poet nr 21 Leseprobe

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IMPRESSUM

Herausgegeben von Andreas Heidtmann Redaktionsleitung Prosa: Katharina Bendixen Gedichtkomentare: Michael Braun · Michael Buselmeier Internationale Texte: Jan Kuhlbrodt · Martina Weber · Geraldine Gutiérrez-Wienken · Ineke Phaf-Rheinberger Das Literaturmagazin poet erscheint halbjährlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren bzw. den Verlagen. Auf postalischem Weg erfolgt keine Annahme unverlangter Manuskripte. Beiträge können als Anhang einer EMail an die Adresse des poetenladens (manuskripte@poetenladen.de) geschickt werden. In der Regel werden Einsendungen nicht kommentiert. Anfragen sind via E-Mail möglich (info@poetenladen.de). Verlag: poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany Redaktion: Andreas Heidtmann, Fechnerstraße 6, 04155 Leipzig poet im Internet: www.poet-magazin.de poetenladen im Internet: www.poetenladen.de Der Verlag im Internet: www.poetenladen-der-verlag.de Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig Bestellungen des aktuellen Magazins sowie früherer poet-Ausgaben über den Buchhandel, beim poetenladen per E-Mail (info@poetenladen.de) oder per Fax (0341 – 6407314) oder über den Internetshop des poetenladens (www.poetenladen-der-verlag.de/shop) – jeweils portofrei. poet nr. 21 · Literaturmagazin Andreas Heidtmann (Hg.) Leipzig: poetenladen, Herbst 2016 ISBN 978-3-940691-80-4 Gefördert durch die Kulturstiung des Freistaates Sachsen · www.kdfs.de Hermann-Hesse-Preis für Literaturzeitschrien


EDITORIAL

Der Umschlag zeigt eine mit großen Schritten voraneilende Figur, gerade noch rechtzeitig aufs Cover gebannt. Das Gesprächsthema der 21. poet-Ausgabe – Literatur und Fortschritt – ist weit gespannt: vom Fortschrittsgedanken, der sich auf literarische Verfahren bezieht, bis zu emen, die sich aus technischen Innovationen oder veränderten Lebensbedingungen ergeben. In seiner ästhetischen eorie unterstellt Adorno einen vergleichbaren Prozess in der Kunst, die sich jeweils der neusten Materialstände und Verfahren bedient und damit gleichsam linear fortschreitet. Peter Bürger allerdings stellt diese Annahme infrage und erläutert in dieser Ausgabe seine Gründe. Eröffnet wird der 21. poet mit Erzählungen sowie zwei aktuellen Texten aus Angola. Auch in der Lyrik geht es über den deutschsprachigen Raum hinaus mit Beiträgen aus Venezuela und den USA. Für einen vertiefenden poetischen Einblick sorgen Kommentare von Michael Braun und Michael Buselmeier zu ausgewählten Gedichten. Andreas Heidtmann


Gesuchtes Partikel zum Glück Neue Prosa

Seite 8

Im Eröffnungstext von eresa Pleitner verbringt die Protagonistin ihren ersten Arbeitstag in einem Sortimentlager und stößt auf eine Gesamtausgabe von William Blake, die das Lesegerät aufgrund der »Fadenscheinigkeit des Einbandes und der geringen Nachfrage« dem Abfall zurechnet. Es folgen Miniaturen von Patrick Suhm und von Bettina Hesse sowie Romanauszüge von Susan Kreller und David Blum. Den Abschluss bilden Texte von Matthias Amann und von Jessica Lind, deren Erzählerin auf einer Busfahrt über die gemeinsame Zukun reflektiert, auf die man sich geeinigt hat und die doch ungewiss ist. Zehn venezolanischen Dichter

Seite 146

Zehn Gedichte von zehn venezolanischen Dichtern geben einen Einblick in die Seele und aktuelle Lage dieses Landes, das einen andauernden und schmerzvollen Zerfall seiner politisch-ökonomisch und sozialen Einheit durchlebt. Auf eine dokumentarisch-lebendige Weise sprechen die Dichter die harte Realität ihres Landes an, das unter einem totalitaristischen Regime leidet.

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Inhalt

Zukunsstadt Luena Prosa aus Angola

Seite 68

Sónia Gomes wurde 1977 in Luena-Moxico geboren, einer schwach besiedelten Provinz an der Grenze zu Sambia. Sie schreibt über Familienkonflikte und über emen wie Aids, Verhütung und häusliche Gewalt. Krankheiten spielen eine wichtige Rolle. Sie hat sich mit vielen körperlichen Unwägbarkeiten vertraut gemacht in einem Land, in dem sie lange nur Krieg erlebte. Ihren emen verdankt sie eine große Beliebtheit vor allem bei jungen Leserinnen und Lesern in Angola.


GESCHICHTEN THERESA PLEITNER: Paradise, blue 8 PATRICK SUHM: Miniaturen 17 SUSAN KRELLER: Pirasol 22 ANNEMARIE RENNERT: My suitcase is packed 27 DAVID BLUM: Ein Morgen 32 BETTINA HESSE: Ich wollte noch etwas sagen … 41 MATTHIAS AMANN: Nicht informiert 48 JESSICA LIND: Fern von Zeit 60 SÓNIA GOMES (ANGOLA): Zukunsstadt Luena 68 JOSÉ LUÍS MENDONÇA (ANGOLA): Das Reich der Kasuarinen

GEDICHTE KEITH WALDROP: Der Wind lacht (zweisprachig) 104 ANDRA SCHWARZ: Grauzonen 120 PAUL-HENRI CAMPBELL: vasa sacra 125 UWE HÜBNER: Los zurück 130 BARBARA MARIA KLOOS: mit geknicktem strahlengang 138

GEDICHTE

AUS

VENEZUELA

Die Autoren 146 Yolanda Pantin 154 Adalber Salas Hernández 156 Gabriela Rosas 158 Geraldine Gutiérrez-Wienken 160 Harry Almela 162 Luis Enrique Belmonte 164 Jacqueline Goldberg 166 Astrid Lander 168 Eleonora Requena 170 Carmen Verde Arocha 172

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Seite 220 Zuständig für Überraschungen ist die Literatur Literatur und Fortschritt Jo Lendle spricht über digitale Entwicklungen und Social-Media-Tendenzen, die nicht unwesentlich die Darbietungsformen von Texten verändern. Die neue Vielfalt begreift der Leiter des Hanser Verlages als Chance. Letztlich gehe es jedoch nicht um den Betrieb, sondern um den besonderen Moment beim Lesen.

Peter Bürger über Fortschritt, Moderne und Avantgarde

Seite 248

Peter Bürger hat den Diskurs über die Moderne, insbesondere über die Avantgarde-Bewegungen, in Fortführung der adornoschen Ästhetik wesentlich geprägt. Er beantwortet Fragen nach der Fortschrittlichkeit künstlerischer Verfahren und der (Nicht-)Anwendbarkeit des Fortschrittsgedankens in der Kunst. Auch der Begriff der Avantgarde wird beleuchtet.

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Inhalt

Seite 227 »Es gibt kein richtiges Lesen im falschen Leben.« Leseverhalten wie vor 1900 Unser Leseverhalten ist nach Einschätzung des Autors Jürgen Ploog auf dem Stand der Zeit vor 1900 stehen geblieben. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die literarische Avantgarde (Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus) in alle Richtungen marschiert sei, werde heute vieles eingeebnet, und der Literaturbetrieb bevorzuge immer noch die klassisch erzählte Geschichte.


GEDICHTE, KOMMENTIERT MICHAEL BRAUN, MICHAEL BUSELMEIER: Vorbemerkung SONJA VOM BROCKE: Kunde 176 UWE KOLBE: Heidelberg, den 14ten August 179 ELKE ERB: »Ursprüngliche Akkumulation« 182 FRIEDRICH ANI: Versehrte Verse 185 CAROLIN CALLIES: wackersteine im wams 188 JÜRGEN BRÔCAN: Fremde ohne Souvenir 191

174

GESPRÄCHE – Literatur und Fortschritt EINFÜHRUNG UND UMFRAGE Fünf Gespräche und ein Brief 194 Die Arbeit aus präsentischer Erfahrung speisen

196

SASCHA MACHT im Gespräch mit Katharina Bendixen Offen sein für neue Ansichten SABINE SCHOLL im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt Lieber entwickelt man Roboter

202

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JO LENDLE im Gespräch mit Kathrin Bach 220 Zuständig für Überraschungen ist die Literatur JÜRGEN PLOOG im Gespräch mit Martina Weber Die Literatur schottet sich ab

227

ANN COTTEN im Gespräch mit Sibylla Vričić Hausmann Fortschritt, produktiver Mythos PETER BÜRGER – ein Brief 248 Werkzentrierte Moderne und revolutionäre Avantgarde

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Foto: privat

Theresa Pleitner

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eresa Pleitner

1991 in Stuttgart geboren. Studium des literarischen Schreibens und der Psychologie. Schreibt sowohl Prosa als auch Lyrik. U. a. Einladung zum

Autorenworkshop Irseer Pegasus und zum Klagenfurter Literaturkurs 2016. Veröffentlichungen in Anthologien, zuletzt in der Tippgemeinscha (2016).


Paradise, blue

Das Buch fiel nachts vom Fenstersims neben meinem Bett, es fiel einem Autor bei seiner Lesung aus der Hand, der Autor stockte mitten in seinem Satz, in einer Nationalbibliothek fiel es mürb und brüchig aus einem Regal. Wie Wasser fiel ich von der Abbruchkante der Klippen, wurde im Flug in zahllose Tropfen zersprengt, ich wollte mich mit den Händen wieder zusammensetzen, aber ich hatte schon keine Hände mehr, meine Hände waren nur noch die Erinnerung an ihre Gestalt. Als das Buch auf dem Boden aufschlug, erwachte ich, das Licht einer Straßenlampe fiel durch eine Vorhangspalte, erleichtert sah ich auf der Decke meine Arme und spürte eine Hitze, die mich durstig machte. Ich nahm einen Schluck aus der Flasche, die neben der Matratze stand, griff zu einem Kugelschreiber und knipste die Nachttischlampe an, sie zeichnete einen Lichtkranz um das Buch. Ein bleicher Mond stand über den Gewerbebauten. Ich überquerte den Parkplatz und ging zum Eingangsportal, vor dem ein schwarzer Hund an der Leine lag, er war so mit seinem Futternapf beschäigt, dass er erst anschlug, als die Flügeltür aufschwang, sein Bellen folgte mir in die betonierte Halle. Ich durchmaß die Räumlichkeiten mit meinem Blick, nirgends ein Wegweiser oder ein Mensch, den ich fragen konnte, in welche Richtung ich zu gehen hatte. Der Hall trug meine Schritte die Wände hinauf, verwirrte meinen Orientierungssinn, eine Frauengestalt erschien neben dem Handlauf einer Treppe, ich rief, sie verschwand im Untergeschoss. Als ich ihr hinterher sah, entdeckte ich in einer Glaskabine einen Pförtner, vom Treppenabsatz aus winkte ich ihm zu, er nickte und ich stieg eilig zu ihm hinunter, zog aus meiner Tasche den Arbeitsvertrag hervor und hielt ihn vor die Scheibe der Kabine. Der Pförtner sagte durch die Sprechanlage: »Zu spät, Sie müssen den Weg


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eresa Pleitner

jetzt alleine finden.« Er stellte mir eine Karte mit Strichcode aus, kramte in einer Schublade nach einer Schutzweste, die Warnstreifen leuchteten schwach im gedämpen Licht. Dann reichte er mir beides durch die Schale, die unter der Glasscheibe in den Tresen eingelassen war, das Metall war kalt, unsere Hände berührten sich nicht. Er zeigte mit dem Finger in den Gang zu seiner linken Seite, das Drehkreuz rastete knacksend hinter mir ein, ich zog unwillkürlich mein Handy aus der Tasche, wie ich es nachts beim Laufen durch den Stadtpark tat. Niemand wusste Bescheid darüber, dass ich hierher gegangen war, doch der Gang lag unter der Erde, ich hatte kein Signal. Die Türen entlang des Gangs hatten die Farbe von Schiefer, eine Tür war mit einem Holzscheit aufgesperrt, sie gab den Blick frei auf einen weiteren Gang, von dem wiederum seitlich Türen in Flure abzweigten. Ein Gefühl des Schwindels befiel mich, ich dure nicht von diesem Haupttrakt abkommen, konzentriert richtete ich mein Augenmerk auf seine Flucht. Endlich kam ein Umkleideraum in Sicht, ich schritt die Reihen ab auf der Suche nach einem freien Spind, unter den Sprossenbänken standen überall schon Straßenschuhe, vor allen Spinden baumelte bereits ein Messingschloss, jemand rief: »Was spazieren Sie noch so herum, die Schicht hat vor fünf Minuten begonnen«, ich drehte mich um und sah auf einem T-Shirt Surrett und Palmen unter der Aufschri paradise, blue. Die Aufseherin lief mir voran in die Halle, wies mir einen Platz an der Arbeitsleiste zu und zeigte mir diejenigen Paletten, die in meinen Zuständigkeitsbereich fielen, in den Paketen darauf stapelten sich die Bücher, die ich entsprechend Nachfrage und Verschleiß in verschiedene Kategorien einzuordnen hatte. Aus einem der Kundenpakete griff ich einen Ausstellungskatalog, er befasste sich mit dem Künstler Raphael Sbrzesny, das Cover war matt, die Ecken waren zerfleddert, ich sah mich um, die Aufseherin war bei den Gabelstaplern am anderen Hallenende. Videoaufzeichungen von Sbrzesnys Performances bildeten die Exponate der Ausstellung, der


Katalog zeigte deren Beschreibungen in Großaufnahme, sie waren neben den Röhrenfernsehern auf Gipssockel gedruckt. In einer italienischen Küstenstadt lief ein Tambour ins offene Meer hinaus, um das Becken hatte er eine Zylindertrommel geschnallt, das Wasser stieg ihm über Mund und Augen bis hoch zum Scheitel, sein Haar schwebte auf der Meeresoberfläche wie Tang. Der Arbeiter, der sich die Paletten mit mir teilte, kam in der Pause zu mir an den Kaffeeautomat, er sagte, um die italienischen Gewässer sei es auch in einer Automobilzeitschri gegangen, die ihm beim Begutachten in die Hände gefallen sei, dort habe er die Abbildung eines Bugatti gesehen, den man aus einem italienischen See geborgen hatte. Schon seit Ewigkeiten träume er von einem Bugatti, aber vorerst spare er auf ein Moped, der Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad sei eine Qual, beinah zwei Stunden bei Wind und Wetter, aber all diese Widerspenstigkeiten nehme er dafür in Kauf, dass er hier am Band neben anderen arbeiten dürfe. Zuvor habe er im Umland Kirchen restauriert, er habe eine elektrische Heizung und einen Daunenschlafsack aus zweiter Hand gehabt, aber die Heißlu verlor sich in den hohen, ludurchlässigen Gewölben und der Schlafsack wurde von der Feuchtigkeit des Bodens schnell klamm, auch das hätte er jedoch ertragen, nur nicht die Einsamkeit. Die Einsamkeit in den Kirchen zermürbte ihn, machte ihn dünnhäutig, bis er in den Nächten Stimmen hörte und die biblischen Figuren sich aus den Fresken lösten, das Wasser brach über den Sklaven des Pharaos zusammen, sie liefen weiter am Grund des roten Meeres, schleppten sich bis zur Küste und hoch auf den Gipfel des Sinai, sie hatten etwas umzuschreiben auf den Gesetzestafeln, bevor die Nacht aularte und das Licht sie auf ihren alten Platz zurückverwies. Einer der Sklaven habe seine Züge gehabt, als er ihn angeblickt habe, habe er den Schlafsack über den Kopf gezogen, seine Knöchel wurden weiß um die Münze in seiner Hand, er glaube ja nicht an Gespenster, aber als eines Nachts Goliath dem schmächtigen David die Schleuder aus seinen Händen schlug, habe er am nächsten Tag den Mörtel abgekratzt und die Schleu-


der durch einen Colt ersetzt. Jedenfalls sei er froh, dass er nun eine andere Arbeit habe, er warf die Münze in den Kaffeeautomat.

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eresa Pleitner

Als plötzlich das Licht ausfiel, hielt ich im Arbeiten inne. Mit einer Kunststoffwanne voller Bücher in seinem Arm war jemand an einen Deckenpfeiler gestoßen, hatte den Schalter der Abteilung umgelegt. Unvermittelt überkam mich eine Ahnung, ich öffnete die Enzyklopädie, die ich gerade unter den Scanner halten wollte, im Dunkeln konnte ich sie jedoch nicht entziffern. Als das Licht wieder ansprang, legte ich sie unter die Neonröhre, die an Metallketten über der Arbeitsleiste hing, ihr Licht konzentrierte sich auf das geöffnete Buch. Ich gab vor, die Seiten auf Mängel durchzublättern, auf unterstrichene Zeilen, Kommentare an den Seitenrändern. Während die Aufseherin mir den Rücken zuwandte, ging ich die Bedeutungen der Worte durch, ich stieß auf den Tod, etymologisch wurde der Begriff zurückgeführt auf eine frühere Form des Begriffes Gemeinscha. Der Einband der Enzyklopädie war speckig und an den Rändern spröde, Wasserflecken auf den Bögen zeigten Schimmel an, der Band erfüllte keine Verkaufskriterien, aber ich beschloss, ihn für eine weitere Begutachtung zurück in das System zu geben. Neben mir stellte jemand eine Kiste auf ein Fließband, die Erkennungslaute der Lesegeräte fügten sich zum Takt, ich sah das T-Shirt aus dem Augenwinkel, paradise, blue, die Aufseherin kam näher und blickte über meine Schulter in das geöffnete Buch. Während ich schrieb, lief mir ein Kribbeln in die Schläfen, in Kehle und Lenden spürte ich meinen Puls, ich wollte plötzlich den Kopf nach hinten wenden, hatte den Eindruck, jemand stütze den Arm hinter mir auf, blicke mir beim Schreiben über die Schulter. Der Arbeiter sagte, er möge keine Bücher, Bücher würden die Menschen dazu verleiten, das Alleinsein der Gemeinscha vorzuziehen, statt Bücher zu lesen oder gar zu schreiben solle man besser das Gespräch mit seinen Mitmenschen suchen. Während er sprach, blätterte ich in Sbrzesnys Katalog, überhaupt dürfe man dem Gedruckten nicht trauen,


vor seiner Einreise habe er sämtliche Papiere erkau, er habe seine Arbeitserlaubnis und seinen Pass erkau, seine Herkun und sogar seinen Namen. Ich las in Sbrzesnys Katalog, dass er 2009 auf der Biennale in Venedig den Canal Grande mit einer Luftmatratze überquert hatte, er hatte Glück, die Strömung war seicht und das Wetter bestens. Im Anschluss paddelte er zum deutschen Pavillon, trat durch die weißen Steinstelen des Portals, dessen Querbalken die Gravur GERMANIA trug, betrat mit der Lumatratze unter dem Arm das verglaste Foyer. Der Arbeiter sagte, auch die Papiere der anderen in der Abteilung seien zum großen Teil gefälscht, ich aber hätte doch eine Steuernummer und beherrsche die Landessprache zudem einwandfrei. Sbrzesny schlug vor, den deutschen Pavillon zu einem Flüchtlingslager umzufunktionieren, der Katalogtext vermerkte den Kommentar eines Journalisten, Sbrzesny schlage künstlerisches Kapital aus einer humanitären Katastrophe, den Notstand der Flüchtlinge nutze er für seine Selbstvermarktung als Folie, lediglich weil es öffentlichkeitswirksam sei. Sbrzesny entgegnete, er schäme sich nicht dafür, dass er auf diesem Weg sein Werk bewerbe, schließlich stelle sein Profit in eigener Sache die Aufmerksamkeit zugunsten der Flüchtlinge nicht zurück. Er ergänzte, der prophetische Kunstbegriff William Blakes, der die kommerzielle Enthaltsamkeit des Künstlers proklamiere, sei ihm zuwider und zudem aus der Zeit, nur mit Inspiration könne man sich schließlich nicht über Wasser halten, er zwinkerte, vermerkte der Katalog, oder solle er sich neben seinem künstlerischen Schaffen für seinen Lebensunterhalt am Fließband verdingen? Mit dieser Sozialromantik könne man ihn mal. Als der Gong das Ende der Nachtschicht einläutete, strömten alle Arbeiter zum Büro, in ihren grauen Steppjacken und Funktionshosen kamen sie zwischen den Lagerregalen hervor, die ein Gerüst aus Stahlträgern einfasste. Säulenartig gingen die Träger über in die Verschalung der Decke, nur durchbrochen von Belüungsschächten und Fließbändern, über die Bücher in Plastikwannen ins folgende Geschoss befördert wurden. Die Bänder liefen immer weiter für die nächste Schicht, für die


eresa Pleitner

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gegangenen Arbeiter kamen neue, sie zu bedienen. Im Büro, einer Loge inmitten der Halle, gab es eine Armatur mit Schaltern für jedes Band und einen Tisch, um den an Rechnern die Vorsteher saßen. Eine rote Plastikchristrose stand in der Mitte des Tisches, daneben lagen auf einem Stapel die Zeitnachweise. Der Arbeiter sagte, die Fresken der maroden Kirche, in der er zuvor als Restaurator gearbeitet hatte, seien in der Nacht nur zum Leben erweckt worden durch das Flackern des ewigen Lichts auf dem Altar. Alle Arbeiter warteten in einem Halbkreis vor dem Büro, dass der oberste Vorsteher vor die Türe der Loge treten und die Zeitnachweise für die geleistete Schicht verteilen würde. Das ewige Licht habe in einem roten Windglas gestanden, die ganze Nacht habe es gebrannt dem Tabernakel zum Schutz, in dem die Hostien für das Abendmahl verschlossen waren. »Ich bin nicht gläubig«, sagte der Arbeiter, »aber es zu löschen habe ich mich nicht getraut.« Das Tabernakel habe Flügeltüren aus Gold gehabt, es sei ein fensterloses Haus mit Giebel gewesen, nur klein, als wohne ein kleiner Mensch darin. In der Loge nahm der Vorsteher einen Keks vom Teller, der Butterkonfekt war wie Blumenblätter drapiert, natürlich habe niemand in diesem Häuschen gewohnt, er sei allein gewesen bis zum Tagesanbruch, wenn die Mesnerin das Kirchenschiff betrat, um das Geld der Kollekte aus der Kupferkasse zu holen. Der Vorsteher nahm einen Bissen von seinem Keks, griff zu den Zeitnachweisen und öffnete die Tür, verlas die Namen in den Kopfzeilen der Zettel, ein Arbeiter nach dem anderen trat vor, reihte sich nach der Übergabe wieder in den Kreis der anderen ein, bis schließlich alle Zettel vergeben waren und der Vorsteher seine abkündigenden Worte sprach. Der Arbeiter sagte, er sei dankbar für diese neue Stelle, auch wenn ein Teller Butterkekse neben dem Fließband natürlich was wäre, und auch die Tageslichtlampen seien etwas heller im Büro, wir hasteten mit den anderen über Flure und Treppen aus der Halle. Silent, silent night/ quench thy holy light/ For, possessed of day/ ousand spirits stray, die Zeilen von William Blakes Gedicht kamen mir in den


Sinn, als wir aus der Halle in den Morgen strömten, eine Gesamtausgabe Blakes war mir beim Begutachten der Ware in die Hände gefallen, sie hatte im selben Kundenpaket gelegen wie Sbrzesnys Katalog. Ich hatte den Band aufgeschlagen und den Finger hineingelegt, als suche ich nach der Signatur, mein Finger wies auf ebendiese Zeilen. Im Vorwort der Ausgabe bemerkte eine Literaturwissenschalerin, die Botscha Blakes, jeder Mensch sei sein eigener Erlöser, wenn er es nur wage, den eigenen Visionen Folge zu leisten, sei zwar tröstlich, jedoch verfehlt, da sie die Bedingungen der conditio humana übergehe, hinter dem Rücken der Aufseherin biss der Arbeiter in einen Müsliriegel und sagte schmatzend, er möge Bücher nicht, aber wenn man viel lese, könne man wie ein Professor reden. Aufgrund der Fadenscheinigkeit des Einbandes und der geringen Nachfrage wurde der Band vom Lesegerät der Kategorie Abfall zugerechnet, der Arbeiter schob den restlichen Müsliriegel in seine Hosentasche, hielt dann die Rückseiten verschiedener Bücher in die Lu, wies auf die abgebildeten Schristeller-Porträts, entrückte Gesichter auf alten Stichen und Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Er klope mit dem Finger auf die buschigen Augenbrauen, kratzte lachend an Erich Kästners großer Nase, kämmte mit den Fingern über den dichten Bart von Marx. Als der Gong die Pause einläutete, verließ ich die Halle und ging auf die Toilette, drückte mit einer Hand den Seifenspender herunter und öffnete mit der anderen Hand den Hahn, hielt meine Hände lange unter den Wasserstrahl. Meine Augen juckten vor Müdigkeit und waren glasig vom elektrischen Licht, die Lider legten sich schwer über die Pupillen, bis mein Spiegelbild mit dem Hintergrund verschwamm. Mit dem Kugelschreiber in der Hand sank ich wieder in den Schlaf, die Gedanken waren nicht mehr zu fassen, hinter der Stirn lösten sie sich auf in flackerndem Licht, das rötlich durch meine geschlossenen Lider brach. Ich hatte die Nachttischlampe nicht gelöscht, sie warf noch immer ihren Lichtkreis über das Buch, das Licht eines Scheinwerferkegels lag über dem Wasser, die Barken der Küstenwache folgten dem Lichtkreis


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eresa Pleitner | Patrick Suhm

über die See. Ihre Kiele kämmten durch den Tang, der mich im Klammergriff hinab zog auf den Grund, wohin der Scheinwerfer nicht reichen konnte, zu Fossilien und den Ruinen versunkener Städte, zu Plastiktüten und den Schalen eines Schleuserwracks, ich sah die Sklaven des Pharaos durch den Sand in Richtung Festland laufen. Auf der Ringstraße vor meinem Fenster begann der Verkehr. Ein Martinshorn ertönte und verklang, die Lu wurde von einem Vogelschrei durchschnitten, ein vorbeifahrender Lastwagen scheuchte einen Schwarm Tauben auf, über dem Fenstersims sah ich, wie er in den dämmernden Himmel stieb. Im Vorwort zu William Blakes Gesamtwerk hatte die Literaturwissenschalerin sein Hinwegsehen über die conditio humana damit begründet, dass er den Menschen mit Gott gleichsetze, ein Foto im Bucheinschlag hatte sie mit einer Hornbrille gezeigt, deren Gläser so dick waren, dass man ihre Augen dahinter kaum sah, auf Anweisung des Rechners hatte ich den Band in die Abfallkiste gelegt. Die Dächer über dem Sims nahmen sich aus wie ein Gebirge, ein Vogel zog am Gipfel seine Kreise, ich schloss die Augen und sah den Sinai vor mir, die Sklaven des Pharaos näherten sich seinem Kamm, auf dem die Gesetzestafeln empfangen worden waren, paradise, blue, der Arbeiter flüsterte, dann riss er mir das Buch beim Schreiben aus der Hand, im Badspiegel der Arbeitshalle sah ich nur Fliesen, kein Gesicht. Als der Arbeiter das Buch unter den Scanner hielt, gab der Rechner keinen Erkennungslaut von sich, unter den Blicken der Aufseherin schlug er es auf, ein Fehldruck, alle Seiten waren leer.



LITERATUR UND FORTSCHRITT

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Literatur und Fortschritt | Einführung

Fünf Gespräche und ein Brief

Sascha Macht lässt in seinem Debütroman auf einem riesenhaen Eiland, das aus dem Meer auftauchte, das politische System zerfallen. Die Geschichte hat dystopische Züge, wenngleich der Autor den Begriff des fantastischen Romans vorzieht – in jedem Fall scheint die Hoffnung auf eine zukunsweisende Form des Zusammenlebens verloren und gesellschalicher Fortschritt illusorisch. In seiner Arbeit als Schristeller sieht Sascha Macht allerdings die Möglichkeit, sich von einer vielfältigen Tradition inspirieren zu lassen, und denkt dabei an ein Zusammenspiel aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukun. Die Romanautorin und Essayistin Sabine Scholl erlebte den digitalen Wandel und die Globalisierung während verschiedener Aufenthalte im Ausland. Wiederholt war sie längere Zeit in Japan und kommunizierte jedes Mal auf andere, technisch fortgeschrittenere Weise mit ihren Kindern in Berlin – eine Entwicklung, die ihre emen und Schreibweisen beeinflusste. Dass sie ihr Gegenüber per Skype am Bildschirm erleben kann, findet Niederschlag in ihrem Roman, wobei sich zeigt, wie sich durch neue Kommunikationsformen die Vorstellung von Nähe und Distanz verändert. Der Leiter des Hanser Verlages, Jo Lendle, spricht über digitale Entwicklungen und Social-Media-Tendenzen, die nicht unwesentlich die Darbietungsformen von Texten verändern. Die neue Vielfalt begrei er als Chance. So gehört es zu den Neuerungen, die »angestaubte Idee« des Fortsetzungsromans eine Spur radikaler auferstehen zu lassen. Tilman Rammstedts Roman konnte im Prozess seines Entstehens Tag für Tag von Abonnenten im Netz mitverfolgt werden. Wenn solche Projekte auch nicht zu allererst zum wirtschalichen Gewinn beitragen, belegen sie doch, dass der Hanser Verlag sich äußerst elegant zwischen Tradition und Fortschritt bewegt.


Jürgen Ploog erläutert, in welcher Weise sich literarisch das Bewusstsein weiterentwickelt hat, von der Klassik bis zur heutigen Zeit, für die das Denken in Brüchen und Entwürfen charakteristisch ist. Das Leseverhalten allerdings ist nach Einschätzung des Autors auf dem Stand der Zeit vor 1900 stehen geblieben. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die literarische Avantgarde (Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus) in alle Richtungen marschiert sei, werde heute vieles eingeebnet, und der Literaturbetrieb bevorzuge immer noch die klassisch erzählte Geschichte. Auf die Frage, warum der Fortschrittsbegriff von vielen Menschen als attraktiv empfunden wird, verweist Ann Cotten auf den positiven Wert der Expansivität, wie sie bereits beim Wachstum eines Kindes mit allen Lernfortschritten gegeben ist. Fortschritt, so die Autorin, wird o pseudoneutral gesehen auf dem Weg in die jeweilige Erfolgsrichtung. Sie möchte den Fortschrittsgedanken individualisieren in dem Sinne, dass der Einzelne sich fortschreitend in seinem Handeln verbessert. Ihre Zweifel am allgemeinen Fortschritt sind nicht zuletzt darin begründet, dass im Fortschrittsprozess gleichzeitig anderes vergessen werde und verkümmere. Peter Bürger erläutert in seinem Brief an die poet-Redaktion den Begriff des »avancierten Materials«, den Adorno prägte, wobei er von jeweils einem aktuellen, gültigen Stand der Verfahrensweisen ausging. Wer nach Joyce und Proust noch einen realistischen Roman schreibt, verfehlt demnach seine Zeit. Peter Bürger stellt diese Verengung des Feldes gültiger künstlerischer Produktion infrage und zeigt, dass avantgardistische Künstler schon früher auf verschiedene Materialstände zurückgriffen. Mit der Gleichberechtigung verschiedener Verfahrensweisen scheint ein linearer Fortschritt in der Kunst ausgeschlossen. Generell ist der Fortschrittsgedanke nur bedingt auf die Literatur anwendbar. Denn das literarische Werk folgt nicht sosehr verallgemeinerbaren Regeln, wie schon Friedrich Schlegel darlegte, sondern setzt jeweils selbst die Regeln, nach denen es verfasst ist.


Die Arbeit aus präsentischer Erfahrung speisen

Auch Autorinnen und Autoren, die mit Lyrik oder Prosa im Magazin vertreten sind, stellte der »poet« zwei Fragen zum ema Fortschritt.

1.

Über lange Zeit, insbesondere in der Kunsttheorie der Moderne, wurde von Kunst und Literatur immer Neues gefordert (Il faut être absolument moderne). Ist diese Art Fortschritt in Form und Materialität heute überhaupt noch möglich oder ist für Sie dieses Postulat überholt? theresa pleitner: Ich finde zwar, dass es eine der Aufgaben von Kunst und Literatur ist, sich nicht auf das Bekannte zu verlassen, auf abgeschliffene Formen und Wendungen, sondern einen zeitgemäßen Ausdruck zu finden. Trotzdem stört mich die Idee, diesen Anspruch an erste Stelle zu setzen, da er ja auch einer gewissen Marktlogik in die Hände spielt, der zufolge das Produkt möglichst trendy sein soll. Ich glaube, dass darin eine Gefahr besteht, da Kunst und Literatur, die sich dieser Logik unterwerfen, über den Trend womöglich nicht hinausweisen und ihm opfern, was mich an ihnen am meisten interessiert: die intensive Vertiefung in ein ema. susan Kreller: Ich halte dieses Postulat in der Tat für überholt, denn gesetzt den Fall, es gäbe es wirklich noch, dieses ganz und gar Neue, dann würde die Suche danach einen bemühten, künstlichen Text zeitigen. Schreiben wäre dann nichts Weiches, Zauberhaes mehr, sondern hätte einen merkwürdigen Wettbewerbscharakter. BarBara Maria Kloos: Man kann die Experimente der Moderne als ästhetische Vivisektionen, als Nervenspiegel der Mechanisierung, als gigantische Phallusparty oder als Werbestrategie in einem immer aggressiveren Kulturbetrieb lesen. Fakt ist, die Autoren der »Jahrhundertwende« reagieren auf Konkurrenzdruck: der Modezwang der literarischen Produktion entspricht dem Marktdiktat des industriellen Fortschritts, der

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Literatur und Fortschritt | Umfrage

poet:


»Newcomer« verkörpert saisonale Wegwerfware. Wenn sich die technoiden Futuristen z. B. der neuen Automobilreklame bedienten, um die Aufmerksamkeit des saturierten Publikums zu erregen, so sind innovative Selbstinszenierung, Show, Publicity für DichterInnen der digitalen Gegenwart zwingend. Nie wirkte formale und performative Kreativität politisch so harmlos wie heute, nie passten Avantgarde und Medienkapitalismus so perfekt zusammen wie in unserer dauererregten Poste-Moderne. Bettina hesse: Der Begriff Moderne wurde schon für vieles eingesetzt, und beim Fortschritt kommt es, wie so o, auf die Perspektive an. In der Kunst und im Schreiben halte ich Offenheit, Neugierde und das Hinterfragen für Qualitäten, die ein Umdenken möglich machen. Ohne die Verantwortung aus den Augen zu verlieren, lässt diese Art von Beweglichkeit Neues entstehen, Innovation. Jessica lind: Ich glaube, ich schreibe aus einer Erzähltradition heraus, die mir selbst gar nicht so bewusst ist. Alles, was ich lese, sehe, angreife, verändert mich. Die Welt geht durch mich hindurch, wird durch mich gefiltert und landet irgendwie auf dem Papier. Ich kann (und will mich auch gar nicht) frei machen von den Einflüssen, denen ich, wie jeder, ausgesetzt bin. Vielleicht bin ich da zu unreflektiert, aber in meiner Arbeit spielt der Anspruch, etwas Neues zu schaffen, avantgardistisch zu sein, keine bewusste Rolle. Ich schreibe, um eine Geschichte zu erzählen, um eine Stimmung zu transportieren und das Grenzfeld zwischen Erzähltem und Realem auszuloten. Überholt finde ich das Postulat allerdings nicht. Es ist sehr wichtig, dass immer wieder Neues passiert, Altem abgeschworen wird, auch wenn dadurch eine gewisse Wiederholung unvermeidbar ist, präsentiert sie sich im neuen Gewand der Zeit und formt so den Zeitgeist mit, dem man nur schwer entkommen kann. Ich betrachte meine Erzählungen nicht als avantgardistisch, bewundere aber Texte, die sich dem bewusst verschreiben, und glaube, dass die Avantgarde auch auf Nichtavantgardisten abfärbt. anneMarie rennert: Da neu für gewöhnlich mit anders gleichgesetzt wird, anders aber nicht immer besser ist, empfinde ich Modernisierungen in der Literatur vielmals als Spielereien, die zweifelsohne ihre


Literatur und Fortschritt | Umfrage

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Berechtigung haben, für mich persönlich jedoch keine Bereicherung darstellen. Diesem Zugzwang, Dinge anders zu machen, unterliegt dabei vor allem der Bereich Rezeption, inhaltlich als auch formal. Nur überwinden beispielsweise E-Book oder Social-Reading weder automatisch die Vergangenheit noch verbessern sie schlechte Lektüre. uwe hüBner: Da Sprache einer ständigen Veränderung unterliegt, zum Beispiel Patina ansetzt, ist man als Autor zu Reaktionen gezwungen. Wenn Literatur nicht mehr nach Neuem Ausschau hält, verödet sie; dieses Neue kann auch die vehemente Versachlichung von Sprache bedeuten. paul-henri caMpBell: Arthur Rimbauds Diktum lässt sich, glaube ich, nicht überholen, gewiss aber wiederholen und emphatisch bekräigen. Ich denke, es hat sich gegenwärtig eine Vulgärvorstellung von Modernität allerorts eingeschlichen, die die Möglichkeit von Fortschritt mit einem müden Überdruss überwölbt und daher mit Skeptizismus belegt oder zynisch zurückweist. Die Wahrheit allerdings besteht darin, dass Kunst, zumal die Poesie, stets fortschrittlich arbeitet, insofern sie aus der Vergegenwärtigung des Künstlers heraus entsteht. Daher bedeutet Fortschritt für mich mehr eine Haltung als eine Technik oder ein ema. Insofern Dichter sich mühen, ihre Arbeit aus präsentischer Erfahrung zu speisen, insofern Dichter ihre futurisch bisweilen nontemporale Imagination mit ihrer eigenen unverfügbaren und je einmaligen Erfahrung konfrontieren, insofern dichterische Erinnerung nicht Repetition, sondern belebende Novellierung von Vergangenem in diesen Dreischritt ist, dann entsteht fortschrittliche Poesie. Es handelt sich dann um Gedichte, die einen Ort und Zeitpunkt im Jetzt aufweisen, weil sie Artefakte dieser Vergegenwärtigung der dichterischen Persona ins Werk setzen. Gleichzeitig will ich feststellen, dass wenige Dichter heute sich ihrer Potenz bewusst sind. O habe ich beobachtet, dass Dichter, die zynisch oder skeptisch auf die Frage nach Fortschritt reagieren, eigentlich überfordert sind. Sie greifen dann häufig zur Technik der Kompilation oder einem wahllosen Eklektizismus, ohne dass ihre Gedichte Spuren einer dichterischen Individualität zeigen, die die Stimme im Jetzt verortet. Solche


Dichter sind lediglich Echos des Vergangenen, nicht Herolde des Kommenden. Fortschritt aber bedeutet eine dezidierte Haltung zum dichterischen Selbst in der Gegenwart zu finden. Fortschritt bedeutet für mich dann die Potenz Gedichte als Fortschreibungen der Dichtung selbst zu schaffen. Es geht hier nicht um Kontinuität. Modernität ist für mich diese reflektierte Haltung, sie grenzt sich einerseits ab von der degenerierten Haltung der Nostalgie und andererseits von der ortlosen, konsequenzlosen und letztlich bedeutungslosen Haltung der Schwärmerei.

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Und ganz praktisch gefragt – was ist für Sie Fortschritt in Ihrer täglichen literarischen Arbeit? anneMarie rennert: In meiner täglichen Arbeit bedeutet Fortschritt nicht mehr und nicht weniger als den wortwörtlichen Schritt nach vorn und damit zweierlei Zuwachs; einem mehr an Zeilen, die stehen bleiben, und einem mehr an Überzeugung, dass sie es auch morgen noch dürfen. uwe hüBner: Fortschritt ist für mich ent-wickeln – entpuppen, entsorgen – und also befreien. susan Kreller: Ich persönlich spiele gern mit althergebrachten Modi, Perspektiven, emen, Figurenkonstellationen etc. und versuche, auf diesen Ebenen Brüche zu gestalten. Wenn mir dies ab und zu gelingt, freue ich mich. Als Fortschritt betrachte ich auch jedes literarisch eingefangene Gefühl, jede eingefangene Stimmung. Bettina hesse: Fortschritt beim Schreiben bedeutet für mich, Bedingungen schaffen, die mir gutes Arbeiten ermöglichen – mental wie praktisch. Also Impulsen nachgehen, der Inspiration im Moment folgen und den Job, die täglichen Anforderungen dann ausblenden können. Es erfordert Konzentration, schenkt aber Unabhängigkeit und im besten Fall Leichtigkeit. Jessica lind: Ich arbeite gerade an meinem ersten Roman. Eine neue Erfahrung für mich, da ich bisher vor allem Kurzgeschichten und Drehpoet:


Literatur und Fortschritt | Umfrage

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bücher geschrieben habe. So ist Fortschritt für mich zum einen, ganz visuell und greiar, das Füllen von Seiten, den Blätterstapel am Schreibtisch wachsen zu lassen. Es ist für mich aber auch ein Fortschritt, eine tägliche Schreibroutine kultiviert zu haben, und ich freue mich, mir diese Freiheit nehmen zu können (täglich zu schreiben). Der gefühlt wichtigste Fortschritt ist der im Erzählen, langsam Mechanismen zu begreifen, die in einer Geschichte wirken, sie auszumachen und formal zusammenzuhalten. In meiner Arbeit gibt es lange, mühsame Durststrecken, unterbrochen von seltenen Momenten des Glücks, wenn ich tatsächlich das Gefühl habe, etwas begriffen zu haben, das sich dann o gar nicht so leicht in Worte fassen lässt. Schreiben ist für mich harte Arbeit, aber gleichzeitig kann ich mir nichts Erfüllenderes vorstellen. BarBara Maria Kloos: Beim Schreiben bin ich im geheimnisvollen Raum der Psyche, in dem sich alle Zeiten überlagern. In diesem Dickicht ist Fortschritt eine Illusion. Der Pfad durch die eigenen Abgründe verläu jenseits der Arenen, Fanmeilen, Likes. Immer nah bei den Toten und Verletzten. I want to get abstraction to the point where it screams. theresa pleitner: Fortschritt empfinde ich beim Schreiben dann, wenn es mir gelingt, etwas zum Ausdruck zu bringen, das ich bisher nur unzureichend in Worte fassen konnte. paul-henri caMpBell: In vielen meiner bisherigen Gedichte ging es um eine Spiritualisierung, auch Subjektivierung von Technologie. So stellt mein zwöleiliges Gedicht über den Krieg den Flugzeugträger Kitty Hawk in den Mittelpunkt; meine Gedichte über Sehnsucht und utopische Unerreichbarkeit greifen die Apollo Missionen und den Wettlauf zum Mond auf; meinen Zyklus zu Juri Gagarin könnte man als ein Chanson de geste lesen; der Frage nach Barmherzigkeit etwa gehe ich in meinen Gedichten zu einem Medtronic Schrittmacheraggregat nach. Dabei aktualisieren diese Gedichte häufig Genre oder emen, die die Dichtung seit ihrem Anbeginn immer wieder aufnimmt; gleichwohl versuche ich das Hauptaugenmerk auf das konkret Präsentische, das Jetzt des lyrischen Ichs oder der Stimme(n) der in dem Gedicht aufgenommenen Erfahrung zu richten. Daher wird Fortschritt für mich nicht ein


Schritt von einer Kontinuität zur nächsten, sondern ein ungewisser Sprung mit dem Ballast der Tradition im Rücken. Für mich persönlich finde ich es hilfreich, wenn die dichterische Sprache eher unsicher wirkt. Ich suche diesen Duktus ständig, was nicht leicht ist, denn o hat man das Gefühl, sich des Ausdrucks sicher zu sein, obwohl die Ausdrücklichkeit des Gedichts in Wirklichkeit alles andere als gesichert ist. Das Gedicht kann sich – als Sprung, als Fortsprung, Wegsprung, Aufsprung – nie auf einen gesicherten Boden bei seiner Landung verlassen. Ich glaube, das ist die Haltung, um die ich beim Schreiben ringe – eine gewisse Labilität. Fortschritt meint ja auch im ungewissen Stochern, ohne doppelten Boden zu arbeiten.


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Ann Cotten | Gespräch

Ann Cotten im Gespräch Ann Cotten, geboren 1982 in Ames, Iowa, USA, seit 1986 in Wien und später Berlin. Germanistikstudium, Abschluss mit Arbeit über Konkrete Poesie (Nach der Welt, Klever 2008). Drittel der Rotten Kinck Schow. Jüngste Publikationen: Helm aus Phlox (mit Rinck, Popp, Jackson,

Falb, Merve 2011), Hauptwerk (Engstler 2013), Der schaudernde Fächer (Suhrkamp 2013), Rein – ja oder nein? (Slotta, Berlin 2013), Verbannt! (Suhrkamp 2016). Demnächst: Lather in Heaven (englisch, Broken Dimanche Press 2016).


Fortschritt, produktiver Mythos

siBylla Vričić hausMann: Was macht Ihrer Meinung nach die Attraktivität des Fortschrittsgedankens aus? Hat sie zum Beispiel etwas mit Jugendlichkeit und dem Reiz räumlicher Fortbewegung zu tun? ann cotten: Irgendwo muss man ja hin wollen. Der Reiz ist erklärlich und die Notwendigkeit. Aber was Fortschritt bedeutet, ist uneindeutig. Seit Eltern ihre Kinder aufziehen, wird ein positiver Wert der Expansivität, dem Wachstum und so weiter angeheet, wobei die Konzepte Wachstum und Erfolg verschwimmen. Fortschritt wird o pseudoneutral gesehen als ein Schritt in die jeweilige Erfolgsrichtung. Literarisch: »Der Text erfüllt die von ihm selbst aufgestellten Kriterien.« Dagegen könnte man, billig formuliert, den wahren Fortschritt ins Spiel bringen, der Gegenstand der philosophischen Kritik sein kann und muss. Die Philosophie ist z. B. in der Lage, das I would prefer not to der Gesellscha hoch zu bewerten: die Schönheit und Weisheit des Nichts, des Wenigen, des Nichtseins, der Emanzipation vom Materiellen und infolgedessen die Zurückhaltung bei dessen Anhäufung. Diese Haltung scheint gerade in einer schwachen Phase, im Schatten unterm Rad zu liegen. Weil die Logik der Vermehrung sich so physisch durchsetzt, auch wenn alle die ganze Zeit andere Meinungen haben. Maschinen (und zu Maschinen zählten auch schon die ersten Verträge und Gesetze) setzen ja durch, was irgendwann mal nicht völlig zu Ende durchdacht wurde; was von den Besitzern der Maschinen eben gewünscht wird. Das wird zur Gewohnheit, zum Dispositiv, zum Dauersound, zur Default-Version. Wenn du nichts tust, wirst du in Deutschland als Nicht-Organspenderin, in Österreich als Organspenderin gehandhabt, zum Beispiel. Darauf kommt es an: Was passiert, wenn du nichts tust? In einem am Privatbesitz hierarchisierten System ist eben die Grundeinstellung die


Ann Cotten | Gespräch

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Annahme, dass alle auf maximale Vermögensanhäufung aus sind, wer das nicht ist, hat große Schwierigkeiten mit dem Leben zurechtzukommen. Man könnte ja auch als Norm festlegen, dass man auf No-ProfitBasis lebt. Dann könnten die obsessiven Anhäufer immer noch anhäufen, ohne aber dass alle unter Druck stehen, mitzumachen. So einen Paradigmenwechsel empfände ich als gesellschalichen Fortschritt. Vielleicht arbeitet jetzt in der Technik der Trend zur Verkleinerung der Geräte als »Rad im Rad« innerhalb der Logik des Protzens mit Materiellem schon gegen die Anhäufung. Der Chic des Minimalismus könnte den Kollaps der Raffgier überleben. Wäre hübsch. s. Vričić hausMann: Fortschritt ist also eine Art durchsetzungskräige Illusion? a. cotten: Ich glaube nicht an Fortschritt, nicht im Sinn einer Verbesserung von allem – einfach undenkbar, dass dabei nicht gleichzeitig anderes vergessen wird, verkümmert – und zugleich bin ich jemand, die nie zufrieden ist, nicht mit Mittelmaß, nicht mit Untätigkeit, nicht mit mir selbst und nicht mit anderen, ich muss, wie Sie andeuten, immer in Bewegung bleiben. Obwohl ich an eine Verbesserung insgesamt nicht glaube, glaube ich wohl an eine Verbesserung von mir. Hier muss ich an Johan Galtungs Begriff der strukturellen Gewalt denken, die er etwas merkwürdig definiert als Differenz zwischen Potential und Realisierung, also wenn es Hochschulen gibt, aber man sie nicht besuchen kann, zum Beispiel. In diesem Bereich macht Fortschritt sehr wohl Sinn und hier sehe ich das progressive Denken als ganz wichtig, im Sinn vom notwendigen Abbau der Differenz zwischen Arm und Reich. Fortschritt heißt weg vom Eigentum. Dieser Fortschritt für alle könnte für bislang Privilegierte individuell manchmal wie ein Rückschritt aussehen. Den Stress macht eigentlich immer das Bestreben, alles im richtigen Verhältnis zueinander zu sehen: Wo setzt du dein Streben an und was lässt du dafür verkommen? Plötzlich kippt der Aspekt, und statt Fortschritt ist notwendig ein unendliches Bekämpfen des Verfalls. Diese Janusköpfigkeit des Fortschritts ist bei den Strugatzkij-Brüdern beispielsweise o sehr gut dargestellt.


s. Vričić hausMann: Ein wichtiges Ziel ist es, Voraussetzungen für die bestmögliche oder breiteste Entfaltung vorhandener Potentiale zu schaffen … Als Autorin heißt das individuell ja auch, das eigene Schreiben nicht stagnieren zu lassen, es mit jedem neuen Projekt umzudefinieren, oder? a. cotten: Ohne Definitionswahn kein Umdefinieren. Fortschritt im Sinn von Davongehen, Loslassen und dem Erneuern der Perspektive, also bloß Bewegung, ist offensichtlich notwendig, um vorausgelebten Hirntod zu vermeiden. Das geschieht aber fast automatisch. Weil Fortschritt ein bei jeder Benutzung erläuterungsbedüriger Begriff ist, bin ich nicht eifrig, ihn mir an die Fahnen zu heen. Immer wird schneller reproduziert als nachgefragt. s. Vričić hausMann: Sie bezeichnen Fortschritt als »produktiven Mythos«. Meinen Sie das in dem Sinne, dass man zwar weiß »Es ist ein Mythos« – der Gedanke an Fortschritt die Produktion aber trotzdem »beflügelt«? Wenn ja, warum ist das so? a. cotten: Ich denke, die meisten Entscheidungen werden von Mythen angeleitet, wenigstens von übertriebenen und verzogenen Vorstellungen und Ideen. Eine Geschäsidee, richtig eingeschätzt, würde einen nicht zum Gründen eines Startups motivieren, sondern eher erschaudern lassen. Die Angst vor Geschäsideen müsste eigentlich alle in die Haltung von Zen-Praktikern und Taoisten befördern. Aber es setzt sich nicht die Vernun durch, sondern der Bewegungsdrang. Es ist für Anhänger von Religionen übrigens noch einmal leichter gemacht, gegen das eigene Denken zu handeln. Diese Praxis verwirrt. Man sieht den Menschen längst gewohnheitsmäßig als widersprüchlich an, stellt das Paradoxe nicht ohne Stolz auch noch in den Schrein des Menschenkults. Das hil aber nicht weiter bei der Beurteilung der eigenen Entscheidungen. Wenn man auört, zu beurteilen, handelt man noch immer, bloß außer Kontrolle. Und ich glaube, außer irgendwelche Ideen von Fortschritt – man könnte auch sagen, Utopien – findet man nicht so leicht eine sinnvolle Richtlinie für die Entscheidungen, die man nun mal treffen muss. s. Vričić hausMann: Die Postmoderne nivelliert ja den Fortschritts-


gedanken und beschäigt sich z. B. mit vorhandenem Material / überlieferten Methoden. Scha sie trotzdem »Neues«, neue Verfahrensweisen? a. cotten: Niemand weiß, was Postmoderne ist. Sie fühlt sich an wie ein zielloses Treiben, der totalen Verzweiflung immer knapp ausweichend, irgendwelchen Fetzen von Hoffnung nachjagend, mit kurzen Energiespannen, vielen zirkulären Argumentationen. Ein Strudeln bei sehr lascher Stimmung, durchsetzt von plötzlich aufflammenden irren Einzelkämpfen, die bald wieder vergessen werden. Es fehlen Kriterien, Normen, die gegen Halbwissen schützen, also ist man ständig in Gefahr, individuell zu wiederholen und als neu zu empfinden, was ein alter Hut ist, im Kreis zu denken etc. s. Vričić hausMann: Wie wichtig sind Rückschritt und Scheitern für Ihr Schreiben? a. cotten: Es muss natürlich etwas von der Konzeption her scheitern können, damit man von Nichtscheitern sprechen kann. s. Vričić hausMann: Was versteht man überhaupt unter »neu«? Der Umgang mit Sprache besteht ja immer aus dem Kombinieren von Vorhandenem. Konnte/kann Literatur überhaupt jemals »neu« sein? a. cotten: Neu bezeichnet wohl offensichtlich einen Effekt, keine fixe Eigenscha von etwas. Dass alles alt ist (die Atome und die Molekülstrukturen), heißt also nicht, dass nichts neu ist. s. Vričić hausMann: Zum Gedanken des »ewigen Kreislaufs«: Was gibt es für Beispiele für literarische Lösungen, die mit der Zeit zu Problemen wurden? a. cotten: Das Enjambement.

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