Ein Bad für Florian

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DER DOMPLATZ IST MIT RUND 5.700 m² der zweitgrößte Platz in der St. Pöltner Innenstadt. Im Vorfeld seiner Neugestaltung fanden zwischen 2010 und 2019 im Denkmalschutzgesetz begründete archäologische Untersuchungen statt, ergänzt durch kleinflächige baubedingte Nachuntersuchungen in den Jahren 2020 bis 2023. Die Grabungen haben wichtige, teils sensationelle Erkenntnisse über die Epoche von der Römerzeit bis in die Frühe Neuzeit erbracht, die nicht nur für die St. Pöltner Stadtgeschichte, sondern für ganz Niederösterreich von Bedeutung sind und international Aufsehen erregen. Im Bereich der heutigen Innenstadt gründete nach derzeitigem Wissensstand Kaiser Hadrian kurz nach 120 n. Chr. eine römische Stadt, das Municipium Aelium Cetium. Charakteristisch für eine römische Stadt war ihr regelmäßiger Straßenraster, der sich in St. Pölten zum Teil noch im heutigen Stadtplan widerspiegelt. Der heutige Domplatz liegt im östlichen Teil der damaligen römischen Stadt. Bei den Grabungen kamen Reste der römischen Bebauung und zweier innerstädtischer Straßenzüge aus dem 2. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. zu Tage. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts wurden die Bauten geschleift und durch einen mehrteiligen Gebäudekomplex ersetzt. Im Norden des Domplatzes hat man einen Rundbau mit sehr individuellem Grundriss und den Außenmaßen von ca. 16,5 x 17 m

zur Gänze freigelegt. Um einen zentralen Rundraum mit 5,6 m Durchmesser gruppieren sich im Norden drei mit Fußbodenheizung ausgestattete und mit Apsiden (halbrunden Nischen) versehene Räume; im Westen, Süden und Osten schließen unbeheizte, von einem weiteren konzentrischen Mauerring begrenzte Räume an. Das Gebäude kann aufgrund der Lage, der beheizten, zum Teil mit Apsiden versehenen Räumlichkeiten, der Reste einer Kanalisation und des Ziegelsplitts im verwendeten Mörtel als Badegebäude bestimmt werden. Römische Badehäuser wiesen stets die gleiche Raumfolge auf: einen unbeheizten Kaltbaderaum, einen Raum mit milder Temperatur, einen Heißbaderaum und schließlich (aber nicht immer) ein Schwitzbad. Die Temperatur entsprach vermutlich jener in einem türkischen Hammam, und auch die Badeprozedur kann man sich ähnlich vorstellen. Rund 9 m südöstlich des Badegebäudes stieß man bei den Grabungen auf Teile eines Rechtecksaales mit halbrundem (apsidalem) Abschluss an der Nordseite, an den im Westen weitere Räumlichkeiten angeschlossen waren. Der Saal besaß nach der ersten Bauphase eine innere Breite von 8,9 m; die Nord-Süd-Ausdehnung konnte nicht eruiert werden. In einer zweiten Bauphase wurde der Saal samt Apside massiv vergrö-

ßert und hatte nun eine lichte Weite von ca. 18 x 12 m. Solche Säle, auch aulae genannt, dienten in erster Linie der Repräsentation. In der Südhälfte des Domplatzes wurden Reste eines Gebäudes freigelegt, das sich in Bauweise, Größe und Raumausstattung deutlich von zuvor in Aelium Cetium ausgegrabenen (Wohn-)Bauten unterschied

2 und offenbar einen Trakt aus mindestens neun nebeneinanderliegenden Räumen bildete. Die waren flächendeckend mit Fußbodenheizung versehen; einer wies im Westen einen apsidialen Abschluss auf. Östlich dürfte sich eine in Leichtbauweise errichtete Halle befunden haben. Ein im Stadtmuseum verwahrtes Foto von 1914, das die Baugrube vor Errichtung der Liegenschaft Herrenplatz 14 zeigt, deutet darauf hin, dass sich im Westen ein ähnlicher Gebäudetrakt befunden haben könnte. Alle beschriebenen Gebäude gehörten zu einer mindestens 5.300 m² großen und frühestens Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. errichteten Anlage. Individuell gestaltete Badegebäude und Aulen waren vor allem bei Großvillen, palastähnlichen Anlagen und Kaiserresidenzen zu finden. Der Baukomplex kann als Verwaltungsanlage bezeichnet werden, genauer als Sitz des zivilen Statthalters der Provinz Noricum ripense (nicht aber der Provinz Noricum, die im Zuge der Reichsreformen Kaiser Diokletians geteilt worden war). Der große Saal diente ihm ebenso wie das Badehaus, wo auch Gäste empfangen wurden, zur Repräsentation. Aelium Cetium erlebte ab dem späten 3. Jahrhundert eine Blütezeit, wie Um- uns Neubauten im Bereich des heutigen Rathausplatzes und in anderen Stadtteilen belegen. In jener Zeit soll übrigens der heilige Florian, ein pensionierter Kanzleivorstand, von Aelium Cetium nach Lauriacum (heute Enns) aufgebrochen sein, um dort christlichen Gefährten beizustehen, die unter Diokletian verfolgt wurden.

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Ende des 5. Jahrhunderts scheint Aelium Cetium jedoch verlassen worden zu sein. Erst mit der Gründung eines Klosters nach 800 – der Legende nach durch die Brüder Adalbert und Ottokar – beginnt die Wiederbesiedlung der ehemaligen, nun in Ruinen stehenden Römerstadt. Die Grabungen

haben nicht nur Reste des mittelalterlichen Klosters zum Vorschein gebracht, sondern auch eine im 9. Jahrhundert unter Verwendung der Mauern des Badehauses errichtete Rundkirche – sie ist eine der ältesten in Niederösterreich. Im selben Jahrhundert wurde hier ein Friedhof angelegt. Somit ist am Domplatz der Nachweis des Beginns der mittelalterlichen Stadtwerdung gelungen. Um 1100 wurde die Klosterkirche – die heutige Domkirche – durch einen Neubau ersetzt und für die Bevölkerung geöffnet. Im südlichen Bereich entstand eine zweigeschossige Kapelle, deren Untergeschoss als Beinhaus diente, das Obergeschoß indes als Taufkapelle. Beide Sakralbauten wurden im Laufe des Mittelalters ausgebaut. Rund um die Gotteshäuser befand sich der im 9. Jahrhundert angelegte Stadtfriedhof, der ursprünglich das gesamte heutige Platzareal umfasste und teilweise noch unter die jetzige Bebauung reichte. Hier hat man die Gebeine von 22.380 Individuen ergraben, dokumentiert und anthropologisch untersucht. Damit besitzt St. Pölten ein Alleinstellungsmerkmal in Europa, wenn nicht sogar weltweit, und ein für die Forschung vieler Disziplinen unschätzbares Bioarchiv. Zwischen 1690 und 1692 wurde die Pfarrkirche abgerissen, 1779 der Friedhof und 1784 die zweigeschossige Kapelle aufgelassen. So entstand aus dem ursprünglichen Kirchenzentrum ein Platz, der im Laufe des 19. Jahrhunderts eingeebnet wurde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Markt vom Rathausplatz hierher verlegt. Dr. Ronald Risy

FOTOLEGENDEN 1 - Porträt der legendären Stifter Adalbert und Otakar, um 1700, Diözesanmuseum St. Pölten 2 - Ausgrabungen Domplatz, Taschensonnenuhr, Bein, hergestellt 1598, Grabbeigabe, Stadtmuseum St. Pölten 3 - Ausgrabungen Domplatz, Würfel, Bein, 15. Jh. n. Chr., Stadtmuseum St. Pölten 4 - Ausgrabungen Domplatz, mehrflammige römische Lampe, Keramik, 2./3. Jh. n. Chr., Stadtmuseum St. Pölten 5 - Hl. Florian, Fresko von 1954 in der Fuhrmanngasse, Innenstadt von St. Pölten

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“Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!”

hammam, and the bathing ritual was also similar. Some 9 metres south-east of the bath house, excavations revealed parts of a rectangular hall with a semicircular (apsidal) termination on the north side. Further chambers were connected to the west. In its first phase of construction, the hall had an internal width of 8.9 metres, although the north-south dimensions remain unknown. The hall and apse were considerably enlarged during a later phase of construction, resulting in a spacious area measuring approximately 18 by 12 metres. This type of hall, known as an aula, was mainly used for purposes of representation. Excavations in the southern part of Domplatz revealed the remains of a building that differed significantly in construction, dimensions, and interior layout from the (residential) buildings previously excavated in Aelium Cetium. Apparently, this building comprised a section with no less than nine contiguous chambers. These rooms were extensively equipped with underfloor heating, one of which terminated in an apse at the western end. It is likely that a lightweight-design hall was constructed on the east side. A 1914 photograph in the Stadtmuseum showing the excavation pit prior to the construction of the building at Herrenplatz 14 suggests that a similar structural tract may have existed to the west.

DOMPLATZ IS THE SECOND largest square in the city centre of St. Pölten. It covers an area of approximately 5,700 square metres. Between 2010 and 2019, extensive archaeological investigations were carried out in preparation for its redevelopment, in accordance with the Austrian Monument Protection Act. These efforts were then complemented by more focused,

4 construction-related surveys between 2020 and 2023. The excavations unearthed remarkable and at times astonishing finds from the Roman to early modern periods – discoveries that hold significance not only for the historical narrative of St. Pölten, but also for the whole of Lower Austria. They have also attracted considerable international attention. Current knowledge suggests that Emperor Hadrian founded the Roman city of Municipium Aelium Cetium near the present city centre shortly after 120 AD. A hallmark of Roman town planning was the systematic street grid, a feature that has survived to some extent in the

modern layout of St Pölten. Present-day Domplatz occupies the eastern part of what was once the Roman settlement. Digs in this area have revealed remains of Roman edifices and two internal roads dating from the 2nd and 3rd centuries AD. The structures were demolished towards the end of the 3rd century to make way for a multi-component architectural complex. Significantly, archaeological excavations in the northern part of Domplatz fully exposed a distinctive circular structure measuring approximately 16.5 x 17 metres. At its core was a circular chamber with a diameter of 5.6 metres. Adjacent to this central section were three chambers in the northern quadrant – rooms with underfloor heating, decorated with semi-circular recesses or apses – as well as further unheated rooms on the west, south and east sides. The latter were enclosed by an additional concentric wall structure. Evidence that the building was a bathhouse is provided by its location, the heated rooms (some of which have apses), remains of a drainage system and the inclusion of brick chippings in the mortar mix. Roman bathhouses followed a consistent layout: an unheated, cold bathing chamber, a room at a moderate temperature, a heated bathing chamber, and finally (though not always) a steam room. The temperature was probably like that of a Turkish

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parts of the city. Interestingly, it was at this time that St. Florian, a retired officer in the Roman army, is said to have set out from Aelium Cetium to Lauriacum (now Enns) to assist Christians who were being persecuted under Diocletian.

5 All the structures mentioned were part of a complex of at least 5,300 square metres, built no earlier than the late 3rd century AD. Uniquely designed bathhouses and aulae were mainly found in large villas, palatial estates and imperial residences. This particular architectural ensemble can be classified as an administrative complex, more precisely as the residence of the civil governor of the province of Noricum ripense (as opposed to the province of Noricum, which was divided up in the course of imperial reforms led by Emperor Diocletian). The spacious hall, like the bathhouse, where guests were received, was built to impress. Aelium Cetium entered a period of prosperity from the late 3rd century, as evidenced by renovations and new buildings in the area of the present Rathausplatz and other

FÜR DEN INHALT VERANTWORTLICH / RESPONSIBLE FOR THE CONTENT Tarun Kade Angelika Schopper Stefan Mitterer REDAKTION / EDITORIAL STAFF Thomas Brandstätter Susanne Haider TEXTE / TEXTS Dr. Ronald Risy Brigitte Huck Thomas Brandstätter GRAFIK / GRAPHIC DESIGN gebr.silvestri.nl DRUCK / PRINT robstolk®, Amsterdam ÜBERSETZUNG UND LEKTORAT / TRANSLATION AND PROOFREADING scriptophil. die textagentur FOTOS / PHOTOGRAPHS N.Gail © Museum am Dom, St.Pölten Christian Philipp Müller Rudi Molacek COVER FOTO / COVER PICTURE Vinzenz Höfinger

Nonetheless, Aelium Cetium seems to have been abandoned by the end of the 5th century. It wasn’t until a monastery was founded after 800 – by the brothers Adalbert and Ottokar, according to legend – that the onceruined Roman city began to see a resurgence in population. Excavations have revealed not only the remains of the medieval monastery, but also a round church built in the 9th century using the walls of the bathhouse, one of the oldest in Lower Austria. That same century saw the founding of a cemetery. And so Domplatz provided the first evidence of the emerging medieval town. Around 1100, the monastery church – where the cathedral now stands – was replaced by a new building and opened to the public. The southern section saw the development of a two- storey chapel, the lower floor of which was used as an ossuary while the upper floor served as a baptistery. Both sacral structures were enlarged during the Middle Ages. Surrounding the churches was the city cemetery, which was founded in the 9th century

and initially covered the entire area of the current square, extending partially under the current buildings. The remains of 22,380 individuals buried there have been unearthed, meticulously documented and anthropologically studied. The findings place St. Pölten in a unique position in Europe, if not the world, and provide an invaluable bio-archive for research across disciplines. The parish church was razed between 1690 and 1692, the cemetery was closed in 1779, the two-storey chapel was abandoned in 1784, and so the original ecclesiastical centre was eventually transformed into a square that was levelled throughout the 19th century. It was also towards the end of the 19th century that the market was moved from Rathausplatz to this location. Dr. Ronald Risy

PHOTO CREDITS 1 - Portrait of legendary founders Adalbert and Otakar, around 1700, Diocesan Museum of St. Pölten 2 - Domplatz excavations, pocket sundial, bone, made in 1598, funerary object, Stadtmuseum St. Pölten 3 - Domplatz excavations, dice, bone, 15th c. AD, Stadtmuseum St. Pölten 4 - Domplatz excavations, multi-flame Roman lamp, ceramic, 2nd/3rd c AD, Stadtmuseum St. Pölten 5 - St. Florian, fresco from 1954 in Fuhrmanngasse in the centre of St. Pölten


EIN BAD FÜR FLORIAN 30. September 2023 - Juni 2024 Am Domplatz in St. Pölten – dort, wo sich im 3. Jahrhundert n. Ch. in der römischen Stadt Aelium Cetium der Palast des Statthalters befand, genauer da, wo das Badehaus in diesem Palast platziert war, lässt Müller das Unsichtbare, Vergangene, einst Dagewesene wieder anwesend werden. Christian Philipp Müller hat den Geist nicht nur des Domplatzes, sondern der ganzen Stadt untersucht und dabei ihren einstigen römischen Stadthalter, den Heiligen Florian, in den Fokus gerückt. Die performative Skulptur Ein Bad für Florian besteht aus einer runden Bühne, die genau über dem einstigen Badehaus steht und in deren Mitte sich eine

AUF EINLADUNG DER TANGENTE St. Pölten gestaltet der international renommierte Künstler Christian Philipp Müller (1957 in Biel, Schweiz) eine skulpturale Intervention für den Domplatz: In seiner Arbeit Ein Bad für Florian geht er der St. Pöltner Stadtgeschichte auf den Grund, bringt verschüttete Elemente an die Oberfläche und verbindet Historisches mit Zeitgenössischem. Müller ist der vielleicht mitreißendste Vertreter jener Künstlergeneration, die in den 1990er-Jahren die Vorgaben der Conceptual Art um neue Dimensionen erweiterte. Sein künstlerisches Verfahren beinhaltet wissenschaftliche Recherchemethoden, Analyse und politisch orientiertes, kritisches Denken. Aus seinen Expeditionen in Kulturgeschichte und Alltag, den sozialen Raum und die Gesellschaft zieht er verblüffende Schlüsse und bietet statt müder Antworten

1 runde Ausnehmung in der Größe des Beckens befindet. Zwölf Elemente sind auf der Scheibe angeordnet wie auf dem Ziffernblatt einer Uhr. Acht davon am Außenrand laden mit Sitzflächen zum Verweilen und Betrachten ein, vier Obelisken am Innenrand markieren die Himmelsrichtungen und erinnern daran, dass St. Pölten als römische Stadt in einer Nord-Süd-Achse angelegt wurde. Alle genannten Elemente sind opak und aus einem modernen Baustoff hergestellt, während jener Obelisk, der den Norden markiert, aus Glas besteht und eine modern geschnitzte Figur des Heiligen Florian beherbergt. Ein von Christian Philipp Müller orchestrierter Einweihungsfestzug, eine Parade, schafft am 30. September 2023 ein neues Ereignis für das kollektive historische Gedächtnis der Stadt. Tradition und Gegenwartskunst treffen aufeinander, Feuerwehren, Blaskapellen und Vereine aus der Region marschieren auf und feiern einvernehmlich und gemeinsam die reiche Geschichte und die Gegenwart. Eine zweite große Parade am 4. Mai 2024, dem Florianitag, wird Teil der Eröffnungstage des neuen Festivals Tangente St. Pölten sein, dessen Vorbote Ein Bad für Florian ist. Eigens von Christian Philipp Müller designte Plakate werden diese beiden Großereignisse ankündigen. Thomas Brandstätter

in a celebration of both the city’s rich history and its vibrant present. Furthermore, on 4 May 2024, the feast day of St. Florian, a second prominent parade will act as a central focal point during the first days of the upcoming Tangente St. Pölten festival – for which Ein Bad für Florian (A Bath for Florian) serves as a precursor. Both events will be announced via posters specially designed by Christian Philipp Müller. 2 und kritischen Analyse. Er betritt die Nachbarländer Österreichs (meist zu Fuß) illegal über die grünen (unbewachten) Grenzen und macht daran Themen wie Nationalismus und Emigration „Good vibes“ herrschen zwischen fest. Die Bedeutung eines Kunstwerks, ergibt sich daraus, ist nicht dem Kosmopoliten Christian ausschließlich an seine materielle Philipp Müller und Österreich. Erscheinung gebunden, sondern Mit dem Land verbinden ihn nicht nur einflussreiche Galerien, lebt ebenso von sozialer Relevanz und der Spannung zwischen sondern auch freundschaftliche Form und Passion. Kontakte mit Künstlern, Kuratoren, der Kulturszene und zahllosen Verbündeten von der Gärt- An Christian Philipp Müllers vielleicht spektakulärsten Arbeiten nerin bis zum Feuerwehrmann. – es sind Prozessionen, Umzüge Sein Enthusiasmus ist ansteckend. Soziale Netzwerke entste- bzw. Paraden – können Auslöser, Ursachen und Motive für seine hen, ohne die kaum eine seiner konzeptuelle Neubewertung Arbeiten vorstellbar wäre. In von Skulptur, sein Verständnis Wien und Niederösterreich hat von Ortsspezifik und KommuniMüller außerordentliche Werke kation abgelesen werden. geschaffen, etwa seine Living Sculpture, Die Neue Welt im 2008 findet er vor den Toren der Park von Stift Melk (2006, verlassenen Manifattura Tabacchi Kunst im öffentlichen Raum (ehemals im Besitz des russischen Niederösterreich), den DreiSchwestern-Korridor (2017, BAT-Konzerns), einem der Ausklassisches Kunstobjekt – eine Balancierstange aus Eiche und Messing als Verweis auf Beuys respektive de Maria – werden im Museum Fridericianum gezeigt.

eine Fülle spannender Verweise – vom Gestern auf das Heute und retour. Mit kanonischen Ausstellungen in legendären Galerien und den Museen der Welt, mit exemplarischen Beiträgen für internationale Kunstereignisse wie Biennalen oder die documenta, mit präzise auf private und öffentliche Sammlungen zugeschnittenen Arbeiten legt Müller ein Werk vor, das Zeiten sowie natürliche und abstrakte Räume verflicht. Mit eindrücklichen Inszenierungen schreibt er wesentliche Kapitel des Genres Kontextkunst, das seit zahllosen Semestern die kunsthistorischen Seminare beherrscht. Wie aus dem Lehrbuch erscheint das Werk A Balancing Act, das der Künstler im Herzen Kassels, wo er Jahre später zum Rektor der Kunsthochschule berufen werden wird, für die zehnte Ausgabe der documenta 1997 ausführt. Er verknüpft Elemente wie historische Spuren, die Wahrnehmung des Publikums und seine Teilhabe am künstlerischen Prozess, das Begreifen von Skulptur als Handlungsform, die urbanen Gegebenheiten und ihre Präsentation in einer Ausstellung, trainiert mit einem Seiltänzer und schreitet auf einem knapp über dem Boden gespannten Seil die Strecke zwischen den legendären historischen Arbeiten von Joseph Beuys (7000 Eichen) und Walter de Maria (Der Vertikale Erdkilometer) am Friedrichsplatz in Kassel ab. Die Dokumentation des Ereignisses und ein

3 mumok, in Kooperation mit der evn sammlung) oder die Landund-Leute-Porträts The Family of Austrians (1993, Galerie Metropol) und Eine Welt für sich (1999, Galerie Georg Kargl). 1993 vertritt Müller sein Gastland Österreich gemeinsam mit Gerwald Rockenschaub und der USAmerikanerin Andrea Fraser auf der Biennale di Venezia. Ist es heute selbstverständlich, dass „staatsfremde“ Kunstschaffende die Länderpavillons in den Giardini bespielen, so war die Entscheidung des Kurators Peter Weibel damals so umstritten wie radikal und visionär. Auch künstlerisch war der österreichische Pavillon Avantgarde. Bereits bei Grüne Grenze ist für Müller Performance Skulptur und die performative Skulptur ein Instrument der Handlung

tragungsorte der Manifesta 7 in Rovereto im Trentino, eine ungeöffnete Zigarettenpackung der Marke Apollo Soyuz, die in der Sowjetunion für Philipp Morris produziert worden war. Darauf abgebildet ist die berühmte Apollo-Sojus-Mission von 1975, als Wissenschaftler ein amerikanisches und ein sowjetisches Raumschiff in der Erdumlaufbahn aneinanderkoppelten und die Astronauten von einer Rakete in die andere umsteigen konnten. Müller recherchiert das damalige politisch-pazifistische Signal und die Geschichte der Tabakmanufaktur. Er findet heraus, dass der futuristische Künstler Fortunato Depero 1936 einen Umzugswagen (Carro allegorico) für die Tabakfabrik entworfen hatte, der die künstlerischen Ideale der Futuristen in Form eines Panzers und der Folklore hatte, der die künstlerischen Ideale der Futuristen in

4 Form eines Panzers und der Folklore des Landstrichs verband. In Analogie zu dieser Arbeit veranstaltet Müller in Carro Largo den Umzug „Space Rendezvous“ auf einem Lastauto, der einen Trachtenchor und eine prächtige skulpturale Verkleinerung der aneinandergedockten Raketen an Bord hat und vom Bahnhof durch den Ort fährt. Die historische Stadt und ihre Fabrik, das legendäre Weltraum-Rendezvous und die Utopien von Kunst und Fortschritt arrangiert Müller zu einer so komplexen wie spielerischen Erzählung. Eine der glanzvollsten Paraden Müllers ereignete sich 2010 in der Steiermark für eine Ausstellung des Grazer Universalmuseums Joanneum in dessen Dependance, dem Schloss Trautenfels. Burning Love (Lodenfüßler) dreht sich um das traditionelle Material des Lodens und dessen Fabrikation sowie um die ästhetische Form alpenländischer Trachtenmode. Dabei verbindet Müller steirische Kulturgeschichte mit der amerikanischen Land Art: Er entwirft aus einer 50 m langen Bahn aus weißem Loden einen überdimensionalen Wetterfleck für 20 Personen, die ihre Köpfe durch 20 runde Löcher im Material stecken. Zu Christi Himmelfahrt, einem bedeutenden Feiertag im katholischen Kirchenjahr, schickt Müller sein Team auf eine 42 km lange Wanderung vom Produktionsort des Lodens zur Ausstellung im Schloss Trautenfels. Ein weißer Running Fence bewegt sich durch die obersteirische Landschaft, überbrückt Hügel und Täler, hält an Gaststätten und Märkten inne. Ein Video zeigt den kollektiv zurückgelegten Weg einer biegsamen Formation im Stil der Minimal Art, ein Tableau Vivant, das sich der Landschaft anpasst, verschwindet und wieder auftaucht. Brigitte Huck

EIN BAD FÜR FLORIAN A Bath for Florian, 30 September 2023 - June 2024 At Domplatz in St. Pölten, the very location where the magistrate’s palace of the Roman city Aelium Cetium stood in the 3rd century AD – more specifically, where its bathhouse once stood – Müller orchestrates a revival of the invisible, the past, and the previously extant, effectively bringing them back into the present. Müller’s new work explores the spirit not only of Domplatz but of the city as a whole, with a focus on its former Roman magistrate, St. Florian. The performative sculpture Ein Bad für Florian (A Bath for Florian) consists of a circular stage positioned precisely above the former bathhouse, with a central round cavity reflecting the size of the bathhouse pool. Twelve elements are arranged on the platform, positioned like the numbers on a clock face. Eight of these elements provide seating around the perimeter, inviting visitors to pause and reflect; four obelisks along the inner edge mark the points of the compass, recalling St. Pölten’s Roman origins and the fact that the city was arranged on a north-south axis.

its involvement in the artistic process; sculpture as a mode of action; urban dynamics and their presentation in an exhibition context. He trained with a tightrope walker and then walked a path on a rope suspended just above the ground, tracing with it the line between the iconic, historical works of Joseph Beuys (7000 Oaks) and Walter de Maria (The Vertical Earth Kilometer) on Friedrichsplatz in Kassel. Documentation Thomas Brandstätter of the event and a classic artwork – a balance beam made of oak and brass as a tribute AT THE INVITATION OF TANGENTE to Beuys and de Maria, respecSt. Pölten, internationally actively – featured at Museum claimed artist Christian Philipp Fridericianum. Müller (born 1957 in Biel, Switzerland) has conceived a sculptural “Good vibes” abound between intervention for Domplatz. the cosmopolitan Müller and Entitled Ein Bad für Florian Austria. His connection to the (A Bath for Florian), his creation country goes beyond exhibidelves into the annals of St. Pölten’s tions at influential galleries to urban history, unearthing hidden include warm relationships with elements and connecting the artists, curators, the cultural historical with contemporary milieu, and a multitude of allies aesthetics. ranging from gardeners to firefighters. His enthusiasm is Müller is arguably the most com- contagious. Social networks pelling figure in the generation emerge that would be hard of artists who pushed the bound- to imagine without his work. aries of conceptual art into unMüller has created a number charted territory in the 1990s. of memorable pieces in Vienna His artistic methodology encom- and Lower Austria, among them passes scholarly research, analy- his living sculpture Die Neue sis, and a politically inclined, Welt (The New World) on the critical mindset. Embarking on grounds of Melk Abbey (2006, journeys through cultural history Kunst im öffentlichen Raum and everyday life, investigating Niederösterreich); Dreithe social fabric and societal Schwestern-Korridor (Three constructs, he presents a trove Sisters Corridor, 2017, mumok, of engaging cross-references in collaboration with the evn in place of tired answers – from collection); and portraits capyesterday to today and back. turing the essence of the country and its people, such as The With canonical exhibitions in Family of Austrians (1993, Gallegendary galleries and reerie Metropol) and Eine Welt für nowned museums worldwide, sich (1999, Galerie Georg Kargl). groundbreaking contributions to international art events such Müller represented Austria at as biennials and documenta, the 1993 Venice Biennale along and works meticulously tailored with Gerwald Rockenschaub for private and public collections, and the American artist Andrea Müller’s body of work intricately Fraser. While it is now commonweaves together epochs, natural place for “foreigner” artists to and abstract realms. His striking occupy national pavilions on stagings and interventions have the Giardini, curator Peter Weiwritten key chapters in the histo- bel’s choice was as controversial ry of contextual art, a genre back then as it was radical and that has dominated art history visionary. The Austrian pavilion seminars for countless academic was also avant-garde in its artissemesters. tic approach. Müller’s Grüne Grenze (Green Border) provides An almost textbook example an early instance of the artist’s is the artist’s A Balancing Act, embrace of performance sculpa work Müller created for the ture and performative sculpture tenth edition of documenta in as instruments of action and 1997 in the heart of Kassel, where critical analysis. The piece docuhe would later become rector of ments the artist entering the art academy. The work finds Austria’s neighbouring counhim skilfully intertwining such tries illegally (mostly on foot) diverse elements as historical via the green (unmonitored) traces; public perception and borders in an evocative explora-

All these elements are rendered in an opaque, contemporary building material. A notable feature is the obelisk marking the north, which is made of glass and contains a modern, carved sculpture of St. Florian. On 30 September 2023, a grand opening procession organized by Christian Philipp Müller will herald a new event in the city’s collective historical memory. Tradition and contemporary art will come together as fire brigades, brass bands, and local clubs march together

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tion of nationalism and emigration. The result showed that the meaning of a work of art is not determined by its material manifestation alone; it has as much or more to do with the work’s social relevance and the interplay between form and passion. Christian Philipp Müller’s processions and parades, among his most spectacular works, offer insight into the catalysts, foundations, and driving forces behind his conceptual reappraisal of sculpture, as well as his grasp of site-specificity and communication.

cloth, as well as the aesthetic form of the alpine folk costume. Müller opted for a blend of Styrian heritage and American Land Art. Using a 50-metre-long piece of white loden cloth, he created an oversized, traditional alpine cape through which 20 people stuck their heads through round holes. On Ascension Day, an important date in the Catholic liturgical calendar, Müller sent his team on a 42 km hike from the loden’s production site to the exhibition at Schloss Trautenfels. A white, “wandering fence” could be seen traversing the Upper Styrian countryside,

6 In 2008, just outside the gates of the abandoned Manifattura Tabacchi (formerly owned by BAT, a Russian corporation), one of the venues for Manifesta 7 in Rovereto, Trentino, Müller stumbled across an unopened pack of Apollo-Soyuz cigarettes. The specialty brand had been manufactured in the Soviet Union by the American cigarette manufacturer Phillip Morris. The pack featured the iconic Apollo-Soyuz mission, a 1975 event in which American and Soviet spacecraft docked together in orbit, allowing astronauts to move freely from one rocket to the other. Müller delved into the political-pacifist signal and history of the tobacco factory. He discovered that the Futurist artist Fortunato Depero had designed a parade float (carro allegorico) for the tobacco factory in 1936 that combined Futurist artistic ideals (in the form of a tank) with the folklore of the local landscape. In direct analogy, Müller’s Carro Largo presents a “space rendezvous” of its own with a flatbed lorry conveying a chorus of people in traditional, regional dress and a magnificent sculptural representation of docked rockets, which were slowly driven from the city’s central station to the exhibition venue. Müller’s work ingeniously mingles aspects of the historic city and its factory, the legendary space event, and utopian concepts of art and progress into a narrative that is as complex as it is playful. One of Müller’s most splendid parades unfolded in Styria in 2010, as part of an exhibition organised by the Universalmuseum Joanneum in Graz for its castle annexe, Schloss Trautenfels. Entitled Burning Love (Lodenfüssler), the exhibition focused on the material and production of loden, the traditional raw wool

crossing hills and valleys, stopping at inns andmarkets along the way. A Minimal Art-style video documents the journey of this flexible formation, a tableau vivant that adapts to the landscape, disappears and reappears. Brigitte Huck FOTOLEGENDEN 1 - v.l.n.r. Christian Philipp Müller, Andrea Fraser und Gerwald Rockenschaub, privater Moment einer Fotosession in Wien mit Rudi Molacek für den österreichischen Pavillon, Venedig Biennale, 1993 2 - Christian Philipp Müller „Brennende Liebe (Lodenfüßler)“, Performance für regionale10, 2010 im Schloß Trautenfels, Österreich 3 - Christian Philipp Müller, „Space Rendezvous“ (Carro Largo), Performance für Manifesta7, 2008, in Rovereto, Italie 4 - Christian Philipp Müller, Entwürfe für „Ein Bad für Florian“, 2023 5 - Christian Philipp Müller, „aut vincere aut mori“, Performance und Ausstellung, 2016, Nidwaldner Museum, Stans, Schweiz 6 - Christian Philipp Müller, Werkstattbesuch bei der Holzschnitzerei Dolfi, 2023 in St. Ulrich, Italien PHOTO CREDITS 1 - f.l.t.r. Christian Philipp Müller, Andrea Fraser and Gerwald Rockenschaub: the private moment of a photo shoot in Vienna with Rudi Molacek for the Austrian pavilion at the Venice Biennale, 1993 2 - Christian Philipp Müller “Burning Love (Lodenfüssler)”, performance for regionale10, 2010, at Schloss Trautenfels, Austria 3 - Christian Philipp Müller, “Space Rendezvous (Carro Largo)”, performance for Manifesta7, 2008, in Rovereto, Italy 4 - Christian Philipp Müller, sketches for “A Bath for Florian”, 2023 5 - Christian Philipp Müller, “aut vincere aut mori”, performance and exhibition, 2016, Nidwaldner Museum, Stans, Switzerland 6 - Christian Philipp Müller, visit to the Dolfi woodcarving workshop in St. Ulrich, Italy, in 2023


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