20 Impulse für 2020

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PHILOSOPHIE MAGAZIN EDITION 20 IMPULSE FÜR 2020

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EDITION NR. 01, JANUAR/APRIL 2020


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Erstmals auf Deutsch:

Hannah Arendt „Französischer Existenzialismus“

DIE EXISTENZIALISTEN

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PHILOSOPHEN

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NIETZSCHE

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PHILOSOPHINNEN PHILOSOPHIE MAGAZIN SONDERAUSGABE 13

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WINTER 2019/2020

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Die Wege der Gedanken SPAZIEREN MIT THOREAU

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PHILOSOPHINNEN Eine andere Geschichte des Denkens

Von Hypatia von Alexandrien • Hildegard von Bingen Émilie du Châtelet • Mary Wollstonecraft • Simone Weil Harriet Taylor Mill • Hannah Arendt • Simone de Beauvoir bis Donna Haraway und Judith Butler

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Reguläre Ausgaben Nr. 05/ 2018

August/September

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EDITORIAL

FOTO: Johanna Ruebel

Was 2020 wichtig wird – Impulse zum Weiterdenken Die Gegenwart ist unübersichtlich. Das war schon immer so – und doch empfinden wir es derzeit mit besonderer Schärfe. Vielleicht auch, weil wir in einer Epoche leben, die sich mit klaren Visionen für die Zukunft schwertut und von Ambivalenzen geprägt ist. Laufen wir auf die Klimakatastrophe zu oder sind wir auf bestem Weg zu technologischen Lösungen dafür? Wohin steuert unsere liberale Demokratie, wird sie gestärkt aus den aktuellen Herausforderungen hervorgehen? Wofür können wir individuell, als Gesellschaft, als globale Gemeinschaft Verantwortung übernehmen – und für was verantwortlich gemacht werden? Wer ist überhaupt „Wir“ – was macht Identität aus, was Gemeinschaft? Wenn die Philosophie irgendetwas leisten kann, dann, dass sie einen Schritt zurücktritt und versucht, näher über dieses flüchtige Jetzt nachzudenken, diesen Moment „zwischen Vergangenheit und Zukunft“, um mit Hannah Arendt zu sprechen, der so schwer zu fassen ist. Denn gerade angesichts des Gefühls von Krisenhaftigkeit ist die Besonnenheit eine besondere Tugend. Es braucht Ruhe, um überhaupt zu erfassen, was die maßgeblichen Themen und Ereignisse unserer Zeit sind. Und um neue Ideen, Interpretationen, Weisen des Verstehens zu entwickeln. In diesem Heft versammeln wir 20 Essays von herausragenden internationalen und deutschsprachigen Denkerinnen und Denkern, die sich mit einer besonderen Klarheit der Vision und einer besonderen Schärfe des Gedankens den großen Themen unserer Zeit stellen. Die Texte stammen aus verschiedenen Quellen der vergangenen Monate, aber sie reichen weit in die Zukunft. Sie schlagen Schneisen ins Dickicht der Gegenwart – und laden zum Mit- und Weiterdenken ein.

Philosophie Magazin EDITION 2020

Catherine Newmark Chefredakteurin

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POLITIK 10

DIETER THOMÄ Wer hat Angst vor dem Volk? Wie glaubwürdig ist eine Demokratie, die ihr eigenes Volk für dumm hält?

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ANDREAS RECKWITZ Liberalismus: Ein Ordnungsruf Welchen Weg muss der Liberalismus einschlagen, um weiterhin eine zukunftsfähige Perspektive bieten zu können?

20

JAN-WERNER MÜLLER Die Chancen der liberalen Demokratie Sie steht von allen Seiten in der Kritik – was ist die Zukunft der liberalen Demokratie?

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SHOSHANA ZUBOFF Willkommen im Überwachungskapitalismus Wie sollen wir der neuen digitalen Macht begegnen, die versucht, das menschliche Verhalten zu beeinflussen?

34

ANTON JÄGER Keine Arbeit ist auch keine Lösung Ja, wir brauchen Arbeit – aber wie sieht die Arbeit der Zukunft aus?

KLIMA 46

CHRISTIAN GEULEN Die Krise als Konsens Welche Auswirkungen hat die Allgegenwart der Krisendiskurse auf unser kollektives und individuelles Selbstverständnis?

50

LÉNA BALAUD / ANTOINE CHOPOT Dem Wald folgen Können wir der aktuellen Krise mit einer neuen Solidarität begegnen, die über zwischenmenschliche Beziehungen hinausgeht?

56

BAPTISTE MORIZOT Heimweh ohne Exil Wie können wir mit der Verunsicherung umgehen, die eine sich immer schneller verändernde Welt hervorruft?

GLOBALISIERUNG

4

64

SEYLA BENHABIB Das Fremde als Gefahr? Welche Verantwortung tragen wir gegenüber dem Fremden in einer von Migration geprägten Welt?

74

TENG BIAO Nicht Traum, sondern Albtraum Inwiefern prägt das Massaker vom Tiananmen-Platz die chinesische Politik bis heute?

INHALT


ETHIK 84

CHRISTINE KORSGAARD Die philosophische Notwendigkeit von Tierrechten Welche moralische Verantwortung haben wir gegenüber nichtmenschlichen Lebewesen?

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PETER SINGER Der Hirntod und die Heiligkeit des Lebens Ab wann ist ein Mensch wirklich tot? Müssen wir unsere herkömmlichen Definitionen infrage stellen?

FOTO: Die Nachweise für die Porträts stehen jeweils auf den Seiten im Heft, auf denen sie groß abgebildet werden.

IDENTITÄTEN 100

ANTJE SCHRUPP Männlich, weiblich, schwanger? Was können wir jenseits von Ideologien über die Geschlechterdifferenz sagen?

106

PAULA-IRENE VILLA / ANDREA GEIER Wer hat Angst vor dem Zuhören? Warum müssen wir in unserer Gesellschaft immer wieder über Identität diskutieren?

112

KWAME ANTHONY APPIAH Lügen, die verbinden Machen wir es uns zu leicht, wenn wir zu sehr auf kollektive Identitäten pochen?

120

CHIMAMANDA NGOZI ADICHIE Zeit für Mut Wie politisch ist Literatur? Und was kann sie uns über Verantwortung lehren?

DIGITALES 128

SLAVOJ ŽIŽEK Singularität als Apokalypse Welche Folgen hat die Entwicklung der künstlichen Intelligenz für unsere Individualität und persönliche Integrität?

134

BIRGIT MAHNKOPF Produktiver, grüner, friedlicher? Wie viel Glauben dürfen wir den Versprechen einer digitalen Revolution wirklich schenken?

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CATHERINE MALABOU Die anarchistische Wende des Kapitalismus Bergen Kryptowährungen die Gefahr einer totalen Überwachung? Oder etwa das Potenzial, uns dieser zu entziehen?

152

HARALD WELZER Mehr Zukunft wagen Kann es eine Zukunft geben, die radikal anders ist als die, die wir uns gegenwärtig vorstellen können?

Philosophie Magazin EDITION 2020

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Dieter Thomä

Wer hat Angst vor dem Volk? Das Misstrauen gegenüber dem Volk hat in der Demokratie eine lange Tradition. Doch was ist eine demokratische Regierungsform wert, wenn sie ihr Volk für dumm hält? Für den Philosophen Dieter Thomä ist eine solche paternalistische Haltung das Anzeichen einer deformierten Demokratie, die den populistischen Protest geradezu hervorruft

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POLITIK


Wer ist schuld an der Krise der Demokratie? Die naheliegende Antwort lautet: das Volk. Es bringt Leute wie Donald Trump, Heinz-Christian Strache, Matteo Salvini, Narendra Modi oder Jair Bolsonaro an die Macht und macht die AfD in Deutschland zur drittstärksten politischen Kraft. Viele Zeitgenossen – zumal solche, die sich für klug halten – beklagen, dass das Volk von allen guten Geistern verlassen sei, und suchen nach Wegen, um die Demokratie vor dem Volk zu schützen. Das ist zwar ungefähr so absurd, wie das Atelier vor dem Künstler oder das Restaurant vor dem Koch zu schützen, denn in der Demokratie soll das Volk ja das Sagen haben. Der Aufstieg des Populismus aber bringt dem demokratischen Souverän den Vorwurf ein, den nötigen Durchblick vermissen zu lassen und seine Selbstbestimmung zu vergeigen. Diejenigen, die von Misstrauen gegen das Volk erfüllt sind, wollen es kleinhalten und meinen, damit der Demokratie einen Dienst zu tun. Sie geben sich staatsmännisch und ergreifen alle möglichen Schutzmaßnahmen, um die Institutionen vor dem Zugriff des vermeintlich unmündigen Volkes zu schützen. Dieses tiefe Misstrauen hat eine lange philosophische Tradition, deren Protagonisten sich in zwei Berufsgruppen unterteilen lassen: in Zoodirektoren und Schulmeister. Die Zoodirektoren wollen den Bewegungsspielraum des Volkes einschränken, es anleinen oder einsperren – und zwar deshalb, weil sie im Volk ein Tier sehen. Es ist triebgesteuert, impulsiv, unbelehrbar, unberechenbar und vielleicht sogar blutrünstig. Diese Lesart hat eine lange Tradition. Bei Platon hieß das Volk „großes Tier“, bei Hegel „rohes blindes Tier“, bei Alexander Hamilton, Thomas Carlyle, Honoré de Balzac und vielen anderen „wildes Tier“. Einen subversiven Kommentar zu dieser gefährlichen Mischung aus Angst und Verachtung lieferte Bertolt Brecht in seinem ersten Theaterstück „Baal“. Vorgeführt wurde darin ein Kraftkerl, der sich auf brutale Weise über die guten Sitten hinwegsetzte und als „Orang-Utan“ sowie wiederum als „wildes Tier“ bezeichnet wurde. Dieses Vokabular ist übrigens keineswegs von gestern. Als im Jahr 2011 Jugendliche auf den Straßen Londons und anderer englischer Städte randa-

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lierten, hieß es in einem Kommentar der Daily Mail: „Sie sind letzten Endes wilde Tiere. Sie reagieren nur auf triebhafte, tierische Impulse – Essen, Trinken, Sex, Raub oder Zerstörung des Eigentums anderer.“ Während die Zoodirektoren das Volk unter Kontrolle halten wollen, versuchen die Schulmeister, es zu erziehen. Einer der ersten und strengsten war Thomas Hobbes, der meinte, die Armen und Ungebildeten sollten von Staats wegen ein paar Unterrichtsstunden bekommen, in denen sie zu lernen hätten, dass die Befolgung der Gesetze in ihrem eigenen Interesse liege. Hobbes forderte sogar, dass sie dafür von der Arbeit freigestellt werden sollten, erfand nebenbei also immerhin den Bildungsurlaub. Der Zweck dieser Schulung bestand freilich nur darin, gute Untertanen, nicht mündige Bürger hervorzubringen. Auf Hobbes folgen dann ehrgeizigere Schulmeister, die das kindliche Volk zur Mündigkeit führen wollen oder – nach Immanuel Kants berühmter Formel – den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ propagieren. Kant will dem Volk die „Faulheit und Feigheit“ verleiden, „Vormündern“ zu folgen. Damit tut er nichts anderes, als einer Analyse Niccolò Machiavellis eine freiheitliche Wendung zu geben. Schon bei Machiavelli heißt es: „Ein Volk, das daran gewöhnt ist, unter einem Fürsten zu leben, ist in der gleichen Lage wie ein Raubtier, das zwar von Natur wild und unbändig, aber immer im Käfig und unter der Peitsche gehalten, durch einen Zufall ins Freie gelassen wird. Es wird dann die Beute des ersten Besten, der es wieder an die Kette legen will.“ Bei Machiavelli wie auch bei Kant steht am Anfang ein Volk, das von der Aufgabe der Selbstbestimmung überfordert scheint und dazu neigt, sich zweifelhaften Vormündern oder Leitwölfen an den Hals zu werfen. Genau diesen Mechanismus machen sich die populistischen Führer heutzutage zunutze. Gegen die Unmündigkeit und die Demagogie falscher Vormünder lanciert Kant eine emanzipatorische Initiative. Sie ist leider nicht über allen Zweifel erhaben. Bei Kant ist die Aussicht auf Selbstbestimmung an den Vorbehalt gekoppelt, dass dem Volk ohne gehörige Betreuung keineswegs zu

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KLIMA Sind wir noch zu retten?

FOTO: Michael Zuhorski

Die Folgen der globalen Erwärmung sind spürbar: Hochwasser und Wasserknappheit, Jahrhundertsommer und Artensterben. Kaum eine Herausforderung ist derzeit größer für die Menschheit als der Klimawandel. Doch bei der Frage, wie wir damit umgehen sollen, scheiden sich die Geister. Ist es an der Zeit, aktiv zu werden, oder sollten wir besonnen bleiben? Brauchen wir eine Kehrtwende in der Politik? Oder müssen wir unser persönliches Verhältnis zur Umwelt überdenken?


Baptiste Morizot

Heimweh ohne Exil Wir erkennen die Welt nicht mehr wieder, stellt der Philosoph Baptiste Morizot fest. Was uns früher als ewige und beständige Natur gegenüberstand, kommt uns in Zeiten der Klimakrise mitunter wandelbarer vor, als wir es selbst sind. Und wenn die Welt sich um uns herum so sehr verändert, dann beginnen wir uns in ihr fremd zu fühlen – wir werden zu Exilanten in unserer eigenen Heimat. Wie können wir mit dieser neuen Verunsicherung umgehen? Durch eine neue Beziehung zwischen Lebewesen und Natur, lautet Morizots Antwort

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KLIMA


Ya rayah win msafar trouh taâya wa twali (O Exilant, wohin gehst du? Am Ende kommst du doch zurück) Dahmane El Harrachi „Ya Rayah“ 1. Die Veränderung der Umwelt, die wir aktuell erleben, beeinflusst unsere Lebensformen auf eine unergründliche Art und Weise. Eines ist sicher: Die Lebensbedingungen auf der Erde haben sich verschlechtert. Doch welche Konsequenzen dies für unsere Situation als Lebewesen hat, ist noch ungeklärt und umstritten. Womöglich ist es erhellend, eine eher unscheinbare Auswirkung dieses Wandels zu betrachten und als „schwaches Zeichen“ zu analysieren, wie Zukunftsforscher sagen würden: die Erfahrung, dass wir uns nicht mehr „zu Hause“ fühlen. Doch das heißt nicht, dass wir nun anderswo sind. Uns kommt die Welt abhanden – die Welt, wie Moderne, Industrielle Revolution und Naturwissenschaften sie begriffen und zugerichtet haben. Was sich verändert, ist der Raum, in dem wir leben, seine Beständigkeit, seine Unwandelbarkeit und seine vorhersehbaren, zyklisch wiederkehrenden Gewohnheiten. 2. Wir steuern auf ein Zeitalter zu, in dem sich die Dramen der Bewohnbarkeit dieser Welt zuspitzen: Dürren gefährden die Ernten, Hochwasser überfluten die Orte, an denen wir leben, biologische Invasionen zerstören auf brutale Weise die alte Koevolution zwischen den Lebensformen eines Ökosystems. Etwa der Buchsbaumzünsler, der ursprünglich aus China kam, sich jedoch durch die Trockenheit massiv vermehrte und dessen weißgeflügelte Schwärme vor unseren Augen das Massensterben von Sträuchern verursachen. Diese Veränderungen werden Ernährungs- und Gesundheitskrisen mit sich bringen und als Reaktion darauf Bewegungen und Kämpfe auslösen. Neue Lebensweisen werden erfunden, und wahrscheinlich wird eine Kultur des Engagements für das, was uns am Herzen liegt, Verbreitung finden. Doch dass eine solche Reaktion möglich wird, hängt von der besonderen affektiven Gestimmtheit ab, mit der wir diesem Zeitalter der zunehmend krisenhaften Ereignisse entgegnen werden. Die wachsende Wahrscheinlichkeit von Krisen lässt uns in einer Katastrophenrhetorik versinken, die

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bereits vorherrscht. Das ist emotional schwer zu ertragen, lähmt und führt zu Verweigerung und Resignation. Doch hinter dieser Gestimmtheit, die die Macht der Angst aktiviert, verbirgt sich ein noch subtileres Gefühl. In dieser neuen Zeit ist es vielleicht das Erkennen unserer wechselseitigen Verletzlichkeit in einer Situation als Lebewesen unter anderen Lebewesen. Hinter der punktuellen Angst vor Katastrophen, die oft noch abstrakt und schwer greifbar sind, scheint mir kaum hörbar ein noch leiseres, weniger heftiges Gefühl zu stecken, das vielleicht jedoch noch stärker für Desorientierung sorgt. 3. In diesem Essay versuche ich, der Idee vom „Leben in einer versehrten Welt“ eine emotionale Wendung zu geben. 4. Ob Weißbuchen, Birken, Linden oder Pappeln – die Laubbäume warfen in diesem Jahr in Frankreich fast überall ihre Blätter bereits mitten im Sommer ab. Man könnte es mit den Begrifflichkeiten der Pflanzenökologie erklären: eine direkte Folge der Klimaerwärmung in Form von Dürrestress bei Bäumen durch Wassermangel. Doch die Beschreibung des biologischen Phänomens sagt nichts über die grundlegende emotionale Dimension dieser Situation aus. Was macht es mit uns, gleichzeitig die Wärme des Wassers zu spüren, wie im Monat August üblich, von wuchernden Kletterpflanzen umgeben zu sein, die so intensiv grün sind, wie es für einen Frühling mit starken Regenfällen typisch ist, und das Herabfallen gelber Herbstblätter zu erleben? Das ist eine Erfahrung völlig neuer Art. Es sind dieselben Orte, an denen wir immer waren, doch sie sind nicht mehr dieselben. Weil der Kreislauf der Jahreszeiten selbst aus den Fugen geraten ist. Man erkennt das eigene Zuhause nicht mehr, wie bei jener tragischen Krankheit, bei der einem die vertrautesten Gesichter wie die Mienen Fremder erscheinen. Wie sollen wir diesem Gefühl der Verzweiflung und Desorientierung Sinn und Ausdruck verleihen, wenn wir sehen, wie die bekannte Welt um uns herum zerfällt? 5. Das Eigentümliche an dieser affektiven Stimmung ist die „Solastalgie“ – ein Begriff, den der Philosoph Glenn Albrecht 2003 erfand. Ursprünglich diente er der

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Seyla Benhabib

Das Fremde als Gefahr? Die neuen Migrationsbewegungen verändern das globale Gefüge und stellen die Staatengemeinschaft vor neue Herausforderungen. Vielerorts reagieren die liberalen Demokratien darauf mit einer Gewalt und Unmenschlichkeit, die Seyla Benhabib auf die tief liegende Angst vor dem Anderen, dem Fremden zurückführt. Das Fremdsein selbst ist für Benhabib aber eine universelle Erfahrung, die nicht nur für die jüdische Tradition wesentlich ist, sondern eine transzendente Dimension hat, die uns moralisch leiten kann

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GLOBALISIERUNG


Noch ein Schiff voller Flüchtlinge, dieses Mal aus Afrika: Die Aquarius mit 629 Menschen an Bord, davon 123 allein reisende Minderjährige, elf Kinder und sieben schwangere Frauen, stand im Juni für Tage im Zentrum der europäischen Flüchtlingskrise: Italiens neu ernannter Innenminister von der rechtsextremen Lega Nord, Matteo Salvini, ließ das Schiff abweisen. Nach tagelangem Ausharren auf See nahm Spaniens neue sozialistische Regierung die Flüchtlinge schließlich im Hafen von Valencia auf. Der Schaden, den diese Episode sowohl der europäischen Einheit als auch den Idealen von Menschenrechten, Menschenwürde und Solidarität zufügt, ist gewaltig.

Es ist, als ob Europa nicht aus seinem Albtraum erwachen könne, der den Kontinent auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem ursprünglichen Trauma wieder und wieder heimsucht. Es wäre eine enorme Ironie der Geschichte, wenn die Europäische Union – entstanden aus der Asche des Holocaust und der bitteren Erinnerung an zwei Weltkriege – nicht zuletzt deshalb auseinanderfallen sollte, weil drei Millionen Flüchtlinge nach Europa einzureisen wünschen, ob aus Syrien oder aus anderen Ländern.1 Heute wird zwar niemand in Arbeits- oder Vernichtungslager geschickt, doch die Zahl an nordafrikanischen Internierungslagern, die in Komplizenschaft mit der EU errich-

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tet werden, steigt. Wie in einem schlechten Film über den Zweiten Weltkrieg schrieb die tschechische und ungarische Polizei im Jahr 2015 Flüchtlingen mit unlöschbarer Tinte Nummern auf die Arme. In Mazedonien, Slowenien und Ungarn wurden Flüchtlinge von Polizeihunden gejagt und mit Wasserwerfern verfolgt, als wären sie Dreck, der weggewaschen werden muss. Diejenigen von ihnen, die auf griechischen Inseln gestrandet sind, harren dort in einem qualvollen Schwebezustand aus. Und von Frankreich und Großbritannien wurden Flüchtlinge in dem nun geräumten Lager nahe Calais – dem sogenannten Dschungel – monatelang gedemütigt. Der Flüchtling wird nicht nur zunehmend wie ein Fremdkörper, sondern gar wie ein Feind behandelt, der in Internierungslagern, in Sammellagern oder – um es in absurder Eurobürokratie-Sprache auszudrücken – Hotspots untergebracht werden muss. Das Bild von Flüchtlingen im Mittelmeer wirkt wie eine fundamentale Metapher für das moralische Zusammentreffen zweier menschlicher Wesen.2 Die Parabel über zwei Menschen auf einem Floß im Meer wurde in der Moralphilosophie über Jahrhunderte hinweg breit diskutiert: Was soll ich machen, wenn das Floß nur für einen von uns Platz hat: dem Fremden in Not helfen und mein eigenes Leben opfern – oder dem Fremden meine Hilfe verweigern und ihn ertrinken lassen? Das moralische Dilemma soll den Konflikt zwischen unseren menschlichen Pflichten gegenüber anderen und unserem Eigeninteresse am Überleben illustrieren. Manchmal muss man Prioritäten setzen. Echos dieser antiken Parabel können wir in aktuellen Diskussionen vernehmen. So ist die Idee, dass das „Boot voll“ sei und dass wir keine „anderen“ an Bord nehmen können, oft von migrantenfeindlichen Gruppen zu hören. Dennoch ist es zutiefst irreführend, die heutigen Dilemmata im Sinne dieser Parabel zu formulieren: Denn anders als im antiken Beispiel ist die gegenwärtige Situation immer moralisch, rechtlich und politisch asymmetrisch: Die Begegnung findet niemals zwischen zwei gleichermaßen verwundbaren Individuen auf einem Floß statt. Es ist immer ein Zusam-

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ETHIK Wie weit geht unsere Verantwortung?

FOTO: Michael Zuhorski

Wie sollen wir leben, was dürfen wir tun, welches sind unsere Pflichten uns selbst und anderen gegenüber? Die klassischen ethischen Fragen, sie stellen sich auch heute noch. Oft allerdings mit einer neuen und radikaleren Reichweite: Schulden wir nur anderen Menschen etwas oder auch anderen Lebewesen, anderen Tieren – oder gar dem ganzen Planeten? Mit dem technologischen Fortschritt kommen auch neue Fragen dazu: Wann beginnt Leben – und wann endet es? Und wie viel dürfen wir eingreifen in die Geburt und in den Tod?


komme, dass etwas für mich und die mir nahestehenden Menschen gut ist, so behandele ich es als etwas, das uneingeschränkt gut ist. Ich bin also überzeugt, dass ich einen guten Grund habe, es anzustreben, solange ich niemand anderem Schaden oder Unrecht zufüge. Mehr noch: Ich meine, einfordern zu können, dass andere mein Streben respektieren, indem sie meine Handlungen nicht stören oder versuchen, meine Entscheidungen zu manipulieren, und dass sie mir möglichst sogar dabei helfen, meine Zwecke zu erreichen, wenn ich Hilfe brauche. Wenn wir beschließen, unsere Zwecke zu verfolgen, so stellen wir also verschiedene Forderungen an uns und andere. Es handelt sich um ein Zusammenspiel von Gesetzen, durch die wir uns wechselseitig verpflichten, uns gegenseitig zu respektieren und zu helfen.

Das ineinandergreifende Zusammenspiel von Gesetzen, die vernünftige Wesen füreinander aufstellen, konstituiert uns als moralische Gemeinschaft, die gemeinsame Zwecke unter gemeinsamen moralischen Gesetzen verfolgt.

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Kant nannte es das „Reich der Zwecke“. Als Mitautoren des moralischen Gesetzes gestehen wir uns gegenseitig den Status zu, „Zwecke an uns selbst“ zu sein. Kant dachte, dass Tiere nicht als Zwecke an sich behandelt werden sollten, weil sie nicht Teil dieser Gemeinschaft sein können. Da sie keine autonomen, vernünftigen Wesen sind, können sie weder Gesetze machen noch befolgen. Doch Kants Geschichte ist unvollständig. Wenn ich eine Entscheidung treffe, so gebe ich mir damit selbst ein Gesetz, nämlich, dass ich versuchen sollte, einen gewissen Zweck zu erreichen. Gleichzeitig entsteht daraus für andere das Gesetz, dass sie mich dabei nicht stören und mir möglichst sogar helfen sollten. Doch noch vor dieser Entscheidung kommt eine andere: Die Entscheidung, dass ich und andere etwas als absolut und uneingeschränkt gut betrachten sollten, aus dem bloßen Grund, dass es für mich oder für jemanden, der mir am Herzen liegt, gut ist. Bereits an diesem Punkt beanspruche ich den Status eines „Zweckes an sich“. Allein schon weil ich ein Lebewesen bin, für das Dinge gut oder schlecht sein können, habe ich den Anspruch, dass das für mich Gute als uneingeschränkt Gutes behandelt wird. Doch Menschen sind nicht die einzigen Lebewesen, für die Dinge gut oder schlecht sein können: Dies gilt für alle Tiere. Es gibt keinen Grund, warum man das, was für vernünftige Wesen gut ist, als uneingeschränkt gut betrachtet, während man das, was für die anderen Tiere gut ist, ignoriert und herabsetzt. Auch Tiere sind in diesem Sinne Zwecke an sich. Kant hatte recht, dass Tiere nicht zusammen mit uns im Reich der Zwecke Gesetze aufstellen können, die wechselseitig gelten. Unsere moralischen Beziehungen zu Menschen unterscheiden sich von den moralischen Beziehungen, die wir zu den anderen Tieren haben. Doch wir haben Grund, das, was für ein Tier gut ist, als uneingeschränkt gut zu betrachten. Der Grund besteht einfach darin, dass es für jemanden gut ist, dass es um das Wohl eines Lebewesens geht, für das etwas gut oder schlecht sein kann. Wenn wir Tiere anders behandeln, kann dies in manchen Fällen mit den Unterschie-

ETHIK


den zwischen Menschen und anderen Tieren begründet werden – den Unterschieden, was jeweils für sie gut oder schlecht ist, und manchmal auch, in welchem Ausmaß es gut oder schlecht sein kann. Doch wie grausam wir die anderen tatsächlich behandelt haben, ist eine moralische Ungeheuerlichkeit, die unvorstellbare Dimensionen angenommen hat und weiter ausufert, und

es ist Zeit für eine radikale Wende in unserem Verständnis und Interagieren mit den anderen Tieren. Der Text erschien zuerst im Juli 2018 unter dem Titel „The philosophical necessity of animal rights“ im Prospect Magazine (Übersetzung: Grit Fröhlich)

Christine Korsgaard geboren 1952, ist Professorin an der Harvard University, wo sie den Lehrstuhl als Arthur Kingsley Porter Professor of Philosophy innehat. Der Fokus ihrer akademischen Arbeit liegt auf Moralphilosophie, Handlungs- und Identitätstheorie sowie aktuell dem Thema Tierethik.

FOTO: Privat

Veröffentlichungen (Auswahl):

Philosophie Magazin EDITION 2020

➤ „The Sources of Normativity“, Cambridge: Harvard University Press 1996 ➤ „The Constitution of Agency. Essays on Practical Reason and Moral Psychology“, Oxford: Oxford University Press 2008 ➤ „Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity“, Oxford: Oxford University Press 2009

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So lassen sich die biologischen Vorgänge der Reproduktion aber gerade nicht beschreiben. Sie sind einseitig und alles andere als komplementär. Kinder werden zwar von zwei Menschen gemeinsam gezeugt (Eizelle und Sperma kommen zusammen). Anschließend ist aber nur eine Person schwanger.

Ein Paar kann noch so emanzipiert und gleichberechtigt sein, das Kinderkriegen 102

IDENTITÄTEN


kann man sich nicht „gerecht“ aufteilen wie das Badputzen oder das Einkaufen. Die Gebärmutter ist kein komplementäres Organ, sondern ein binäres: Man hat eine oder man hat keine. Eins und Null.

Philosophie Magazin EDITION 2020

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Kwame Anthony Appiah

Lügen, die verbinden Identitäten geben uns ein Gefühl von Zugehörigkeit, doch sie können auch das genaue Gegenteil bewirken: indem sie in Form von Vorurteilen oder Abgrenzungen die Solidarität zwischen den Menschen verstellen. In seinem aktuellen Buch, dem dieser Ausschnitt entnommen ist, fordert Kwame Anthony Appiah uns auf, unseren Horizont zu erweitern – auf die Menschheit als Ganze

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IDENTITÄTEN


Über die Jahre und rund um den Erdball stellten Taxifahrer ihre Fachkenntnisse auf die Probe, beim Versuch mich einzuordnen. In São Paulo sah man in mir einen Brasilianer und sprach mich auf Portugiesisch an. In Kapstadt hielt man mich für einen Farbigen, in Rom für einen Äthiopier, und ein Londoner Taxifahrer mochte gar nicht glauben, dass ich kein Hindi spreche. Der Pariser, der meinte, ich käme aus Belgien, hielt mich möglicherweise für einen Maghrebiner; und wenn ich einen Kaftan trage, kann ich in Tanger ganz unauffällig in der Menge untertauchen. Verwirrt von der Kombination meines Akzents und meines Aussehens, fragen Taxifahrer in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien mich regelmäßig während der Fahrt, wo ich geboren bin. „In London“, sage ich ihnen dann, aber das meinen sie nicht. Eigentlich wollen sie wissen, woher meine Familie ursprünglich stammt. Oder noch freier heraus:

Was sind Sie? Im größten Teil meines erwachsenen Lebens spielten drei Faktoren die wichtigste Rolle, wenn ich jemandem zum ersten Mal begegnete: Ich bin ein Mann, ich bin kein Weißer, und ich spreche Queen’s English, wie man dies früher nannte. Hier geht es um die Kategorien Gender, Race, Klasse und Nation. Es ist heute allerdings nur allzu natürlich, dass all diese Merkmale von derselben Art sind. Sie alle sind, wie wir heute sagen, eine Frage der Identität. Und wir alle unterstellen, dass Identitäten wie diese nicht nur bestimmen, wie andere Menschen auf mich reagieren, sondern auch, wie ich mich selbst sehe.

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unsichtbar. Die Erfahrungen von Frauen sind noch immer unsichtbar. Es ist Zeit, unerschrocken anzuerkennen, dass wir alle – in den Worten von Pablo Neruda – „Teil dieser großen Menschheit sind, nicht Teil der wenigen, sondern der vielen“. Manchen gelte ich als feministische Ikone. Ich habe einen Hut, auf dem „feministische Ikone“ steht, aber ich habe ihn heute nicht dabei. Da ich eine feministische Ikone bin, wollen die Leute oft mit mir über Feminismus sprechen. Ich bin zweisprachig; ich spreche Igbo und Englisch. Und im Familien- und Freundeskreis sprechen wir oft beide Sprachen gleichzeitig. Eine gute Freundin erzählte mir, dass sie einen ärztlichen Dienst aufgesucht habe. Sie sagte es auf Englisch („consultant“). In Igbo, sollte ich hinzufügen, gibt es keine geschlechtsspezifischen Personalpronomen, dasselbe Pronomen wird für Männer und Frauen benutzt. Und ich sprach ebenfalls Englisch und fragte meine Freundin: „Was hat er gesagt?“ Meine Freundin lachte und sagte: „Ständig hältst du uns Vorträge, dass wir nicht einfach etwas unterstellen sollen, aber gerade hast du unterstellt, dass es ein Mann war. Aber es war eine Frau.“ Ich ließ zutiefst beschämt den Kopf hängen. Allerdings war mir auch klar geworden, wie tief das Patriarchat in unserer DNA eingebettet ist. Literatur ist meine Religion. Von der Literatur habe ich gelernt, dass wir alle nicht perfekt sind, dass es keinen perfekten Menschen gibt. Aber ich habe auch gelernt, dass wir in der Lage sind, Gutes zu tun, dass wir nicht perfekt sein müssen, um richtig und gerecht handeln zu können. Ich bin in zwei Ländern zu Hause, in Nigeria und in den USA. Früher habe ich die Augen verdreht, wenn Leute auf die Frage, wo sie lebten, zwei Orte nannten. Aber jetzt gehöre ich zu diesen Leuten (und manchmal verdrehe ich die Augen über mich selbst). Als ich vor über 20 Jahren in die USA kam, um aufs College zu gehen, stellte ich fest, dass ich eine neue Identität hatte. In Nigeria waren Ethnie und Religion für mich bestimmend gewesen – ich war Igbo und Christin –, doch in Amerika wurde ich zu etwas Neuem: Ich wurde schwarz. Ich übernehme nicht oft Szenen aus meinem Leben in meine Geschichten. Einmal

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jedoch tat ich es mit einer spezifischen Szene, in der ich zum ersten Mal verstand, was es heißt, schwarz zu sein. Eine Lektorin erklärte mir, dass die Szene völlig unglaubwürdig sei. Ich hätte sie nur geschrieben, um etwas über Hautfarbe aussagen zu können. Sie meinte: So würde es im wahren Leben nie passieren. Und ich hätte gern zu ihr gesagt – aber genau so ist es passiert! Aber ich sagte es nicht. Denn wenn ich Creative Writing unterrichte, erkläre ich dem Kurs: „Ihr könnt eure Geschichten nicht mit dem wahren Leben rechtfertigen.“ Wenn eure Leser eure Geschichten unglaubwürdig finden, dann habt ihr, die Schriftsteller, versagt. Eure Kunst besteht darin, mit Sprache Glaubwürdigkeit zu erschaffen. Ich sagte das zu meinen Studenten, weil ich es bislang geglaubt habe. Doch ich stelle es zunehmend infrage. Denn das, was wir glauben oder nicht glauben, was wir glaubwürdig oder unglaubwürdig finden, bestimmt sich im Bezugssystem unserer Erfahrungen. Wie viele Dunkelhäutige kannte die Lektorin? Von wie vielen ehrlichen Erfahrungen dunkelhäutiger Menschen hatte sie gehört? Auf welcher Grundlage entschied sie, was sie glaubte und was sie als unglaubwürdig verwarf? Es ist Zeit, unsere Grenzen hinauszuschieben, das Bezugssystem zu erweitern, zu begreifen, dass das, was bereits existiert, bisweilen zu eingeschränkt ist, um die gesamte komplexe Vielfalt menschlicher Erfahrungen aufzunehmen. Ich glaube, wir brauchen mehr Geschichten, die offen politisch sind – mehr Geschichten, die der Welt ins Gesicht sehen. Aber ich glaube zugleich, dass wir mehr Geschichten brauchen, die nicht offen politisch sind. Ich unterrichte jedes Jahr einen Creative-Writing-Workshop in Lagos. Und bei der Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bemühe ich mich bewusst, eine Vielfalt von Stimmen aufzunehmen – unterschiedliche Klassen, Regionen, Religionen. Vor zwei Jahren nahm ein junger Mann namens Kelechi an dem Workshop teil. Er stammte aus der Arbeiterklasse, war Journalist und intelligent. Einer der Teilnehmer schrieb eine Geschichte ohne Handlung, eine Feier der Sprache, eine Meditation über das Erwachsenwerden. Ich fand die Geschichte

IDENTITÄTEN


FOTO: J. Sassier/Opale/Leemage/laif

großartig. Kelechi war davon verwirrt. „Aber in der Geschichte passiert nichts. Und wir lernen nichts daraus“, sagte er. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, schäme ich mich für meine Antwort. „Es tut mir leid“, sagte ich, „wenn du aus der Geschichte nicht erfährst, wie man ein Haus baut oder einen Job findet.“ Meine Antwort in ihrer schändlichen Arroganz war geprägt von einer modischen Idee der Leute, die Literatur unterrichten und promoten – nämlich, dass es Banausentum in seiner reinsten Form ist, die Nützlichkeit von Literatur infrage zu stellen. Als ich später über Kelechis Frage nachdachte, wurde mir klar, dass er an jenem Tage eine viele weitreichendere und wichtigere Frage gestellt hatte:

Kelechi gesagt, was ich jetzt denke – dass unsere Definition von nützlich zu eng ist. Literatur lehrt uns etwas. Literatur ist wichtig. Ich lese, um getröstet zu werden, ich lese, um gerührt zu werden, ich lese, um an Anmut, Schönheit und Liebe erinnert zu werden, aber auch an Schmerz und Elend. Und alle diese Dinge sind wichtig. All das sind nützliche Lektionen.

Ist Literatur wichtig? Ist Literatur nützlich? Wir können weiter über Literatur als einen Kult sprechen, der nicht infrage gestellt werden darf, oder wir können die Kanten unserer Definition abschleifen. Was heißt es, nützlich zu sein? Endet Nützlichkeit im Konkreten?

Grube) © 2018 by Chimamanda Ngozi Adichie,

Wir Menschen sind keine rein logischen Wesen. Wir sind ebenso emotionale wie physische Wesen. Nützlichkeit sollte sich auf alle Aspekte beziehen, die uns zu Menschen machen. Ich wünschte, ich hätte damals zu

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Der Beitrag basiert auf einer Rede der Autorin mit dem Titel „Es ist Zeit für Mut. Was uns die Literatur heute lehren kann“ am 9. Oktober 2018 auf der Pressekonferenz zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse und folgt dem Abdruck in Blätter für deutsche und internationale Politik (blaetter.de) 11/2018 (Übersetzung: Anette Abdruck mit Genehmigung von Wylie Agency LLC.

Chimamanda Ngozi Adichie Die Schriftstellerin ist 1977 in Nigeria geboren und aufgewachsen, heute lebt sie teils in den USA, teils in Nigeria. In ihren fiktionalen und nonfiktionalen Werken, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden, setzt sie sich ganz besonders mit Identitäten und Stereotypen auseinander. Große Aufmerksamkeit erregte sie 2009 mit ihrem TED-Talk „The Danger of A Single Story“.

Veröffentlichungen (Auswahl): ➤ „Die Hälfte der Sonne“, a. d. Engl. v. Judith Schwaab, München: Luchterhand 2007 ➤ „We should all be Feminists“, New York: Vintage Publishing 2012 ➤ „Americanah“, a. d. Engl. v. Anette Grube, Frankfurt am Main: S. Fischer 2014

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mente, die mit dem menschlichen Wesen gemeinhin verbunden werden – etwa Kunst, Erfindungsgeist, Bewusstsein –, auf diesem Antagonismus des Sexuellen beruhen. Der vielleicht trostloseste Aspekt der Vision eines „Brain-Computer-Interface“ besteht in dem zynisch-opportunistischen Kalkül, das ihr zugrunde liegt:

Wir (die Menschen) haben eine überlegene Form von Intelligenz in die Welt gesetzt, die uns, sofern sie unbehelligt ihre Kräfte entfalten kann, zu Gorillas in einem Zoogehege degradieren wird. Um diesem Schicksal zu entgehen, haben wir keine andere Wahl, als unsere Humanität hinter uns zu lassen und uns mit ihr zur Singularität zu verkabeln. Eine erhabene Variante desselben düsteren Ausblicks bietet das gnostisch-esoterische Verständnis von Singularität, nach dem sie nicht nur ein neues posthumanes Stadium, sondern ein kosmisches Ereignis ersten Ranges, die Vollendung der göttlichen Selbstentfaltung darstellt. So meint der amerikanische Philosophieprofessor Mi-

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chael Zimmerman: „Nur durch die Menschheit kann solches göttliches Selbstbewusstsein auftreten. Nachdem er das Andere seiner selbst in Gestalt der Natur, die seine Ausdehnung im Raum ist, gesetzt hat, manifestiert sich der Geist sodann als bewusste Menschheit, die danach strebt, das in der Natur bestehende Andere zu erkennen und es sich anzupassen. Materielle Gegenstände sind ‚versteinerte Intelligenz‘, während Bewusstsein flüssige Intelligenz ist, die sich durch die Geschichte hindurch entfaltet: ‚von der Idee entfremdet, ist die Natur nur der Leichnam des Verstandes. Die Natur ist aber nur an sich die Idee, daher sie Schelling eine versteinerte, andere sogar die gefrorene Intelligenz nannten; der Gott bleibt aber nicht versteinert, sondern die Steine schreien und heben sich zum Geiste auf.“ Die Bezüge auf Hegel, oder weiter gefasst: auf den deutschen Idealismus, werden hier ebenso deutlich wie die Kluft, die die Idee der Singularität von dieser philosophischen Tradition trennt. Die träge materielle Wirklichkeit wird allmählich mit Geist erfüllt, durch einen Prozess, der ihre immanenten geistigen Potenziale verwirklicht. Der erste Höhepunkt dieses Prozesses ist die menschliche Intelligenz, in der sich der Geist seiner selbst bewusst wird, aus seiner Entfremdung oder Veräußerlichung in der materiellen Wirklichkeit zu sich selbst zurückkehrt. Auf dieser Stufe verharrt der Geist jedoch noch in einem Gegensatz zur Wirklichkeit, seiner selbst bewusst wird er sich nur in Gestalt eines individuellen Bewusstseins, das dieser gegenübersteht. Um sich ganz zu verwirklichen, muss er diesen Gegensatz überwinden und sich seiner selbst als die geistige Dimension, als das innere geistige Leben der gesamten (materiellen) Wirklichkeit bewusst werden. Auf dieser Stufe überschneidet sich das individuelle Selbstbewusstsein mit dem Selbstbewusstsein der gesamten Wirklichkeit, oder theologisch gefasst: Das Bewusstsein des einzelnen Menschen von Gott ist zugleich das Selbstbewusstsein Gottes. Was den deutschen Idealismus von den Theoretikern der Singularität unterscheidet, ist seine Überzeugung, dass diese vollendete Einheit von Geist und Wirklichkeit bereits in der philosophischen Spekulation

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FOTO: H. Assouline/Opale/Leemage/laif

erreicht wird (oder, so die eher mystische Variante, in der theosophischen Erfahrung). Laut den Theoretikern der Singularität dagegen sind wir Menschen, als endliche Wesen, außerstande, eine solche Einheit zu verwirklichen – unser jeweils gesondertes individuelles Bewusstsein ist dafür ein zu großes Hindernis. Die Versöhnung von Wirklichkeit und Geist kann demnach erst erreicht werden, wenn wir unsere gesonderte Individualität aufgeben und eins werden mit dem die Wirklichkeit durchdringenden Geist, wenn unser Selbstbewusstsein als das der Wirklichkeit sich erfährt. Man sollte die Idee einer direkten Verschaltung des menschlichen Gehirns mit Computern nicht leichtfertig als bloß ein weiteres „ontisches“ Forschungsprojekt abtun, das philosophisch nicht wirklich von Interesse sei. Denn sie läuft auf etwas tatsächlich Neues, historisch Beispielloses hinaus, das unseren Status als menschliche Wesen infrage stellt: auf eine wirkliche, empirische Überwindung unserer Endlichkeit, unserer Sexualität und unserer Einbettung in das Symbolische. In jene andere Dimension der Singularität einzutreten, ist dann nicht länger eine erhabene innere Erfahrung, sondern wird zum schlichten Faktum. Insoweit der „Sündenfall“ eine Wunde bezeichnet – eine Trennung, einen ursprünglichen Verlust –, die unsere menschliche Existenz als eine endliche und sexuelle kennzeichnet, machen sich Musk und andere Verfechter dieser Vision anheischig, sie in einem buchstäblichen Sinn zu heilen: Die Kluft soll geschlossen, der Mensch mit Gott vereint werden, indem man ihm die Eigenschaften und Fähigkeiten verschafft, die wir – bislang – als „göttliche“ erfahren haben. Das wahrhaft Traumatische daran ist die Umkehrung, die dies mit Blick auf die Kluft zwischen profanen Alltagserfahrungen und erhabenen Spekulationen über unsere Nähe zu Gott herbeiführt. Wenn jemand erzählt, er habe eine

Einheit mit Gott erfahren, wird ihm ein Realist sagen, er möge bitte schön auf dem Teppich bleiben: „Hör auf zu träumen, du lebst noch immer in dieser elenden irdischen Realität!“ Mit

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der Aussicht auf die Singularität aber kann man auf diese „realistische“ Position ganz einfach erwidern: „Wir sind die wirklichen Realisten, wir können die Unsterblichkeit Gottes zu unserer empirischen Realität machen. Ihr dagegen glaubt noch immer, die Endlichkeit sei der unverrückbare Horizont unseres Daseins. Ihr haltet an einer alten Vorstellung von der Wirklichkeit fest und nehmt unseren großen Durchbruch nicht zur Kenntnis!“ Zuerst veröffentlicht unter dem Titel „Quand nos cerveaux seront connectés“ im französischen Philosophie Magazine, Juli 2019 (Übersetzung: Felix Kurz)

Slavoj Žižek Der 1949 in Ljubljana geborene slowenische Philosoph Slavoj Žižek ist einer der international bekanntesten und streitbarsten Intellektuellen der Gegenwart. Er ist Verfasser von mehr als 50 Büchern und von zahlreichen Artikeln und Essays auch in Publikumsmedien, wobei er sein an Hegel, dem Marxismus und der Psychoanalyse geschultes Denken gleichermaßen für die Analyse philosophischer, politischer wie auch populärkultureller Themen anwendet.

Veröffentlichungen (Auswahl): ➤ „Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus“, a. d. Engl. v. Frank Born, Berlin: Suhrkamp 2014 ➤ „Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus“, a. d. Engl. v. Karen Genschow, Frankfurt am Main: S. Fischer 2015 ➤ „Wie ein Dieb bei Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus“, a. d. Engl. v. Karen Genschow, Frankfurt am Main: S. Fischer 2019

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Harald Welzer

Mehr Zukunft wagen Wir sind in der Diktatur der Gegenwart gefangen, so beschreibt Harald Welzer den gesellschaftlichen Status quo: Als Teilnehmende des Hyperkonsumismus haben wir aufgehört zu träumen. Doch um in einer besseren Zukunft leben zu können, müssen wir erst einmal anfangen, uns diese vorzustellen. Anstatt im begrenzten Raum der Möglichkeiten, die uns die Gegenwart bietet, zu verharren und gar Angst vor Veränderung und Zukunft zu haben, fordert er uns auf, Utopien zu entwerfen

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„Man sollte nie aufhören, die Welt seltsam zu finden.“ – Gero von Randow Das vielleicht wirkmächtigste Merkmal der Moderne war, dass sie von einer imaginierten Zukunft getrieben war: Die Gesellschaft würde sukzessive bessere Lebensbedingungen für alle ihre Bewohnerinnen und Bewohner bereithalten. Und diese besseren Bedingungen würden sich in individuelle Lebenspläne, berufliche Aufstiege, Eheund Kinderwünsche übersetzen lassen: Wenn ich mich qualifiziere, kann ich aufsteigen; meine Kinder und Enkel werden einmal besser leben, als ich es konnte. Diese Zukünftigkeit nahm, je nach technischer Entwicklung und gesellschaftspolitischem Fortschritt, unterschiedliche Gestalt an – die westliche Nachkriegsepoche versprach Zukunft durch dynamische Technikentwicklung einerseits und soziale Marktwirtschaft andererseits und löste sie durch Mondlandung, Mitbestimmung und Öffnung des Bildungssystems ein, unter anderem. Solche Zukünftigkeit war erlebbar, ein Element realer Erfahrung und Hoffnung, eine soziale Produktivkraft. Das Morgen, das war der Sound jener Epoche, würde jedenfalls besser sein als das Heute. Und es war erreichbar. Inzwischen ist dieser Sound verklungen, und die Gegenwart hat sich nach vorn gedrängt – in einer Verschränkung von auf den ersten Blick sehr disparaten Gründen: Zum einen wurden in Zeiten des Hyperkonsums künftige individuelle und gesellschaftliche Ziele durch einen Sofortismus der unverzögerten Bedürfnisbefriedigung ersetzt; was ich sein will, bin ich in den sozialen Netzwerken und im Selfie, und zwar jetzt; was ich haben will, kann ich sofort bekommen, ohne Triebaufschub. In der Diktatur der Gegenwart treten Bürgerinnen und Bürger fast ausschließlich nur noch in der Verbraucherrolle auf und beanspruchen Lieferung – von Produkten, Dienstleistungen, Informationen und Politikangeboten. In Echtzeit, same day delivery. Wie verzogene Kinder bekommen sie sie auch. Zweitens hat die Digitalwirtschaft den Mangel an Zukünftigkeit kaschiert und ist wie der Igel im Märchen immer schon da,

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wo die Zukunft mit Namen Hase hinhetzt. Sie ersetzt, was unbestimmte Möglichkeit hätte sein können, durch Berechenbares, vom künftigen Konsum- und Wahlverhalten bis zur vorhergesagten politischen oder kriminellen Abweichung.

Die digitale Zukunft ist nicht offen; sie besteht lediglich aus dem, was in einem binären Universum berechnet werden kann. Und drittens schließlich hat seit dem Aufkommen der Umweltwissenschaften, der Erdsystem- und Klimaforschung, der Ökologiebewegung das Wissen um die erwartbare Zukunft des Planeten die Gestalt einer Dystopie angenommen, die auf keinen Fall eintreten darf. Diese Abwehr von Zukünftigkeit geht übrigens so weit, dass auch dort, wo wissenschaftlich nachgewiesen wird, dass „planetare Grenzen“ bereits überschritten seien, nicht die brennende Frage auftaucht, was es denn heißt, dass sie überschritten sind. Was folgt daraus für künftiges Handeln, künftige Möglichkeiten der Weltgestaltung? Die Uhr ist für Ökos seit Jahrzehnten auf „fünf vor zwölf“ stehen geblieben. Weitergehen darf sie nicht, denn nach High Noon folgt – was? Möglicherweise etwas, was man noch nicht kannte. Die drei apokalyptischen Reiter aus totalem Konsumismus, totaler Berechenbarkeit und totaler Katastrophe führen in ihrem Zusammenwirken zur Ersetzung der optimistischen Zukunftserwartung der Nachkriegsmoderne durch die Diktatur der Gegenwart von heute, zum Schwinden eines Horizonts, den man erreichen wollen würde. Nein, im Gegenteil, dieser Horizont soll einen bitte nicht erreichen, wer weiß, was da kommt? Zukunft soll sein wie jetzt, nur mehr und kontrollierter. Oder schlimmer noch: „Zukunft ist das, was nicht passieren

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0 DIE 2 N TE S E B U YS Z E S SA LLE N UE AKT G E N FR A

„20 Impulse für 2020“ versammelt Essays herausragender internationaler und deutschsprachiger Denkerinnen und Denker, die mit visionärer Klarheit und mit besonderer Gedankenschärfe die großen Fragen der kommenden Jahre benennen und bearbeiten. MIT TEXTEN VON Anton Jäger – Dieter Thomä – Jan-Werner Müller – Andreas Reckwitz - Shoshana Zuboff zu Fragen der gegenwärtigen Politik und der Zukunft der Arbeit Léna Balaud & Antoine Chopot – Christian Geulen – Baptiste Morizot über Klimawandel, Krisendiskurse und unser Verhältnis zur Natur Seyla Benhabib – Teng Biao zu den Verwerfungen der neuen globalen Ordnung Christine Korsgaard – Peter Singer über Tierrechte und die Frage, wann ein Mensch tot ist Wer sind wir und wer wollen wir sein? Chimamanda Ngozi Adichie – Kwame Anthony Appiah – Antje Schrupp – Paula-Irene Villa & Andrea Geier über Identitäten Ist die digitale Zukunft ein Traum oder ein Albtraum? Birgit Mahnkopf – Catherine Malabou – Harald Welzer – Slavoj Žižek


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