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Philipp Ruch - Zentrum für Politische Schönheit

Ein Manifest der Menschenrechte Wie schön sind unsere Medien? Vier esen über den Umgang der deutschen Medien mit Menschenrechtsthemen

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Manifest | Feuilleton

THESE 1: MeNScHeNRecHTSoRGANiSATioNeN fiNDeN iN DeN DeuTScHeN MeDieN KeiN GeHöR. Alle Menschenrechtsorganisationen kämpfen mit demselben Problem: die klassischen Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit versagen ihnen unter der Hand. Pressemitteilungen werden nicht gelesen, hartnäckiges „Lobbying“ versandet im Nichts, sogar Interventionen in den Chefredaktionen führen nur zu Verlegenheitsgesten. Die Berichterstattung über die Belange und Interessen von Krieg, Hunger und Verfolgung betroffener Menschen findet im besten Falle noch an der Medienperipherie statt. Journalistinnen und Journalisten erstatten ihrer Gesellschaft keinen Bericht mehr. Dadurch wird eine ganze Gesellschaft in den Zustand von Ahnungslosigkeit versetzt. Beispiel: Am 7. Januar 2010 warnten 140 Menschenrechtsund Hilfsorganisationen vor einem Krieg im Süden des Sudan. Am selben Tag vermeldete die UNO ein Massaker an 139 Zivilisten in einem Dorf im Südsudan. Die klassischen Muster für eine breit gefächerte Medienberichterstattung waren gegeben. Die deutsche Presse reagierte, mit ehrenwerten Ausnahmen wie dem Glocalist, dem Online-Angebot der Süddeutschen Zeitung und dem Berliner Kurier, mit Schweigen. Die Öffentlichkeitsarbeit von 140 Hilfsorganisationen konnte nichts ausrichten gegen die Selektionskriterien der deutschen Medien. Darauf müssen wir reagieren.

THESE 2: BeRicHTeRSTATTuNG iST Die MüNDiGSTe foRM DeR eRZieHuNG. Im selben Moment, in dem sich ein bis dato gänzlich unbekannter Fußballspieler der Nationalmannschaft im Herbst 2009 vor einen Zug wirft, verhaften Fahnder des BKA sozusagen im Schatten Ignace Murwanashyaka. Der Fall ist spektakulär: Murwanashyaka war Chef ruandischer Paramilitärs im Kongo. Er organisierte und steuerte die FDLR, so der Name der Truppen, von Mannheim aus. Jahrelang. Die deutschen Behörden versuchten, ihn wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsbestimmungsrecht dranzukriegen. Das ist so, wie wenn man einem Mörder den Prozess wegen unbezahlter Abfallgebühren machen wollte. Die Geschichte des Fußballspielers landet auf den Titelsei-

ten, der tote Nationaltorwart wird posthum zur Galionsfigur Deutschlands verklärt. Berichte über die erste Festnahme eines auf deutschem Staatsgebiet gefassten internationalen Kriegsverbrechers, nach den Bestimmungen des Völkerrechts, landeten im hinteren Teil der Zeitungen. Fernsehsender zogen erst Monate später nach und mussten alle Aufnahmen aus dem Kongo mit „Archiv“ überschreiben. Weder Justiz noch Journalisten haben die Ungeheuerlichkeit genozidaler Kriegsführung wirklich verstanden. Im Kongo sind in den vergangenen dreizehn Jahren mindestens fünf Millionen Menschen gestorben. UNO, Human Rights Watch und Amnesty International warnten die Behörden ab 2001. Aber die Justiz interessierte sich nicht für Ignace Murwanashyaka. Und die Medien, die auf die Behörden hätten Druck ausüben können, auch nicht. Wir beklagen uns nicht über die Boulevardmedien: Die „seriösen“ Medien haben jedes Maß für ausgewogene Berichterstattung verloren. Sie berichten über 13 Tote in Fort Hood, nicht aber über 138 Tote in Guinea (Massaker vom 28. September 2009). Sie berichten über fünf Opfer der Schweinegrippe, nicht aber über 50.000 Tote, die die weltweit grassierende „Hungergrippe“ Tag für Tag fordert. Unnötig Gestorbene. Wir hätten ihren Tod verhindern können. Die medialen Auswahlkriterien kommen in den Augen aller, die sich für die Menschenrechte einsetzen, einer Kriegserklärung gleich. Worüber einer Gesellschaft Bericht erstattet wird, ist eine Form der Erziehung. Womöglich die dezenteste. Was lernt ein Jugendlicher über den Wert des Menschen aus der Presse? Was ihm vorgelebt wird, ist dies: dass 13 Tote in Amerika „irgendwie“ mehr wert sind als 130 Tote in Guinea. Dass der Tod eines bis dato völlig unbekannten und unbedeutenden Nationalspielers der Fußballmannschaft „irgendwie“ berichtenswerter ist als der Tod von 100 Menschen am Tag, die vor der „Festung Europa“ ertrinken. Deutschland ist der drittgrößte Waffenhändler der Welt. Im Wahlkreis des Chefs der CDU/CSU-Bundestagsfraktion befindet sich ein Unternehmen, dass die zweitmeistgebrauchte Waffe nach der Kalaschnikow produziert. „Made in Germany“ bedeutet in den Krisengebieten dieser Welt eben nicht „BMW“ oder „Mercedes“, sondern „G3“: ein deutsches Sturmgewehr. Die Medien tanzen wie ein afrikanischer Stamm um die Fetische „CDU“ und „SPD“ (die sie mit Politik verwechseln). Politik ist die höchste Form der Kunst, hat Schiller einmal gesagt. Die Politiker dieses Landes sind in ihrem Fetischismus unerträglich: sie opfern sich monatelang für die weltweit

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„Wenn die Jugendlichen des reichsten und mächtigsten Landes der EU, eines Landes, dessen wirtschaftliche Leistung sich seit 1960 verdreifacht hat, überzeugt sind, in einer instabilen ökonomischen, politischen oder mentalen Welt zu leben, worin befinden sich geschätzte drei Milliarden der Weltbevölkerung, die von Hunger, Tod und politischem Wahnsinn verfolgt werden?“ 25.000 Angehörigen des Volksstammes „Opel“ auf, anstatt diese Energien in unser aller Zukunft zu investieren. Lange vor der „Finanzkrise“ sagte ein deutsches Mädchen, gefragt danach, wie sie die Zeit empfinde, in der sie lebe: „Seit ich denken kann, herrscht Krise.“ Uns würden die Gefühle dieses Mädchens heute, drei Jahre und siebzehn Krisen später, interessieren. Die Quittung für diesen Exzess, diese Hysterie, diese journalistische Maß-, Regel- und Verantwortungslosigkeit wird uns alle erreichen, wenn diese Generation politische Entscheidungen zu treffen hat. Eine Aufgabe, die von heutigen Politikern keineswegs beispielhaft vorgelebt wird. Wenn die Jugendlichen des reichsten und mächtigsten Landes der EU, eines Landes, dessen wirtschaftliche Leistung sich seit 1960 verdreifacht hat, überzeugt sind, in einer instabilen ökonomischen, politischen oder mentalen Welt zu leben, worin befinden sich geschätzte drei Milliarden der Weltbevölkerung, die von Hunger, Tod und politischem Wahnsinn verfolgt werden?

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vor Wilderern geschützt und bekommen regelmäßig zu fressen.“ Dieser Nachrichtenselektionsmechanismus kommt einer Kriegserklärung gleich. Ein Teil der Schuld liegt in der Natur der Sache: Menschenrechtsverletzungen, bei denen so viel mehr als „Rechte“ verletzt werden, müssen zunächst dokumentiert werden, sich den Weg aus der politischen Zensur bahnen. Danach erschöpfen sich die Kräfte der etablierten Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International versendet als Gegenstrategie Briefe aus den reichsten Weltteilen an die Diktatoren der Welt. Human Rights Watch schreibt erstklassige Berichte. Aber keine dieser Organisationen trägt „Wissen“ auf die Straße. Keine hat es geschafft, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Präzedenzklage einzureichen gegen die EU-Mitgliedsstaaten wegen gezielter Tötungen zur „Sicherung“ der Außengrenzen. Keine Organisation ist auf die Idee gekommen, Rettungsinseln für die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu bauen.

THESE 3: SelBST TieRe weRDeN VoN DeuTScHlAND PoliTiScH BeSSeR GeScHüTZT AlS MeNScHeN.

THESE 4: iN DeuTScHlAND feHlT eiN GReeNPeAce DeR MeNScHeNRecHTe.

Es ist eine unausgesprochene Tatsache, dass im Jahre 2010 in Deutschland selbst Tiere politisch besser geschützt werden als Menschen. Es erinnert an den Zoo von Sarajevo, wo während der dreijährigen Belagerung ein Gorilla von einem serbischen Scharfschützen erschossen wurde. Der Tod des Gorillas brachte eine mediale Lawine ins Rollen, die 11.000 tote Bosnierinnen und Bosnier zuvor nicht in Gang bringen konnten. „Gorilla müsste man sein“, zitiert auch Hans Christoph Buch seinen ruandischen Fahrer 1994. „Heute geht es ihnen besser als uns Menschen; sie leben in Reservaten, sind

Wenn einen die Nachrichtenselektionsmechanismen anwidern, hat man zwei Möglichkeiten als Menschenrechtler: Entweder weiterhin an den Bildungsauftrag von Journalisten appellieren, dass Menschen tagtäglich sterben, gerade weil wir nichts dagegen unternehmen. Oder die Journalisten bedienen mit Lärm, Sensation und Hysterie. Eine eigentümliche Verbindung, wie sie Greenpeace in den 1990ern für die Umweltthemen erfolgreich vorgelegt hat. Deutschland besitzt heute die umtriebigsten Umwelt- und Tierschützer. Fehlt da nicht etwas?


in: Bierdel, Elias / Lakitsch, Maximilian (Hrsg.): Wege aus der Krise. Ideen und Konzepte f체r Morgen (Dialog. Beitr채ge zur Friedensforschung 63), Wien/M체nster 2013, S. 105-119.









Ausgabe Nr. 272/2010

Kommentar Sudan

Über den eigentümlichen Versuch Deutschlands, einen Diktator mit dem Organigramm zu bezwingen Von Philipp Ruch

Die Kategorie des „Respekts“ ist bis heute keine politisch anwendbare. Am Donnerstag pilgerte die Bundesrepublik zur Amtseinführung eines international gesuchten, dreifachen Völkermörders. 21 Jahre brutalster Militärherrschaft im Sudan, Genozid im Südsudan, in den NubaBergen und in Darfur, Millionen ziviler Opfer mit schwarzer Hautfarbe, ein internationaler Haftbefehl. Aber Deutschland schickt Diplomaten („niederen Ranges“) nach Khartum. Weshalb?

Zunächst glaubt man an eine böse Verwechslung. Wenn man hört, dass die Chefs der militärischen UNO-Missionen nach Khartum reisten, nahm man instinktiv an: um ihn endlich zu fassen. Aber der ausgeklügelte Plan des Auswärtigen Amtes lautet anders: ein Diplomat „niederen Ranges“ soll den Diktator demütigen. Man schickt nicht den Botschafter, sondern eben den Hausmeister – oder so ähnlich. Deutschland glaubt an die Skalierungstaktik von Ämtern und Befugnissen. Das Auswärtige Amt hat sich fest vorgenommen, einen Kriegsverbrecher mit dem Organigramm zu demütigen. Es bleibt allerdings unklar, ob Omar al Baschir, „the World’s most wanted“, jemals ein Organigramm deutscher Außenpolitik in Händen gehalten hat, das Grundlage für seine Demütigung wäre. Was ihm am Donnerstag tatsächlich aufgefallen sein dürfte: er wird per Haftbefehl wegen genozidaler Kriegsführung gesucht, er verübt dreifachen Völkermord, er gewinnt zuletzt eine Wahl, aus der sich die gesamte politische Konkurrenz aus Misstrauen und Angst vor ihm zurückzog. Aber der Westen reist am Ende wieder an. Bashir kann tun und lassen, was er will. Sie kommen immer wieder, die „kleinen Würmchen“. Bashir ist ein international gesuchter Kriegsverbrecher, der Millionen Menschen vernichtet, der das Leben der schwarzafrikanischen Bevölkerung zur Hölle gemacht hat. Er ließ Menschen verkrüppeln, Frauen vergewaltigen und die Seelen verheeren. Die Wun6

den und Schreie werden im Sudan durch das ganze 21. Jahrhundert zu sehen und zu hören sein. Bashir führte Krieg gegen die schwarze Bevölkerung, vertrieb sie zu Hunderttausenden in Flüchtlingslager am Rande seiner Einflusszonen. Dorthin, wo bis heute keine Lösung für sie gefunden werden konnte. 2,5 Millionen Menschen vegetieren im Westen des Landes vor sich hin. Der neuste Vorschlag sind „Ansiedlungsprogramme“, finanziert von der arabischen Liga, in denen sie fernab der Heimat in neue Dörfer gesteckt werden sollen. Dass damit das Ziel des Genozids, ein ethnisch homogener Herrschaftsraum, zementiert wird, liegt auf der Hand. Die UNO spricht von „Friedensmissionen“ in den Darfur-Regionen. Das Max-Planck-Institut für Völkerrecht legte sogar einen Friedensvertrag vor, der von Diplomaten und Regierungsbeamten als Meilenstein gepriesen wird. „Frieden“ ist ein Schlagwort, das gut ankommt auf dem internationalen diplomatischen Parkett. Seit Jahren wird es eingesetzt. Bis die Realität gänzlich in Schutt und Asche lag. Die westliche Langzeitstrategie überging die Wirklichkeit: „Frieden“ für ein Land, das seit Jahrzehnten nur Krieg kennt. Die westliche „Langzeitstrategie“ gerät über einem international gesuchten Völkermörder ins Stolpern. Bashir ist nicht der erste Diktator, dem wiederholt „Frieden“ angeboten wurde. Die Resultate sind bekannt. Es gibt zwei Möglichkeiten der Deutung für das Schauspiel diplomatischer Aufwartungen am vergangenen Donnerstag: ent-


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Kommentar Sudan

weder wurde im Hintergrund ein Deal geschlossen, von dem wir nichts wissen. Vielleicht hat Bashir im Stillen ein Papier unterzeichnet, in dem er auf den Süden des Landes verzichtet. Im Januar 2011 soll nach amerikanischem Fahrplan ein neuer Staat das Licht der Welt erblicken: ein zweites Sudan. Aber da der Süden große Mengen der Ölvorkommen hält, kann ein Angriffskrieg schon vom geopolitischen Standpunkt nicht ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zu westlichen Politikern haben die südsudanesischen Verantwortlichen nicht vergessen, was für ein Mann Bashir ist.

Aber es gibt noch eine zweite, düsterere Interpretation: die Gratifikation kommt präventiv und voreilig. Wir kennen sie aus der Geschichte. 1938 nannte sie sich „Appeasement“. Damals traf sie auf eine politische Gestalt, die den Westen verachtete für ein politisches Handeln, das allzu durchschauund kalkulierbar war. Mehr von der Sehnsucht nach „Frieden“ beherrscht als durch Verzweiflung an der Realität. Im Vollgefühl seiner Macht gestand Hitler gegenüber seinen Generälen, was auch Bashir durch den Kopf gegangen sein könnte: „Die Gegner haben nicht mit meiner großen Entschlußkraft gerechnet. Unsere Gegner sind kleine Würmchen. Ich sah sie in München. […] Nun ist Polen in der Lage, in der ich es haben wollte. […] Ich habe nur Angst, daß mir noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt.“

Nach Bashirs Machtübernahme 1989 verwandelte sich der Süden in eine genozidale Todeszone. Man schätzt die Zahl der getöteten Menschen in der „Ära Bashir“ auf mindestens zwei Millionen. Die schwarze Bevölkerung im Süden will sich jetzt möglichst rasch politisch selbständig machen. Seit drei Jahren rüstet man für den Fall, sollte Bashir angreifen lassen. Am 25. September 2008 wurde ein ukrainischer Frachter von somalischen Piraten entführt. An Bord waren 33 T-72-Panzer, 6 Luftabwehr-Geschütze, 150 Panzerfäuste, 6 Raketenwerfer und große Mengen Panzergranaten.

Der letzte Donnerstag könnte ein politisch schwarzer gewesen sein – statt Indikator für ein Regelwerk im politischen Hintergrund der letzte benötigte Fieberschub im emotionalen Untergrund des Diktators. Eines Diktators, der im Westen des Landes hunderte Dörfer mit Antonov-Bombern aus der Luft bombardieren, die Brunnen vergiften, die Häuser plündern, die Menschen erschießen und vergewaltigen ließ. Alles mit dem Ziel und Vorsatz: die schwarze Bevölkerung aus „seinem“ Staatsgebiet zu vertreiben. Bashir im Jahre 2010 zu trauen, verbietet sich nicht nur aus der uneingeführten Kategorie des Respekts (vor seinen Millionen Opfern), sondern aus ganz realpolitischen Erwägungen. Das wird man im Auswärtigen Amt erst begreifen, wenn es wieder zu spät ist. Sollten Nachrichten von einer Eskalation der Gewalt in den Wintermonaten das Ferne Europa erreichen, könnte der letzte Tabubruch auf dem Weg zu Krieg in diesem unwürdigen Schauspiel gelegen haben, an dem sich die Bundesregierung am vergangenen Donnerstag beteiligte. ■

Die Entführer, überrascht von der Ladung, reagierten mit der höchsten Lösegeldforderung, die jemals gestellt wurde: 35 Millionen Dollar. Die Waffen waren laut Frachtbrief für Kenia bestimmt. Über Kenia wurden schon früher Waffenlieferungen in den Südsudan abgewickelt. Im November 2007 entgleiste etwa ein kenianischer Güterzug mit 17 T-72-Panzern an Bord. Erst der Unfall gibt die Substanz preis – lehrte einst Aristoteles. Diese Unfälle zogen die Waffenlieferungen ans Licht. Es ist eindeutig, dass die Bevölkerung im Süden sich nicht auf den Westen verlässt. Schlimmer noch: nicht verlassen kann. Die Menschen fühlen sich vom Westen so verraten wie die Füchtlinge aus Darfur.

Philipp Ruch, künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit, eines "Handlungs-Thinktanks" für die Menschenrechte, studierte von 2003–2009 politische Theorie und Philosophie, daneben Geschichte, Kulturwissenschaft und Germanistik. Er arbeitete am Forschungsbereich Geschichte der Gefühle des MaxPlanck-Instituts. 2010 gewann er die Unterstützung der „Mütter von Srebrenica“ (6000 Hinterbliebene des Völkermords von Srebrenica) für eines der bislang größten Mahnmalprojekte ("Säule der Schande", http://www.pillarofshame.eu).

Die hoffnungsvolle Interpretation der westlichen diplomatischen Aufwartung ist also: Bashir hat ganz formell und jenseits aller Öffentlichkeit auf die Kriegskarte verzichtet. Er wird keine Truppen in den Süden verlegen. Die Ölvorkommen werden ohne Krieg aus seinem Land austreten. Der Westen schickt eine Armada von Diplomaten gen Sudan, um Bashir in einer Art Gratifikationsstrategie zu feiern, bis dieser am Ende selbst glaubt, ein legitimer Präsident zu sein. Zeremonie gegen „Frieden“.

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The European Krise im Sudan

Der vierte Genozid Im Sudan brodelt es. Nach dem Völkermord in Darfur steht die südliche Region Abyei vor der Abspaltung und der Unabhängigkeit. Das wird Präsident Bashir nicht zulassen. Das Morden wird aufs Neue losgehen.

Abyei ist eine kleine Grenzregion zwischen Nord- und Südsudan. Hier befindet sich das größte Ölfeld des Landes, “Heglig 2”. Die Menschen im Süden stimmen im Januar 2011 darüber ab, ob sie aus dem heutigen Sudan austreten und einem neuen Staat, einem zweiten Sudan, angehören wollen – und wie sie wollen! Umfragen sehen weit mehr als 90 Prozent der Stimmen für eine Staatsteilung. Seit 1993 erblickt erstmals ein neuer afrikanischer Staat das Licht der Welt. Aber die Geburt wird alles andere als geräuschlos verlaufen. Das Epizentrum von Schreien, Maschinengewehren und Bombenexplosionen wird Abyei heißen. Der Name eines weiteren Vorhofs zur Hölle. Ausgangspunkt des vierten Genozids im Sudan?

Inszenierte Unruhen als Schlüsselproblem Die Einwohner der Region sollten eigentlich am 9. Januar 2011 darüber abstimmen, ob sie zum Süden oder zum Norden des Landes gehören wollen. Das sieht der 2005 geschlossene Friedensvertrag vor, der einen 20-jährigen Bürgerkrieg mit mehr als 2 Millionen Toten auf Eis gelegt hat. Seit letztem Monat dämmert der westlichen Diplomatie aber, dass etwas nicht stimmt. Bislang wurde nicht einmal die Referendumskommission besetzt. Bashir verweigert jegliche Unterschrift. Der wiedergewählte Präsident des Sudans hat schließlich genug zu tun. Er wird wegen Völkermordes international gesucht. Den diplomatischen Anstrengungen, die wir dieser Tage erleben, darf eine Gewissheit entgegengehalten werden: Zu einer Wahl in Abyei wird es niemals kommen. Bashir wird jede Abspaltung Abyeis mit allen Mitteln verhindern. Selbst das Wie ist absehbar: Spätestens im Dezember 2010 kommt es wundersam, plötzlich und völlig überraschend zu “Ausschreitungen”. Diese nutzt Bashir dazu, die Region mit Truppen zu besetzen, die offiziell die Bevölkerung vor Gewalt “schützen”. Spätestens nach der Unabhängigkeit am 9. Januar 2011 marschiert dann auch der Südsudan mit Truppen in Abyei ein. Wenn Abyei Maschinenraum eines neuen Kriegs ist, wäre er auch zu verhindern: Was die Menschen brauchen, sind Beobachter, die jede Art von “Unruhen” beobachten und untersuchen. 5.000 Soldaten der Afrikanischen Union dürften genügen, um Wahlen zu garantieren. Sie würden den potenziellen Kriegsparteien verunmöglichen, sich als Retter in der Seite 1 von 2


Not zu inszenieren. Denn genau das ist ihr Plan.

Der gute Wille eines zweifachen Völkermörders? Abyei wirft einmal mehr die Frage auf, wie der Westen mit Völkermördern zu verfahren gedenkt. Wer ist eigentlich bereit, einem zweifachen Völkermörder zu vertrauen? Die Antwort: so gut wie alle. Die Verhandlungsführer setzen darauf, dass Bashir sich über Nacht in einen Gutmenschen verwandelt hat. Aber wo andere einen Krieg fürchten, sieht Bashir zwei der größten Ölfelder seines Landes. Seine Politik ist darauf angelegt, Rebellen im Südsudan auszurüsten, die den neuen Staat destabilisieren, bis er im Bürgerkrieg kollabiert. Unser religiöser Glaube an den guten Willen eines zweifachen Völkermörders hat etwas Verzweifeltes. Es reiht sich in ein politisches Erbe ein, das sich an Gestalten wie Hitler bis Milosevic die Zähne ausgebissen hat. Man ignoriert das Genozidinferno, das diese Männer anrichten. Genauso wie ein Gesetz der politischen Psychologie, nach dem die Verachtung eines Diktators in dem Maße wächst, wie man bereit ist, seine Bösartigkeit zu verdrängen. Dabei hatte die Regierung Bush vor Jahren einmal vorgemacht, wie mit Bashir umzugehen ist. Nach dem 11. September wollte Khartum keine Informationen zu Osama bin Laden offenlegen. CIA-Agenten trafen sich in London mit Vertretern Bashirs und drohten, Ölraffinerien, Häfen und Pipelines zu bombardieren. Umgehend wurden die gewünschten Informationen ausgehändigt. Aber der Krieg gegen Terror war wichtiger als der Krieg gegen Genozid.

von Philipp Ruch (/philipp-ruch) – 12.10.2010

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Interview mit Christian Schwarz Schilling Die Gaußsche Verteilkurve der Märtyrer Ein Gespräch über die Verteidigung der Menschheit, den Niedergang des Widerstandgefühls und die Seele der Demokratie

Über die Diskutierenden Christian Schwarz-Schilling, von 1982-1992 Bundesminister für Post und Telekommunikation in der Regierung Kohl, Rücktritt wegen der Untätigkeit der deutschen Bundesregierung beim Genozid in Bosnien-Herzegowina und von 2006-2007 als Hoher Repräsentant in Bosnien verantwortlich für die Überwachung des Daytoner Friedensvertrages. Philipp Ruch, Gründer des Zentrums für politische Schönheit und politischer Philosoph, Initiator der „Säulen der Schande“ gegen die Vereinten Nationen für die 6.000 Überlebenden des Srebrenica-Genozids. Christian Schwarz-Schilling: In den entscheidenden Strängen der Geschichte zu arbeiten, da gehört etwas mehr dazu als ‚Protest’. Da gehört der Einsatz des Lebens dazu. Den gibt es da nur selten. Das ist in Gesellschaften wie bei einer Gaußsche Verteilkurve: es gibt 5 % Märtyrer, die wirklich kämpfen gegen das Böse. 15%, die leider das Böse richtig in Gang halten, weil sie sich selber Vorteile davon erhoffen oder einen Charakter haben, der das Böse auslebt. Die dritte Gruppierung bilden die "Mitläufer". Mitläufer, die die schlechten Zustände immer nur beklagen, aber nicht abstellen, weil sie keinen Mut haben, dafür einzutreten. Das ist der normale Zustand des Bürgers. In einer Diktatur ist es derjenige, der sich möglichst nicht aus dem Fenster lehnt und sagt: ‚Um Gottes Willen, ja nicht auffallen oder gar exponieren - da könnte man ja zur Verantwortung gezogen werden.’ – Sehen Sie, das sind 70% der Menschen. Philipp Ruch: Was machen Demokratien aus den "Märtyrern“? Unter Diktaturen stimme ich mit ihnen überein. Da sind diese 5-6 % Märtyrer, die unter Einsatz ihres Lebens für bessere Zustände kämpfen. Aber in Demokratien sind es in den geschichtsentscheidenden Themen nicht mehr, sondern weniger: höchstens 1 %. Vielleicht müssen wir sogar bestreiten, dass der Märtyrer unter demokratischen Bedingungen überhaupt möglich ist. Ich kann mich in einer Demokratie ja aufführen, wie ich will. Ich werde von den Machthabern nicht erschossen, hingerichtet oder sonst etwas. In der Regel. Der Märtyrertod wird einem ganz schön verunmöglicht. Und dann diese verlogene Protest- und Wutbürgerkultur. Für die Borkenkäfer im Stuttgarter Schlosspark finden sich 20- 30 %. Aber wenn es um die Anwälte der Menschheit geht, die unsichtbaren


Richter, die für Gerechtigkeit sorgen, dann ist die Situation absolut beschämend. Wo bleibt die Empörung für die wichtigen Themen? Meine These lautet: es sind unter diktatorischen Regimen mehr Märtyrer, die dem Unrecht widerstehen als in Demokratien. Das sollte uns langsam beschäftigen. Schafft es Hitler-Deutschland auf eine Quote von 6%, sind 2012 keine 1% mehr bereit, ihren Körper im Kampf um die Menschenrechte ‚aufzusetzen’, wie es so schön in ritterlichen Urkunden heißt. Wohin sind die ‚Bürgerrechtler’ nach der Wende abgetaucht? Hat nicht zu Menschenrechtlern gereicht? Wir beide reden von einer Generation zur übernächsten. Ich würde gerne von Ihnen wissen, was sie dieser eisgeschmolzenen Märtyrerquote von unter 1% empfehlen, angesichts der Gefahren und Bedrohungen, die das 21. Jahrhundert für die Menschheit bereithält? Das unangenehme ist ja, dass just in dem Moment, wo sich das Gefühl einstellt, ‚Jetzt ist es durch, wir stehen am Ende der Geschichte (Francis Fukuyama, End of History)’, der nächste Völkermord organisiert wird. Was raten sie den Menschen, die das politische Vollbewusstsein über die wirklich geschichtsentscheidenden Dinge mit ihnen teilen, deren Herz nicht im Egoismus eines Tiefbahnhofes aufgeht? Die Menschheit war niemals in der gesamten Geschichte so bedroht wie durch das bevorstehende 21. Jahrhundert. Milliarden stehen unter einer Bedrohung, gegen die wenige so vieles unternehmen könnten wie Deutschland. Sie haben da mehr Erfahrung. Allein die Tatsache, dass Sie bei Ihren 80 Jahren nicht aufgegeben haben, schiebt sie in die Lage, Ratschläge zu geben. Ich glaube, mit 40 gebe ich auf. Schwarz-Schilling: Ja, da sind wir wieder bei Ihrem Brief an mich, den ich bis heute nicht beantwortet habe. Weil mir eine ehrliche Antwort, die Ihre bohrenden Fragen ernst nimmt und über den Tag hinaus Bestand hat, einfach noch nicht gelingen will. Und deswegen hat mich Ihr Brief bis heute beunruhigt. Ruch: Ich habe da geschildert, wie perplex ich bin, dass es jetzt möglich ist, einen Kampf nicht aus dem Untergrund zu führen, sondern in aller Öffentlichkeit. Dass selbst, wenn ich in aller Öffentlichkeit sichtbar den Kampf um Menschenrechte führe, keine Polizei Jagd auf mich mehr machen kann. Dass kein Geheimdienst Jagd auf mich machen kann. Dass kein Mitglied der Regierung seinen Missmut durch irgendwelche Repressionen dem Zentrum für Politische Schönheit gegenüber Luft machen kann. Wir alle sind absolut geschützt. Das ist eine unglaubliche Situation. Die Schönheit des Rechts. Aber genau in der Situation, in der unser Recht auf Widerstand in der Verfassung kodifiziert ist, fehlt plötzlich ein "Greenpeace der Menschenrechte". Wir haben alles. Nur keine Menschenrechtler. Die Bürgerrechtsbewegung der DDR hätte das weiter tragen können. Die hätte sagen können: Macht jetzt nicht schlapp, jetzt wo die Mauer weg ist. Denn jetzt geht es erst richtig los.’ Das ist schizophren: Wir feiern 20 Jahre Mauerfall inmitten eines ummauerten Europas. Ich gehe zum Kanzleramt, drehe einen Film und sage dem Presseleiter dort: ‚Die Menschen aus Somalia können nicht einmal herkommen zu ihnen.’ – Da lacht der. Der findet das lustig. Die Frage war: warum geschieht so wenig bei so vielen Möglichkeiten? Wenn wir den Luxus haben, die Güter, die Rechte. Oder täusche ich mich da vielleicht? Vielleicht passiert da so wahnsinnig viel und ich krieg´s nur nicht mit. Schwarz-Schilling: Nein, das glaube ich leider nicht! Wie man das, was sein muss, um die Menschenwürde und das Menschengerechte aufrecht zu erhalten und zu stärken, in Angriff nimmt, da hört das allgemeine Wissen im Zeitalter des Internet und der Vernetzung in Europa offenbar auf. Im Grunde genommen sind wir gleichgesinnte Leute gerade hier in Europa im Moment alle Einzelkämpfer. Ruch: Es gibt Beispiele in der Geschichte: Varian Fry, der 1941 in Marseille ist und 1500 Intellektuelle und Künstler, die gesamte europäische Intelligenz, nach Amerika rausschleust auf Fluchtrouten. Golo Mann, Hannah Arendt, Marcel Duchamps, Künstler, Philosophen, Intellektuellen, verdanken ihm ihr Leben. Ein unglaublicher Typ, der mit seinem amerikanischen Pass gegen das Hitler-Regime kämpft. Er ist ja im


Gegensatz zur verfolgten Intelligenz ein Staatsbürger erster Klasse. Er geht zu den Botschaftern und spricht im Namen der Entrechteten. Das müssen wir uns immer bewusst machen, heute, was ein europäischer Pass in Somalia bewirken könnte. Fry macht aber viel mehr: Er besticht Beamte, fälscht Pässe, bedroht Polizisten. Er macht all die Dinge, für die er bei jeder deutschen Menschenrechtsorganisation in hohem Bogen rausfliegen würde. Wo sind die Varian Frys, die den Somaliern Pässe beschaffen oder fälschen und Fluchtrouten in die EU organisieren? Schwarz-Schilling: Der Mann würde von unseren heutigen staatlichen Instanzen unter Berufung auf den Rechtsstaat, angeklagt und verurteilt werden. Die Frage ist die: Kommen wir ohne ähnliche Erfahrungen, die dann vielleicht noch schlimmer sind als im 20. Jahrhundert in der Verteidigung der Menschenrechte, weiter? Oder waren die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht groß genug? Sind die Erziehungsmöglichkeiten in einem freien Land nicht groß genug? Diese Frage steht hier eigentlich im Raum: Ob wir in einen weiteren Abgrund gerissen werden müssen, ehe wir den letzten entscheidenden Schritt gehen: nicht die Rechte der "Artgenossen", sondern des "Menschen" wahrzunehmen? Die transnationalen Organisationen sind ja bereits da. Die UN ist ja auch eine Menschenrechtsorganisation (Menschenrechtscharta der UN), die Somalier sind Mitglied der Vereinten Nationen, die Menschenrechtscharta gilt für sie in gleicher Weise wie für Amerika. Das ist auch ein Fortschritt, der aus den wahnsinnigen Leiden des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Es ist schon so, dass man da einen gewissen Fortschritt sehen kann. Die Frage ist nur, ob wir diesen Fortschritt, ohne diese Leidensphase – Ruch: – halten können! Schwarz-Schilling: Ja. Oder auf eine höhere Stufe bringen. Ich will hier keine Voraussage wagen. Ich finde nicht, dass das, was wir bisher leisten, einem den Mut gibt zu sagen: ‚Das kommt so –wir kommen dem Ziel näher.’ Den Mut hab ich wirklich nicht, nein. Aber ich habe auch nicht den Pessimismus, das Gegenteil zu behaupten. Ruch: Das dürfen wir schon im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder nicht sagen. Schwarz-Schilling: Nun ja, sentimental zu werden hilft überhaupt nicht. Manchmal ist Wahrhaftigkeit und das Schauen in den Abgrund die einzige Überlebenschance. Und ich meine, Sie fragen, genauso präzise wie in Ihrem Brief. Und dann bin ich eben letztlich sprachlos. Im Grunde genommen ist das eine Frage, wo man sagen kann: Das Schicksal kann plötzlich die Menschheitsgeschichte in die eine oder die andere Richtung treiben. Es ist unklar. Aber das, was mir zu denken gibt, diese Unterscheidung hatte ich bisher in der Gaußschen Verteilkurve nicht gemacht: Märtyrer in Diktaturen, die in der Verteilkurve rund 5% ausmachen und der Tatbestand, dass sie in Demokratien darunter, nicht darüber liegt. Das ist sehr überlegenswert und wahrscheinlich eine richtige Erkenntnis. Ruch: Es hat etwas mit den Repressionen zu tun. Brechen die Repressionen weg, bricht aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, auch die Dringlichkeit weg, den Kampf gegen diese Verbrechen aufzunehmen. Die Menschen spüren die Notwendigkeit nicht mehr. Diese Genialität des Widerstands, die wir jahrhundertelang hatten, bricht in sich zusammen. Als ob der Widerstand die Repressionen brauchte. Ich glaube, dass man den Mut da auch haben muss, das zu thematisieren, wenn es so offen zutage liegt.


Schwarz-Schilling: Es ist eine gute Sache, wenn junge Menschen erleben, dass sie frei sind. Wenn nicht bewusst ist, dass wir frei sind, ist es sehr schwer zu sagen: ‚Ja, Moment mal, hier muss etwas unternommen werden! Was passiert hier eigentlich?’ Ich denke zum Beispiel an das, was wir uns mit den Ausländern „leisten“, die zu uns geflohen sind. Dass wir hier penible Paragraphen haben darüber, ob jemand „zurückgeführt“ werden soll oder zwangsweise abgeschoben werden kann, wenn er lange, ja Jahrzehnte hier mit uns gelebt hat. Egal, ob er sein Leben hier aufgebaut hat und eine Familie hat, deren Heimat Deutschland ist, Kinder, die hier zur Schule gehen. Und dann kommen wir mit Polizei und Handschellen, führen sie ab und schicken sie in ein völlig unbekanntes Ausland, dessen Sprache diese jungen Leute gar nicht sprechen und dessen Kultur für sie ein Schock ist. Welche Traumatisierung, welchen lebenslangen psychologischen Störungen hier ausgelöst werden, wird nicht einmal zur Notiz genommen und unsere Bürokraten finden das alles in Ordnung! Ruch: Das passiert heute, unter dem Gewand des Rechtsstaats. Schwarz-Schilling: Das passiert heute jeden Tag in Deutschland. Welches Unrecht sie hier schaffen, merken die Behörden gar nicht mehr. Für sie ist es Routine und Normalität. Offensichtlich gehört eine entsprechende Erfahrung von früher durch andere Ereignisse dazu, um zu erkennen, was da vor sich geht. Dass wir es im allgemeinen Bewusstsein nicht erkennen, ist ein sehr schlechtes Zeichen. Ruch: Wir haben rechtsstaatliche Bedingungen, die Unrecht produzieren. Was ist da an Widerstand erlaubt? Was dürfen Menschen in so einer Situation, in die sie eine bestimmte hochpolitisierte Gesetzesauslegung bringt, dagegen unternehmen? Schwarz-Schilling: Erstens: Sich weigern und an solchen Maßnahmen selber nicht mitwirken. Zweitens: Friedliche Demonstrationen sind in jedem Falle erlaubt. Auch eine Untersuchung, wie Behörden in solchen Situationen arbeiten (Disziplinarverfahren). Wir haben doch alle Augenblicke Untersuchungsausschüsse über irgendwelche Lappalien. Aber in diesem Fall hält das keine der Parteien für eine große Sache. Es ist ja arbeitsteilig organisiert: eine Behörde führt ganz systematisch einen juristischen Kleinkrieg gegen die Betroffenen bis sie die Zeit für reif hält, den Startschuss zum Abschieben zu geben. Eine andere Behörde schiebt ab und sagt: ‚Ja, wir haben nur das umgesetzt, was eine andere Behörde entschieden hat. Dann setzt sich die Polizei in Bewegung und bringt die Familie unter nebulösen Verantwortlichkeiten und unter Zwang ins Flugzeug. Ich bin die ganze Weihnachtszeit nur da gesessen und habe Briefe entworfen und Petitionen eingereicht, damit Leute nicht abgeschoben werden oder damit Leute, die unter solchen Umständen bereits außer Landes deportiert worden sind, wieder nach Deutschland zurückkehren können. Ich werde heute von Leuten aus dem Kosovo angerufen und um Hilfe gebeten. Weil sie gerade, vor 14 Tagen oder so, abgeschoben wurden. Jetzt haben sie noch ein funktionierendes Handy. Bald ist auch das weg. Dann bricht der Kontakt völlig ab. Ruch: Können Sie nicht zur Kanzlerin marschieren und dort den Herrschaften und Damen erklären, dass die eine Stelle einrichten müssen, damit Menschen aus dem Kosovo sich in ihrer Not an sie wenden können? Schwarz-Schilling: Das wäre nur durch irgendeine Persönlichkeit möglich, die, sagen wir mal, riesigen Einfluss im Kanzleramt hätte. Ich würde dafür bestimmt keinen Termin bei der Kanzlerin bekommen. Ruch: Obschon Sie einer der hochgeehrtesten Altminister des Landes sind? Und wenn Sie einfach hingehen und drauf bestehen? Mit Journalisten im Schlepptau öffentlichen Druck erzeugen?


Schwarz-Schilling: Die Journalisten im Schlepptau für diese Frage? Die gibt es kaum. Ich meine, ich habe schon der FAZ, dem Herrn Schirrmacher, einen Brief geschrieben, dass etwas Gewaltiges geschehen muss. Da habe ich noch nicht einmal eine Antwort bekommen. Ruch: Er antwortete nicht? Schwarz-Schilling: Auf meinen zweiten Brief meldete sich dann zwar ein Mitarbeiter, der dann aber nach Ostern (also direkt nach dem Oster-Appell) in Urlaub war und sich seither auch nicht mehr gemeldet hat. Ob es also eine konkrete Folge hat oder nicht weiß ich noch nicht. Es wäre natürlich die Frage zu stellen, ob man jetzt, sagen wir mal, zu Methoden greift, die einfach aufrührerische Situationen hervorrufen, die dann selbst die Medien interessant finden. Ob das jetzt die richtige Methode ist und der richtige Zeitpunkt ist, da überlege ich auch jeden Tag. Ruch: Da staut sich ein Leidensdruck an, der sich bei ihnen nur anstaut wegen der Unfähigkeit bestimmter Regierungsmitglieder. Den würde ich zurückgeben. Den würde ich mit über 80 nicht bei mir im Haus dulden. Ich finde das eine irre Konstellation, dass bei Ihnen, der längst im Ruhestand sein müsste, an Weihnachten um Hilfe geschrien wird. Verklagen sie die Bundesregierung, Herr Schwarz-Schilling. Schwarz-Schilling: Ja, das sagen Sie mal einem Juristen. Was er ihnen da antwortet. Ruch: Die Deutschen beweisen, dass sie auch unter den allerbesten ?Lichtbedingungen nicht in der Lage sind, ein, von den Sorgen um die eigene Existenz befreites Geschöpf zu sein. Ihre Sorgen um die Rente, den Wohlstand, oder die Hypothekarzinsen in allen Ehren. Aber sie sind de facto aller Sorgen enthoben und sich endlich den Nöten annehmen, die in den dunkelsten Erdteilen, für 5 Milliarden Menschen auf dieser Erde, gelten. Schwarz-Schilling: Ja, aber Sie sehen ja auch, Rupert Neudeck mit der Cap Anamur damals. Der hat auch gegen nationales Recht und Gesetz Dinge in Gang gesetzt, welches die Menschenrechte erforderte. Die Einwanderungsmöglichkeit der auf den Meeren herumtreibenden Vietnamesen musste gegen die deutschen Innenminister bzw. Ministerpräsidenten erzwungen werden. Dazu musste ein Vorbild her. Das war der Ministerpräsident Albrecht, der die Blockadehaltung der Länder durchbrochen hat. Ruch: Und warum hat er das gemacht? Schwarz-Schilling: Der hat sie aufgenommen. ‚Wir sagen heute, „we can do“ (Obama) – „wir können es tun“. Sollen diese Innenminister doch also bitte reden was sie wollen. Ich nehme die in meinem Land auf und Schluss!’ Ich meine, das war eine wirklich einsame und richtige Entscheidung. Ruch: Da ist er wieder: ein Akt politischer Schönheit. Schwarz-Schilling: Ja. Das war nicht irgendein Kalkül. Gar nicht. Ministerpräsident Albrecht fühlte sich irgendwie mit betroffen und fühlte Verantwortung. Solche Menschen müssten wir an solchen Positionen mehr haben! Ruch: Es fällt auf Einzelne zurück? Schwarz-Schilling: Der gesamte Fortschritt der Menschheit fällt auf Einzelne zurück. Wir brauchen manchmal die Massen, wir brauchen sie, um etwas durchzukämpfen. Aber die Ideengeber, die Initiatoren sind ein paar Wenige. Da beißt die Maus keinen Faden ab.


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Utopie

Elias Bierdel

ANDREJ HOLM

ARMIN PETRAS

*1960 in Berlin, von 1980 bis 1983 Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Bis Mitte der 1990er Jahre Tätigkeit als Journalist für die WAZ, Westfälische Rundschau und beim Deutschlandfunk war Leiter und Vorsitzender der Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V. (Cap Anamur). Im Jahr 2004 sorgte er mit der Bergungsaktion eines Flüchtlingsschiff im Mittelmeer für internationale Aufmerksamkeit. Seit 2007 ist er im Vorstand von "borderline europe - Menschenrechte ohne Grenzen e.V.". Für seine Einsätze erhielt er mehrere Preise. Heute lebt er in Österreich und bildet zivile Friedenshelfer am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung aus.

ASTRID PROLL

PHILIPP RUCH

LUDGER SCHWARTE

ANDRES VEIEL

RÜDIGER ZILL

*1981 in Dresden, ist Menschenrechtler, Regisseur, Aktionskünstler und Leiter des Zentrums für Politische Schönheit. Von 2003 bis 2009 Studium der politischen Philosophie bei Herfried Münkler und Volker Gerhardt. Er arbeitete am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“. Derzeit ist er Stipendiat des Forschungskollegs "Bildakt und Verkörperung“.

Ruch Ich habe viele Fragen mitgebracht, Elias. Zu Beginn würde ich gerne darüber reden, wer sich heutzutage eigentlich für Menschenrechte einsetzt. Wenn man die Leute dazu fragt, heißt es immer: Amnesty International. Oder auch mal Pro Asyl. Es gibt sowas wie Zuständigkeiten oder Institutionen, die sich um dieses Thema kümmern. Wenn ich aber zu Amnesty gehe und mich wegen des Völkermords im Sudan erkundigen will, ob die da unten ein Büro oder sowas haben, dann wird das verneint. Das kann ich mir nur so erklären, dass die Angst vor solchen Konflikten haben. Bierdel Warum verlieren die Menschenrechte im öffentlichen Diskurs immer mehr an Bedeutung? Ist das Menschenrecht nicht mehr eine humanitäre Größe? In der Politik birgt dieses Thema ja keine Karrierechancen. Die wenigen Politiker, die sich in den Parteien mit Menschenrechten beschäftigt haben, waren immer die herausragenden Köpfe ihrer Parteien. Interessanterweise ist es außerdem so, dass in weiten Kreisen der Gesellschaft essentielle Probleme um das Menschenrecht nicht als solche erkannt werden. Wer macht sich denn heutzutage darüber Gedanken, dass beispielsweise Nacktscanner an Flughäfen etwas mit basalen Menschenrechten zu tun haben könnten? Das wird so ja gar nicht mehr diskutiert! Was aber wiederum im Zusammenhang mit den Menschenrechten passiert, ist das Zeigen auf andere – zum Beispiel China oder Guantánamo.


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S.27 Bei uns werden Menschenrechte auch missachtet, nur ist der Umgang da ein völlig anderer. Europa gibt an dieser Stelle seine Identität auf. Es wird inzwischen nur noch so getan, als sei Europa der weltweite Hort der Menschenrechte. Uns scheint klar, dass wir die Guten sind. Der Kontinent, der es sich erlaubt auf alle Verletzungen der Menschenrechte ständig hinzuweisen, hat selber zunehmend Dreck am Stecken. Wir haben uns also nicht schon verrannt, sondern verraten uns immer mehr selber. Ruch Ein Freund von mir hat neulich folgendes Satz gesagt: „Wenn Afrika die Wiege der Menschheit ist, dann ist Europa das Ende der Menschheit.“ Bierdel So würde ich das jetzt nicht sagen. Ich glaube eher, dass wir nicht fähig sind, uns aus diesem Korsett zu befreien. Die Kernthese ist: Wir sind die Guten in dieser Welt. Das Problem ist nur, dass diese Sichtweise Selbsterkenntnis verhindert. Bei Spendern für humanitäre Zwecke ist das Bedürfnis, sich selbst als den Guten zu erfahren oft so mächtig, dass die Frage egal wird, ob man mit den Spenden überhaupt noch irgendjemandem hilft. Das ist für Spender oft gar nicht mehr entscheidend. Das liegt daran, dass wir ja ahnen oder vielleicht sogar wissen, dass unser westlicher Lebensstil oder die Struktur unserer Gesellschaft so toll auch nicht ist. Ruch Ich will aber nochmal auf dein Beispiel am Anfang zurückkommen, denn es gibt ja auch Abstufungen in der Priorisierung der Menschenrechte. Beispiele wie der Flüchtling, der im Meer ertrinkt, oder eine im Sudan vergewaltigte Frau, haben eine andere Qualität als der Nacktscanner. Glaubst du, dass bei den Spendern das Bewusstsein für diese unterschiedlichen Dringlichkeiten da ist? Denn die kommen ja zu dir und sagen: „Elias, bitte kümmer' dich drum.“ Bierdel Es gibt eine Tendenz zu delegieren, ja. Das ist vielleicht die niedrigste Form von Aktivismus. Jemandem Geld für so etwas zu geben, finde ich ja gar nicht schlimm. Wenn wir aber die Ursachen untersuchen und diskutieren würden, kämen wir schnell zu den Punkten, an denen wir merken, dass wir sie an uns selber verändern könnten. Wenn wir die Bereitschaft hätten, Veränderungen zuzulassen, würde sich das auf unser Wohlbefinden und auch unseren Wohlstand usw. positiv auswirken. Schau mal auf die Klimasituation, schau auf die Wirtschaftspolitik, schau auf diesen wahnwitzigen Sicherheitsdiskurs… – Sorgen muss man sich machen! Die Frage ist nur, ob wir den aufgestellten

Wegweisern folgen wollen oder ob das nicht in eine ganz andere Richtung gehen müsste. Da kommt dann auch der Zorn zum Tragen. Ruch Im Optimalfall müsste man die Inhalte aus der SarrazinDebatte ersetzen und dafür sorgen, dass diese öffentliche Diskussion mit all der stattgefundenen Sorgfalt zum Beispiel über Flüchtlingsthemen geführt wird. Das Problem ist, dass es unheimlich viele gute Denker in unserer Gesellschaft gibt, die ganz tolle Lösungsansätze entwickeln können, nur beschäftigen die sich mit ganz anderen Themen, weil ihnen beruflich beispielsweise vorgegeben wird, etwas über den Vergleich zwischen der Evolutionstheorie und Sarrazins Thesen zu schreiben. Es fehlt also die Möglichkeit diese öffentlichen Diskussionen zu führen, denn die werden durch ein Gefühl verhindert, nämlich: Angst. Bierdel Es ist ja zu beobachten, dass die Autoritäten überall nach und nach fallen. Das betrifft die Kirchen, die Politik, die Wirtschaft… Das inspiriert und belebt mich ja. Viele Leute schüchtert das ein. Ich glaube, dass wir vor sowas wie einem Wende-Szenario stehen. Die Unruhe wird so groß, dass wir ausgerechnet in Stuttgart regelrechte Erhebungen des Bürgertums gegen eine Politik erleben, die als kaltschnäuzig und arrogant beschrieben wird. Das finde ich ja sehr gut. In der Tagespolitik werden die substanziellen Fragen unseres Zusammenlebens gar nicht mehr diskutiert. Zum Beispiel ist es doch erschreckend, festzustellen, dass die Leute, die uns 30 Jahre lang erzählt haben, Deutschland sei kein Einwanderungsland, heute behaupten, die Integration habe nicht funktioniert. Daraus kann man nur schließen: Wenn du Veränderungsprozesse ignorierst, kannst du sie auch nicht gestalten. Deshalb müssen sich diese Eliten nach und nach verabschieden, weil ihnen niemand mehr glaubt und ihnen deswegen auch keiner mehr folgen will. Ruch Diese Einschätzung teile ich nicht. Ich sehe die Umbruchphase nicht. Ich teile deine Einschätzungen hinsichtlich der Instrumentalisierungsfunktionen, sehe da aber kein Emporkommen eines neuen Paradigmas. Aber ich habe nochmal eine ganz andere Frage an dich, die mich brennend interessiert: Muss sich jemand wie du nicht völlig verarscht vorkommen, wenn wegen eines Bahnhofs Menschenmassen auf die Straße gehen? Ich beziehe das so direkt auf dich, weil du mit der Flüchtlingsproblematik eines der dringlichsten Themen des 21. Jahrhunderts auf dem Tisch hast. Mir graut da ja vor den Urteilen der Historiker aus der Zukunft. Um ein Beispiel zu nennen: An den Grenzen des Eisernen Vorhangs sind insgesamt so viele Menschen umgekommen wie momentan an den Grenzen Europas innerhalb eines Jahres oder vielleicht sogar nur eines halben Jahres. Darüber gibt es ja nur Schätzungen und keine Statistiken. Wir wissen es nicht. Was werden Historiker darüber sagen? Und die Menschen in Deutschland gehen auf die Straße wegen eines Bahnhofs!


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S.29 Was sagst du dazu? Müssten die Menschen nicht auf die Straße gehen wegen der Mauertoten des 21. Jahrhunderts? Bierdel Die Schandmauer von einst ist verschwunden, dafür steht die nächste nur ein paar Kilometer weiter. Und wie du richtig sagst, ist die Todesrate dort um einen beträchtlichen Faktor höher. Wir kennen die Todeszahlen nicht, weil es nicht einen Beamten in Europa gibt, der sich dafür interessiert. Die Schätzungen liegen bei 3000-4000 Menschen, die im Jahr an den europäischen Grenzen verschwinden. Ruch Du hast bei einem Vortrag ja mal folgendes Thema angesprochen: Die deutsche Marine ist am Horn von Afrika tätig – zwischen Somalia und Jemen. Du hast dann die berechtigte Überlegung angeschoben, dass die Marine nicht nur dort ist, um Piraten abzufangen, sondern auch um Flüchtlingsabwehr zu betreiben. Plötzlich kamen dann die Zahlen der UNHCR, einem offiziellen Instrument der UNO, raus: 92.000 im Jahr 2009! Das ist eine unfassbare Zahl. Bierdel Ja, das stimmt. Aber im Bewusstsein der Gesellschaft tut sich doch etwas. Bei der Atomenergie entwickelt sich zur Zeit ein interessantes Szenario: Die Bevölkerung wendet sich von der Regierung massiv ab und die versucht in diesem Moment dann umso heftiger, die alten Slogans zu bemühen. Die will aber keiner mehr hören! Und das beschleunigt die Erosion. Das haben wir in der DDR ja sehr deutlich gesehen. Das ist doch unglaublich, dass die Mächtigen ausgerechnet zu dem Strohhalm greifen, bei dem man sicher sagen kann: Das geht schief! Wir haben in Deutschland seit 40 Jahren eine stabile Mehrheit, die sich gegen die weitere Nutzung von Atom-Energie ausspricht. Dementsprechend wird das Verhalten der Politik diesen Protest beschleunigen. Warum ich diesen Vergleich mit der DDR bemühe: 1988 war ich in der DDR und beobachtete, dass die Parolen der Politiker im Angesicht der Entwicklungen immer heftiger rausposaunt wurden, was die Menschen nur noch mehr aufbrachte. Irgendwann braucht es dann nur noch einen zufälligen oder auch willkürlichen Auslöser und dann ändert sich was. Ruch Aber wo sind denn heute die Kräfte, die diese Politiker ersetzen sollen? Wer soll das sein? Bierdel Das ist eine Frage, die am Ende der DDR im Osten auch gestellt wurde. Es ist ein Kennzeichen historischer Umbruchssituationen, dass wir nicht genau wissen, was dann kommt! Hier brauchen wir also den Mut, eine Veränderung herbeizuführen, ohne am Ende im Detail zu wissen, wie das genau funktionieren soll. Ich bin aber überzeugt: Das, was danach kommt, kann nur besser werden. Ruch Ich sehe nirgends, bei keiner Partei, auch nicht bei den Grünen, eine Person oder vielleicht sogar einen ganzen Kreis von profilierten Menschenrechtlern, die die Kernthemen der Menschenrechte verkörpern und in der Politik umsetzen. Bierdel Du wirst doch nicht bestreiten, dass es in diesem Land ein paar Leute gibt, die klar denken können und die auch ganz

eindeutige Konzepte auf den Tisch legen könnten. Aber diese Leute können erst dann erscheinen, wenn das Alte verschwunden ist. Ruch Aber kannst du dir vorstellen, in dieser Phase danach Verantwortung zu übernehmen? Wenn ja, bin ich dein erster Helfershelfer. Bierdel Je mehr sich der Protest weiterentwickelt wie aktuell, desto mehr Menschen werden wir begegnen, die diese Visionen teilen. Und da wundert es mich, dass du als Repräsentant das anders siehst. Gerade du bist doch jemand, der mich ermutigt und bestärkt in dem, was ich da sehe. Ruch Aber wie veränderst du etwas? Wo ist dein Vehikel? Bierdel Ich laufe doch nicht wild durch die Straßen und bitte um Aufmerksamkeit. Ich warte, bis mich jemand fragt. Ruch Ich will das aber jetzt wissen. Sag doch mal, wie dieses Vehikel aussieht, mit dem du etwas bewegen wirst? Bierdel Es hat drei Räder und einen Kartoffelvergaser. Es hat bunte Ballons an beiden Seiten und die Menschen werden begeistert sein. Ach, Philipp, ich kann dir doch auch nicht sagen, was dann passiert, nur weil ich deutlich wahrnehme, dass wir einem Punkt entgegendriften, der vieles ändern wird. Die Leute werden nach und nach feststellen, dass sie gar nicht so einzeln und versplittert sind, wie sie denken. In 20 Jahren, Philipp, werden wir hier an diesem Tisch im „Fleischmöbel“ in der Oderberger Straße sitzen und wir werden sagen: „In Stuttgart hat es damals angefangen.“ (beide lachen) Bierdel Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es aktuell eine steigende Frequenz von Ereignissen gibt, die alle samt in die richtige Richtung gehen! Ruch Du bist da viel zu optimistisch. Bierdel Wir müssen diese Frage hier ja auch nicht beantworten. Mir ist nur wichtig festzuhalten, dass wir hier eine Krise des Parteienstaats haben und nicht eine Krise der Demokratie. Und dazu gehört, dass jeder an seiner Stelle Verantwortung übernimmt. Wir brauchen da zum Beispiel Künstler in diesem Zusammenhang, weil aus den Medien keine Fragen und Antworten mehr kommen. Und weißt du, was dann passiert? Auf einmal erfährt Theater eine Renaissance als Ort des Wesentlichen und der ernsthaften Debatte. Heute geht Theater entweder dem Ende entgegen wie durch die Kürzungen in Wuppertal oder Theater ist wach und da. Dann merken die Leute, dass es sich lohnt dort hinzugehen. Ich bin deshalb völlig gelassen und guter Dinge.*


02.07.2011

Mind Your Own Business Im Sudan eskaliert die Gewalt. Hunderttausende wurden vertrieben. Mit der Eskalation schlägt die Stunde der Afrikanischen Union (AU) unter Thabo Mbeki. Der ehemalige südafrikanische Staatspräsident hat den Konflikt zum Schauplatz einer irrwitzigen Agenda auserkoren, die am Ende Tausende das Leben kosten könnte.

Thabo Mbeki, Gründervater der Afrikanischen Union (AU), will den afrikanischen Kontinent gegen die historischen Erfahrungen Europas abschotten und pocht auf das Recht Afrikas, eigene Erfahrungen zu machen. Er nennt es: „Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“. Vergangene Woche druckte eine große deutsche Zeitung seine Interpretation des Libyenkrieges, die ein Licht auf seine Pläne im Sudan wirft. Unter der Überschrift „Die Kolonialisten kehren zurück“ wettert Mbeki gegen die Überheblichkeit der westlichen Staaten, sich in Afrika (nicht: der arabischen Welt) „unverlangt“ einzumischen. Er führt den „Erfolg“ der Revolutionen in Tunesien und Ägypten auf die Nichteinmischung der afrikanischen Staaten zurück, den Krieg in Libyen dagegen auf die westliche Einmischung. Hätte man lange genug gewartet, wären Gaddafis Truppen nie bis Bengasi vorgerückt.

Eine kulturrelativistische Doktrin Was Mbeki aber so gefährlich macht, ist seine kulturrelativistische Doktrin. Er will – abgeschottet vom Westen – „afrikanische Erfahrungen“ machen. Doch diese sind nicht im Sinne der südsudanesischen Zivilbevölkerung und werden sich nur unmerklich von denen unterscheiden, die Europa in Bosnien machen musste. Auch damals verurteilte ein „Sicherheitsrat“ die rohe Gewalt. Auch damals besaßen die Mitglieder einen unerschütterlichen Glauben an die Macht von Pressemitteilungen. Mbeki will die blutigen Lehren der Geschichte erneut hören. Man möchte ihn für naiv halten, wäre da nicht die Karriere des 69-Jährigen, die zeigt, dass er bereits allerhand Diktatorenhände geschüttelt hat: die Komplizenschaft mit Mugabe gehörte zu den größten Lasten. Mbekis Darstellung gerät zur Komödie, wenn er gesteht, wozu die AU in der Lage ist. So habe der „AU-Sicherheitsrat“ beschlossen, eine Delegation nach Libyen zu schicken. Das sei aber nicht gelungen, wegen „der schwachen Kommunikation zwischen den afrikanischen Staaten, viele wussten noch Tage nach der Libyen-Erklärung des AU-Sicherheitsrates nicht, was dieser beschlossen hatte“. Wenn die Mitgliedstaaten die eigenen Beschlüsse nicht mitbekommen, wie wollen sie Sanktionen durchsetzen oder Kriege verhindern?

Europa soll sich heraushalten Zwar wünscht Mbeki nicht den Tod der Einwohner von Südkordofan. Aber um Menschen geht es ihm nicht. Es geht um die moralische Diskreditierung eines vermeintlich imperialistischen Westens. Europa soll sich endlich aus Afrika heraushalten. Wenn dafür Menschen in Bengasi abgeschlachtet oder aus Südkordofan vertrieben werden, sind das Opfer auf dem Weg zum Ziel. Der Sudan ist eine Bühne. Das Stück trägt den Titel: „afrikanische Lösungen“. Der erste Akt endete mit der Entmilitarisierung Abyeis. Aber das „afrikanische Problem“ – die Kriegsregion Südkordofan – blieb unangetastet. Ein Verdacht drängt sich auf: das Mandat der UN-Mission im Sudan läuft im Juli aus. Dabei decken sich die Interessen des Diktators Bashir mit denen Mbekis: Abzug der UN-Mission, dafür Truppen unter AU-Mandat. Mbeki ist besessen von Afrikas Unabhängigkeit – und blind für die Konsequenzen. Er interpretiert den Rückzug von UN-Truppen als Machtgewinn für die AU. Die politische Agenda hinter all seinen Aktivitäten ist die Verbannung des Westens, nicht die Verhinderung von Toten. Hinter den „afrikanischen Lösungen“ verbergen sich Leichenberge, die der Westen beerdigen, nicht verhindern soll. von Philipp Ruch


Luftschläge hätten Srebrenica verhindert | Leserartikel | ZEIT ONLINE

Luftschläge hätten Srebrenica verhindert 27.03.2011, 20.00 UHR

Seit die Alliierten sich durchringen konnten, die militärische Hightech-Macht des libyschen Diktators Gaddafi in die Steinzeit zurück zu katapultieren, wird wieder über den Sinn und Unsinn von Luftschlägen diskutiert. Dazu wird auch der Völkermord von Srebrenica als Beweis angeführt, dass Luftschläge gegen genozidale Verbrechen nichts auszurichten vermögen. Das Problem ist nur: Luftschläge hätten Srebrenica verhindert. So warf der Dirk Niebel, Bundesentwicklungsminister, in einer Gesprächsrunde des ZDF jüngst die durchaus interessante Frage auf: „Hat jemals eine Flugverbotszone ein Massaker verhindert?“ – Darauf antwortete der Minister, noch ohne Luft zu holen, höchstselbst, indem er meinte, nicht einmal Bodentruppen der Vereinten Nationen hätten dies in Srebrenica getan. Dirk Niebel spinnt dabei an einem westlichen Märchen, nach dem das Truppenkontingent von weniger als 400 Soldaten in Srebrenica als unterstützender, verlängerter Flügel der Luftschläge erscheint. Das Argument ist stets dasselbe: weder Luftschläge, noch Bodentruppen hätten in Srebrenica etwas auszurichten vermocht. Nichts könnte von der historischen Wirklichkeit ferner liegen. Um Niebels Frage mit allem ihr gebührenden Ernst durchzusprechen, muss man die Aufmerksamkeit von Srebrenica zunächst auf den Belagerungsring von Sarajevo lenken. Denn die serbische Art, den Krieg in Bosnien zu führen, war überall dieselbe. Die Truppen drangen mit paramilitärischen Truppen und „Snipern“ (Scharfschützen“) in die Städte ein und schürten Chaos und Angst. Um Sarajevo herum entstand ein Belagerungsring aus schwerer Artillerie, Panzern und Granatwerfern. Täglich erbebte in Sarajevo hundertfach die Erde von den Bombardements. Über drei Jahre hinweg starben durch diesen Belagerungsring, der der Metropole die Luft abschnüren sollte, über 11.000 Menschen. Carolin Fetscher bezeichnete dieses Vorgehen gegen die bosnische Bevölkerung einmal unnachahmlich als „Slow-MotionGenocide“. Aber nicht nur die serbische Kriegsführung, auch die Reaktionen des Westens lassen sich an Sarajevo besser ablesen als an Srebrenica. Die Hauptstadt lag immerhin drei Jahre lang im Zentrum der Weltaufmerksamkeit – was sich vom belagerten Srebrenica nicht behaupten lässt. Allabendlich wurden die Bilder dieses langsamen Dahinsterbens, Bilder von der „bosnischen Agonie“, von den Fernsehnachrichten in die westlichen Wohnzimmer und Bürokratiestuben geschickt. Über die westliche Reaktion auf diese Bilder kann man sich nicht genug wundern. Drei Jahre lang wurde die Bildproduktion einer gigantischen humanitären Katastrophe gen Westen geschickt, die durch Belagerungsringe verursacht wurde. Keiner der westlichen Zuschauer kam auf die Idee, die serbischen Belagerungsringe, die die bosnischen Städte einschnürten, aus der Luft anzugreifen und zu zerstören. Es war dieser Umstand, der den Sohn von Susan Sontag zu einer der eindrücklichsten Aussagen über die „Evolution der Genozide“ hinriss: „Noch heute glauben viele, wenn die Welt nur vom Holocaust gewusst hätte, hätte sie auch etwas dagegen unternommen. Zwei Jahre in Bosnien haben mich eines anderen belehrt. Hätte es Bilder aus Auschwitz in der Weltpresse gegeben, hätte die Welt genauso wenig gehandelt.“ Die Belagerungsringe, die das langsame Sterben ins Werk setzten, blieben über drei volle Jahre hinweg mehr oder weniger unangetastet. – Dies, obwohl sie im grellen Scheinwerferlicht der internationalen Medien standen. Der nie ausgesprochene Grund dafür war, dass sich die Weltgemeinschaft auf ein derart aggressives Vorgehen, die Belagerungsringe aus der Luft zu vernichten, nicht einigen konnte oder wollte. Man nahm die Bilder und Erzählungen von Völkermord, Vergewaltigungen und systematischen Vertreibungen lieber hin, als die Aggressoren zurückzuschlagen. Der serbischen Armee gelang es im Frühjahr 1995 sogar, westliche Soldaten in Geiselhaft zu nehmen und an strategisch wichtige Kriegsziele zu ketten. Eine Episode, die zur Erklärung des westlichen Verhaltens in Srebrenica maßgeblich beiträgt. Die in Bosnien stationierten Bodentruppen erscheinen deshalb weniger als verlängerter Arm der NATO, sondern vielmehr als Widersacher für westliche Luftschläge. Was eigentlich alle Kommentatoren der serbischen Kriegsführung beobachteten, war das vorsichtige Herantasten an die Grenzsetzung der internationalen Gemeinschaft. Auf Srebrenica rollten zunächst vier serbische Panzer vor. Was viele bis heute nicht wissen: Srebrenica liegt in einem Tal, in das nur eine einzige Strasse hineinführt. Vier Bomben für vier Panzer aus altsowjetischer Produktion hätten ausgereicht, um den Massenmord in Srebrenica, das schlimmste Verbrechen auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg, zu verhindern. 40.000 Zivilisten hatten sich in die „UNO-Schutzzone“ geflüchtet. Schlimmer noch als das Märchen, dass der Westen nicht in der Lage gewesen sei, eine einzige Strasse zu blockieren, ist


Märchen, dass der Westen nicht in der Lage gewesen sei, eine einzige Strasse zu blockieren, ist die Tatsache, dass 40 Kampfflugzeuge am Vorabend der Katastrophe über der Adria kreisten und auf ihren Einsatzbefehl warteten. Obwohl die UN-Einsatzregeln den Einsatz von Luftangriffen vorsahen, um die Zivilisten zu verteidigen, wurden die Kampfjets vom französischen General Bernard Janvier auf den Boden zurückbeordert. Der Westen konnte sich nicht dazu entschließen, die serbische Armee aus der Luft zu bombardieren und damit als Aggressor dazustehen. Das ist das gigantische Verbrechen, das der Westen in Srebrenica beging: ein Verrat an 40.000 Menschen, denen man zugesichert hatte, sie zu beschützen, die fest mit militärischem Schutz gerechnet hatten und auf die dann eine unaussprechliche Menschenjagd mit Hunden, Maschinengewehren, Minenwerfern und Panzern einsetzte, die über 8.000 von ihnen nicht überleben sollten. Das Schicksal Srebrenicas war dabei von Anfang an besiegelt. Es lag zu nahe an Serbien. Zu nah, um nicht als gallisches Dorf einen ethnifizierten, „gesäuberten“ Lebensraumes zu verschmutzen. Oskar Lafontaine beklagte in derselben Gesprächsrunde, die Menschheit habe in den letzten Jahrzehnten nichts dazugelernt. Was aus dem Munde Elie Wiesels als Provokation gemeint ist, nimmt sich vom Gründervater einer seltsamen Partei eher wie eine Drohung aus. Denn der Eingriff in Libyen ist genau das, eine eindrückliche Demonstration menschlicher Lernfähigkeit. Die politische Lektion, die man aus Srebrenica lernen kann, wurde gerade durch das Zustandekommen einer libyschen Intervention gelernt und lässt hoffen. Die effektive Verteidigung der Zivilbevölkerung in Bengasi im buchstäblich allerletzten Moment (China und Russland hatten zuvor für Gaddafi wertvolle Zeit herausgeschlagen und die Abstimmung über die Resolution verzögert), das Sinnbild von westlichen Bomben, die mitten auf eine Armee fallen, die bereits zum Großangriff auf Bengasi geblasen hatte, zeigt, dass wir doch nicht bereit sind, überall zuzusehen. Gerade im Beraterumfeld des französischen Präsidenten lassen sich Personen ausmachen, die das westliche Versagen Bosniens nicht nur begleitet haben, sondern schmerzlich daran litten. Und obwohl die Skeptiker bereits Stunden später kritisierten, der Einsatz geschehe „kopf- und ziellos“ und ohne jede „Strategie“, wird der Vormarsch der Rebellen aus Ostlibyen auf die Hauptstadt Tripolis vielleicht ein eindrucksvolles Ausrufezeichen ans Ende dieses Ein-Satzes setzen. Denn die vermeintlich fehlende Strategie ist mehr als offensichtlich: die westlichen Truppen tun alles, um die Übermacht Gaddafis zu zerschlagen, damit die Rebellen auf Tripolis vorrücken können. Diesem in der Geschichte der Menschheit allzu bekannten Plan jede „Strategie“ abzusprechen, ist zwar raffiniert, deshalb aber nicht richtig. Zuletzt eine Randbemerkung: Im Kosovo erwies sich der Angriff auf die dritte Division der jugoslawischen Volksarmee als wirkungslos. Die NATO rechnete mit einer Kapitulation Milosevics innerhalb von wenigen Tagen. Es sollte Monate und eine Ausweitung der Luftangriffe auf Ziele in Belgrad dauern, bis das „System Milosevic“ kollabierte. Für alle, die sich mit der Verhinderung von Genoziden beschäftigten, war dies ein Schock: die Ineffektivität von Luftschlägen im Kosovokrieg. Bis heute gibt es erschreckend wenig politikwissenschaftliche Spekulationen zur Frage, warum die Luftschläge derart wenig Zwangsgewalt besaßen. In Libyen steht deshalb tatsächlich nichts weniger als die Wirksamkeit von Luftangriffen bei der Verhinderung von Genoziden auf dem Spiel. Denn es gibt keine weitere Strategie, mit der die westliche Politik in den nächsten Jahrzehnten derart kostengünstig und für die eigenen Bevölkerungen schmerzlos Leben retten kann. Philipp Ruch ist künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit (http://www.politicalbeaut...), das am größten Mahnmal gegen die Vereinten Nationen im Namen von über 6.000 Überlebenden des Srebrenica-Genozids arbeitet (http://www.pillarofshame.eu) und Regisseur eines Films über die Detailabläufe bei der UNO, die zu Srebrenica geführt haben („Himmel über Srebrenica“). 2009 legte er vier Bombenattrappen der NATO in Originalgröße im Gedenken an Srebrenica vor den Deutschen Bundestag, um daran zu erinnern, dass die entsprechende Stückzahl ausgereicht hätte, um den Massenmord zu verhindern: http://www.politicalbeauty.de/lethe/Lethe.html


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