit der Begründung der Terrorbekämpfung die Finanzströme der Banken-Clearingstelle Swift in Brüssel, und Geheimdienste schnüffeln ungeniert in unseren privaten Informationssystemen. Politiker von Not leidenden Staatskassen fordern leichtfertig, den Schutz der Privatsphäre aufzugeben und verdammen das Bankgeheimnis, um ihre Steuerpflichtigen verfolgen zu können. Andauernde Videoüberwachung wird als Schutz akzeptiert, biometrische Pässe gelten als schick und Millio-

nen Jugendliche machen gedankenlos intimste Details ihres Lebens im Web öffentlich. Ist das Recht auf Privatsphäre ein Auslaufmodell? Wohin führt die Entwicklung des Internets, das uns in den letzten 10 Jahren viele faszinierende Möglichkeiten – und gleichzeitig beängstigende Transparenz beschert hat? Wie können wir uns in einer sich rasend schnell entwickelnden Welt noch ein Stück Privatsphäre sichern? Wir haben uns im Private Wealth Council mit diesen Fragen befasst und mit Experten und Meinungsbildern ausgetauscht. Dabei ist es wenig überraschend, dass gerade vermögende Menschen ihr Recht auf Privatsphäre verteidigen wollen. Die Gründe dazu sind so vielfältig wie legitim. Ein Geschäftsmann möchte seine Geschäftsgeheimnisse als Wettbewerbsvorteil nutzen können. Vermögende Menschen wollen sich gegen Korruption, Missgunst, Diebstahl oder Entführung schützen. Eine Familie will in seiner Intimsphäre ungestört sein. In dieser ersten Ausgabe der Responsible Wealth Review erfahren Sie mehr über die Entstehung und die Ziele des Private Wealth Councils und wir befassen uns als Schwerpunkt mit dem Thema Privacy. Mit unterschiedlichen Beiträgen von namhaften Autoren geben wir Ihnen eine aktuelle Standortbestimmung zu diesem Grundrecht. Vielleicht erhalten Sie dadurch auch nützliche Hinweise oder Anregungen, wie Sie sich guten Gewissens ein Stück Privatheit sichern können. Ich freue mich, wenn Sie mir Ihre Meinung zum Private Wealth Council oder zu dieser Ausgabe schreiben.

Fritz Kaiser Herausgeber fritz.kaiser@privatewealthcouncil.org

Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Responsible

Investing on the right side of global change

Wealth Review Editorial des Herausgebers

Die Privatheit oder «Privacy» ist, ähnlich wie die Freiheit, ein wichtiges Grundrecht und ein tragender Pfeiler unserer Gesellschaft. Ist dieses Grundrecht ein Auslaufmodell? Mit Beiträgen von namhaften Autoren liefern wir eine aktuelle Standortbestimmung zu dieser Debatte. Seite 1

«Wir suchen die Formel für ‘Responsible Wealth’»

Fritz Kaiser, Gründer des Private Wealth Council, und Erik A. Brenninkmeijer, Teilnehmer der ersten Stunde, im Gespräch über die Ziele dieser Initiative. Seite 4

Die Rückkehr zur Normalität

Die Welt hat sieben fette Jahre hinter sich und eine Zeit einer unglaublich hohen Liquidität. Die Krise am Finanzmarkt hat diesem Ausnahmezustand ein Ende gesetzt. Und weil die ökonomischen Gesetze niemals ausser Kraft gesetzt werden können, droht uns, was wir aus der Vergangenheit kennen: Die Rückkehr von Inflation, höheren Volatilitäten, vielleicht sogar ein neuer Protektionismus, schreibt Beatrice Weder di Mauro. Seite 8

Als die Privatsphäre verloren ging

Privates und Öffentliches sind die zwei Sphären, welche das Menschsein begründen. Erfunden durch die klassische griechische Philosophie, wiederentdeckt im Zeitalter der Aufklärung, fusst auf dieser Balance auch die moderne Gesellschaft, welche sie nun zu zerstören droht. Ein historischer Essay von Kurt Imhof. Seite 16

«Ansprüche auf Privacy opfern»

Die Privatsphäre ist ein Menschenrecht, urteilt der führende amerikanische Privacy-Forscher Alan F. Westin. Eine junge, global vernetzte InternetGeneration bewertet die freie Kommunikation freilich höher, als das Recht des Individuums auf Privatsphäre. Seite 22

Die 9 Antriebskräfte des globalen Wandels

Al Gore hat für das Treffen des Private Wealth Councils im Jahre 2005 in Bad Ragaz, Schweiz, seine Liste der 9 Treiber globaler Veränderungen entwickelt. Diese wurden mit den Teilnehmern des Councils diskutiert. Entstanden ist eine ausdrucksstarke Auflistung von Mega-Trends. Seite 26

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Aufwachsen mit dem Internet

Dass sich junge Menschen in öffentlich zugänglichen Online-Umgebungen häuslich einrichten, hat wenig mit Leichtsinn und viel mit dem Wunsch nach kontrollierter Autonomie zu tun. Die Unterschiede zwischen öffentlicher und privater Identität dürften sich ohnehin bald auflösen, prophezeit Jonathan Zittrain. Seite 32

Privacy 2008 – wie viel Schutz ist noch vorhanden?

Nicht mehr viel: die rasante Verbreitung der Informationstechnologie, die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen, die moderne Verbrechensbekämpfung und die Globalisierung des Datentransfers höhlen die Privatsphäre aus, analysiert der Datenschutzexperte Stephan Lechner. Seite 36

Amerikanische Privacy vs. europäische Privatsphäre

In den Vereinigten Staaten bildet die eigene Wohnung den Kern der individuellen Privatsphäre. Ihre Begrenzung findet sie nicht durch den Staat, sondern durch die Redefreiheit. Die europäische Rechtstradition propagiert dagegen ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welche der Staat zu garantieren hat. Thomas Kleine-Brockhoff und Antje Kuchenbecker über ein transatlantisches Dilemma. Seite 44

Der Sonderfall Asien

Immer mehr Privatvermögen strömt nach Asien. Das günstige fiskalische Umfeld und ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum machen die Region zu einem Magneten für Investoren aus aller Welt, urteilt Sameena Ahmad. Seite 52

«Es braucht Räume der Diskretion»

Das Fürstentum Liechtenstein ist traditionell ein Ort von gelebter Privatheit. Ist dies in der offenen Informationsgesellschaft ein Auslaufmodell oder im Gegenteil der Schlüssel für die Zukunft des Landes? Reflexionen von Erbprinz Alois von Liechtenstein auf die Fragen von Roger de Weck. Seite 56

Privacy – eine global und interdisziplinär geführte Debatte

Engagiert und kontrovers diskutierten die Teilnehmer des Private Wealth Council am 28. Januar 2008 in Vaduz das Thema des Tages: Privacy, der Zustand dieses Bürgerrechts auf der Welt und die Folgen für vermögende Familien. Fotografische Impressionen aus Workshops. Seite 60

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«Wir suchen die Formel für ‘Responsible Wealth’» Fritz Kaiser hat den Private Wealth Council gegründet und Erik A. ­Brenninkmeijer ist ein Teilnehmer der ersten Stunde. Seither tauschen sich die beiden aus über das, was Verantwortung in der Gesellschaft und im Geschäftsleben bedeuten und bewirken kann. Herr Kaiser, Sie haben den Private Wealth Council

im Jahre 2004 in Davos aus der Taufe gehoben. Sie, Herr Brenninkmeijer, sind Mitbegründer und Impulsgeber. Was sind die jeweiligen Gründe für dieses Engagement?

Fritz Kaiser: Wenn man Verantwortung für private Vermögen trägt, sei es für das eigene Vermögen, als Treuhänder oder als Berater einer Familie, dann stellt sich irgendwann die Frage, worin eigentlich diese Verantwortung besteht und wie man dieser gerecht werden kann. Dieses Thema wollte ich mit gleichgesinnten, interessanten Menschen diskutieren. Das idyllisch einfache Holzhaus auf der Schatzalp in Davos während des World Economic Forums hat sich dafür als inspirierender Ort erwiesen. Erik A. Brenninkmeijer: Der Verdienst der Gründung gebührt Fritz Kaiser. Er hat mich und die anderen eingeladen, beim Council mitzumachen. Die Attraktivität zuerst als Kunde und danach als Mitwirkender liegt für mich darin, dass das Thema des Responsible Wealth in meinen Augen den kritischen Faktor einer jeden Investitionstätigkeit darstellt. Ist dies ein Postulat einer traditionell unternehmerisch tätigen Familie?

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Brenninkmeijer: Sicher hat das Interesse damit zu tun, dass wir jetzt schon in sechster Generation im Geschäft sind. Aber jeder Investor sollte sich auch bewusst sein, dass er entscheiden Responsible Wealth Review – Juni 2008

muss, wo er sein Geld anlegt. Er beeinflusst somit ganz direkt, ob sein Investment einen positiven Effekt auf die langfristige Entwicklung einer Gesellschaft haben kann oder nicht. Das sind Entscheidungen von grosser Tragweite. Denn man darf nicht vergessen, dass es neben dem Staat Privatpersonen sind, welche Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen und damit eine Gesellschaft voranbringen. Denken Sie nur an die zahlreichen Klein- und Mittelbetriebe, welche von Privaten aufgebaut worden sind mit Geldern, welche diese nicht mehr zum täglichen Leben benötigen. Diese Menschen, die ihr Privatvermögen investieren, sind wichtige Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung und haben auch grossen Anteil daran, dass der Lebensstandard in den vergangenen Jahrzehnten derart angestiegen ist. Sie sehen eine besondere Verantwortung und

einen Einfluss von vermögenden Menschen auf die Gesellschaft?

Kaiser: Ja, aber nicht nur. Das Thema Verantwortung ist vielschichtig. Wir haben uns anlässlich eines Council-Treffens die grundsätzliche Frage gestellt, «was Verantwortung von vermögenden Privatpersonen» eigentlich ist und sind zu folgender Antwort gekommen: Jeder trägt die Verantwortung für sich selbst, für seine Familie, für die Gesellschaft und für unsere (Um-)Welt. Zugegeben, dies hört sich simpel an und gilt für jeden Menschen, vermögend oder nicht vermögend. Wer aber über Kapital verfügt, kann mehr bewirken. Und, wer so gesehen als Investor etwas


Erik A. Brenninkmeijer ist Präsident der Zuger Cofra Holding.

Sinnvolles tun will, stellt schnell einmal fest, dass es gar nicht so einfach ist, das Richtige zu tun. Und je mehr man sich damit befasst, umso mehr neue Fragen stellen sich. Wir leben in einer komplexen Welt, die sich sehr schnell verändert – zum Guten oder zum Schlechten. Und, wir wollen verstehen, was da passiert. So beobachten wir die globalen Treiber der Veränderung – die alle miteinander vernetzt sind –, damit wir langfristig die richtigen, nachhaltigen Entscheidungen treffen können. Eines unserer Mottos im Council heisst denn auch: «To navigate on the right side of change.» Wir wollen mit unseren Investments auf der richtigen Seite der Veränderung sein.

Fritz Kaiser ist Executive Chairman der Kaiser Ritter Partner Gruppe und Gründer des Private Wealth Councils.

Gibt es vergleichbare private Organisationen wie den Private Wealth Council, die versuchen nachhaltiges und gesellschaftlich relevantes in ihren Investments zu verbinden?

Brenninkmeijer: Auf privater Basis kenne ich nichts Vergleichbares. Die Kirchen werfen natürlich seit vielen Jahren die Frage auf, wie verantwortlich mit Privatvermögen umgegangen werden kann und ethische Ansprüche bei Investitionen erfüllt werden können. So gibt es diese Negativ-Listen von Branchen, in denen sich ein verantwortungsbewusster Investor vielleicht nicht engagieren will: Zum Beispiel Waffen, Tabak oder Alkohol. Aber ein allgemein gültiges, ja globales Konzept für verantwortliches und nachhaltiges Investment von Vermögen existiert meines Wissens nicht. Diesem wollen wir durch unsere Arbeit im Private Wealth Council auf die Spur kommen. Kaiser: Auch ich habe keinen vergleichbaren «Club» gefunden. Deshalb habe ich dann ja auch diese Initiative gestartet. Einige von uns sind Mitglieder beim World Economic Forum und

andere bei Family Office Netzwerken. Unsere Besonderheit ist, dass wir die Welt durch die Brille der Verantwortlichen von Privatvermögen sehen und aus eben dieser Optik die grossen Entwicklungen und Trends beobachten. Letztlich geht es um die langfristige Sicherung und Vermehrung von Privatvermögen von verantwortungsbewussten Menschen. Wie weit sind Sie auf diesem Weg schon vorangeschritten, seit der Think Tank im Jahre 2004 gegründet worden ist?

Brenninkmeijer: Der Begriff Think Tank für den Council ist etwas irreführend. Man stellt sich dabei Leute vor, die den ganzen Tag denken, Research betreiben und tiefschürfende Papiere verfassen. So war und ist das nicht. Wenn wir so vorgegangen wären, wären wir vielleicht schon ein ganzes Stück weiter. Der Council hat aber nur Responsible Wealth Review – Juni 2008

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sporadisch getagt und ist frei schwebend geblieben. Gerade deshalb sind wir uns wohl im Laufe der Zeit unseres eigentlichen Ziels bewusst geworden: eine allgemein gültige Formel zu finden für das, was wir «Responsible Wealth» nennen. Kaiser: Und damit auch eine Formel für den «Responsible Investor», der wissen will, was er bei seinen Investmententscheidungen alles berücksichtigen muss, um langfristig auf der erwähnten richtigen Seite der Veränderung zu stehen. Wir arbeiten derzeit mit einer Arbeitsgruppe an der Entwicklung von «Prinzipien und einem Entscheidungsfilter für den Responsible Investor». Wir werden diese Unterlage bei unserem nächsten Treffen des Councils beraten. Der Private Wealth Council ist eine Plattform, an der sich kluge, am Thema interessierte Geister treffen. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?

Brenninkmeijer: Al Gore, der ehemalige Vizepräsident der USA, ist ein faszinierender und mitreissender Redner und sein Auftritt vor zwei Jahren hinterliess einen charismatischen Eindruck. Er ist ohne Zweifel ein Mann der Visionen. Ein Idealist. Doch ebenso beeindruckt hat mich David Blood, der Managing Partner der gemeinsamen Investmentfirma von Gore und Blood, Generation Investment Management. Blood, im Vergleich zu Gore ein stillerer Charakter, muss bei seinen Investmententscheiden den selbst gesteckten Sustainability-Zielen genügen und gleichzeitig Profite erwirtschaften. Kein einfacher Spagat.

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Brenninkmeijer: So ist es. Ein Vorbild: Angesichts der absehbaren Wasserknappheit auf der Welt ist es aus Gründen der Nachhaltigkeit, der Sustainability also, möglicherweise probleResponsible Wealth Review – Juni 2008

matisch, in eine Firma zu investieren, die einen grossen Wasserverbrauch in ihren Prozessen aufweist. Da sind also eher Unternehmen zu bevorzugen, bei denen der Wasserverbrauch unterdurchschnittlich ausfällt oder gar keine Rolle spielt. Dies entspricht dem Postulat des «positive screening» von Investitionspotenzialen. Gleichzeitig muss und kann der Investmentmanager aber trotzdem die eingeforderte Rendite erwirtschaften. Haben derartige Begegnungen Ihr eigenes Investitionsverhalten beeinflusst?

Brenninkmeijer: Wenn Sie damit fragen, ob wir unsere eigenen Guidelines überarbeitet haben, muss ich verneinen. Ich bin ja beim Council unter anderem deshalb mit grossem Interesse dabei, weil ich hoffe, dass wir in dieser Frage auf eine allgemeingültige Formel stossen. Wie Fritz Kaiser sagte: «To invest on the right side of change», um das geht es. Meine Aktivitäten im Council haben aber insofern Auswirkungen, als dass wir bei unseren Investmententscheidungen versuchen noch weiter in die Zukunft zu schauen. Wir wollen bei jedem Investment mögliche Konsequenzen auf die drei «P» abschätzen: People, Profit, Planet. Kaiser: Es gab für mich in den letzten Jahren verschiedene spannende Persönlichkeiten mit eindrücklichen Beiträgen. Al Gore hat 2005 für unseren Council die Liste der neun Treiber der globalen Veränderung entwickelt und wir haben diese in einem Zwei-Tages-Workshop mit ihm diskutiert. Dies war wirklich etwas Besonderes. Josh Lerner von Harvard war bemerkenswert zum Thema «Private Equity» und Naill Fergusson, ebenfalls Professor in Harvard, hat uns die Geschichte erzählt, wie das Vermögen der Rothschilds entstanden ist. Paulo Coelho hat


uns in Davos Einblick in seine persönlichen Erkenntnisse der Einflüsse des Weiblichen gegeben, während uns Frau Professor Beatrice Weder di Mauro vom Weisenrat der deutschen Regierung als Makroökonomin kürzlich die Gründe der Subprime-Krise verständlich gemacht hat. Für mich als Sammler zeitgenössischer Kunst war natürlich auch die Diskussion mit Simon de Pury, Sam Keller von der Art Basel und anderen Kunstsachverständigen und Sammlern sehr interessant. Das grosse Thema dieser ersten Ausgabe der

«Responsible Wealth Review» lautet «Privacy». Was heisst das für Sie persönlich? Und was kommt auf uns zu?

Brenninkmeijer: Ich bin ziemlich pessimistisch. Ich frage mich, ob wir in dieser Frage nicht längst ein nobles Rückzugsgefecht führen. In der Retrospektive wird man wohl dereinst feststellen, dass in den 80er Jahren die westlichen Demokratien auf dem Zenit der persönlichen Freiheit gewesen waren. Die Bürgerrechte waren vor zwei Jahrzehnten gut verankert und die elektronischen Mittel, diese auszuhebeln, noch nicht vorhanden. Unmittelbar vor der Internet-Revolution existierte in dieser Hinsicht noch eine heile Welt. Seither hat die Technik eine Kapazität zum individuellen Freiheitsentzug entwickelt, welche nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Kaiser: Privatheit ist für mich ein Stück Zivilisation, beinhaltet Werte wie Respekt und Vertrauen und ist ein Grundpfeiler menschlicher Kultur. Ich respektiere zum Beispiel zuhause das Briefgeheimnis und lese keine Briefe an meine Frau und auch nicht die Tagebücher meiner Kinder. Ich möchte meinen persönlichen Freiraum beibehalten, wo ich unbeobachtet bin und ich gestehe diese Freiräume auch anderen zu.

In den meisten europäischen Ländern ist die Privatheit ein verfassungsmässiges Recht des Individuums. In den USA nun nicht mehr. Durch den technischen Fortschritt, insbesondere durch die Entwicklung des Internets, durch die Methoden staatlicher Exekutivorgane, der Geheimdienste, der Polizei und neuerdings auch schon der Steuerbehörden ist das Recht auf Privatheit heute allerdings nur noch auf Sand gebaut. Dennoch hoffe ich nicht, dass der «gläserne Mensch» absolut gläsern wird. Ich weiss natürlich, dass wir vielerorts unbewusst fotografiert und gefilmt werden oder dass jeder von uns, der im Internet surft, dort seine eigene DNA hat, die z.B. Google bei behördlicher Aufforderung letztlich herausgeben muss. Ich weiss auch, dass man heute in meinem persönlichen Computer spionieren kann, ohne dass ich dies spüre und wir alle wissen wohl, dass man uns jederzeit über unser Handy orten kann und Bank- und Kreditkartenaktivitäten unser Leben weitgehend transparent machen. «Big brother is watching you», das ist die Realität – und «big brother» wird immer smarter. All diese Entwicklungen sind nicht zu stoppen und wir müssen lernen mit der neuen Realität umzugehen. Ich stelle mich darauf ein und lerne laufend, wie ich mir mein mir wichtiges Stück Privatheit bewahren kann. Ich wünsche mir, dass die Jugend sich auch Gedanken darüber macht und wir ihnen den Wert der Privatheit vermitteln können. Sie kommuniziert heute unbekümmert und spielerisch via YouTube und Facebook und kennt keine Tabus im Internet. Wir müssen ihnen sagen, dass auch der Personal-Direktor vor ihrem zukünftigen Einstellungsgespräch im Internet surft und sie dort beobachtet.

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Die Rückkehr zur Normalität Die Welt hat sieben fette Jahre hinter sich und eine Zeit einer unglaublich hohen Liquidität. Die Krise am Finanzmarkt hat diesem Ausnahmezustand ein Ende gesetzt. Und weil die ökonomischen Gesetze niemals ausser Kraft gesetzt werden können, droht uns, was wir aus der Vergangenheit kennen: Die Rückkehr von Inflation, höheren Volatilitäten, vielleicht sogar ein neuer Protektionismus, schreibt Beatrice Weder di Mauro. Thomas L. Friedman, wortgewaltiger Kommentator der New York Times, dreifacher Pulitzerpreisträger hat im Jahre 2005 ein Werk über die Globalisierung geschrieben und diesem einen launigen Titel verpasst: «The World is Flat.» Doch ist sie das wirklich? Ist die Welt flach? Ich habe da meine Zweifel. Unbestreitbar ist, dass die Globalisierung einen Einfluss auf die globale Ökonomie hat und dazu möchte ich aus aktuellem Anlass einige Gedanken beisteuern unter dem Fokus: «Globalisierung, der Zustand der Welt und der jüngste Unfall an den Finanzmärkten.»*

Wachstum des Welthandels

Exporte der Welt in Prozent des globalen BIP 20% 18% 16% 14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% 0% 1870

I. Der Zustand der Welt 1890

1910

1930

1950

1970

1990

Quelle: Maddison, Angus: «The World Economy. A Millennial Perspective», OECD, 2001.

Stabiles Wachstum

Entwicklung des BIP (in %) 8 7

Entwicklungsländer

6 5

Welt

4

Nehmen wir es vorweg: Guten Gewissens konnte man sagen, die Welt ist in Form. Zumindest bis vor kurzem war sie das. Das Wachstum des Welthandels in den vergangenen fünf Jahrzehnten war beeindruckend und selbst in einer noch längerfristigeren Optik zeigt sich ein freundliches Bild (siehe Grafik «Wachstum des

*Dieses Essay fusst auf einem Vortrag, den Beatrice Weder di Mauro am 28. Januar 2008 an einem Meeting des Private Wealth Council gehalten hat.

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Industrieländer

1 0 1996

1998

2000

2002

Quelle: IWF, 2007.

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2004

2006

2008

Sieben fette Jahre: Andy Warhol’s 1981 erstelltes Werk «Dollar Sign» während einer Ausstellung über den amerikanischen Pop-ArtKünstler im Pushkin Arts Museum in Moskau.


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Bild: Alexander Nemenov/Keystone © Andy Warhol Foundation/2008, ProLiteris, Zürich


Tiefe Inflation

Entwicklung der Konsumentenpreise (in %) Entwicklungsländer (Durchschnitt) Industrialisierte Länder

16 14 12 10 8 6 4 2 0 1970

1975

1980

1985

1990 1995

2000 2005 2010

Quelle: IWF, 2007.

Geringe Volatilität

Aktien-, Zins- und Währungsentwicklung (in %) 160

Aktien Zinsen G-7-Währungen

140 120 100 80 60 40

2000

Quelle: IWF, 2007.

2002

2004

2006

Welthandels 1870–1998», Seite 8). In der unmittelbaren Vergangenheit blicken wir auf (fast) sieben fette Jahre zurück. Wir leben in einer integrierten Welt, die Internationalisierung von Kapital und Handel hat sich markant erhöht und bescherte dem Globus ein hohes und stabiles Wachstum, gerade auch in den Emerging Markets. Zum ersten Mal in der Geschichte waren diese Länder nicht nur Mitläufer einer globalen Wachstumsphase, sondern auch «drivers of growth» (siehe Grafik: «Stabiles Wachstum», Seite 8). Die Fitness der aufstrebenden Nationen im Gleichschritt mit der industrialisierten Welt führte in dieser Zeitspanne zu einer rekordtiefen Inflation (siehe Grafik «Tiefe Inflation», links). Über verschiedene Vermögensklassen hinweg war eine tiefe und sinkende Volatilität zu verzeichnen (siehe Grafik «Geringe Volatilität», links). Dieses Phänomen avancierte unter Ökonomen zum beliebten Forschungsgebiet: War die geringe Volatilität bei Aktien, Zinsen und sogar Währungen eine vorübergehende Laune des Zufalls oder ein stabiler Zustand? Und waren diese fetten Jahre ein unverhoffter Ausbund von Glück oder ein dauerhaft selig machender struktureller Aggregatszustand der Globalisierung? Festzustellen ist jedenfalls: Die hier beschriebene Szenerie war aus makroökonomischer Sicht der Zustand der Welt in den vergangenen sieben Jahren. Aber ist sie deshalb flach?

II. Von Grenzen, Distanzen und Nivellierungen

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Durch die Globalisierung haben Grenzen und Distanzen zweifellos an Wichtigkeit eingebüsst – aber sind Grenzen deshalb, ökonomisch gesehen, verschwunden, Distanzen für die Handelsintensität bedeutungslos geworden? Dass dem nicht so ist, zeigt ein kleines Beispiel. Die Stadt Basel liegt am Rheinknie an der Schweizer Landesgrenze zu Deutschland. In etwa glei-

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cher Distanz befindet sich auf Schweizer Seite die Stadt Zürich und auf deutscher Freiburg in Breisgau. Wären Grenzen und Distanzen obsolet geworden, müsste Basel auf beide Seiten im gleichen Masse ökonomisch vernetzt sein. Der Kapital- und Warenaustausch mit Zürich ist jedoch ungleich höher und dies zeigt, dass für die Ökonomie Grenzen auch Hindernisse darstellen. Und auch Distanzen haben nach wie vor grossen Einfluss auf die ökonomische Aktivität, wie sich beispielsweise an der Exporttätigkeit messen lässt. Ein Land wie Deutschland exportiert knapp halb soviel Waren und Dienstleistungen in die kleine Schweiz wie in den viel weiter entfernt liegenden, ungleich grösseren Markt der USA (siehe Grafik «Intensiver Handel», rechts). Der intensivste Handel findet immer noch unter Nachbarstaaten statt, dies ist eine ökonomische Gesetzmässigkeit. Liesse sich daraus folgern, dass die Welt zwar nicht flach ist, sich aber wenigstens zunehmend verflacht? Gleichen sich reiche und arme Länder an? Die Antwort auf diese Frage bedingt einen grosszügigen zeitlichen Fokus (siehe Grafik «Schere öffnet sich», rechts). Nimmt man die vergangenen 150 Jahre als Massstab, wird klar, dass die Ungleichheit der Einkommen auf der Welt markant am Steigen ist. Lange Zeit, bis etwa um 1900, verharrten die Einkommensunterschiede innerhalb der einzelnen Länder auf relativ stabilem Niveau. Dann – als Folge der Industrialisierung – entwickelten verschiedene Nationen ihre Märkte schneller als andere; die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern nahmen zu, Reich und Arm fächerte sich auf. Dennoch ist viel passiert in den vergangenen zwanzig Jahren (siehe Grafik «Parade der Einkommen», Seite 12). Einige Länder haben am Bruttoinlandprodukt pro Kopf zugelegt, stark entwickelt haben sich seit 1980 insbesondere China und Indien und mit ihnen verbesserten rund 60 Prozent der

Intensiver Handel

Anteil am deutschen Export nach Wirtschaftsräumen (in %) Rest der Welt 23% Euro-Raum 42%

Japan 2% China 3% Schweiz 4% UK 8%

Neue EUMitglieder 8%

USA 9%

Schere öffnet sich

Ungleichheit bei Einkommen weltweit (nach Faktoren) 0.9 Weltweite Ungleichheit 0.8 0.7 0.6 Ungleichheit zwischen Ländern 0.5 0.4 0.3 0.2 Ungleichheit innerhalb Ländern 0.1 0 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 Quelle: Bourguignon, François/Morrison, Christian: «Inequality among World Citizens», 2002. 2002

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Parade der Einkommen

Entwicklung des BIP pro Kopf im Verhältnis zum globalen Durchschnitt BIP pro Kopf 40 000 1980 2000 30 000 20 000

III. Die Treiber des Booms oder «The Great Moderation»

Globaler Durchschnitt: 7944 Dollar

10 000 0 0%

20%

40%

60%

80% 100% % der Weltpopulation

Quelle: Heston, Alan/Summers, Robert/Aten, Bettina: «Penn World Table», 2002.

Entwicklungsländer horten Dollar Devisenreserven (in Millionen Dollar) 4 000 000 3 500 000 3 000 000 2 500 000

Entwicklungsländer Industrieländer

2 000 000 1 500 000 1 000 000 500 000

12

0

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

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Weltbevölkerung ihre Lebensqualität. Ein Vergleich zwischen der Offenheit des Wirtschaftssystems eines Landes und des Bruttoinlandprodukts dieser Volkswirtschaften zeigt zudem deutlich, dass offene Märkte zu höherem Wohlstand führen.

Alan Greenspan, der langjährige Chef des Federal Reserve hat angesichts geringer Volatilitäten im globalen Wirtschaftssystem und hoher Wachstumsraten in den vergangenen Jahren von «The Great Moderation» gesprochen und suggerierte damit die Existenz einer neuen, schönen Wirtschaftswelt. Die ökonomischen Gesetze sind freilich nie ausser Kraft gesetzt worden. Ungewöhnlich und neuartig war lediglich eine unglaublich hohe Liquidität im System, welche nicht zuletzt durch die stark expansive Geldpolitik der US-Notenbank angeheizt wurde. Zudem haben die Schwellen- und Entwicklungsländer in jüngerer Vergangenheit ihre Devisenreserven in Dollar angelegt und damit zur Stabilität des Systems beitrugen (siehe Grafik «Entwicklungsländer horten Dollar», links). Während Emerging Markets wie China seit 2004 Milliarden von Dollars auf die hohe Kante legen, leben insbesondere die USA zunehmend auf Pump – seit 2004 mit rund 800 Milliarden Dollar Schulden pro Jahr. Dies führt zu einem globalen Ungleichgewicht, das sich auf zwei Arten lesen lässt: China oder Japan sparen zu viel, die USA konsumieren zu viel. Oder eben vice versa, je nach eigenem Standpunkt. Die Amerikaner argumentieren jedenfalls damit, dass sie die Costumer der Welt spielen müssten, weil die Gegenseite das Bare in den Sparstrumpf schiebt (siehe Grafik «Globales Ungleichgewicht», rechts). Zielführend ist eine derartige Diskussion jedoch nicht.


Bild: Keystone

Das Ende dessen, was Alan Greenspan «The Great Moderation» genannt hat: Energieund Rohstoffpreise könnten trotz Abkühlung der Nachfrage hoch bleiben.

Globales Ungleichgewicht

Devisenreserven versus Schulden (in Milliarden Dollar) 1000 500 0 –500 –1000 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 China Japan

Gesamt: Deutschland Saudi-Arabien Schweiz Russland Libyen Venezuela

USA Spanien

Gesamt: England Australien Griechenland Türkei Neuseeland

Quelle: Maddison, Angus: «The World Economy. A Millennial Perspective», OECD, 2001.

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Private machen Schulden – in den USA

Verfügbares Einkommen in Relation zu Ersparnissen und Neuverschuldung bei privaten US-Haushalten (pro Hundert der Bevölkerung) vH 12 Sparquote 10

Verschuldungsquote (brutto)

8 6 4 2 0 1980

1985

1990

1995

2000

2006

Quelle: BEA, Federal Reserve Board. © Sachverständigenrat.

Private machen Schulden – im Rest der Welt

Veränderung der Relation des Kaufpreises zu Einkommen und Miete (in %) 200

Preis zu Einkommen Preis zu Miete

150 100 50 0

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Japan

Deutschland

Finnland

USA

Italien

Schweden

Dänemark

Spanien

Frankreich

England

Holland

IV. Die Folgen der Krise für das Wachstum in der Welt Irland

–50

Klar hingegen scheint heute, dass der Konsum in den Vereinigten Staaten keinesfalls nachhaltig war. Die Schere zwischen der Brutto-Verschuldungsquote und der Sparquote der privaten Haushalte in den USA geht seit Anfang der neunziger Jahre bedenklich auf (siehe Grafik «Private machen Schulden – in den USA», links). Bis ins Jahr 2006 hinein erwarteten die Amerikaner stetig anwachsende Immobilienpreise und lange Zeit wogen sie sich angesichts von Wertsteigerungen von zehn bis zwölf Prozent auch in Sicherheit. Hinzu kommt, dass die US-Finanzbranche auch Anreize schaffte, diesen Wertzuwachs der Immobilien zu verflüssigen und in den Konsum umzuleiten. Dieses Phänomen der schleichenden Verschuldung der Privathaushalte ist freilich mitnichten auf die USA beschränkt (siehe Grafik «Private machen Schulden – im Rest der Welt», links). Dies ist die makroökonomische Sicht, die den Zusammenhang zwischen Liquiditätsüberschwemmung und Kreditexpansion und das daraus resultierende Ungleichgewicht aufzeigt. Das war der makroökonomische Nährboden für die Subprime-Krise.

Ein Ökonom, welcher auf diese Frage eine Antwort sucht, orientiert sich an drei entscheidenden Kenngrössen: Konsum, Investitionen und Exporte. Vieles spricht dafür, dass wir nun in eine Phase tief greifender Veränderungen eintreten. Globale Risikofaktoren nehmen zu und die Prognosen für das Weltwirtschaftswachstum gewichten die Risiken einer Abkühlung zunehmend stärker als die Chancen eines Upsides. Und klar scheint auch, dass Emerging Markets wie China und Indien sich zum Motor des globalen Wachstums emporgeschwungen haben (siehe Grafik «Das neue Gleichgewicht», rechts


Das neue Gleichgewicht

Entwicklungsländer als Motor des Wachstums (Beitrag zum globalen Wachstum, gewichtet in %) –35

2006

–30

2007

–25 –20 –15 –10 –5

Brasilien

Japan

Russland

Euro Länder

USA

Indien

0 China

oben). Daraus ergeben sich für mich zwei Megatrends für die Zukunft: Die Ungleichgewichte werden wieder in eine stärkere Balance zueinander treten und sich abschwächen. Wir stehen bereits am Ende dessen, was Greenspan «The Great Moderation» genannt hat. Im Zuge dieser Veränderungen werden wir höhere Sparquoten in den USA erleben und verstärkten Konsum im Rest der Welt. Der Dollar wird auf absehbare Zeit schwach bleiben, was auch seine Vormachtstellung als internationale Währung weiter schwächen wird. Energie- und Rohstoffpreise könnten trotz Abkühlung der Nachfrage hoch bleiben. Einher geht dies mit höherer Volatilität und der Rückkehr der Inflation. Dies könnte auch die Gefahr eines weltweiten neuen Protektionismus mit sich bringen. Die Welt ist nicht flacher geworden. Aber eine Reihe von fetten Jahren nährt immer die Hoffnung, dass sich die Welt verändert habe: dass hohe Leistungsbilanzdefizite nicht mehr abgebaut werden müssten, dass hohe Liquidität nicht mehr zu steigenden Vermögens- und/oder Konsumentenpreisen führt, dass Risiken durch Finanzmarktinnovationen bezwungen und diversifiziert wurden, und dass Konjunkturzyklen der Vergangenheit angehören. Bis zur nächsten holprigen Phase und der Rückkehr zur Normalität.

Quelle: Maddison, Angus: «The World Economy. A Millennial Perspective», OECD, 2001.

Beatrice Weder di Mauro ist Professorin für Volkswirtschaftlehre an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz, Mitglied im Sachverständigenrat der deutschen Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Research Affiliate des Center for Economic Policy Research (CEPR) in London. Zuvor war sie als Ökonomin für den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank tätig.

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Als die Privatsphäre verloren ging Privates und Öffentliches sind die zwei Sphären, welche das Menschsein begründen. Erfunden durch die klassische griechische Philosophie, wiederentdeckt im Zeitalter der Aufklärung, fusst auf dieser Balance auch die moderne Gesellschaft, welche sie nun zu zerstören droht. Ein historischer Essay von Kurt Imhof. Es ist ohne Zweifel die grossartigste und wichtigste Erfindung der Menschheit: die Auftrennung des menschlichen Seins in eine Sphäre der Privatheit und in eine Sphäre des Öffentlichen. Sie trennt den Menschen vom Tier, sie ermöglicht den Weg aus der Barbarei in die Zivilisation. Demokratie, Aufklärung, Vernunft, ja selbst die moderne Marktwirtschaft, alles fusst im Grunde auf einer intakten Balance zwischen Privatem und Öffentlichem. Was sich über Jahrhunderte entwickelt und auch finstere Zeiten in der Geschichte überstanden hat, scheint nun, im 21. Jahrhundert, in akuter Gefahr. Die moderne Informations- und Wissensgesellschaft strebt nach der totalen Transparenz, einer Herrschaft, welche das subtile Kräftespiel zwischen Privatem und Öffentlichem ausser Kraft setzt. Welch einzigartige Errungenschaft damit demontiert wird, zeigt der Blick in die Historie: Wer weiss, was wurde, spürt auch, was bald nicht mehr sein könnte. Es ist dies eine Zeitreise in die Vergangenheit, die erahnen lässt, was die Zukunft bringt. Denn diese ist längst angebrochen, und es droht ein Rückfall in die Barbarei.

I. Polis Athen oder was die Menschheit der griechischen Aristokratie verdankt

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Die Trennung des Privaten und des Öffentlichen geht auf das Athen des Perikles im 5. Jh. vor unserer Zeitrechnung zurück. Wir wissen darüber dank Aristoteles, der die perikleische Zeit ein Jahrhundert später beschrieben hat. Es handelt sich um die wichtigste Unterscheidung,

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die die Menschen erfunden haben. Beide, das Private wie das Öffentliche, beziehen sich auf unterschiedliche Lebensweisen. Der Kern des Privaten wurde mit dem oikos, dem Landgut der besitzenden Bürger gleichgesetzt, der Kern des Öffentlichen mit der agora, dem Stadtplatz Athens. Das Private entspricht dem Reich des Notwendigen, hier vollzieht sich alles, was zur Reproduktion der Gattung gehört, insbesondere die Arbeit, das Essen und der Geschlechtsverkehr. In diesem Reich des Notwendigen unterscheiden sich die Menschen wenig von den Tieren, die ja auch für ihre Reproduktion sorgen müssen. Entsprechend war den Griechen die Tyrannis im Privaten gerechtfertigt, zumal die Sklaven, die Frauen, die Kinder und das Gesinde nur in diesem Reich des Notwendigen bzw. des Privaten leben. Dagegen gilt das Öffentliche als das Reich der Freiheit. Dieses Reich der Freiheit ist dadurch charakterisiert, dass alle in ihm frei zum Thema machen können, was ihnen beliebt. Genauso wie der oikos, das Landgut ausserhalb der Stadtmauern hat auch die Öffentlichkeit ihren präzisen sozialen Ort: es handelt sich um die agora, den Stadtplatz Athens. Hier ist das Reich der Freiheit. Für die Griechen gibt es dieses Reich der Freiheit nur deshalb, weil die Menschen verschieden sind. Dadurch unterscheiden sich die Menschen von den Tieren (die nur im Reich der Notwendigkeit leben), weil die Menschen über eine Sprache verfügen. Die Tatsache, dass sie über eine Sprache verfügen, ist der Beweis ihrer je eigenen Einmaligkeit. Die Tiere verfügen über keine Sprache, weil sie alle gleich sind, deshalb


Bild: Petros Giannakouris/Keystone

brauchen sie auch keine. Die Verschiedenheit der Menschen und ihre Sprachfähigkeit ist nun aber gleichzeitig die Voraussetzung der Möglichkeit des Lernens von anderen Menschen und das heisst die Voraussetzung für einen Sinn des Lebens und für Vernunft bzw. dem logos. Auf dieser Basis entstand die mächtigste und wichtigste nicht-religiöse Utopie der Menschheit: Wenn die Menschen nur frei miteinander sprechen können, dann sind sie zur Vernunft fähig, und das bedeutet, sie sind in der Lage, ihre Gesellschaft, ihre Geschichte und ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Demgegenüber erschienen ihnen die Tyrannis und die Oligarchie als barbarische Herrschaftsformen, weil beide die Gesellschaft wie das private Oikos behandeln würden. Deshalb war den Griechen die Demokratie im Sinne des Zusammenstimmens der Vielen (auf der Basis von Einsicht), die einzig mögliche Form der Vergesellschaftung der freien Bürger. Die-

ser Utopie verdanken wir ideengeschichtlich die wichtigsten Bürger- und Menschenrechte, die allesamt auf der Freiheit der Rede, der Medien, der Versammlung aufbauen. Gleichzeitig war aber auch die Idee einer Balance zwischen den Reichen der Notwendigkeit und der Freiheit angedacht. Dadurch dass der zugangsberechtigte Bürger im Reich der Freiheit seine Vernunft entwickeln kann, profitiert auch das Reich der Notwendigkeit, der oikos von den Einsichten freien Denkens und Redens. Das Private wird dadurch zivilisiert, die Barbarei aus der Öffentlichkeit eliminiert und in der Privatheit reduziert.

Kern des Öffentlichen: Akropolis in Athen.

II. Die Aufklärung oder die Renaissance einer mächtigen Utopie

Diese Utopie eines Austritts aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit (Immanuel Kant 1724–1804) hat die Aufklärung im 18. JahrhunResponsible Wealth Review – Juni 2008

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dert wieder aufgenommen. Die Aufklärungsphilosophie beerbt die klassische griechische Philosophie und macht dieselbe Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Dadurch wird diese alte Idee zur Grundlage der modernen Gesellschaft. Die Aufklärungsbewegung ordnet dem Öffentlichen, also dem freien Austausch der zugangsberechtigten Bürger, die Kultur und dem Privaten die Natur zu. Die Bürger können durch freie Kommunikation vernünftig und zivilisiert werden, während das Private wieder der Reproduktion der Gattung und dem Ausleben der naturgegebenen menschlichen Affekte dient. Der freie Bürger tritt aus der Privatheit hinaus, um am öffentlichen Austausch der Ideen teilzunehmen, bildet sich und kehrt in das Reich des Privaten zurück, das dadurch zivilisiert bzw. auch aufgeklärt wird. Das Private ist deshalb mit Verantwortlichkeiten und Tugenden verknüpft, die im Öffentlichen (konkret in den Aufklärungsgesellschaften) erarbeitet worden sind. Dies bedeutet insbesondere, die Prinzipien des eigenen Lebens so zu gestalten, dass sie allgemeines Gesetz werden könnten. Hierzu ist Bildung und Kultur Voraussetzung. Dieser Kantsche Imperativ bedeutet in letzter Instanz, dass die Freiheit des Individuums nur dadurch begrenzt ist, dass die Freiheit des einen nicht die Freiheit des anderen beschränkt. Die hohe Wertschätzung der Bildung und dieser Verantwortungsgrundsatz befördern nun das klassische bürgerliche Leben des 19. und 20. Jahrhunderts, das sich streng in Öffentlichkeit und Privatheit gliedert. Zwischen diesen beiden Bereichen befindet sich die bürgerliche Geselligkeit mit ihrer hohen Wertschätzung der Literatur, des Kammerspiels, der bildenden Kunst, des Konzerts und des Theaters, kurz: die bildungsbürgerliche Kultur mit ihrer hohen Wertschätzung für Höflichkeit und das bessere Argument. In diese bürgerliche Geselligkeit musste der Nachwuchs sorgfältig eingeResponsible Wealth Review – Juni 2008

führt werden, der zu diesem Zweck mit hohen Bildungsansprüchen im humanistischen Gymnasium erzogen wird. Diese bürgerliche Geselligkeit erscheint nun als möglich, wenn die Teilnehmenden ihre Affekte sorgfältig kontrollieren, also sich gemäss dem Kantschen Imperativ verhalten. Dies bedeutete insbesondere den rein privatwirtschaftlichen Marktwettbewerb so weit zu bändigen, dass er nicht zur Vernichtung von Mitgliedern dieser bürgerlichen Geselligkeit führt. Die bürgerlichen Clubs versuchen den die Geselligkeit gefährdenden ökonomischen Wettbewerb auch dadurch zu bändigen, dass nur je ein Vertreter des gleichen Berufes Mitglied werden kann. Selbstverständlich zeigt sich diese bürgerliche Geselligkeit und ihre dem Adel abgeguckte Höflichkeit auch in der Architektur des bürgerlichen Hauses. Entsprechend gehören die Wohnräume zu dieser Sphäre der bürgerlichen Geselligkeit zwischen dem Öffentlichen und Privaten. Hinter diesen Wohnräumen befindet sich die Sphäre des Intimen, die in der Ära des Bürgertums sorgfältig geschützt und entsprechend tabuisiert worden ist. In dieser klassisch bürgerlichen Lösung der Balance zwischen Öffentlichkeit und Privatheit mit der bürgerlichen Geselligkeit dazwischen siedelt sich das politische Leben im öffentlichen Raum an, in dem sich das bessere Argument durchsetzen soll. Das Öffentliche ist damit das, was alle angeht und deshalb nicht intim sein kann. Im Kern des Öffentlichen, im Parlament soll das bürgerliche Recht entwickelt werden, das dem Prinzip einer Freiheit zu dienen hat, in der die Freiheit des einen die Freiheit des anderen nicht ausschliesst und gleichzeitig die Menschheit über Vernunft zum Glück führt. Die Zwischensphäre der Geselligkeit dient der Kultur und der Gemeinsamkeit unter den Menschen. Sie soll so beschaffen sein, dass die rohen Kräfte der Affekte und des Marktes die Gesellig-


Bild: Photopress-Archiv/Keystone

Das Private wird öffentlich: Photographen inszenieren die Wirklichkeit. Aufnahme um 1950.

keit nicht zerstören. Dahinter liegt der Bereich des Privatwirtschaftlichen und noch weiter dahinter derjenige des Intimen und Geheimen. Privatwirtschaftliche Interessen sollen als partikuläre Interessen weder das Öffentliche dominieren noch das Gesellige zerstören können. Das Intime zählt zum innersten Bereich des Privaten, es beherbergt die Affekte, die weder zum Öffentlichen noch zum Geselligen noch zum Privatwirtschaftlichen zählen.

III. Die Zerstörung oder der Verlust der bürgerlichen Unschuld

Zur Zerstörung der strikten Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit haben viele Entwicklungen beigetragen. Die wichtigste aber ist die Ablösung der Medien von diesem bürgerlichen Milieu. Durch die Aufklärungsbewegungen mit ihren Periodika und insbesondere durch die Revolutionen an der Schwelle zur Moderne zum demokratischen Rechtsstaat wurden die seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Zeitungen politisiert und damit zu Organen von Parteien. Mit anderen Worten: Diese klassischen Leitmedien hatten keine ökonomischen Interessen, sie sprachen den Staatsbürger an und verlängerten die Parlamentsdebatten in den öffentlichen

Raum. Die Medien erweiterten damit das Öffentliche über die Versammlungsöffentlichkeiten der Aufklärungs- und Bildungsgesellschaften sowie der Parteien hinaus. Nur dadurch konnten nationale Gesellschaften entstehen, in denen sich ein Gemeinsamkeitsglaube, also ein bürgerliches Nationalbewusstsein auch zwischen Fremden entwickelt. Die Besitzer dieser Medien waren Parteien und Vereine und später, mit dem Aufkommen der Werbung, kamen die Forumsmedien dazu, welche im Besitz von zu den städtischen bürgerlichen Eliten gehörenden Verlegerfamilien waren. Bei den Qualitätszeitungen ist das noch bis heute der Fall. Erst die Entbettung der Medien aus diesem sozialen Kontext machte sie zu reinen Renditeunternehmen, die nicht mehr das Staatsbürgerpublikum, sondern den Medienkonsumenten ansprechen. Dadurch veränderten sich die Medieninhalte. Der Prozess der vollständigen Ablösung der Medien fand erst in den letzten 30 Jahren statt. Mit diesem Prozess veränderten sich die Medieninhalte radikal. Das Intime, das Persönliche, Charaktermerkmale, Lebensstile und die Skandalisierung, Personalisierung und Konfliktstilisierung machen das Private öffentlich, weil die wichtigsten Träger öffentlicher Kommunikation, die Medien, privat geworden Responsible Wealth Review – Juni 2008

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sind. Diese Privatheit unterscheidet sich jedoch von der bürgerlichen Geselligkeit grundsätzlich: die soziale Norm der Diskretion widerspricht direkt dem Geschäftsprinzip der Boulevardformate in den Zeitungen und im Fernsehen. Dieses Geschäftsprinzip ist auf mediale Verbreitung des Intimen fixiert. Dadurch wird das Private zugleich mit dem Öffentlichen zerstört. Diese Zerstörung bedeutet jedoch die Zurückdrängung des besseren Arguments und damit der Vernunft im öffentlichen Raum, weil immer mehr Privates und Intimes die Debatten um das Allgemeingültige beeinflussen. Das Private, mehr noch das aufgedeckte oder inszenierte intime Geheimnis des politischen wie des ökonomischen Personals eignen sich nicht für eine öffentliche Debatte um das bessere Argument. Charakterdarstellungen, Charakterurteile, Skandalisierungen und Home Storys kann man zur Kenntnis nehmen, aber genauso wie bei Geschmacksurteilen nicht vernünftig darüber streiten. Das bessere Argument tritt hinter die Charaktermerkmale des politischen und ökonomischen Personals und deren Charisma zurück. Überzeugung durch gute Argumente wird durch Affekte für oder gegen jemanden ersetzt. Gleichzeitig erodiert das Private als Hort der gemeinschaftlichen Geselligkeit. Verantwortungsvolles Handeln weicht einem Krieg aller gegen alle, der privatwirtschaftliche Wettbewerb erobert auch die Freizonen bürgerlicher Geselligkeit und unterzieht die gesamte Freizeitgestaltung der Kommerzialisierung.

IV. Die Zukunft oder wenn das Private öffentlich ist

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Angesichts dieser Privatisierung des öffentlichen Raums und der Öffentlichmachung der Privatsphäre möchte ich hier auf einige Aspekte dieses grundlegenden Wandels der Inhalte in der öffentlichen Kommunikation eingehen:

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• Wenn es um Politik geht, haben wir es heute mit einem «Pferderennen-Journalismus» zu tun, der auf die persönlichen Leistungen der Kandidaten und deren Fähigkeit, ihre Persönlichkeit in Szene zu setzen, fixiert bleibt. Politische Fragen zur Struktur des Gemeinwesens treten demgegenüber in den Hintergrund. • Deshalb entscheiden immer mehr Bürgerinnen und Bürger nicht politisch, sondern aufgrund ihrer Sympathie und Antipathie für oder gegen einen Kandidaten. • Moralische Themen wie sexuelle Belästigung, Rauchen, Essgewohnheiten sowie jede Art von Missbrauch sind zu politischen Fragen geworden. In der öffentlichen Kommunikation erleben wir einen moralischen Tsunami. • Überall in Europa gewinnen mehrheitlich, aber nicht nur, rechtspopulistische Bewegungen an Bedeutung. Mit hoch emotionalisierten Kampagnen machen sie Stimmung gegen Fremde und deren religiöse Orientierung, gegen Kriminalität, die eng mit Immigranten verbunden wird, und gegen das Verhalten politischer und wirtschaftlicher Eliten, welche die Interessen des Volks verraten – sie sprechen systematisch von einer neuen politischen Klasse. Aber das ist nicht alles: Was die Armen anbetrifft, so fordern diese rechtsgerichteten Bewegungen überall in Europa mit Nachdruck den gläsernen Menschen, der den Behörden bis ins letzte Detail über seine Einkommenssituation Auskunft geben muss, um soziale Unterstützung zu erhalten. Immer häufiger beauftragen die Behörden Sozialdetektive mit der Aufgabe, das Leben dieser Personen zu durchleuchten. Es ist klar, dass diese verstärkten öffentlichen Nachforschungen im Privatleben die Privatsphäre als Ganzes schwächen, weil linkspopulistische Akteure das Argument aufnehmen werden, um auch Wohlhabende zu gläsernen Personen zu machen.


• Angesichts dieser Skandalisierung und Konfliktstilisierung werden moralische Fragestellungen zum wichtigsten Gradmesser dieser populistischen Bewegungen. • Zu den interessantesten Entwicklungen zählt die Personalisierung der Wirtschaft. Die Wirtschaftsberichterstattung folgt heute denselben Regeln wie die politische Berichterstattung. Früher war die Wirtschaftsberichterstattung auf die Organisation ausgerichtet. Aber infolge der Personalisierung und Privatisierung von öffentlichen Kommunikationsunternehmen steht heute nicht mehr die Organisation, sondern der CEO im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Reputation des amtierenden CEO wird für die Steigerung der Reputation eines Unternehmens immer wichtiger. Dieser Prozess führt zu einer weit höheren Volatilität der Reputation, weil das Ansehen einer einzelnen Person viel anfälliger ist als diejenige einer Organisation. Ergebnis dieses Prozesses sind CEOs als charismatische Rollenvorbilder, was wiederum zur Folge hat, dass die Unternehmen mit jedem CEO grundlegend erneuert werden. Denn charismatische Rollen sind an die soziale Regel gebunden, welche die Besitzer dieser Rollen zwingt, ihrer Funktion eine völlig neue Richtung zu geben. Jeder charismatische Unternehmensführer muss sich heute von der Vergangenheit abgrenzen – «ich werde Sie in eine rosige Zukunft führen». Aber dieser Führungsanspruch hinsichtlich einer besseren Zukunft, gepaart mit den pseudoreligiösen Begabungen des Unternehmensführers, ist nur von kurzer Dauer. Aktionäre, Analysten und Medien fordern umgehend Leistung. Wer die Erwartungen nicht erfüllt, wird vom nächsten CEO abgelöst, mit dem eine neue Ära beginnt und der wiederum eine grundlegende Erneuerung des Unternehmens einleitet. • Was braucht es, um gegen diesen Prozess anzukämpfen? In den wichtigsten Ländern be-

Kurt Imhof ist Professor für Soziologie und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich/Schweiz und Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög).

findet sich der öffentliche Raum in einem denkbar schlechten Zustand. Qualitätsjournalismus und interessante publizistische Konflikte schwinden, während der moralische Tsunami gegen Einzelpersonen wütet. Inzwischen stecken auch die weltweit bedeutendsten Qualitätszeitungen in einer tiefen Krise. NZZ, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Le Monde, The Guardian, New York Times, Washington Post usw. mögen die Zentralorgane des öffentlichen Raums sein, aber ihnen mangelt es an einem Finanzierungsmodell zur Sicherung ihres wirtschaftlichen Überlebens. Heute sollte es aber allen – selbst den hartnäckigsten Befürwortern des Marktes – klar sein, dass eine uneingeschränkte Marktorientierung für den öffentlichen Raum die falsche Medizin ist. Wir benötigen Qualitätsmedien, um einerseits den westlichen Lebensstil zu bewahren und andererseits eine vernünftige Politik und vernünftige Bürger zu gewährleisten. Mit andern Worten: Wir haben es in der öffentlichen Kommunikation mit dem grössten Marktversagen zu tun, das es je gab. Und wenn wir angesichts moralischer Tsunamis und identischer Inhalte in sämtlichen Medienformaten ein solches Marktversagen auch im öffentlichen Raum beobachten, dann sollten wir über die Modelle zur Finanzierung von Qualitätsmedien nachdenken. Responsible Wealth Review – Juni 2008

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«Ansprüche auf Privacy opfern» Die Privatsphäre ist ein Menschenrecht, urteilt der führende amerikanische Privacy-Forscher Alan F. Westin. Eine junge, global vernetzte Internet-Generation bewertet die freie Kommunikation freilich höher als das Recht des Individuums auf Privatsphäre. Professor Westin, geht von Google die grösste Gefahr aus für unsere Privatsphäre?

Alan F. Westin: Google an sich stellt keine Gefahr für die Privatsphäre dar. Google ist die Triebfeder der Vorteile, die das Internet immer häufiger bringt. Aber wir sind gerade mitten drin, neue Regeln für die Privatsphäre innerhalb der von Google geprägten Welt auszuarbeiten. Welche Kernpunkte bestimmen die neuen Regeln?

Westin: Junge Menschen sind häufig bereit, sehr rasch ihre privaten Informationen preiszugeben. Nie zuvor gab es ein Kommunikationsmittel wie das Internet, mit dem die Leute so einfach weltweit kommunizieren konnten. Es verführt dazu, eine enorme Menge von Informationen über sich selbst zu veröffentlichen. Was motiviert die Leute, ihre Informationen auf Websites wie Facebook oder MySpace mit Fremden zu teilen?

Westin: Es ist eine Generationsfrage. Heute wachsen junge Menschen problemlos in eine Kommunikationswelt hinein. Die Technologie, nicht Fragen um die Privatsphäre bestimmt, wie diese Generation über das Kommunizieren nachdenkt. Zwar warnen Privatsphäre-Experten, dass Arbeitgeber oder Gesetzeshüter einfach sehen können, was ins Internet gestellt wird. Aber derzeit werten viele die freie Kommunikation höher als das Recht auf Privatsphäre. Stärken oder schwächen neue Technologien die

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Privatsphäre?

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Westin: Beides passiert. Anfänglich haben Technologien wie Lauschgeräte oder Computer hauptsächlich grossen Organisationen gedient, selten aber Einzelpersonen. Zuerst der Personal Computer, dann das Mobiltelefon und schliesslich das Internet führten einen Wechsel herbei. Technologie hat die Menschen gestärkt und ihnen Möglichkeiten gegeben, ihre Privatsphäre besser zu wahren, etwa mit Verschlüsselungssoftware. Was ist Privatsphäre?

Westin: Privatsphäre wird oft als etwas schwer Fassbares beschrieben. Das trifft aber nicht zu. Privatsphäre bedeutet, dass jede Person ein Recht darauf hat, selbst zu entscheiden, an wen sie wann welche Informationen preisgibt. Zudem beschriebe ich vier Zustände der Privatsphäre: Einsamkeit, Vertrautheit, Distanziertheit und Anonymität. Wie wichtig ist für Sie die eigene Privatsphäre?

Westin: Für mich ist Privatsphäre extrem wichtig. Auf Facebook bin ich nicht. Ich will selber bestimmen können, was über mich veröffentlicht wird. Das ist der Kern der Privatsphäre. Warum ist es wichtig für Menschen, dass sie selber entscheiden können, was über sie bekannt ist?

Westin: Wir alle brauchen Ruhe. Um uns zu fangen, um zu reflektieren, um wichtige Entscheide zu treffen müssen wir immer wieder aus den Augen und den Ohren anderer verschwinden können. Es wäre extrem schädlich für Men-


Führender PrivacyForscher: Alan F. Westin, emeritierter Professor der Columbia University New York.

schen, keine Rückzugsmöglichkeiten in die Privatsphäre zu haben. Zudem besteht eine enge Verbindung zwischen Privatsphäre und Diskriminierung. In unserer Gesellschaft werden Informationen genutzt, um Rechte, Vorteile oder Möglichkeiten an Konsumenten, Bürger oder Angestellte zu verteilen. Sie begannen in den fünfziger Jahren, sich mit der

Privatsphäre wissenschaftlich zu befassen. Warum hielt Ihr Interesse am Thema während nunmehr

Westin: Historisch gesehen kannte jede Gesellschaft mit einem hohen Grad an Freiheit stets das Recht auf Privatsphäre. Autoritäre Gesellschaften hingegen hinterfragen und bedrohen das Recht auf Privatsphäre ständig. Privatsphäre ist ein Teil der Geschichtsschreibung der Freiheit, wofür ich mich schwergewichtig interessiere. Ihr erstes Buch über Privatsphäre erschien 1967, kurz nach der amerikanischen Bürgerrechtsbewe-

gung. Ein Jahr später wurde Richard Nixon zum US-Präsident gewählt. Wie wichtig war – oder ist – Nixon für die Privatsphäre-Bewegung?

Westin: Er ist der Pate der Privatsphäre. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren sprach ich in Reden über die zahlreichen neuen Probleme im Umfeld der Privatsphäre. Die Leute sagten, «das ist alles nur hypothetisch, wer wird denn Informationen sammeln und sie gegen irgendjemanden anwenden?». Mit Watergate dramatisierte Nixon das missbräuch-

Bild: Stefan Falke

fünf Jahrzehnten an?

liche Sammeln von Informationen. Ohne Watergate hätte 1974 der Privacy Act, das US-Gesetz für die Privatsphäre, nie verabschiedet werden können. Dann war Watergate in den USA die Triebfeder für

die Gesetzgebung der Privatsphäre. Was war der Antrieb in Europa?

Westin: Die Erinnerung an den Faschismus und die Nazis brachte zuerst in Schweden, dann in Deutschland und schliesslich in der ganzen EU die Einsicht, dass Privatsphäre ein Menschenrecht ist. Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Wie unterscheiden sich die juristischen Ansätze in den USA und in Europa hinsichtlich Privatsphäre?

Westin: Die europäische Tradition orientiert sich weit mehr an spezifischen Regeln und Gesetzen. Während in den USA die Laissez-faireTradition vorherrscht. Wir sagen, «zeig mir zuerst den Schaden, wenn es nicht schadet, können es die Leute tun». Sie analysieren die Privatsphäre-Rechte wohlha-

bender Menschen. Dabei betonen Sie, dass die

Reichen und die Berühmten immer häufiger das

Ziel grossangelegter Datensammlungen werden.

Westin: Seit dem Mittelalter in Venedig waren Wohlhabende in der Lage, ihr Geld ausserhalb der offiziellen Systeme zu verwalten. Seit dem Anfang von Finanzsystemen nutzen sie dafür Privatbanken und private Geldwechsler. Noch immer gibt es private Schweizer Konten und Banken auf den Cayman Islands. Es gibt also Möglichkeiten für die Wohlhabenden, ihre Finanztransaktionen privat zu halten. Regierungen wollen diese gelegentlich überprüfen.

Westin: Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu wissen, wenn Geld genutzt wird, um das WirtWestin: Es ist ein Paradox der Privatsphäre. schaftssystem, die Sicherheit oder den politiOft müssen Arme und Mittelständige sehr viel schen Prozess zu beeinflussen. Wir müssen demehr preisgeben, um in den Genuss von staat- finieren, was rechtmässig privat gehalten werden lichen Dienstleistungen oder wirtschaftlichen kann. Das kann nur von Fall zu Fall geschehen. Vorteilen zu gelangen. Die Reichen haben da wenig zu fürchten. Anderseits sind die Aktivitä- Häufiger wollen Regierungen Finanzinformatioten der Reichen und Berühmten seit Beginn der nen untereinander austauschen. Wie kann in solZeitrechnung von enormem Interesse. Die Rei- chen Fällen das Recht auf Privatsphäre geschützt chen und Mächtigen können sich in private Sied- werden? lungen zurückziehen und mit Privatflugzeugen Westin: Es gibt keine Weltregierung. Wir hafliegen. Gleichzeitig sind sie ständig Zielscheibe ben Einzelstaaten. Es gibt verschiedene Traditider medialen Öffentlichkeit. Alle wollen wissen, onen und unterschiedliche Rechts- und Finanzwie sie ihr Geld ausgeben oder wie sie ihre Haare systeme. Geld bewegt sich global. Es gibt zwar schneiden. Anstrengungen, eine Norm zu kreieren für den Austausch von Finanzinformationen. Das wird Wie können sich die Wohlhabenden schützen? kaum funktionieren, da es keine Zauberformel Westin: Sie müssen ständig auf dem Laufen- gibt. Meist muss von Fall zu Fall entschieden den sein, was über sie gesagt wird, geschrieben werden. Die Frage sollte dabei immer lauten: «Zu und gezeigt wird. Immer mehr benutzen Dienst- welchem Zweck will eine Regierung Informatioleistungen, die ihnen dabei helfen, und mit de- nen einer Einzelperson in einem anderen Staat nen sie im Notfall reagieren können. sammeln?» Warum?

Die Reichen sind zudem dem Konflikt ausgesetzt

Oft geht es um Steuerfragen. Wie lösen

Interesse von Regierungen, Finanzinformationen

seine Steuerzahler nicht verlieren will, und

zwischen dem Recht auf Privatsphäre und dem

zu sammeln und mit anderen zu teilen. Wie lösen

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Sie diesen Konflikt auf? Responsible Wealth Review – Juni 2008

Sie den Konflikt zwischen einem Staat, der

dem Recht einer Einzelperson auf finanzielle Privatsphäre?


Westin: Historisch gesehen waren Steuern stets ein wichtiger Bestandteil der PrivatsphäreDebatte. Ein Staat will Steuereinnahmen. Diese sichert er sich entweder auf demokratischem oder diktatorischem Weg. Dann muss er das Geld für die richtige Sache verwenden. Einzelpersonen hatten stets das Gefühl, «das ist mein Geld, ich habe es dank meiner Denkfähigkeit oder meiner Arbeit verdient, und ich möchte so wenig wie möglich davon abtreten». Das ist ein anhaltender Konflikt.

Alan F. Westin ist emeritierter Professor der Columbia University in New York, an der er 37 Jahre lang öffentliches Recht und Staatskunde gelehrt hatte. Westin gilt als führender Privacy-Experte. Die Fragen stellte Peter Hossli. Er ist freier Journalist und lebt in New York.

Wie lösen Sie den Konflikt auf?

Westin: Von Fall zu Fall. Es scheint einen grossen wirtschaftlichen und sozialen Vorteil zu geben, private Geldströme ausserhalb des Radars zu halten. Deshalb lassen Regierungen das auch zu. Wird es aber missbraucht, oder sind zu viele Transaktionen illegal, so dass ein Staat nicht mehr genügend Geld kriegt um seine Pflichten zu erfüllen, dann wird er sich dagegen wehren. Ist Geld die intimste Information, die Menschen privat halten wollen?

Westin: Seit mehr als vierzig Jahren führe ich Umfragen durch, wobei stets zwei Bereiche als besonders wichtig angesehen werden: Die Finanzen und die Gesundheit. In den Augen vieler offenbaren Finanzinformationen alles. Warum ist die Privatsphäre wichtig, wenn es um Gesundheit geht?

Westin: Weil ein enger Zusammenhang zwischen Gesundheit und Diskriminierung besteht. Ist mein Gesundheitszustand bekannt, dann kann mein Arbeitgeber gegen mich vorgehen. Eine Versicherung kann eine Police entweder ablehnen oder aber die Prämien erhöhen. Eine Krankheit kann eine Person zudem stigmatisieren.

Wie hat der Terroranschlag vom 11. September 2001 das Recht auf Privatsphäre verändert?

Westin: Dramatisch. Es hat sich ein Konflikt entwickelt zwischen der Regierung, die beschränkt in die Privatsphäre eingreifen soll, und einer Welt, in der Mobiltelefone, das Internet oder Geldströme von Terroristen genutzt werden. Die Leute wollen beides. Sie wollen der Regierung die Macht geben, gegen Terroristen vorzugehen, aber sie werden sehr nervös, wenn die Regierung den E-Mail-Verkehr überwacht und bei Telefongesprächen mithört. Wir müssen die richtigen Limiten finden und Sicherungen einbauen. Um sicher zu bleiben, müssen wir wohl gewisse Ansprüche auf Privatsphäre opfern. Was werden die grossen Themen der PrivatsphäreForschung in den nächsten Jahren sein?

Westin: Das Internet ist und wird die Triebfeder sein. Wir müssen den Leuten darlegen wie wichtig es ist, dass sie an ihre Privatsphäre denken, wenn sie das Internet nutzen.

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Die 9 Antriebskräfte des globalen Wandels verteilung der Artenvielfalt und ihrer LebensAl Gore hat für das Treffen des Private Wealth Counräume; neu einwandernde Arten; Wachstum cils im Jahre 2005 in Bad Ragaz, Schweiz, seine Liste und Ausbreitung der Insekten. Zunahme von der 9 Treiber globaler Veränderungen entwickelt. Krankheitsüberträgern (Zecken, Mücken etc.) Diese wurden mit den Teilnehmern des Councils – Mikrobische Verlagerung auf höhere Breidiskutiert. Entstanden ist eine ausdrucksstarke Auftengrade und Höhen (aufgrund höherer listung von Mega-Trends. Temperaturen, wärmerer Nächte, milderer

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Globale Umweltkrise

Die globale Erwärmung

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– Klimatisches Ungleichgewicht: Störung des günstigen, stabilen Gleichgewichts in Gebieten, die in den letzten 10 000 Jahren für Besiedlung und Ackerbau ausgewählt wurden. – Stärkere, feuchtere, zerstörerische Stürme – Niederschlagsmuster im Wandel: Insgesamt global mehr Niederschläge bei steigender Verdunstung über den Ozeanen, aber starke Rückgänge in einigen Regionen; prozentuell höhere Niederschläge bei grossen Stürmen (5 cm oder mehr in 24 Stunden); prozentuell mehr Regen im Vergleich zu Schnee; Schneeschmelze und Schmelzwasserabfluss finden früher statt. Schnellere Verdampfung der Bodenfeuchtigkeit; mehr Überschwemmungen und Dürren gleichzeitig – Wassermangel: Verschmutzung der Trinkwasservorräte; Raubbau der Grundwasservorräte – Abschmelzende Gletscher und Eisflächen: Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter mit Verdrängung von vielen Millionen Menschen; zunehmende Gefahr eines Anstiegs von über 7 Metern in diesem Jahrhundert; Risiko eines kühler werdenden Nordatlantiks mit daraus resultierender Verlangsamung des Golfstroms und plötzlicher Abkühlung in Nord- und Westeuropa – Radikale Änderungen bei den Grenzen ökologischer Nischen für Tiere und Pflanzen. NeuResponsible Wealth Review – Juni 2008

Winter und weniger Frosttagen) – Zunehmend ausser Kontrolle geratender Treibhauseffekt Zerstörung der Meeresproduktivität

– Raubbau durch Seefischerei – Übersäuerung der Meere – Radikale Veränderungen bei der Salzverteilung; kühlere Arktis und kühlerer Nordatlantik, mehr Salzgehalt in tropischen Meeren – Verlust der Korallenriffe und der von ihnen abhängigen Tierarten – Einfluss der Seefahrt auf die biologische Vielfalt (fremde Arten, Verlagerung, Schiffsrumpfslack zur Bewuchsverhinderung, Abfallverkippung etc.) Verlust der Regenwälder und Feucht­gebiete sowie der sich darin konzentrierenden biologischen Vielfalt

Verwüstung und Austrocknung

– Zunehmende Wüstenbildung – Verlagerung von Völkern (Beispiel: Flüchtlinge aus dem verwüsteten Tschad ziehen nach Darfur) – Mehr Sandstürme, besonders in den Randgebieten von Gobi und Sahara Die Krise des Aussterbens entspricht vom Umfang

her den drei bisherigen globalen Aussterbensphasen vor 400 Millionen, 270 Millionen und 65 Millionen Jahren


– Verlust der biologischen Vielfalt weltweit; Verlust der Vielfalt auf genetischer Ebene; folglich Verlust der Ökosystem-Flexibilität Verlust

der

Produktivität

in

den

oberen

Bodenschichten und folglich Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion

Verschlechterung und Verlust der wawilowschen Zentren des Keimplasmas und der genetischen Vielfalt der Nahrungsfrüchte

Luftverschmutzung in Städten Dauerhafte, langfristige Giftabfallanhäufung

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Globale Transition im Energiesektor

Steigender Ölpreis – Ersatz für Reserven immer teurer

– Instabile Preise – Macht der OPEC bei der Preisbildung kehrt zurück – Intensiver geopolitischer Wettbewerb beim Zugriff auf Vorkommen, geopolitische Instabilität – Immer kostspieligere Gewinnung von Öl aus den vorhandenen Reserven, Knappheit an Fachkräften – Energiesicherheit im Umfeld der Kohlenstoffverknappung Wettlauf bei der Entwicklung von kosteneffek-

tiven erneuerbaren Energien und «saubereren» Versionen aller Alternativen zu Öl und Kohle; zunehmendes Interesse an Erdgas Effizienz und Erhaltung

CO2-Abscheidung und -Ausstoss Steiler Anstieg des CO2-Handels nach Inkrafttreten des Kyoto-Abkommens

Reaktion der globalen Energiepolitik CO2-Steuern Druck auf die Neugestaltung und -strukturierung

aller Systeme, welche grosse Energieverbraucher tangieren

Auferstehung der Kernenergie mit Unterstützung der Regierungen und Widerstand der Versorger

Druck auf «saubere Kohle» – besonders in den USA und China

Zunehmender Ressourcen-Nationalismus

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Bevölkerung/Demografie

Vervierfachung der Weltbevölkerung in den letz-

ten 100 Jahren, von 1,6 auf 6,4 Milliarden; Stabilisierung bei über 9 Milliarden in den nächsten 50 Jahren, weiterhin beunruhigender Schwung

Zunehmend ungleiche Verteilung des Reichtums

zwischen entwickelten Staaten und Entwicklungsländern (und innerhalb von Ländern beiden Typs) trotz grossem Gesamtwachstum an Vermögen und Produktivität

– Globale Armut erfordert mehr Aufmerksamkeit – Wachsende Märkte am «Boden der Pyramide» Urbanisierung und Ausbreitung von Mega-Städten (über 15 Millionen Einwohner) hauptsächlich in den weniger entwickelten Ländern

Responsible Wealth Review – Juni 2008

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– Verdoppelung der Stadtflächen weltweit in den nächsten 30 Jahren

«Neue» Krankheiten tauchen auf

Migration

Pandemien bei Tieren und Pflanzen

– Explosives Bevölkerungswachstum der Entwicklungsländer wird angezogen vom Vakuum des Bevölkerungsrückgangs in den entwickelten Ländern – Fremdenfeindlichkeit und Bedrohung für den demokratischen Pluralismus

– Bienenmilben, «plötzliches Eichensterben» etc. – Monokulturen bei den Feldfrüchten steigern die Anfälligkeit

Flüchtlingskrisen

– Staatenlose Menschen – Umweltflüchtlinge – Kulturelle und ideologische Konflikte

– Überalterung und Bevölkerungsrückgang (ausgenommen Immigration) in entwickelten Ländern – Höhere Gesundheits- und Rentenkosten frühere

Heiratsungleichgewicht

Pubertät

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Wissenschaftliche und technologische Hyperrevolution

Genetische Veränderung von Menschen, Tieren

Längere Lebenserwartung und kleinere Familien

Gleichberechtigung,

– SARS, Vogel-Grippe etc.

und

– Sozialer und kultureller Wandel Jugendzuwachs bringt bei zu geringer Beschäftigung politische Instabilität in wichtigen Bereichen

– Saudi-Demographie und Auswirkungen auf den Ölpreis und die politische Instabilität der Region

und Pflanzen

– Medizin auf genetischer Grundlage – Klonierung – Auswahl und Steigerung von Charakteristiken – Lebensverlängerung – Verwischen der Grenzen zwischen Arten und zwischen Leben und Maschinen Schnelle Verbreitung von Super-Rechnern

– Beschleunigung des technischen Fortschritts der Systeme durch Superrechner – Informationen ersetzen Stoffe als Hauptquelle der meisten wirtschaftlichen Werte Künstliche Intelligenz Robotertechnik

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Pandemien

HIV/AIDS, TB und Malaria Antibiotika-resistente Stämme von früher bereits kontrollierten Krankheiten tauchen wieder auf

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– Mutierte «Superbazillen» Responsible Wealth Review – Juni 2008

Nanotechnologie Neue Molekulartechnik und neue Materialwissenschaft

Neurowissenschaften und Verhaltensmanipulation


Neue, wesentlich präzisere Einsichten in die «menschliche Natur»

Ausbreitung der Massenvernichtungswaffen Vielfache, ständig neue, beunruhigende und bisher unbekannte Technologien

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Hyperrevolution in der Kommunikation

Allgegenwärtiges Breitband-Internet

– Explosion beim Zugang zu Wissen: Immer mehr Online-Communities mit Selbstverwaltung, Organisationen und Zentren wirtschaftlicher und politischer Macht; allgegenwärtige Computer-Explosion beim Zugriff auf Verarbeitungsleistung; preiswerte Computer-Arbeitsplätze für die 3. Welt; allgemein zugängliche Software begünstigt die schnelle Entwicklung von leistungsstarker und hoch effizienter Datenerfassung sowie von kostengünstiger Verarbeitungstechnologie. – Neue/alternative und kostengünstige Infrastrukturen für individuelle Kommunikation, grösseres Nutzungsspektrum beim universellen Drahtlosnetz auf der Erde und über Satellit – Öffnung der PC- und Mobilkommunikationsinfrastruktur ausserhalb des Einflussbereiches von einschränkenden Mega-Unternehmen – «X-Internet» für den Anschluss von Milliarden integrierter Sensoren und Geräte: Schnelles Wachstum bei der Technologie für Überwachung, Ortung und Personentransparenz, Verlust der Privatsphäre

Das Fernsehen ersetzt den gedruckten Text als vorherrschendes Massenmedium

– Satelliten-TV öffnet abgeschottete Kulturen – Kanalverbreitung über Kabel und Satellit – Das Lesen von Zeitungen und Zeitschriften nimmt stark ab, allerdings sind Bücher nicht betroffen: Elektronischer Text gewinnt schnell an Beliebtheit, und Blogs werden zu einer neuen Kraft in Kultur und Politik; eine Text-Renaissance? Die Werbung schaltet von Papierveröffentlichungen auf die InternetSuche um. – Soziales und politisches Ungleichgewicht begleitet den Übergang von den Printmedien zum Fernsehen: Wegfall von Vermittlung durch Eliten. Kulturelles Ungleichgewicht und Verlust traditioneller Verhaltensmuster

Ungleichgewicht bei den Werten und empfundener Bedeutungsverlust – Einengung und Herabsetzung des «Öffentlichen Forums» Rückgang beim Mitbestimmungsdialog – Niedrige Einstiegsschwellen bei den Printmedien werden durch hohe Einstiegshürden bei der Massenverbreitung von Videos ersetzt. – Bis das Internet stark genug für die Echtzeitübertragung ist, Massenverbreitung von Full-Motion-Videos – Konsolidierung von Besitzverhältnissen und Kontrollen

Schwächung des auf Aufklärung abzielenden Regierens – Vernunftgründe verlieren an Boden gegenüber der rohen Gewalt – Stärkere Anfälligkeit gegenüber Ultranationalismus, Stammessystemen und totalitären Ideologien Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Mehr Propaganda- und Informationsstrategien – Bürgerwiderstand; gemeinschaftliche Filterung und auf Ansehen basierende Einstufung von Informationsquellen durch Gleichgesinnte

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Globalisierung

– –

Neuverteilung von Arbeit und Investitionen auf IT-Basis

– Abwanderung hochbezahlter Facharbeiter in reichere Länder – Überschuss bei allen Industriegütern zu geringeren Preisen – Schnelles und ausgesprochen ungleichmässiges Wachstum auf den neuen Märkten – Bedrohung der Freihandels-Philosophie Aufstieg von China und Indien

– Neuverteilung der Machtverhältnisse in Asien – Mehr Wettbewerb bei globalen Ressourcen – Durchgreifen gegen Korruption

Anstieg von Fundamentalismus als Störkraft und Organisationsprinzip

Regionalen Einheiten (Flandern und Wallonien,

– Islamischer Fundamentalismus. Bedrohung weltlicher Regime. Androhung einer «Kollision» mit dem Westen. Androhung der Unterstützung des Terrorismus. Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten – Christlicher Fundamentalismus – Hinduistischer Fundamentalismus – «Markt-Fundamentalismus»

etc.)

Ausbreitung der Demokratie

Gleichzeitiges Auftreten von übernationalen

Einheiten (EU, NAFTA, WTO, UN – privilegierte Organisationen etc.) und

Katalonien, Quebec, Nunavut, Kurdistan, Aceh

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in neu aufgenommenen Ländern gelten als wirtschaftliche Bedrohung. Wiedergeburt separater Identitäten innerhalb der nachkolonialen Nationen, die nach dem 1. und 2. Weltkrieg entstanden sind. Stärkung der nationalen Autonomie in den ehemaligen Sowjetrepubliken Neustrukturierung der lateinamerikanischen Länder durch einheimische Mehrheiten, die sich über IT Gehör und politischen Einfluss verschaffen, und durch Arme, welche angesichts der Ungleichheit bei Einkommen und Lebensstil die Geduld verlieren. Afrikanische Krisen (Bürgerkriege, Hyperkorruption, schnelle Industrialisierung und soziales Chaos, HIV/Aids, Hunger, Dürren etc.) erfordern globale Aufmerksamkeit und Beachtung. Bildung instabiler «postnationaler Einheiten»

– Europäische Geburtswehen bei Integration, Expansion und Führung: Währungsunion ohne Finanzkoordination sorgt für Übergangskrise; Stärkung der nationalen Identitäten durch fremdenfeindliche Reaktionen auf Einwanderungsflut besonders bei den Muslimen (bei gleichzeitig laufendem Beitrittsantrag der Türkei); niedrigere Löhne Responsible Wealth Review – Juni 2008

Fehlen einer effektiven globalen Führung

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Kriege

Die Bedrohung durch einen Kernwaffenkrieg besteht nach wie vor


Al Gore ist ehemaliger Vizepräsident der Vereinigten Staaten unter Präsident Bill Clinton, Unternehmer und prominenter Umweltschützer. Aus seiner Multimediapräsentation über die globale Erwärmung ist die mit dem Oscar ausgezeichnete Dokumentation «An Inconvenient Truth» (dt.: «Eine unbequeme Wahrheit») hervorgegangen. Im Jahre 2007 erhielt er für sein Umwelt-Engagement zusammen mit dem Weltklimarat den Friedensnobelpreis.

Lang anhaltende Bürgerkriege werden weiter geführt

– Kongo/Kinshasa, Sudan, Kolumbien, Sri Lanka etc. Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen Terrorismus

– «Schmutzige Kernwaffen» – Gestohlene oder vom Schwarzmarkt stammende Kernwaffen – Biologische Kampfstoffe – Boden-Luft-Raketen – Billige, intelligente Waffen mit Lasersteuerung – Cyberterrorismus Überreaktion auf Terrorismus Gemeinschaften grundlage

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auf

Geistes-/Überzeugungs-

Kurzfristige

Investitionsziele

nachhaltigen Strukturen

Systemisches Versagen bei der Konzentration auf zukünftige Konsequenzen der gegenwärtigen Entscheidungen und Politik

– «Führung des Planeten wie ein Konkursunternehmen» – Die «Tragödie der globalen Gemeingüter» Eine Generation der unnachhaltigen Kreditvergabe, des Verbrauchs und des Abfalls

– Doppeldefizite – Asiatische Gläubiger der USA (besonders China) spielen eine wichtigere Rolle – Gefahr plötzlicher Folgen bei den Wechselkursen

keine

– 100% jährlicher Umsatz im Portfolio beim durchschnittlichen Investmentfonds – Mehr Investmentfonds als Aktien – Der gesamte Markt geht auf «Short» statt «Long». – Fehlende Investitionen in die Zukunft Unvollständige

Kurzfristiges Denken und Mangel an Visionen

schaffen

Wertmessungen;

ungenaue

Erkennung von Risiken und Möglichkeiten

Falsche Ausrichtung von Anreizen für Investoren und Manager

Reformen brauen sich zusammen

– Risikokapitalismus, Verantwortlichkeit und Transparenz nehmen zu. – Die Produktion von Gemeingütern durch Gleichgesinnte kann sich als Antriebsmotor der wirtschaftlichen Veränderung erweisen. – Die Investitionen am Boden der Pyramide stehen auf Augenhöhe mit den nachhaltigen und verantwortungsbewussten Investitionen. – Zunehmendes Verständnis der systemeigenen Risiken der Nachhaltigkeit – Eingliederung von externen Kräften durch Geschäfte und Investitionen Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Aufwachsen mit dem Internet Dass sich junge Menschen in öffentlich zugänglichen OnlineUmgebungen häuslich einrichten, hat wenig mit Leichtsinn und viel mit dem Wunsch nach kontrollierter Autonomie zu tun. Die Unterschiede zwischen öffentlicher und privater Identität dürften sich ohnehin bald auflösen, prophezeit Jonathan Zittrain.

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Die Wertvorstellungen zum Thema Privatsphäre befinden sich im Wandel. Viele machen bei der Einstellung gegenüber der Privatsphäre eine altersbedingte Kluft aus, die sie bisher nur in den sechziger Jahren beim Rock ’n’ Roll erlebten. 55 Prozent aller Teenager mit Internetzugang haben auf Seiten wie MySpace Profile erstellt. Doppelt so viele Teenager wie Erwachsene haben ihren eigenen Blog. Junge Menschen tauschen zwar gerne Informationen übers Internet aus, sorgen sich aber interessanterweise auch mehr um die staatliche Überwachung als Ältere. Einige nehmen zur Kenntnis, dass ihre Identität trotz Datenschutzkontrollen aufgedeckt werden kann. Ein Grossteil der im World Wide Web verfügbaren Informationen über Nutzer, die nach 1985 geboren wurden, stammt von diesen selbst. Sie übermitteln Unmengen von Fotos, Ansichten und Zustandsberichten über ihr Leben, die bis zur letzten Minute aktualisiert sind. Wer Freunde auf Fotos taggt, sorgt dafür, dass diese Aufnahmen automatisch mit allen genannten Personen assoziiert werden – ein grosser Schritt auf dem Weg in eine Welt, in der es genügt, an einem Event zu erscheinen, damit die eigenen Fotos und Namen via Internetsuche abgefragt werden können. Die Bedenken zu diesem Phänomen lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Die erste ist ausgesprochen patriarchalisch: Kinder können nicht beurteilen, wann persönliche Informationen weitergegeben werden sollen und wann nicht. Wie bei anderen Entscheidungen mit beResponsible Wealth Review – Juni 2008

deutenden Auswirkungen auf ihr Leben – Vertragsabschluss, Alkoholkonsum, Filme mit gewalttätigem oder sexuellem Inhalt – sollten junge Menschen möglicherweise vor überstürzten Entscheidungen geschützt werden, die Verletzungen ihrer Privatsphäre erleichtern. Die zweite Kategorie betrifft Menschen, die zwar rationale Entscheidungen treffen, wenn es um den kurzfristigen Informationsaustausch geht, aber unterschätzen, was geschehen kann, wenn diese Daten von Fremden indexiert, wiederverwendet und für neue Zwecke benutzt werden. Beide Arten von Bedenken sind berechtigt, und entsprechend könnten wir Pförtner-Tools dazwischenschalten, um junge Menschen zu schützen, bis sie ein bestimmtes Alter erreicht haben und selbständig entscheiden können.

Kinder und Erwachsene trennen

Genau diesen Ansatz verfolgt der amerikanische Children’s Online Privacy Protection Act von 1998 (COPPA, Gesetz zum Schutz der Privatsphäre von Kindern im Internet). Das COPPA enthält Vorschriften für die Betreiber von Websites und Diensten, die bewusst identifizierbare Informationen über Kinder unter 13 Jahren sammeln: Ohne Zustimmung der Eltern

Öffentliche Zurschaustellung: Inszeniertes Lebensgefühl an der Zürcher Streetparade 2006.


Bild: Georgios Kefalas/Keystone

Responsible Wealth Review – Juni 2008

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ist ihnen dies untersagt. Die Folgen sind an den meisten gängigen Websites, die Daten sammeln, zu erkennen, enthalten sie doch ein Kästchen, in dem der Nutzer oder die Nutzerin bestätigt, dass er/sie über 13 Jahre alt ist. Das Ergebnis war allerdings abzusehen. Kinder lernen schnell und geben ganz einfach ein Alter über 13 ein, um die gewünschten Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Die Einschränkung des Informationsflusses an Kinder erfordert ein Ausmass an Interventionen, das bisher die Bereitschaft jeder Rechtsprechung übertraf. Die häufigste Methode, um im Internet Kinder und Erwachsene zu trennen, ist die Identifizierung einzelner Netzwerkendpunkte, die primär oder häufig von Kindern benutzt werden, um die Aktivitäten dieser Endpunkte danach einzuschränken: PCs in Bibliotheken und öffentlichen Schulen werden oft durch Filtersoftware blockiert, was zuweilen auf umstrittene behördliche Auflagen zurückzuführen ist. Der Umstieg vom grundsätzlich reprogrammierbaren PC zu «Informationsgeräten», die von den Anbietern gesteuert werden können, würde die Kosten der Altersüberprüfung im Internet beträchtlich senken. Viele dieser Geräte – Mobiltelefone, iPods, Videospielkonsolen – könnten beim Kauf mit dem Geburtstag des Benutzers initialisiert oder in der Annahme verkauft werden, dass Kinder das Gerät benutzen, sodass dieses erst nach Überprüfung des Alters durch den Anbieter entsperrt wird. Genau so werden bereits viele Mobiltelefone mit Internetzugang verkauft, die keine Codeeingaben durch Dritte erlauben, sodass sie bedeutend sicherer für den Zugriff auf genehmigte Websites konfiguriert werden können.

Sich zum Ausdruck bringen

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Diese patriarchalischen Interventionen gehen davon aus, dass die Benutzer bei der Weitergabe von Online-Informationen vorsichtiger werden, sobald sie erwachsen sind. Und selbst wer nicht mehr Vorsicht walten lässt und dies später bereut, hat in gewisser Weise eigenständig gehandelt, was respektiert werden sollte. Aber die Generationenkluft bei der Privatsphäre scheint nicht nur eine Frage des Leichtsinns oder der Ri-

Responsible Wealth Review – Juni 2008

sikotoleranz von Kindern zu sein. Viele derjenigen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, haben sich nicht nur an eine öffentliche Dimension ihres Lebens gewöhnt – im Internet sind sie für mindestens 15 Leute berühmt –, sondern setzen alles daran, um diese zu fördern. Ihre Vorstellung von Privatsphäre übersteigt die traditionelle Forderung an den Datenschutz, gewisse Geheimnisse oder private Daten unter Verschluss zu halten. Stattdessen richten sie sich in öffentlich zugänglichen Online-Umgebungen ein, um diese zu ihrer eigenen Umgebung zu machen. MySpace – zurzeit die drittbeliebteste Website in den Vereinigten Staaten und die sechstbeliebteste weltweit – hat einen vielsagenden Namen: Er verspricht den Benutzern implizit, dass sie ihre persönlichen Seiten gestalten und einrichten können, um sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Fast jedes Merkmal einer MySpaceHomepage kann von ihrem «Besetzer» umgestaltet werden, und genau das tun die Nutzer mithilfe von Tools, die von MySpace und externen Entwicklern bereitgestellt werden. Das ist echte Generativität: MySpace-Programmierer entwickeln Plattformen, die von Nutzern mit geringerer technischer Begabung, aber mehr kreativer Energie gesteuert und umgestaltet werden können. Vorrangiger Aspekt der Privatsphäre ist für MySpace-Nutzer nicht etwa die Informationsgeheimhaltung, sondern die Autonomie: Ein Gefühl der Kontrolle über ihre Heimat, auch wenn sich das Gekaufte später ihrem Einflussbereich entziehen kann. Bei der Privatsphäre geht es darum, einen Ort einzurichten, den wir ohne unangemessene Eingriffe oder Störungen für uns allein haben – einen Ort, an dem wir unsere Identitäten einbringen können. Am direktesten kann das an einem bestimmten Ort geschehen – «Your home is your castle». Nach Auffassung der Rechtsprofessorin Margaret Radin trifft dies auch für Objekte zu. Sie dachte dabei an einen Ring oder ein anderes Schmuckstück, aber auch ein iPod mit sorgfältig ausgesuchten Musikoder Videosequenzen erfüllt die Voraussetzungen. Der Verlust eines solchen Geräts übersteigt den Geldwert für die Neuanschaffung. MySpaceSeiten, Blogs und ähnliche Online-Aussenposten können als Verwahrungsorte für unsere Identi-


tät dienen, bei denen nicht die Geheimhaltung, sondern die persönliche Kontrolle ausschlaggebend ist. Ein Bericht der US-Regierung zur Privatsphäre von 1973 hielt fest: «Eine agrarisch geprägte Frontiergesellschaft liess zweifellos weit weniger Privatsphäre zu als eine moderne städtische Gesellschaft, und eine Kleinstadt auf dem Land lässt bis heute weniger zu als eine Grossstadt. Dichter, Romanautoren und Sozialwissenschaftler erklären uns, jeder auf seine Weise, dass das Leben einer Person oder Familie in einer Kleinstadt ein offenes Buch ist verglichen mit der anonymen Existenz von Stadtbewohnern. Dennoch kann der Einzelne in einer Kleinstadt an seinem Vertrauen festhalten, weil er auch die Kontrolle behält. Er lebt in einer Welt persönlicher Kontakte, in einem Sozialsystem, in dem jemand für unverantwortliches Verhalten identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden kann. Demgegenüber tragen das unpersönliche Datensystem und die gesichtslosen Nutzer der darin enthaltenen Informationen nur im formellen Sinn Verantwortung. In der Praxis sind sie grösstenteils immun gegen jegliche Sanktionen des Einzelnen.»

Gesichtslose Internetnutzer

Dauerhafte Lösungen für die neue Generation von Problemen der Privatsphäre, die durch das generative Internet entstehen, werden im Wesentlichen aus Verbindungs- und Kontrollwerkzeugen für diejenigen bestehen, die persönliche Informationen und Ausdrucksformen produzieren, transformieren und konsumieren: Werkzeuge, die dafür sorgen, dass die Sozialsysteme der Leistungsfähigkeit technischer Systeme gewachsen sind. Das heutige Internet ist eine unangenehme Mischung aus Persönlichem und Unpersönlichem. Es kann helfen, Gemeinschaften aufzubauen und weiterzuentwickeln oder Menschen für Ideen und Projekte zu gewinnen. Aber es kann auch als eine Art unpersönliche Bibliothek von enormen Ausmassen angesehen werden: Gesichtslose Nutzer führen eine Suche durch und konsumieren dann per Mausklick, was sie sehen wollen. Viele Vertreter der jüngeren Generation, die mit dem Internet aufgewachsen sind, sind von seinen sozialen

Möglichkeiten überzeugt. Sie sind bereit, mehr Informationen über sich in diese Netze zu stellen, und eher gewillt, sich mit Leuten auszutauschen, die sie noch nie persönlich kennengelernt haben. Sie dürften nicht dieselbe Kluft zwischen der öffentlichen und der privaten Person sehen wie einst Mark Twain: «Wir sind unauffällige Schafe; wir warten, wohin die Herde zieht, und laufen ihr dann hinterher. Wir haben zwei Meinungen: eine private, die auszudrücken wir uns nicht trauen, und eine andere – die offizielle –, die wir uns auferlegen, um der Nachbarin zu schmeicheln, bis uns die Gewohnheit damit versöhnt und wir durch die ständige Rechtfertigung veranlasst werden, sie zu lieben und zu bewundern, während wir vergessen, auf welch erbärmliche Weise wir darauf gekommen sind.» Fotos von Trinkgelagen auf Facebook dürften die Karriereaussichten der Beteiligten tatsächlich trüben – aber schon bald werden diejenigen, die Rekrutierungsentscheidungen treffen, über eigene Erfahrungen mit Facebook-Seiten verfügen. Die Unterschiede zwischen unserer öffentlichen und unserer privaten Identität dürften sich weitgehend auflösen, sobald wir digitale Umgebungen entwickelt haben, in denen Meinungen geäussert und später revidiert werden können. Unsere Fehltritte und Irrtümer werden die digitalen Druckerpressen nicht zum Stoppen bringen; vielmehr werden das Gute wie das Schlechte zu einem Dialog gehören, der sowohl die Attribute einer Kleinstadt aufweist als auch, wie John Perry Barlow es nennt, einer «Welt, in der jeder überall seine oder ihre noch so ungewöhnlichen Überzeugungen kundtun kann ohne fürchten zu müssen, deshalb zum Schweigen oder zur Konformität gezwungen zu werden». Aber auch eine solche Welt wird nicht vollkommen sein. Es wird Leute geben, die sich von ihren privaten Peinlichkeiten distanzieren möchten, ohne dass sie es können. Aber sie wird besser sein als eine ohne leistungsstarke generative Instrumente, eine Welt, in der die Überwachungswerkzeuge von gesichtslosen Unternehmens- und Regierungsdatenbanken kontrolliert werden, wie es seit Anbruch des Computerzeitalters befürchtet wird.

Der Amerikaner Jonathan Zittrain ist Professor für InternetGovernment und -Regulierung an der Oxford-Universität und Mitbegründer des Berkman Center für Internet & Society der Harvard Law School. Der vorliegende Text stammt aus seinem im April 2008 publizierten Buch «The Future of the Internet and How to Stop It».

Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Privacy 2008 – wie viel Schutz ist noch vorhanden? Nicht mehr viel: die rasante Verbreitung der Informationstechnologie, die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen, die moderne Verbrechensbekämpfung und die Globalisierung des Datentransfers höhlen die Privatsphäre aus, analysiert der Datenschutzexperte Stephan Lechner.

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Datenschutz – das Wort ist für jedermann ein Begriff, auch wenn es rechtlich nicht jegliche Ausprägung von Informationssicherheit umfasst, sondern auf den Schutz von personenbezogenen Daten beschränkt ist. In der Bundesrepublik Deutschland ist das so genannte Recht der Informationellen Selbstbestimmung sogar seit dem Volkszählungsurteil1 des Bundesverfassungsgerichts von 1983 als Grundrecht formal anerkannt – obwohl es im Grundgesetz selbst nicht einmal ausdrücklich erwähnt wird. Dennoch besitzt jeder Bürger das verfassungsmässige Recht, selber zu entscheiden, wo und in welchem Umfang seine personenbezogenen Informationen gespeichert werden. Im Zuge der fortschreitenden Nutzung von Grossrechnern und elektronischer Datenverarbeitung errichteten die Gesetzgeber in Europa seit den siebziger Jahren ein rechtliches Datenschutzwerk aus verschiedenen Institutionen, Gesetzen und Verordnungen, das letztendlich 1995 durch entsprechende Richtlinien der Europäischen Union harmonisiert wurde2. Obwohl die Grundzüge der aktuellen Datenschutzregelungen auch im Jahre 2008 noch den ursprünglichen Ideen aus den siebziger Jahren entsprechen, hat sich das relevante Umfeld durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik in den vergangenen Jahren stark verändert. Der Einzug rechnergestützter Softwaresysteme in fast allen wesentlichen Lebensbereichen hat dazu geführt, dass Datenschutz schon lange nicht mehr auf den Anwendungsbereich des Grossrechners im EDV-Zentrum beschränkt ist. Responsible Wealth Review – Juni 2008

Im modernen Umfeld sind die grundsätzlichen Prinzipien des Datenschutzes allerdings nicht immer leicht mit anderen Anforderungen zu vereinbaren, so dass im Laufe der Jahre eine grosse Anzahl von Ausnahmeregelungen geschaffen wurden, die die ursprüngliche Stärke des Datenschutzes inzwischen signifikant gemindert haben. Interessanterweise ist dieser Umstand trotz teilweise hitziger öffentlicher Diskussion dem betroffenen Bürger oft nicht einmal bekannt.

Moderne Zeiten – Datenschutz im Jahre 2008

Grundsätzliche Philosophie des Datenschutzes in Europa ist das so genannte «Verarbeitungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt»: Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist grundsätzlich unzulässig, es sei denn, sie wird durch das Datenschutzgesetz oder eine andere Rechtsvorschrift ausdrücklich erlaubt. Dieser Ansatz wurde einst gewählt, um den Datenschutz als ernst zu nehmende Kraft zu etablieren, ist jedoch im Laufe der Jahre durch eine Unzahl von gesetzlichen Regelungen und «anderen Rechtsvorschriften» stark ausgehöhlt worden. Überraschend ist insbesondere die Tatsache, dass in Einzelfällen auch niederrangige rechtliche Regelungen wie z.B. Betriebsvereinbarungen zwischen Firmenleitung und Betriebsrat als «andere Rechtsvorschriften» im Sinne des BDSG interpretiert werden und somit im betrieblichen Umfeld die ursprünglich unzulässige Verarbeitung personenbezogener Daten ermöglichen können.


Die so entstehende Schwächung des Datenschutzes ist in den vergangenen 20 Jahren im Wesentlichen durch vier Trends beeinflusst worden, die auch signifikant zum gesellschaftlichen Wandel beigetragen haben. Neben der bereits erwähnten Verbreitung von Informationstechnologie und Telekommunikation (ITK) sind dies: – Privatisierung staatlicher Dienstleistungen, – moderne Verbrechensbekämpfung sowie – Globalisierung im internationalen Datentransfer.

ITK-Verbreitung

Zum ersten Trend, der rasanten Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologie, hat neben Internet-Protokoll und World Wide Web auch die in vielen Systemen verborgene Verwendung von «embedded» (eingebetteter) Software auf integrierten Schaltungen beigetragen: Vom Telefongerät bis zum Pkw findet man in den meisten technischen Systemen heutzutage umfangreiche Softwarepakete – wobei viele dieser Produkte hinsichtlich ihrer Datenschutzrelevanz ursprünglich sicherlich nicht im Blickpunkt des Gesetzgebers lagen. Basis für diese Verbreitung sind die technischen Miniaturisierungsmöglichkeiten der Halbleiterbranche, in der nach dem Moore’schen Gesetz3 circa alle 12 bis 18 Monate eine Verdoppelung der Speicherkapazität auf gleicher Fläche erfolgt. Die verschiedenen Industriezweige, die entsprechend miniaturisierte oder virtualisierte Produkte anbieten, haben sich in den vergangenen 20 Jahren so stark entwickelt, dass viele der heute geläufigen Technologien zu Beginn der Datenschutzgesetzgebung noch nicht einmal existierten: HTML-basierte Webseiten, öffentlich verfügbare Suchmaschinen zur umfassenden elektronischen Recherche, Digitalfotografie, Mobiltelefone, PDAs (Organizer), satellitengestützte Navigationssysteme, DVDs oder USB-Speicher-

sticks sind allesamt erst nach 1990 Massenprodukte geworden. Solcherlei neue Technologien bieten erwartungsgemäss ein breites Anwendungsgebiet zur Verarbeitung personenbezogener Daten: Laut deutschem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)4 beginnt diese Verarbeitung bereits mit der Erhebung bzw. Speicherung und schliesst elektronische Angaben jeglicher Art ein, die Rückschlüsse auf persönliche oder sachliche Verhältnisse eines Betroffenen zulassen. Datenschutzfragen haben somit Einzug in die meisten Privathaushalte, Firmen, Schulen, Behörden und Institutionen Europas gehalten.

Privatisierung

Der zweite Trend, der für die datenschutzrechtliche Kontrolle erhebliche Änderungen mit sich gebracht hat, ist die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Passagierdaten im privatisierten Reiseverkehr5, Verbrauchsdaten im privaten Energieversorgungsmarkt, Patientendaten im privatisierten Gesundheitsbereich und Verbindungsdaten privater Telekommunikationsanbieter sind seit dem Wegfall einst staatlicher Monopole nicht mehr ausschliesslich in öffentlicher Hand. Mit zunehmender Privatisierung ist auch die direkte staatliche Kontrolle geschwächt worden: In einem technisch schnell voranschreitenden privatisierten Umfeld, das sich im Gegensatz zum staatlichen Monopolisten nicht durch klare Dienstanweisungen lenken lässt, herrscht teilweise ein weiter Interpretationsspielraum, wie rechtliche Datenschutzvorgaben im Einzelfall zu interpretieren und umzusetzen sind. Insbesondere bei neuen Geschäftsmodellen aus dem Umfeld des Internets und der Telekommunikation existiert oft noch kein juristischer Fachkommentar, der eine Entscheidung in Grenzfällen vereinfachen könnte. So hat sich beispielsweise ein regelrechter Wildwuchs von VertragsformuResponsible Wealth Review – Juni 2008

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lierungen für die Zustimmung zur Verwendung von Mobilfunkdaten entwickelt, bei dem der unbedarfte Kunde schon lange nicht mehr weiss, welche Risiken er mit welcher Entscheidung eingeht. Einzelfallregelungen können im BDSG und den nachgeordneten Rechtsverordnungen ohnehin nur sehr allgemein beschrieben werden: Im Zweifel der Zulässigkeit einer Datenverarbeitung muss teilweise zwischen dem Interesse der verarbeitenden Stelle (die Firma) und dem Interesse des Betroffenen (der Kunde) schlicht und einfach abgewogen werden. Sicherlich oft eine schwierige Entscheidung für einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten, auch wenn dieser Kraft Gesetz in seiner inhaltlichen Beurteilung ungebunden ist.

Innere Sicherheit

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Der dritte Trend, der sich auf den Datenschutz überwiegend politisch ausgewirkt hat, ist die Modernisierung der Verbrechensbekämpfung. Zur Verbesserung der inneren Sicherheit und zum Schutz vor internationalem Terrorismus sind insbesondere seit den Anschlägen vom 11. September 2001 weltweit vielfältige gesetzliche Regelungen getroffen worden, die das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung einschränken. Der in Deutschland öffentlich kontrovers diskutierte, schliesslich 1998 eingeführte und 2004 wieder eingeschränkte «Grosse Lauschangriff» auf Privatwohnungen17,18,19, der Austausch von Passagierdaten im Flugverkehr in die USA5 oder die Europäische Richtlinie16 von Anfang 2008 zur Verbindungsdatenspeicherung für Telekommunikations- und Internetanbieter sind nur einige prominente Beispiele. Die nationale Umsetzung entsprechender Vorgaben erweist sich dabei teilweise als echter Balanceakt zwischen innerer Sicherheit und dem verfassungsmässig garantierten Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung: Bereits im März

Responsible Wealth Review – Juni 2008

2008 wurde in Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht der Zugriff der Ermittlungsbehörden auf gespeicherte Verbindungsdaten entgegen der gesetzlichen Regelung stark eingeschränkt17 – die Pflicht zur umfangreichen Speicherung hingegen hat weiterhin Bestand. Ohne an dieser Stelle detailliert auf die Arbeit von Ermittlungsbehörden eingehen zu wollen, muss ferner darauf hingewiesen werden, dass die Telekommunikationsüberwachung inzwischen zu einem wesentlichen Bestandteil der Verbrechensbekämpfung in fast allen industrialisierten Staaten geworden ist. Die Anzahl der Telekommunikationsüberwachungsmassnahmen hat in den vergangenen Jahren in Deutschland stetig zugenommen9 und die jährliche Anzahl der Abfragen von Kundendaten bei Telefonunternehmen durch Ermittlungsbehörden liegt bereits seit Ende der neunziger Jahre in den Zehntausenden. Dabei geraten auch unbeteiligte Dritte in den Überwachungsbereich, wenn sie telefonischen Kontakt zu überwachten Verdächtigen haben oder hatten, und im klassischen Ermittlungsstil werden oft auch deren weitere Kontaktpersonen untersucht. Schon eine indirekte Beziehung zu einer Kontaktperson eines (eventuell zu Unrecht) Verdächtigten kann somit bereits zur Verarbeitung umfangreicher personenbezogener Daten bei den Ermittlungsbehörden führen.

Globalisierung

Letzter wesentlicher Trend ist die Globalisierung des Datentransfers. Während sich trotz unterschiedlicher nationaler Gesetze zur inneren Sicherheit im europäischen Umfeld durch die Datenschutzrichtlinie der Europäischen Union eine Harmonisierung des Datenschutzniveaus ergeben hat, ist der Unterschied zum Umgang mit dem Transfer personenbezogener Daten in die USA noch gravierend. Anstelle der für


Bild: Preston Keres/AP US Navy/Keystone

EU-Mitgliedstaaten üblichen gesetzlichen Regulierung tritt die so genannte «Safe-HarbourRegelung»6. Dieses Prinzip wurde geschaffen und zwischen EU und US-Regierung vereinbart, um den bestehenden, aber nach Inkrafttreten der EU-Datenschutzrichtlinie möglicherweise unzulässigen Datentransfer in die USA zu legalisieren. Es besteht aus einer optionalen Selbstkontrolle derjenigen Organisationen oder Firmen, die sich zur Einhaltung von Grundprinzipien bei der Verarbeitung personenbezogener Daten bekennen. Doch auch Unternehmen, die sich nicht im «sicheren Hafen» befinden, sind nicht von der Datenverarbeitung ausgeschlossen: Die entsprechenden Prinzipien sagen aus, dass auch ein Datentransfer zu US-Organisationen, die sich nicht dem «Safe Harbour» angeschlossen haben, möglich ist. Dieser muss jedoch auf Ausnahmen basieren, wie zum Beispiel der Zustimmung des Betroffenen oder andern-

falls durch zusätzliche Sicherheitsmassnahmen (wie zum Beispiel vertragliche Vereinbarungen) geschützt werden6. Diese Formulierung verdient jedoch eine genauere Betrachtung im Hinblick auf die Möglichkeiten zur Verarbeitung personenbezogener Daten: • US-Organisationen innerhalb des Safe Harbour dürfen personenbezogene Daten verarbeiten und unterliegen keiner strikten behördlichen Kontrolle. Die Umsetzung der lediglich optionalen Selbstkontrolle ist der Organisation selbst überlassen und Sanktionen bei nicht genehmigter Datenverarbeitung sind überwiegend durch Verbraucherschutzverbände, Betroffene selbst oder im publik gewordenen Schadensfalle durch die öffentliche Meinung und den daraus resultierenden Imageverlust zu befürchten. • Organisationen ausserhalb des Safe Harbour müssen in der Regel die Zustimmung

Innere Sicherheit: Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001.

Responsible Wealth Review – Juni 2008

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des Betroffenen einholen, um eine rechtliche Grundlage für eine Datenverarbeitung zu haben. Zustimmungsklauseln zur Verarbeitung personenbezogener Daten finden sich daher in vielen Serviceverträgen – beispielsweise im Mobilfunksektor, bei Internet-Anbietern, im Bereich des Pay-TV oder bei der Nutzung von Payback-Karten. Entsprechende Zustimmungsklauseln sind meist bereits vorformuliert und werden oft als «privacy clause» oder (Datenschutzklausel) bezeichnet, was jedoch täuscht: bei Unterschrift wird eine oft nicht erforderliche Verarbeitung der jeweiligen Nutzungsdaten für Zwecke des Anbieters genehmigt, so dass die personenbezogenen Daten üblicherweise besser geschützt sind, wenn der Kunde die so genannte «Datenschutzklausel» nicht unterschreibt. Der wesentliche Schutz gegen eine ungewollte Zustimmung des Betroffenen gegen die Nutzung seiner personenbezogenen Daten liegt daher in einem gesunden Sicherheitsbewusstsein der Betroffenen und deren Mut zum Streichen optionaler Vertragsklauseln. Dies ist im europäischen Umfeld überwiegend möglich, da die Erbringung einer Dienstleistung nicht von der Verarbeitung von dafür nicht erforderlichen personenbezogenen Daten abhängig gemacht werden darf. • Organisationen ausserhalb des Safe Harbours können ohne Zustimmung des Betroffenen auch eine zusätzliche Absicherung der Datenverarbeitung (z.B. über allgemeine Verträge, auch jedoch über andere, nicht weiter spezifizierte Sicherheitsmassnahmen) vornehmen. Auf diese Art und Weise entsteht ein grosses Spektrum von Ausnahmemöglichkeiten zur Legalisierung einer im Prinzip nicht erforderlichen Verarbeitung personenbezogener Daten. Responsible Wealth Review – Juni 2008

Dennoch muss klargestellt werden, dass auch in den USA die unbefugte Verarbeitung personenbezogener Daten durchaus risikobehaftet ist, da die Öffentlichkeit trotz aller Einschränkungen für die nationale Sicherheit auf das Thema «Privacy» sensibel reagiert: Erst jüngst haben die Ende März 2008 aufgetretenen illegalen Einblicke in die personenbezogenen Daten der Präsidentschaftskandidaten für ein beachtliches Presseecho (und für einige Entlassungen) gesorgt7. Auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche der Betroffenen werden in den USA in deutlich höheren Dimensionen geltend gemacht, was das wirtschaftliche Risiko einer Datenschutzverletzung zusätzlich vergrössert. Das Prinzip der marktwirtschaftlichen Datenschutz-Selbstkontrolle im Sinne der Safe-Harbour-Regelungen sollte daher nicht als unwirksam bezeichnet, aber sehr wohl gut verstanden werden: In den USA können in Einzelfällen von Datenschutzverletzungen sicherlich wirtschaftliche Einbussen für den Verursacher entstehen, die weit über die im europäischen Bereich üblichen moderaten Geldstrafen hinausgehen. Auch auf der globalen Ebene bietet sich dasselbe ambivalente Bild des Datenschutzes. Die UN-Datenschutzprinzipien8 von 1990 sind umfangreich angelegt und beinhalten unter anderem wertvolle Grundsätze wie z.B. die Gesetzmässigkeit der Verarbeitung, die Korrektheit der Daten oder den Zugriff für Personen mit berechtigtem Interesse. Unter Ziffer 6 der UN-Prinzipien findet sich allerdings auch die Möglichkeit, Ausnahmen zu machen («The power to make exceptions»), die – ins Deutsche übersetzt – bei näherer Betrachtung wie folgt definiert wird: «Abweichungen von den Prinzipien 1 bis 4 können nur dann autorisiert werden, wenn sie erforderlich sind, um die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die öffentliche Gesundheit oder Moral (‘morality’) zu schützen.»


Bild: Everett Collection/Keystone

Auch diese weit gespannte Formulierung ist bewusst gewählt worden, um den Datenschutz nicht zum Schutzschild für kriminelle Aktivitäten werden zu lassen. Durch vielfältige Ausnahmeregelungen – alleine der Begriff von «Moral» ist sicherlich weit interpretierbar – ist das grundsätzliche Verarbeitungsverbot somit selbst auf der Ebene der Vereinten Nationen schwächer ausgelegt, als es im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert ist.

Fallbeispiele aus der Privatwirtschaft

Doch auch ausserhalb des Ermittlungsbereiches werden ganz legal, aber teilweise ohne echtes Bewusstsein der Betroffenen umfangreiche Daten erhoben und verarbeitet, wobei das individuelle Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch verschiedenerlei Rechtsabkommen erneut geschwächt wird. Im mühsam verhandelten Passagierdatenabkommen5 der EU mit den USA finden sich beispielsweise neben Namen, Reisedaten, Vielflieger-Informationen, Reisebüro, Flugscheinnummer usw. unter anderem folgende Formulierungen, die einen weiten Bereich unscharf definierter Daten für den Transfer und die Verarbeitung freigeben:

– Jegliche verfügbare Kontaktinformationen – Jegliche verfügbare Zahlungs- und Abrechnungsinformationen – Sämtliche Gepäckinformationen Die Begrenzung solcher Begriffe ist offensichtlich schwierig und eröffnet einen weiten Spielraum zur Verarbeitung personenbezogener Daten. Doch auch in völlig anderen, für den Betroffenen eher unerwarteten Bereichen des internationalen Reiseverkehrs werden legal personenbezogene Daten gespeichert: Telekommunikationsbetreiber senden aus Marketing-Gründen Willkommenskurznachrichten an ausländische Kunden, die neu im Mobilfunknetz erscheinen. Um die Versendung mehrfacher Nachrichten an dieselbe Nummer (nach kurzfristigem Ausschalten des Gerätes, Verlassen des Empfangsbereichs, oder kurzzeitigem Wechsel in ein anderes Netz) zu vermeiden, muss temporär eine elektronische Liste aller Grenzüberschreitungen beim jeweiligen Mobilfunkbetreiber vorliegen. Entsprechend abgesichert ist dies datenschutzrechtlich zulässig, aber unter den oben beschriebenen gesetzlichen Ausnahmeregelungen ist für Ermittlungsbehörden (oder bei versehentlich erteilter Kundenzustimmung schlimmstenfalls auch für Marketingabteilun-

Globalisierung des Datentransfers: Telefonistinnen, undatierte Aufnahme.

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gen) ein Zugriff auf solch umfangreiche grenzüberschreitende Bewegungsprofile durchaus möglich. Ausserhalb des Bewusstseins der breiten Öffentlichkeit hat sich durch die oben beschriebenen Trends und die schrittweise Aushöhlung der ursprünglich sehr konsequent eingeführten Datenschutzbestimmungen eine umfangreiche legale Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten etabliert.

Schutzmechanismen und Empfehlungen

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Elektronische Datenverarbeitung besitzt den offensichtlichen Vorteil, dass Daten fast beliebig kopiert werden können. Leider ist somit auch eine nachträgliche Kontrolle fast unmöglich, sobald sich personenbezogene Daten (auch nur kurzfristig) in falschen Händen befunden haben. Grundsätzliches Prinzip und somit auch eines der besten Hilfsmittel zum Schutz gegen den Missbrauch personenbezogener Daten ist daher ein gesundes Sicherheitsbewusstsein. Während sich im Zuge der Verbreitung von Internet-Portalen wie Facebook oder My­ Space10,11 gerade unter Jugendlichen ein Trend zur Veröffentlichung von personenbezogenen Daten abzeichnet, können die langfristigen Folgen der vertrauensseligen Preisgabe von Informationen kaum abgesehen werden: Firmen suchen teilweise heute bereits in den FacebookSeiten von jungen Bewerbern nach Anzeichen von Unzuverlässigkeit (so ist zum Beispiel das freizügige Bekenntnis, schon einmal betrunken gefahren zu sein, für einen Bewerber als Kurierfahrer sicherlich nicht dienlich) und ein neuer Internet-Geschäftszweig hat sich inzwischen darauf spezialisiert, entsprechende negative Aussagen und Bekenntnisse seiner Auftraggeber aus den entsprechenden Online-Quellen wieder zu löschen. Insbesondere ist bei entsprechenden Responsible Wealth Review – Juni 2008

Datenangaben im Internet natürlich zu beachten, dass sie keinesfalls wahr sein müssen und teilweise nicht einmal der Betroffene selbst der Urheber mancher über ihn im Internet verfügbaren Informationen ist. Eine weitere gute Möglichkeit zur Vermeidung der Verarbeitung personenbezogener Daten ist sicherlich die Vermeidung der Erhebung solcher Daten. Registrierungen im Internet, die Teilnahme an Gewinnspielen, die Registrierung für Bonusprogramme, das kostenfreie Abonnement von Diensten oder die freiwillige Beantwortung von Umfragen sollten im vollen Bewusstsein darüber beurteilt werden, dass professionelle Adresshändler bei erteilter Genehmigung umfangreiche Profile aus den erhaltenen Angaben zusammenstellen und auf dem freien Markt legal verkaufen. Bei der Bewertung entsprechender Profile spielen die professionelle Datenfusion (Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Quellen), das Data-Warehousing zur Gesamtansicht und -auswertung sowie das Data-Mining zur Suche nach speziellen Angaben seit Jahren eine bedeutende Rolle. Dass all diese Auswertungsmethoden schon lange nicht mehr manuell, sondern durch speziell entworfene Anwendungsprogramme vollständig automatisiert durchgeführt werden, sei hier nur am Rande erwähnt – die Grösse des entsprechenden Marktes wird auf mindestens 12 Milliarden Euro geschätzt12. Vor der eventuell nicht benötigten Preisgabe personenbezogener Daten sollte daher immer der eigene Nutzen gegen den kompletten Verlust an Kontrolle abgewogen werden. Letztlich kann auch die Nutzung von Anonymisierungskonzepten oder Pseudonymisierungskonzepten empfohlen werden. Anonymisierung strebt einen Zustand an, in dem keine Rückführbarkeit auf den Endbenutzer oder eine von ihm benutzte Referenz möglich ist, während Pseudonymisierung die Verwendung von


«Alias»-Namen und die Profilierung gestattet, den Rückschluss zur natürlichen Person jedoch nicht zulässt. Zwar haben sich für die anonyme Internet-Nutzung gegen Ende der neunziger Jahre mehrere verschiedene Portale13,14 gebildet, aus Sicherheitsgründen hat jedoch der Gesetzgeber inzwischen der völlig anonymen Inanspruchnahme von Internet- oder Telekommunikationsdiensten Grenzen gesetzt und in den meisten Ländern eine Registrierung beim Anbieter vorgeschrieben und die anonymisierenden Webseiten teilweise zur Registrierung ihrer Nutzer verpflichtet – ein Konzept, das der Idee von Anonymität deutlich widerspricht. Da aber selbst bei den noch bestehenden Anonymisierungskonzepten, die keine Registrierung erfordern, ein Zugriff auf die an zentraler Stelle eventuell doch vorliegenden Internet-Adressen und Nutzungsprofile nicht absolut ausgeschlossen werden kann, ist die Vermeidung von Daten im Zweifel besser als deren Anonymisierung. Dem Datenschutz wird das Spannungsfeld von Informationeller Selbstbestimmung und nationaler Sicherheit in demokratischen Gesellschaften dauerhaft erhalten bleiben. (In anderen Gesellschaftsformen spielt der Datenschutz naturgemäss teils eine eher untergeordnete Rolle.) Die fortschreitende Technologie, die zunehmende Privatisierung und Virtualisierung von Unternehmen und Geschäftsmodellen sowie die modernisierte Verbrechensbekämpfung und der globale Datenaustausch sind auch in Zukunft starke Trends. Den Auswirkungen solcher Trends mit nachhaltigen Konzepten zu begegnen, wird eine der wesentlichen Herausforderungen für den rechtlichen und technischen Schutz personenbezogener Daten bleiben. Der bewusste Umgang der Bürger mit ihren personenbezogenen Angaben und ein kritischer und zurückhaltender Umgang mit deren Preisgabe für elektronische oder elektronisierbare Medien ist ein wichtiger Schritt zu einer guten

Balance zwischen individuellem Grundrecht und Schutz der Allgemeinheit. Ein gewisses Misstrauen gegen die eventuell unnötige Erhebung von Daten und die Nutzung des gesunden Menschenverstandes in der Beurteilung der Notwendigkeit sind sicherlich nicht der schlechteste Ratschlag an jeden einzelnen Betroffenen zur Handhabung des heiklen Spannungsfeldes zwischen Datenschutz und Datenbedarf in einer zunehmend komplexen rechtlichen und technologischen Umgebung.

Quellen: 1 Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland vom Dezember 1983 zum Volkszählungsgesetz 1983 1 BvR 209/83 u.a. 2 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 281 vom 23.11.1995, S. 31 3 Original: Dr. Gordon E. Moore, Cramming more components on integrated circuits, Electronics, Volume 38, Number 8, April 19, 1965. Siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/ Mooresches_Gesetz nach Gordon Earl Moore, Mitbegründer der Firma Intel, 1965 4 Bundesdatenschutzgesetz in der Fassung vom 14. Januar 2003 (BGBl. I S. 66), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. August 2006 (BGBl. I S.1970) 5 Passagierdatenabkommen: EU/US-Agreement 195/07 vom 18.07.2007 bzw. Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records – PNR) und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das United States Department of Homeland Security (DHS) (PNR-Abkommen von 2007), Amtsblatt der Europäischen Union L204/18 vom 04.02.2007 6 2000/520/EG Safe Harbour Principles oder: http://www. export.gov/safeharbor/ 7 «Passdaten von Obama, Clinton und McCain ausspioniert», Frankfurter Allgemeine FAZ.net vom 21.03.2008; www.faz.net; URL: http://www.faz.net/s/Rub0A1169E18C724B0980CCD72BCFAE4F/Doc~E791E29D5CA4C4E1 788511035ACB8D58F~ATpl~Ecom mon~Scontent.html 8 UN-Datenschutzprinzipien:

Stephan Lechner ist Datenschutzexperte und Direktor am Institute for the Protection and Security of the Citizen (IPSC) bei der Europäischen Kommission.

United Nations Guidelines Concerning Computerized personal Data Files, adopted by the General Assembly on 14 December 1990 9 Dokumentation der Telekommunikationsüberwachung vorgelegt – Erweiterung der TÜ-Statistik im Streit; Deutsche Richterzeitung 3/2000, S. 93 ff. 10 www.facebook.com 11 www.myspace.com 12 etwa: Hermann Gfaller, Goldgräberstimmung im Data Warehouse Markt, Silicon.de, 27.06.2007, im Internet verfügbar unter http://www.silicon.de/cio/ b2b/0,39038988,39181058,00/ goldgraeberstimmung+im+data_ warehouse_markt.htm 13 www.anonymizer.com 14 www.@nonymouse.com 15 Beschluss 1 BvR 256/08 des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland vom 11. März 2008 16 Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/ EG, Amtsblatt der Europäischen Union L105/54 vom 13.04.2006 17 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, Bundesgesetzblatt Nr. 19/1998, Teil 1, Seite 610, 31.03.1998 18 Martin Mozek: Der grosse Lauschangriff – Die Regelung des § 100c I Nr. 3 StPO im Spannungsfeld zwischen Verbrechensbekämpfung und Verfassungswirklichkeit. Shaker, Aachen 2001, ISBN 3-8265-8688-3 19 Fredrik Roggan (Hrsg.): Lauschen im Rechtsstaat – Zu den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum grossen Lauschangriff. Berliner Wissenschafts-Verlag, 2004, ISBN 3-8305-0942-1

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Amerikanische Privacy vs. europäische Privatsphäre In den Vereinigten Staaten bildet die eigene Wohnung den Kern der individuellen Privatsphäre. Ihre Begrenzung findet sie nicht durch den Staat, sondern durch die Redefreiheit. Die europäische Rechtstradition propagiert dagegen ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welche der Staat zu garantieren hat. Thomas Kleine-Brockhoff und Antje Kuchenbecker über ein transatlantisches Dilemma.

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Die Privatsphäre ihrer Bürger gilt den Ländern des Westens als Heiligtum. Sie zu wahren erscheint als Voraussetzung der Individualität selbst. «Ohne unseren privaten Bereich», postulierte der amerikanische Anwalt und Rechtspolitiker Charles Fried vor mehr als 35 Jahren, «verlieren wir unsere Integrität als Personen». Indem der liberale Rechtsstaat darauf bestehe, dass es Grenzen des Persönlichen gebe, die er selbst, der Staat, nicht übertreten dürfe, schreibt der Rechtskritiker Jeffrey Rosen, äussere er «Respekt vor der inhärenten Würde, der Gleichheit, der Individualität, dem Innenleben und der Subjektivität des Individuums». Eben darin zeigt sich der Kern der Demokratie. Anders als der Totalitarismus verlangt sie nicht, dass ihr Bürger im Glashaus sitzt. Im Totalitarismus ist jede Äusserung öffentlich. Der gläserne Bürger wird vom Subjekt zum Objekt. In der Demokratie existieren Bereiche, in denen es heissen darf: Vorhang zu! Entsprechend allergisch reagieren Bürger auf beiden Seiten des Atlantiks, sobald sie ihre Privatsphäre angetastet sehen – und das tun sie beständig, wie Umfragen immer wieder zeigen. George Orwells «1984», Horrorvision einer gleichgeschalteten Gesellschaft mit Wahrheitsminsterium, begleitet die Debatten über die schwer zu bestimmende Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Heftig umstritten ist, was genau den Augen der anderen zu entziehen sei, um das Individuum als Säule der demokratischen Gesellschaft zu schützen. Das mag einerseits an den diffusen Responsible Wealth Review – Juni 2008

Vorstellungen darüber liegen, was den Kern eines persönlichen und damit unantastbaren Intimbereichs ausmacht. Anderereits ist auffällig, wie regelmässig Fragen nach dem Privaten diesseits und jenseits des Atlantiks unterschiedlich beantwortet werden. James Whitman, Jura-Professor an der Yale-Universität, spricht sogar von «zwei westlichen Kulturen der Privatheit». Eine Durchsicht der Fachliteratur ergibt ein klares Muster: Wohnort bestimmt Perspektive. Autoren auf beiden Seiten des Atlantiks sehen die eigene Rechtsgemeinschaft auf direktem Wege zur Sonne. Getragen von den Werten der Aufklärung mühe man sich um den Schutz von personenbezogenen Daten und Persönlichkeitsrechten, während auf der jeweils anderen Seite des Atlantiks die Bemühungen noch zu wünschen übrig liessen. Ob Amerikaner oder Kontinentaleuropäer, je nach Perspektive müssen die anderen eben noch ein wenig aufholen.

Ein Leben lang Kreditwürdigkeit beweisen

Europäer, die nach Amerika kommen, nehmen verstörende Eigenarten der Einheimischen wahr. Die Veröffentlichung von Petitessen aus dem Privatleben von Politikern erscheinen Europäern als grobe Verletzung der Persönlichkeitsrechte eben jener Politiker. Die Ausstellung pikanter Details seines Sexuallebens, die dem ehemaligen Präsidenten Bill Clinton nach seiner Affäre mit einer Praktikantin zugemutet wurde, finden Europäer nicht bloss geschmacklos, son-


dern schlicht illegitim. Die Transparenzgebote für Firmenbilanzen und Managergehälter erscheinen ihnen grotesk. Dass ein Arbeitgeber im dienstlichen E-Mail-Account seines Angestellten herumstöbern darf, irritiert. Dass Personal-Akten ohne viel Federlesen weitergereicht werden dürfen, empört. Auch, dass für Medizin-Daten die Schutzwälle niedriger sind. Regelmässig beschweren sich Europäer in Amerika über den mangelnden Schutz von Konsumenten-Daten. Hier sehen sie ihr heimisches Europa besonders weit vorne. Kaum jemand kann nachvollziehen, warum ein frischgebackener Hausbesitzer gleich von einem Dutzend Banken zur Umschuldung eingeladen wird, allesamt bestens über die eben eingegangenen Bankverbindlichkeiten informiert. Weil Einkommen, Verschuldungsgrad und sogar Kapitaleigentum Einzelner oft nur einen Doppelklick entfernt liegen, können sich professionelle Spendensammler ihre potenziellen Ansprechpartner wie Detekteien ausrecherchieren – zur Verblüffung von Europäern. Doch nichts regt die Bewohner des alten Kontinents mehr auf als die örtliche Sitte, Kreditwürdigkeit zu prüfen. Ein Leben lang muss der Amerikaner seine Kreditwürdigkeit durch regelmässige Rückzahlung beweisen. Dafür erhält er dann im Stile einer Betragens-Note eine ständig aktualisierte Bewertung. Je besser das Ergebnis, desto günstiger der Kredit. Fast jeder Autohändler kann mühelos die Kredit-Daten seiner Kunden abrufen. Die meisten Europäer empfinden dies als Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte. Warum auch sollte ein beliebiger Gebrauchtwagen-Verkäufer auf die finanziellen Verhältnisse seines Kunden zugreifen können, sofern der sich nicht schon einmal als kreditunwürdig erwiesen hat? Wie der Rechts-Komparatist James Whitman bemerkt, kommt es Kontinental-Europäern so vor, als lasse Amerika «unablässig brutale

Verletzungen der Privatsphäre in allen Bereichen des Rechts» zu. «Sensiblen Europäern» müsse eine Reise durch die amerikanische Rechtswelt «wie ein Besuch der Latrinen von Ephesus» erscheinen.

Amerikaner orten Relikte des Überwachungsstaates

Doch umgekehrt gilt das Gleiche. Amerikaner, die nach Europa reisen, entdecken schnell Gewohnheiten der Einheimischen, die ihnen ebenso als flagrante Verletzungen der Privatsphäre vorkommen. Amerikaner bemängeln in Europa, dass sie sich eben kein gutes «KreditZeugnis» und damit keinen günstigeren Kredit verdienen können. Für sie steht fest, dass Kreditbüros Transparenz fördern, Kapital zugänglicher und die Kreditvergabe sicherer machen. «Es liegt doch auf der Hand, wer darauf drängt, Informationen über Kreditverhalten geheim zu halten», weiss Howard Beales von der George Washington University: «Die Leute, die ihre Rechnungen nicht zahlen.» Um Persönlichkeitsrechte zu schützen, riskiere Europa die «Beschädigung oder Zerstörung eines wichtigen WirtschaftsSegments» und damit das private Wohlergehen von Vielen, findet Beales. Europäische Beschränkungen beim Datensammeln halten Amerikaner gemeinhin für einen Konkurrenznachteil. «Wenn Marktteilnehmer einfacher analysieren können, was meine Vorlieben sind, können sie mich besser mit den Gütern und Dienstleistungen versorgen, die ich suche», findet Whitman. Der Austausch von Konsumentendaten reduziere deshalb die Transaktionskosten. «Die Effizienz des Marktes» werde verbessert – zum Nutzen des Käufers. Dass Europäer einen effizient organisierten Markt dem Datenschutz zu opfern gewillt sind, mag aus amerikanischer Sicht noch angehen. Doch dass sich Regierungen einmischen, welche Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Privatraum der Demokratie: amerikanische Freiheitsstatue im New Yorker Hafen auf Liberty Island, undatierte Aufnahme.

Namen Eltern ihren Kindern geben dürfen, darüber schütteln Amerikaner nur den Kopf. Warum, fragen sie, können Inspektoren in Frankreich und Deutschland den geheiligten Privatraum der Demokratie betreten, die eigene Wohnung, nur um nach nicht angemeldeten Fernsehgeräten zu suchen? Wenn Bewohner eines Landes ihren Aufenthaltsort der Polizei melden und sich einen Personalausweis zulegen müssen, sehen Amerikaner darin Relikte eines Überwachungsstaates. Genauso beunruhigt sie, dass in Frankreich und Deutschland Telefone zehn- bis dreissigmal häufiger abgehört werden als in den Vereinigten Staaten.

Staat als potenzieller Eindringling

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Nichts aber irritiert Amerikaner in Europa mehr als der Umgang mit Nacktheit im öffentlichen Raum. Gelten in Europa die Genitalien nicht als die privatesten aller Körperteile? Warum Münchener im Englischen Garten das Bedürfnis haben, sich die Kleider herunterzureissen, will niemandem einleuchten. Auch das in Europa unter Männern noch immer übliche öffentliche Urinieren ruft bei Amerikanern nur blankes Erstaunen hervor. Wo bleibt der Schutz der Privatsphäre an öffentlichen Plätzen? Am Ende einer Rundreise durch die europäischen Rechtswelten können Amerikaner nur selten den alten Kontinent als Hort des beispielhaften Schutzes der Privatsphäre erkennen, als der sich Europa gerne selbst sieht. Der Schutz der Privatsphäre (und damit auch der Datenschutz) leitet sich nach amerikanischer Auffassung aus dem Freiheitsbegriff ab, wie er sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hat («Privacy as Liberty»). Sein ideeller Kern ist das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Als potenzieller Eindringling gilt immer zuerst der Staat. Darum bilden die Freiheitsrechte der Verfassung einen Schutzschirm gegen den Staat.

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Das amerikanische Ideal vom kleinen, in seinen Kompetenzen beschnittenen Staat leitet sich aus der Sorge ab, ein übermächtiger Staat sei zu Übergriffen auf den Einzelnen am ehesten willens und fähig. So schreibt Jeffrey Rosen in «The Unwanted Gaze – The Destruction of Privacy in America», der eingehegte Staat der liberalen Theorie sei auch unter den Bedingungen des Internetzeitalters «der beste Garant der Würde und Gleichheit von Individuen». Ein Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre sieht die amerikanische Verfassung nicht vor. Auch die Interpretation des Verfassungsgerichts hat dieses Recht nicht postuliert. Der berühmte Aufsatz von Louis Brandeis, der zusammen mit Samuel Warren 1890 im Harvard Law Review «The Right to Privacy» einforderte, blieb weitgehend folgenlos. Sogar als Brandeis Verfassungsrichter wurde, konnte er sich nicht durchsetzen. Im Jahre 1928 lag dem Gericht mit Olmstead vs. United States ein Fall vor, den Brandeis gerne benutzt hätte, um sein 38 Jahre zuvor postuliertes «Right to Privacy» umfassend einzuführen. Doch es gelang ihm nicht, die Mehrheit der Richter auf seine Seite zu ziehen. Roy Olmstead war angeklagt wegen angeblicher Verschwörung und Verletzung des Nationalen Prohibitions-Aktes. Er habe gesetzeswidrig Alkohol besessen, transportiert und verkauft. Als Beweismittel wurden Aufzeichnungen abgehörter Telefonate herangezogen. Olmstead protestierte, jedoch ohne Erfolg, und argumentierte, dass die Heranziehung solcherlei Beweismittel eine Verletzung des Vierten und Fünften Verfassungszusatzes darstellten. Der Fall Olmstead, mit dem der amerikanische Staat in bestimmten Fällen der Strafverfolgung ein Recht auf Abhören von Privattelefonen durchsetzte, gilt als grosser Sieg jener, die kontinentaleuropäische Vorstellungen über Persönlichkeitsschutz abwehren wollten.


Bild: IBA-Archiv/Keystone

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Private Wohnung als Kern des geschützten Bereichs

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Die amerikanische Version des Persönlichkeitsschutzes ergibt sich vor allem aus dem Grundrechtskatalog der «Bill of Rights». In Fragen von Ehe und Fortpflanzung, Familienbeziehungen und Kindererziehung darf der Amerikaner «eine vernünftige Erwartung der Privatsphäre» hegen. Unumstritten ist auch das Recht auf Anonymität sowie das Recht, sich politischen Gruppen anzuschliessen, ohne dem Staat eine Mitgliedschaft mitteilen zu müssen. Keine andere Bestimmung ist so bedeutsam wie der vierte Verfassungszusatz, der Schutz bietet gegen willkürliche Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Die private Wohnung wird zum Kern des geschützten Bereichs. Mit steigender Entfernung von der Wohnung nimmt der Schutz ab. Zugleich wird die Reichweite des vierten Verfassungszusatzes eingeschränkt durch den ersten Verfassungszusatz, der die Redefreiheit gewährt. Jedem Versuch, jene Redefreiheit einzuschränken, und sei es auch zum Schutze der Persönlichkeitsrechte eines anderen, begegnet die amerikanische Gesellschaft mit tiefer Skepsis. In den vergangenen 30 Jahren haben sich sogar Firmen mit der Ansicht durchsetzen können, ihr Rederecht sei höher zu bewerten als der Persönlichkeitsschutz Einzelner. Aus dieser Verfassungslage ergibt sich ein klares Spannungsverhältnis von Rede- und Pressefreiheit einerseits und dem Schutz der Privatsphäre andererseits. Es sei «die Meinungs- und Pressefreiheit selbst, die manchmal die ‘Privatperson’ bedroht», schreibt der Yale-Jurist James Whitman. Amerika hat sich deshalb entschlossen, nicht die Verbreitung einer Information zu untersagen (wie viele europäische Länder es tun), sondern den Bürger vor den Folgen zu schützen. In den USA «unterlagen persönliche Daten und Informationen nie einem Eigentumsrecht», stellt

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Howard Beales von der George-WashingtonUniversität fest. Zu einem «Recht auf informationelle Selbstbestimmung» – wie etwa in Deutschland – ist es daher nie gekommen. Stattdessen versucht der Gesetzgeber, die Konsequenzen von Datentransfer für das Individuum verträglich zu gestalten. Das hat ein Flickwerk von Einzelgesetzen mit machmal eng definierten Schutzbestimmungen hervorgebracht. Das wohl bekannteste Beispiel ist der Video Privacy Protection Act von 1988, der Videotheken verbietet, Kundendaten weiterzugeben. Das Gesetz trat in Kraft, nachdem die Liste mit den ausgeliehenen Videos von Robert Bork veröffentlicht wurde, der sich im Bewerbungsverfahren um den Posten als Verfassungsrichter befand.

Freiraum zur persönlichen Selbstentfaltung

In Europa wird diese Gesetzgebung oft als «unvollständig» beschrieben. Dabei entspricht sie dem Wesen des amerikanischen Staatsverständnisses. Wie Jeffrey Rosen schreibt, soll der Staat zwar den «inneren Raum jedes Individuums» achten, sich andererseits aber nicht zu sehr als dessen Beschützer aufspielen. Er soll nicht selbsttätig Würde und Intimsphäre des Bürgers verletzen, aber andererseits seine Macht auch nicht dazu benutzen, jene zu bestrafen, die Würde und Privatsphäre anderer Bürger verletzen. «Das könnte eine Art der Überwachung auslösen, die selbst viel schlimmer ist als alle Unziemlichkeiten, die so bekämpft werden sollen», meint Rosen. Abgesehen von Extremfällen seien deshalb gesellschaftliche Normen viel besser geeignet als Gesetze, die Privatsphäre von Bürgern zu schützen. Nach diesem Verständnis sind Europas Datenschutzämter eher gefährlich denn hilfreich. Bürger sollen nach amerikanischem Verständnis ihre Streitigkeiten lieber untereinander ausfechten. Dazu ist im Notfall das Schaden-


Bild: Keystone

ersatzrecht da. «In Europa ist die erste Verteidigungslinie gegen Fehlverhalten privater Akteure immer der Staat», schreibt Joel Reidenberg von der Fordham University. «In Amerika funktionieren unsere Instinkte anders. So wie wir den liberalen Staat verstehen, sollen sich die privaten Akteure einfach gegenseitig verklagen.» Die intellektuellen Paten dieses Denkens sind Immanuel Kant, der den Begriff der «negativen Freiheit» prägte, sowie der Ideengeschichtler Isaiah Berlin, der ihn in seinem Aufsatz «Two Concepts of Liberty» fortentwickelte. Unter «negativer Freiheit» versteht er die Freiheit des Individuums von staatlichem Zwang. Die Verfassung verspricht dem Bürger die Einhegung der Staatsmacht und deren Zugriffsfähigkeit. Damit wird dem Einzelnen Freiraum zur Selbstentfaltung gelassen. Der Staat zieht sich auf seinen Kernbereich zurück und entwickelt keine normativen Vorstellungen über das Leben seiner Bür-

ger. Setzt der Staat hingegen seine Macht ein zur Durchsetzung von Zielen zum Wohle seiner Bürger, so handelt es sich nach Berlin um «positive Freiheit», die eher in solchen Gesellschaften zu finden sind, in denen der Staat eine prominentere Rolle einnimmt, darunter auch kommunitaristische oder sozialistische. Dem Begriff der «positiven Freiheit» folgt die Einrichtung von zentralen Ämtern zum Schutz von persönlichen Daten in Europa und Kanada. Sie sollen dem Einzelnen zur Kontrolle über seinen Namen und seinen Ruf verhelfen – also zu dem, was in Deutschland «Recht auf informationelle Selbstbestimmung» heisst. Der Einzelne soll gegen ungewollte öffentliche Exposition geschützt werden und selbst bestimmen, was er anderen von sich zeigt und mitteilt. Erniedrigung und Beleidigung, Beschädigung und Entehrung werden so bekämpft («Privacy as dig­nity»). Dieses Denken ist auf dem Konti-

Privatheit in Europa: Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin.

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nent Jahrhunderte alt und entstammt der feudalen Epoche, als Adlige ihre Ehre schützen und ihr Privatleben den Augen der hochwohlmögenden Gesellschaft entziehen wollten. Seither tobt ein Aufstand gegen das Standesprivileg. Er ist über die Jahrhunderte so erfolgreich gewesen, dass das frühere Adelprivileg heute Jedermannsrecht ist. Seine Herkunft kann dieses demokratische Recht freilich nicht verhehlen.

Europäer fürchten Exzesse der Presse

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Seit der Erfindung neuer Technologien zur Datenverarbeitung hat sich der alte Kontinent mit neuen Gesetzen und Institutionen ausgerüstet. Das erste umfassende Datenschutzgesetz stammt aus dem Jahre 1970 und wurde in Hessen verabschiedet. Das schwedische Gesetz folgte 1973, das deutsche Bundesgesetz 1977. Die Europäische Gemeinschaft gab sich 1981 eine Datenschutzkonvention. Die EU-Datenschutzrichtlinie aus dem Jahre 1995 erhebt sogar den universalistischen Anspruch, den privatwirtschaftlichen Datenverkehr mit Drittländern zu regulieren. Was das Wall Street Journal mit der Bemerkung kommentierte, Europa wolle wohl der «Weltpolizist des Datenschutzes» werden. Das Recht auf umfassenden Persönlichkeitsschutz wurde 2000 in die EU-Grundrechtscharter aufgenommen und 2004 Teil der Europäischen Verfassung. Die Gesetze Europas richten sich nicht vorrangig gegen staatliche Übergriffe. Wie YaleProfessor James Whitman moniert, sehen Europäer die Privatsphäre vor allem durch zweierlei bedroht: «Exzesse der Presse und Exzesse des Marktes». Genau deshalb komme es zum transatlantischen Zwist über den Persönlichkeitsschutz: Denn freie Rede und freie Marktwirtschaft sind den Amerikanern im Zweifel heiliger als ihre Privatsphäre. Das unterschiedliche Verständnis von Staat und Markt bestimmt das Verständnis von

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Daten- und Persönlichkeitsschutz. Der europäische Zugang sei eher von Vorsicht getragen und der Bereitschaft, auf die Vorteile zu verzichten, die Datensammlung und -speicherung zu anderen Zwecken haben könnten, schreibt Dorothee Heisenberg, Professorin an der Johns Hopkins University, in ihrem Buch «Negotiating Privacy. The European Union, the United States and Personal Data Protection». Frei nach dem Motto: wo nichts ist, kann auch nichts missbraucht werden. Amerikaner hingegen wollten nicht präventiv das Datensammeln und –verarbeiten verbieten und schliessen mögliche Vorteile nicht aus. Was sie hingegen verbieten wollen, ist deren Missbrauch. Natürlich reagieren Europäer pikiert, wenn Amerikaner ihnen vorhalten, ihr DatenschutzEngagement entspringe Ehrpusseligkeit, Marktkritik und mangelnder Hochachtung vor der Redefreiheit. Nicht nur die Deutschen begegnen dieser Kritik, indem sie auf den Lernprozess nach der Nazi-Diktatur verweisen. Ganz Europa habe seither hohe Mauern gegen das Eindringen des Staates in den Individualbereich errichtet. Schon 1950 nahm der Europäische Rat eine Menschenrechtskonvention an, die dem Einzelnen den Respekt vor Privatsphäre und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz zusicherte. Auch das Volkszählungsurteil des deutschen Verfassungsgerichts von 1983 beruhte auf einer Klage, die sich gegen die Daten-Sammelwut des Staates, nicht die der Privatwirtschaft richtete. Insofern übersieht die amerikanische Kritik den staatskritischen Impetus kontinentaleuropäischen Denkens.

Internet als unerbittlicher Chronograph

Die technologische Revolution des Internets hat neue Fragen aufgeworfen. Es hat die Bereiche des persönlichen Lebens, die aufgezeichnet und


Dr. Antje Kuchen­becker leitet das Washingtoner Büro der Bucerius Law School.

archiviert werden können, massiv ausgedehnt und bietet fast unbegrenzte Möglichkeiten, Daten zu sammeln und zu verknüpfen. Wer im Netz einkauft, Strafzettel online bezahlt oder die Dienste von Partnervermittlungsseiten in Anspruch nimmt, hinterlässt elektronische Fuss­ puren im Elephantengedächtnis von Google. Die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Leben verschwimmen. Die eigenen Wände sind kein klares Kriterium mehr für Privatsphäre. Computer sind heute portable Büros. Private EMails werden vom Firmenaccount verschickt, der Firmencomputer zuhause auch für private Zwecke verwendet. Das Internet ist nicht nur Markt- und Arbeitsplatz; es ist Diskussionsforum, Selbsthilfegruppe, Beichtstuhl und Klatschverein. Niemals zuvor in der Geschichte war es möglich, dass sich Otto Normalverbraucher einem weltweiten Publikum präsentieren und mit Menschen überall auf der Welt kommunizieren kann. In Chatrooms, Blogs und auf Seiten wie Facebook sind Menschen bereit, intimste Details preiszugeben. Dabei wird oft vergessen, welch unerbittlicher Chronograph das Netz ist. So mancher unbedachte Eintrag holt den Verfasser im wirklichen Leben wieder ein. Es ist nur konsequent, dass viele Europäer den durch das Internet entstandenen Rechtsraum mit den Mitteln ihrer jeweiligen Rechts­ traditionen kontrollieren wollen. Sie suchen nach Wegen, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch im globalen Netz durchzusetzen. Amerikaner sind da zurückhaltender. Womöglich, weil sie wesentlich an der Erfindung des Internets beteiligt waren. Vielleicht aber auch, weil es ihrer intellektuellen Tradition entspricht, sich im Spannungsfeld zwischen Persönlichkeitsschutz und Informationsfreiheit für Zweiteres zu entscheiden. Bedrohlich wird diese Tradition allerdings dann, wenn sich staatliche

Thomas Kleine-Brockhoff, ehemals Washington-Korrespondent des deutschen Wochenblattes «Die Zeit», ist Mitglied der Geschäftsführung des German Marshall Fund of the United States. Beide Autoren vertreten in diesem Text ihre persönlichen Ansichten.

Datensammler privater Dateien bedienen, deren Erhebung für den Staat illegal gewesen wäre. Für Grenzübertretungen dieser Art gibt es seit dem 11. September 2001 hinreichend Belege. Wie dünn die Linie zwischen Freiheit und Missbrauch ist, hat Amerika durch die Anschläge in Washington und New York schmerzhaft erfahren. Die Regierung von Präsident Bush reagierte noch im selben Jahr mit einem Gesetzespaket zur Terrorbekämpfung, dem Patriot Act, der zuvor ungekannte Eingriffe in die Privatsphäre erlaubt. Die Regierung setzte durch, dass die Bundesbehörde FBI mit Hilfe so genannter National Security Letters (NSL) ohne richterliche Überwachung und ohne Mitteilung an die Betroffenen bei InternetProvidern, Telefongesellschaften oder öffentlichen Bibliotheken Nutzungsdaten von US-Bürgern einholen darf. Kritik am Patriot Act wurde umgehend laut. Er verstosse gegen die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Gewaltenteilung und gegen das Recht auf freie Rede, hiess es. Allerdings gab der Generalstaatsanwalt Ende 2003 bekannt, dass das Recht auf Einsicht in Leselisten von Bibliotheken von den Strafverfolgern nie benutzt worden war. Inzwischen ist es durch eine Gesetzesnovelle eingeschränkt. Weil Amerikas intellektuelle Tradition das Internet weitgehend unreguliert erhalten will, aber zugleich die Wohnung vor dem Staat schützen will, sieht es auf lange Sicht nicht unbedingt gut aus für den Patriot Act. Die Europäer hingegen werden an ihren Gesetzespaketen zur informationellen Selbstbestimmung weiterarbeiten. Und beide werden sich einander weiterhin überlegen fühlen. Wohnort prägt eben Perspektive. Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Der Sonderfall Asien Immer mehr Privatvermögen strömt nach Asien. Das günstige fiskalische Umfeld und ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum machen die Region zu einem Magneten für Investoren aus aller Welt, urteilt Sameena Ahmad.

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«Die Berge sind hoch und der Kaiser weit weg.» Diese Redewendung, mit der einst Mandarine in der Provinz Befehle aus Peking in den Wind schlugen, könnte als treffender Marketing­slogan für Asiens Privatbankiers von heute dienen. Überall sonst ist die Privatsphäre, welche die Grundlage ihres Geschäfts bildet, in Gefahr. Unlängst wurden gestohlene Kundeninformationen einer Bank aus Liechtenstein von Steuerfahndern mehrerer Industrieländer gekauft. Grossbritannien hat vor kurzem seine Steuergesetze für nicht domizilierte Personen verschärft und verlangt von diesen entweder detaillierte Informationen über ihre Offshore-Vermögen oder die Bezahlung eines jährlichen Pauschalbetrags von 30’000 Pfund, um weiterhin von Steuerprivilegien zu profitieren. Die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OECD) hat den Druck auf «unkooperative Steueroasen» wie Monaco verstärkt, während die Schweiz seit vier Jahren eine Quellensteuer auf gewisse Konten von EU-Bürgern erhebt. Gleichzeitig plädieren die USA für noch strengere Gesetze gegen die Geldwäsche und die Finanzierung terroristischer Aktivitäten. In Asien denkt man über solche Dinge immer noch ein wenig anders. Selbstverständlich würde heutzutage kein seriöser Vermögensverwalter im Namen seiner Kunden die Geheimhaltung verteidigen – im Unterschied etwa zur Privatsphäre. Aber während europäische Steuerbehörden die beiden Begriffe gerne miteinander koppeln, lehnen Asiens Bankiers zwar die Geheimhaltung ab, wachen jedoch weiterhin sorgfältig über die Responsible Wealth Review – Juni 2008

Privatsphäre. «Das Recht eines Kunden auf Privatsphäre ist unsere DNA», meint Kathryn Shih, Head of Wealth Management for Asia-Pacific bei UBS. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass die Bank bei Neukonten regelmässig die Einhaltung der Sorgfaltspflicht (Due Diligence) überprüft und verpflichtet ist, den zuständigen Regierungen und Behörden gewisse Informationen mitzuteilen. «Die Vertraulichkeit hat für unsere Kunden oberste Priorität», bestätigt ein Relationship Manager einer grossen europäischen Bank in Hongkong. Einige Kunden (insbesondere Europäer) fordern sie, aber viele (häufig Asiaten) vermeiden lieber jegliches Aufsehen, um sich gegen Versuche der Erpressung, Entführung oder Hetzjagd durch die Medien zu schützen. Andere halten es schlicht für klüger, ihren finanziellen Erfolg weder der Familie noch der Öffentlichkeit kundzutun – bis vor wenigen Jahren konnte in Festlandchina der Aufstieg zum Millionär ebensogut Verhaftung wie Ansehen bedeuten. Ein vertrauenswürdiger Banker versucht in jedem Fall zu helfen. Nach Ansicht von Shih gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die Privatsphäre zu wahren, ohne gegen Vorschriften zu verstossen. Zu den Beispielen gehört die Gründung von Trusts, privaten Anlagefirmen oder eines Familienbüros, welches das gesamte Vermögen eines Patriarchen verwalten kann – bis hin zur Einrichtung eines eigenen privaten Anlagefonds.

Vermögensexplosion in Asien

Regierungen aller Regionen stehen in einem erbitterten Wettbewerb, wenn es darum geht, Ka-


pital anzulocken, und fördern deshalb den eigenen Vermögensverwaltungssektor. Während sie angesichts der weltweiten Angst vor Terrorismus der Geldwäsche den Kampf angesagt haben, halten Hongkong und Singapur trotz erheblichem Druck der Europäischen Union, Informationen über Kapitalströme aus EU-Ländern preiszugeben, an der gesetzlichen Wahrung ihres Bankgeheimnisses fest. Banken in Hongkong müssen bis heute keinerlei Angaben über die Betreuung eines bestimmten Kunden machen, sofern nicht ein Gericht eine solche Offenlegung verlangt. Seit Singapur im Jahr 2000 seine Gesetze verschärfte, sind Banken, die dort Private-Banking-Transaktionen abwickeln, gezwungen, ihre Datenzentren wieder in den Stadtstaat zu verlegen, während kommerzielle Geschäftsbereiche diese Funktionen nach Indien auslagern. «Vor zwanzig Jahren galt die Schweiz als sicherer Hafen für all jene, die ihr Vermögen geheim halten wollten», erklärt dazu ein Banker in Hongkong. «Heute wissen unsere Kunden, dass Singapur und Hongkong zu tieferen Gebühren und mit flexibleren Dienstleistungen dieselben Vorzüge bieten.» Das günstige fiskalische Umfeld in vielen asiatischen Ländern ist ein weiterer Anreiz für Investoren aus dem In- und Ausland. Die Einkommenssteuern in Singapur und Hongkong sind im internationalen Vergleich niedrig, und Kapitalgewinne, Zinsen und Dividenden müssen in beiden Ländern überhaupt nicht versteuert werden. Und selbstverständlich sind Offshore-Guthaben nicht steuerpflichtig. Hongkong schaffte vor einigen Jahren auch die Erbschaftssteuer ab. Und Singapur hat inzwischen eine sehr flexible Trust-Gesetzgebung eingeführt und ein Wealth Management Institute gegründet, um neue Private Banker auszubilden. Beide Städte bieten ebenso wie Japan und weitere asiatische Länder solide rechtliche Rahmenbedingungen sowie politische Stabilität.

Kein Wunder also, dass immer mehr internationale Fonds, insbesondere aus Europa, in die Region drängen, um an der Vermögensexplosion in Asien teilzuhaben. Für Deepak Sharma, Leiter des internationalen Geschäfts bei der Citigroup Private Bank, gehören neben New York, London und Genf drei asiatische Städte zu den Top 6 der internationalen Vermögensverwaltungszentren – Singapur, Hongkong und Tokio (immer noch primär ein inländischer Markt). Insbesondere Singapur verzeichnete zuletzt ein spektakuläres Wachstum. Das von Privatbanken verwaltete Vermögen stieg von 50 Milliarden Dollar (1998) auf 300 Milliarden Dollar (2007), während sich die Zahl der Banken im gleichen Zeitraum von 20 auf 42 erhöhte. Das macht die Stadt zum weltweit zweitgrössten Vermögensverwaltungszentrum, allerdings noch immer weit hinter der Schweiz mit einem geschätzten Vermögen von 1,7 Billionen Dollar. Strenge Vertraulichkeit, niedrige Steuern und entgegenkommende Regierungen sind aber weder der einzige noch der wichtigste Grund für das spektakuläre Vermögenswachstum in Asien. Für global operierende Vermögenseigentümer sind die vielfältigen Anlagemöglichkeiten in der Region ein überzeugendes Argument, Kapital in Richtung Osten zu verschieben. «Die Anleger investieren in erster Linie wegen der sich bietenden Chancen in Asien und nicht wegen der Steueroasen», erklärt Kathryn Shih überzeugt. «Immer mehr Leute sehen ein, dass es besser ist, Steuern zu zahlen.»

Bemerkenswertes Wirtschaftswachstum

Vermögende Privatpersonen (High Net Worth Individuals, HNWI) – normalerweise jene mit einem investierbaren Vermögen von mindestens einer Million Dollar – sind bestrebt, am exponentiellen Wachstum in Asien teilzuhaben. Dies trifft nicht nur für amerikanische und euResponsible Wealth Review – Juni 2008

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ropäische Kunden zu, die ihr Portfolio diversifizieren wollen, sondern zunehmend auch für ortsansässige Geschäftsleute, deren vorrangiges finanzielles Ziel es einst war, ihr Geld in einer sicheren Währung anzulegen. «Ein Inder, der vor 10 oder 15 Jahren seine erste Million verdient hatte, fragte sich damals, wie er sein Geld ausser Land schaffen konnte», meint Deepak Sharma. «Heute fragt er sich: ‘Wie kann ich es in meiner Heimat anlegen?’» Dank modernen strukturierten Produkten sind die Banken heute immer besser positioniert, solche Anlagechancen anzubieten. Vor Kurzem half beispielsweise Citigroup amerikanischen Privatkunden, direkt in chinesische A-Aktien zu investieren, die normalerweise den Bürgerinnen und Bürgern des Landes vorbehalten bleiben. Der andere treibende Faktor für die Anlage von Vermögen in der Region war Asiens bemerkenswertes Wirtschaftswachstum, getragen von Steigerungen des Bruttoinlandsprodukts und der Marktkapitalisierung. Ende 2006 gab es in der Region Asien/Pazifik 2,6 Millionen vermögende Privatpersonen, die insgesamt ein Vermögen im Wert von 8,5 Billionen Dollar kontrollierten, wie Capgemini und Merrill Lynch in ihrem 2007 Asia Pacific Wealth Report mitteilten. Wird die Schwelle von einer Million Dollar auf 100 000 Dollar gesenkt, so belief sich das asiatische Vermögen unter Verwaltung im Jahr 2006 auf 10,6 Billionen Dollar und weitere 11,9 Billionen Dollar in Japan, wie die Boston Consulting Group errechnete. Beide Studien ergaben ein zweistelliges Vermögenswachstum, wobei das Wachstum in den obersten Klassen besonders stark ausfiel – sehr vermögende Privatpersonen (Ultra HNWI), also jene mit einem persönlichen Vermögen von mindestens 30 Millionen Dollar, verzeichneten ein Portfoliowachstum von über 12%, während die vermögende Bevölkerung Singapurs und Indiens jeweils um mehr als 20% zunahm. Responsible Wealth Review – Juni 2008

Mangel an Private Bankern

Ein derart atemberaubendes Wachstum bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich. Das grösste Problem asiatischer Private Banker ist der Mangel an qualifizierten Fachkräften. Immer wieder wird von Banken berichtet, die einander Relationship Manager abwerben, indem sie diesen ein doppeltes Salär und einen erklecklichen «Begrüssungsbonus» bezahlen. Das Problem besteht zum Teil darin, dass das Private Banking in Asien, im Gegensatz zu Europa, erst seit Kurzem als seriöses Berufsfeld angesehen wird, welches nicht nur einen charmanten Umgang mit temperamentvollen Kunden, sondern auch echte Finanzkompetenz erfordert. So mancher gut ausgebildete junge Kandidat, der eine Banklaufbahn ins Auge fasst, würde sich aber bis heute für eine Investmentbank entscheiden, was nicht zuletzt an den dürftigen Löhnen im Private Banking liegt. «Das Angebot an Vermögensverwaltern in Asien ist noch immer sehr bescheiden», meint Kathryn Shih von UBS. «Einer der grössten Vorteile der Schweiz ist der umfassende Talentpool. Die Branche hat hier bereits eine über 100-jährige Tradition. Junge Leute lassen sich nach Schule und Studium zum Vermögensverwalter weiterbilden. Dagegen war die Vermögensverwaltung für asiatische Banken bis vor Kurzem ein Nebengeschäft.» Mit Initiativen wie dem vor zwei Jahren von der Regierung Singapurs gegründeten Wealth Management Institute, das einen Master-Studiengang zum Thema Private Banking anbietet, sowie internen Schulungen soll dieser Mangel behoben werden – aber bis die Massnahmen Wirkung zeigen, wird es einige Zeit dauern. Unterdessen müssen traditionelle Banker ihre Kompetenzen weiterentwickeln, um den immer höheren Ansprüchen ihrer Kunden gerecht zu werden. Private Banker berichten von einer dramatischen Verlagerung der Investments ver-


Sameena Ahmad ist Wirtschaftskorres­ pondentin des britischen Economist für den asiatischen Raum. Sie lebt in Hongkong.

mögender Kunden hin zu hoch komplexen Finanzwerten, da sich in vormals geschlossenen Märkten wie Indien und China neue Gelegenheiten bieten. Alternative Anlagen wie Private Equity, Hedge Funds, Rohstoffe und Immobilien sind besonders beliebt und machen inzwischen rund ein Drittel des Gesamtportfolios von sehr vermögenden Kunden aus – gegenüber ca. 5% vor wenigen Jahren. Hinzu kommt, dass wohlhabende Familien in Asien ihr Vermögen oftmals in mehreren Gerichtsbarkeiten mit unterschiedlichen Steuersätzen und Währungen anlegen. Daraus ergibt sich ein Bedarf an Private-Banking-Beratern mit umfassendem Finanzwissen. «Heutige Vermögensverwalter benötigen Know-how in den Bereichen Finanzierung, Anlageberatung, Private Equity, Immobilien, Hedging und Risikomanagement. Die Situation ist äusserst komplex», meint Deepak Sharma von Citigroup. Er weist zudem auf einen neuen Typ von Privatkunden hin. Während vermögende Privatpersonen in Asien früher fast ausschliesslich Geschäftsleute mit eigenen Fabriken oder IT-Unternehmen waren, stammen diese heute zunehmend aus dem Finanzbereich, wo sie Hedge Funds oder Private-Equity-Firmen gegründet haben. Für die Betreuung dieser anspruchsvollen Kunden werden Berater aus Anwaltskanzleien sowie aus den Bereichen Kapitalmärkte und Unternehmensfinanzierung von Banken rekrutiert. Vorläufig dürfte sich am erbitterten Wettbewerb um Mitarbeiter und Kunden also nichts ändern.

Ungünstige demografische Entwicklung

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die meisten asiatischen Märkte nach wie vor ihre eigenen Beschränkungen aufweisen. China bleibt für viele bekannte Namen unzugänglich, und selbst jene wie UBS, denen es gelang, eine

lokale Brokerfirma zu erwerben, können keine vollständige Produktpalette anbieten. Nach Auskunft von Kathryn Shih ist es ihrem Team untersagt, Kunden vom Festland Derivate anzubieten, und in Indien dürfen nur Produkte auf RupienBasis verkauft werden. Obwohl «wir die Regierungen immer wieder zu weiteren Änderungen drängen», wie sie sagt, kontrastiert dies mit der breiten Produktpalette und dem tiefen Liquiditätspool in einem etablierten Private-BankingZentrum wie der Schweiz. Auch die relativ junge Bevölkerung der Region hat Einfluss auf die künftige Struktur der Vermögensverwaltungsbranche in Asien. Altersvorsorgeprodukte standen bisher noch nicht im Vordergrund, aber das könnte sich angesichts der ungünstigen demografischen Entwicklung in Japan und insbesondere China schon bald ändern. Bis 2021 werden in Asien auf jeden Rentner nur noch sechs Erwerbstätige entfallen, während es heute noch zehn sind – in Japan wird dieses Verhältnis nach Angaben von Asian Demographics und McKinsey von 4:1 auf 2:1 zurückgehen. Für Banker bietet sich damit eine Gelegenheit, ihren Kunden eine ganz neue Palette von Renten- und Anlageprodukten anzubieten. Dies trifft auch für die intergenerationelle Vermögensverlagerung von zurücktretenden Unternehmern zu ihren Kindern zu. Es gibt also viele Gründe, warum asiatische Vermögen derart rasant gewachsen sind, warum dieser Trend anhalten dürfte und warum die Region zumindest für einen Teil der weltweiten Vermögensbesitzer weiterhin ein attraktives Ziel bleiben wird. Die finanziellen Kontrollen werden zweifellos zunehmen. Oder in den Worten von Deepak Sharma von Citigroup: «Das regulatorische Umfeld und der Informationsfluss werden an Transparenz gewinnen – das gehört zur Globalisierung.» Dennoch dürfte Asien auch in Zukunft sicherer sein als die meisten Regionen. Responsible Wealth Review – Juni 2008

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«Darin liegt meines Erachtens für Liechtenstein eine grosse Zukunftschance: wenn es uns gelingt, das Thema Schutz der Privatsphäre noch breiter zu definieren.» Erbprinz Alois von Liechtenstein


«Es braucht Räume der Diskretion» Das Fürstentum Liechtenstein ist traditionell ein Ort von gelebter Privatheit. Ist dies in der offenen Informationsgesellschaft ein Auslaufmodell oder im Gegenteil der Schlüssel für die Zukunft des Landes? Reflexionen von Erbprinz Alois von Liechtenstein auf die Fragen von Roger de Weck. Roger de Weck:

Durchlaucht, wir sind in Ihrem

Haus. Dieses Schloss – weithin sichtbar im Lande, aber ein Ort des Rückzugs – ist Sinnbild des

Themas unseres Gesprächs: Privacy, Privatsphäre. Das Fürstentum trägt Ihren Namen, Sie tragen den Namen des Landes. Die Balance zwischen öffentlicher Repräsentation und gelebter Privatheit

ist nicht einfach zu wahren. Wie finden und halten Sie dieses Gleichgewicht?

Erbprinz Alois von Liechtenstein: Wer in der Öffentlichkeit steht, ist sich seiner Prominenz notgedrungen bewusst. Meine Familie und ich haben uns trotzdem immer bemüht, unsere Privatsphäre zu erhalten. Das ist nicht immer ganz einfach. Wir erreichen das, indem wir – lassen Sie es mich mit einem Augenzwinkern formulieren – möglichst langweilig sind. Soweit das geht, meiden wir zum Beispiel gesellschaftliche Anlässe, bei denen die einschlägigen Medien präsent sind. Hinzu kommt, dass wir in einem kleinen Land leben, in dem die Einwohner ihre Privatsphäre ebenfalls schätzen. Dem Alemannen liegt das wohl in den Genen. So hat sich das in den Jahrzehnten, in denen meine Familie hier lebt, für alle ganz gut entwickelt. Die britische Königin nutzt YouTube, eine Plattform der Selbstdarstellung, für ihre Kommunikation. Können Sie sich so etwas für sich vorstellen?

Meine Familie hat eine Website, auf der man Lebensläufe oder Fotos der Familienmitglieder herunterladen kann; das ist heute kaum mehr zu vermeiden. Wenn nicht wir selbst derartige Informationen ins Netz stellen, tut das ein anderer. Wichtig ist allerdings die Wahl der Inhalte, die wir

der Öffentlichkeit zugänglich machen. Auf unserer Homepage finden Sie Mitschriften politischer Reden, die ich gehalten habe, und sogar einen Familienstammbaum, aber keine Angabe über persönliche Vorlieben. Generell gilt ja: Wer nicht mitspielt, kann seine Privatsphäre besser schützen. Und umgekehrt gilt auch: Wer einmal zur Figur einer Soap Opera wird, kommt davon fast nicht mehr los. Sie verweisen auf andere Fürstenhäuser...

Nicht nur. Das Fernsehen ist ja voll von Soap Operas und diese bieten geradezu Anschauungsunterricht dafür, wie Privates öffentlich wird. Das Muster, wie diese Serien ablaufen, ist überall dasselbe: Der Zuschauer identifiziert sich mit den Charakteren und will unbedingt wissen, wie es mit diesen Personen bei der nächsten Folge weitergeht. Genau diesen Rhythmus des sich immer weiter öffnenden Raums, der Durchdringung von Privatem, muss man als öffentliche Person brechen. So hat es letztlich jeder selbst in der Hand, wie oft und wo er auftritt und ob er wöchentlich ein neues Foto von sich in der Zeitung gedruckt sehen will. Wie stark die Privatsphäre überhaupt geschützt werden kann, hängt entscheidend vom eigenen Verhalten ab. Was einmal publiziert und ins mediale System eingegeben ist, lässt sich nicht mehr zurückholen. Das Bedürfnis nach Schutz der Privatsphäre wächst. Andererseits grassiert heute der Exhibitionismus. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Das Bedürfnis nach Schutz der Privatsphäre gab es mit Sicherheit immer schon, erst recht Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Erbprinz Alois von Liechtenstein ist der älteste Sohn von Fürst Hans-Adam II. und Fürstin Marie. Am 15. August 2004 hat Fürst Hans-Adam II. Erbprinz Alois zur Vorbereitung für die Thronfolge als seinen Stellvertreter mit der Ausübung der ihm zustehenden Hoheitsrechte betraut. Der Erbprinz nimmt somit seit dem 15. August 2004 sowohl national als auch international die Aufgaben des Staatsoberhauptes des Fürstentums Liechtenstein wahr.

als totalitäre Regimes Konjunktur hatten. Es ist ja kein Zufall, dass sich im Fürstentum Liechtenstein und in der Schweiz das Bankgeheimnis stärker ausprägte, als in umliegenden Nationen Faschisten die Menschen unterdrückten. Das Schutzbedürfnis wächst heute wieder, weil sich mehr und mehr Zeitgenossen bewusst werden, wie viele persönliche Informationen im Internet verfügbar sind, eine Kehrseite des technischen Fortschritts. Hinzu kommt die Einsicht, dass staatliche Institutionen wie etwa Steuerbehörden immer weiteren Zugriff auf individuelle Daten von Bürgerinnen und Bürgern haben. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York und im Zuge der globalen Terrorismusbekämpfung ist die Suche nach der richtigen Balance zwischen Datentransfer und Datenschutz auf die Agenda gerückt. Den erwähnten Exhibitionismus kann ich mir nur so erklären, dass viele Interaktionen unter jungen Menschen heute nicht über Briefe, Telefongespräche und persönliche Begegnungen laufen, sondern über das Internet. In Chatrooms kommunizieren sie offenherzig miteinander. Sie sind sich dabei wohl nicht einmal bewusst, dass diese Informationen zumindest indirekt für andere einsehbar sind und dass anhand der Daten im Netz ganze Persönlichkeitsprofile aufgestellt werden können. Verwischen die Grenzen zwischen Eigen- und

Fremdraum derart, dass eine neue Epoche beginnt, in der Privatheit an Bedeutung verliert? Oder

gehört die Zukunft Ihrem Fürstentum, das auf Privatheit und Schutz derselben setzt?

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Wenn etwas aus dem Lot gerät, verstreicht immer etwas Zeit, bis sich ein neues Gleichgewicht einpendelt. Jede Gesellschaft lernt nur nach und nach, mit neuen Medien und Technologien zu leben, der Fortschritt ist manchmal schneller als die Menschen. Heute braucht es vermutlich neue Mechanismen, um den Schutz der PrivatsphäResponsible Wealth Review – Juni 2008

re, auf den jedes Mitglied der Gesellschaft einen Anspruch hat, zu gewährleisten. Die Frage ist, was Liechtenstein dazu beitragen kann. In unserem Staat haben wir eine starke Kultur des Schutzes der Privatsphäre – weit über Finanzund Steuerfragen hinaus, die gemeinhin mit dem Land assoziiert werden. Darin liegt meines Erachtens für Liechtenstein eine grosse Zukunftschance: wenn es uns gelingt, das Thema Schutz der Privatsphäre noch breiter zu definieren. Die Regierung, aber auch zahlreiche Teilnehmer am Finanzplatz Liechtenstein denken immer klarer in diese Richtung. Bei dem immer stärker werdenden internationalen Datenaustausch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Terroristen werden regulatorische Strukturen des Staates umso wichtiger. Diese müssen verhindern helfen, dass persönliche Daten weitergegeben werden, die in der Terrorismusbekämpfung nichts bringen. Liechtenstein ist daran, diese Instrumente weiter zu verfeinern. Inwiefern?

Ein Beispiel: In den meisten Ländern sammelt die Verwaltung persönliche Informationen und gibt sie direkt an eine untersuchende Behörde eines anderen Staates weiter. In Liechtenstein hingegen befindet praktisch immer ein Richter darüber, ob die persönlichen Daten weitergegeben werden können und müssen. Da aber in manchen Situationen der Informationsaustausch schnell erfolgen muss, werden wir das Verfahren vereinfachen. Ein Verfahren über mehrere Instanzen wird in solchen Fragen oft nicht mehr tragbar sein. Der Richter wird bei Gefahr in Verzug, ähnlich wie bei einem Hausdurchsuchungsbefehl, rasch entscheiden müssen. Trotzdem ist es ein grosser Unterschied, ob eine völlig unabhängige Person wie ein Richter zusätzlich über einen wichtigen Eingriff in die Privatsphäre entscheidet oder nicht. Für Liechtenstein könnte es eine Art Trade Mark sein, dass bei jedem Rechtshilfegesuch ein Richter über


den Transfer persönlicher Daten urteilt, die Gesuche aber trotzdem schneller als in den meisten anderen Staaten bearbeitet werden. Will Ihr Land auf allen Gebieten Massstäbe setzen im Schutz der Privatsphäre – zum Beispiel

auch in der Medizin beim Schutz der Daten von Patienten?

Grundsätzlich ist es für einen Standort wie Liechtenstein richtig, Stärken zu entwickeln und auszuspielen, die den grösseren Standorten fehlen. Je grösser ein Land, desto mühseliger ist es, die unterschiedlichen Strategievorstellungen verschiedenster Interessensgruppen unter einen Hut zu bringen. Das erschwert die Fokussierung auf ein Kernthema wie Privacy. In einem Kleinstaat wie Liechtenstein kann dagegen der Staat viel zielstrebiger in diese Richtung einwirken, entsprechende Gesetze forcieren und den Bürgern erklären, dass davon alle profitieren. Es wäre durchaus denkbar, dass sich Liechtenstein den Schutz der Privatsphäre auch in der Medizin auf die Fahnen schriebe: Vertrauensärzte vor Ort und die Verwaltung von Gesundheitsdaten im Ländle – warum nicht? Darf ich eine kleine Utopie zeichnen? Die Utopie eines Liechtensteins, in dem Telefongespräche nicht

abgehört werden können. Der liechtensteinische

Internet-Provider gibt keine Kundendaten weiter. Das liechtensteinische Kreditkartenunternehmen

garantiert die Anonymität des Kaufverhaltens. Und Intermediäre bürgen für den Schutz der Privatsphäre nicht nur in der Finanz, sondern in allen Lebensbereichen. Eine realistische Utopie?

In diesem Ausmass ist es meiner Meinung nach reine Utopie. Zum Beispiel kann sich ein kleines Land wie das unsrige nicht von der Telekom-Umwelt abkoppeln, und es ist ohnehin damit zu rechnen, dass Geheimdienste überall mithören. Im Zeitalter der Handys ist eine umfassende Privatheit beim individuellen Gespräch

nicht länger zu garantieren. Für mich ist aber unbestritten, dass unser Land auf Teilgebieten eine wesentlich stärkere Privacy garantieren kann als andere. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass dort, wo die Privatsphäre verletzt wird, nicht unbedingt die Technik versagt, sondern oftmals der Mensch. Meist macht nicht der Hacker vertrauliche Bankdaten öffentlich, sondern ein Mitarbeiter aus dem Inneren der Bank. Absolute Sicherheit gibt es nirgends. In Liechtenstein ist Diskretion eine Tugend. Der freie, ungehinderte Informationsfluss ist aber eine

unerlässliche Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratie, Gesellschaft und Markt. Wer die

Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist, ehemaliger Chefredakteur der Zürcher Tageszeitung «Tages-Anzeiger» sowie des deutschen Wochenblatts «Die Zeit». Er ist Lehrbeauftragter am Europakolleg in Brügge und Warschau sowie Präsident des Stiftungsrates des Genfer Institut universitaire de hautes études internationales.

Diskretion zum System erhebt, begibt sich in die

Gefahr des Missbrauchs. Wer umgekehrt alles auf den Marktplatz und zur Schau stellt, wie es

üblich wird, verletzt etwas vom Wertvollsten im

menschlichen Leben und Zusammenleben: die Intim- und Privatsphäre. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Diskretion?

Demokratie, Gesellschaft und Wirtschaft brauchen Transparenz. Aber genauso klar ist, dass es Räume der Diskretion braucht, damit sie funktionieren können. Beides muss sein. Entscheidend ist die Antwort auf die Frage: Welches sind berechtigte Anliegen für Diskretion? Das zu beurteilen, ist anspruchsvoll. Ein Beispiel: Es braucht Informationen zur Terrorismusbekämpfung – doch wo beginnt der Missbrauch beim Sammeln persönlicher Daten? Und wie kann der Bürger einmal gesammelte, aber falsche Daten wieder aus den Systemen entfernen lassen? Das ist im sogenannten Informationszeitalter äusserst schwierig, fast unmöglich. Wichtiger denn je ist deshalb der mündige Bürger, der bei der Weitergabe seiner persönlichen Daten vorsichtig ist, gleichzeitig aber Informationen mit einer gewissen Skepsis aufnimmt und aus verschiedenen Quellen schöpft, um sich ein Urteil zu bilden. Responsible Wealth Review – Juni 2008

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Privacy – eine global und interdisziplinär geführte Debatte Engagiert und kontrovers diskutierten die Teilnehmer des Private Wealth Council am 28. Januar 2008 in Vaduz das Thema des Tages: Privacy, der Zustand dieses Bürgerrechts auf der Welt und die Folgen für vermögende Familien. Fotografische Impressionen aus Workshops.

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Chefredaktor: René Lüchinger, Lüchinger Publishing, Zürich Design und Umsetzung: BBF, Basel Fotografie: Oliver Bartenschlager, Stefan Falke, Keystone Übersetzungen: CoText, Zürich Druck: Werner Druck, Basel Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier



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