360° Industrial Design_Leseprobe

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Arman  Emami

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industrial design Grundlagen  der  analytischen  Produktgestaltung


Impressum Autor: Arman Emami Text-Redaktion: Gunnar Wagner Gestaltung und Satz: Sagross Design Office GmbH, www.sagross.de Bildnachweise: Bilder Seite 105, 118, 119: Nico Hesselmann Bild Seite 25: Fotolia 5260351, Urheber: © Marc Dietrich Bild Seite 27: Fotolia 756506, Urheber: © Marc Dietrich Bild Seite 30: iStockphoto 12320623, Urheber: © blende64 Bild Seite 32: Fotolia 24862743, Urheber: © Lucky Dragon USA Bild Seite 33: Fotolia 45903204, Urheber: © tony85 Bild Seite 36: Fotolia 3189307, Urheber: © Miranda Salia Bild Seite 74: iStockphoto 27430110, Urheber: © Dimijana Bild Seite 74: Fotolia 51032270, Urheber: © Serg Zastavkin Bild Seite 74: iStockphoto 16337740, Urheber: © Bo1982 Bild Seite 79: iStockphoto 3551617, Urheber: © apsimo1 Bild Seite 110: Fotolia 16534038, Urheber: © Cpro

© 2014 by niggli Verlag, Sulgen, www.niggli.ch, ISBN 978-3-7212-0914-3


Gewidmet den Tr채umern mit Tatendrang

Arman Emami 360째 INDUSTRIAL DESIGN


Inhaltsverzeichnis Vorwort

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01 Idee Die Idee für die Idee Abstraktion Analytisches Denken Bionik Klischees brechen Designkonzept versus Lösung

07 08 08 09 09 12 13

02 Funktionalität und Usability Funktionalität Usability Effektivität Effizienz Praktikabilität Produktintegration im Alltag Kompaktheit Funktionskombination Leichte Reinigung Ergonomie Physische Ergonomie Anpassung am Durchschnitt Verstellbare Konstruktionen Flexible Lösungen Mentale Ergonomie

19 20 20 21 21 21 24 24 26 32 35 38 38 38 39 39

03 Ästhetik Form Harmonie Einheitlichkeit Proportionen Gestaltungsraster Reduzierung Symmetrie Asymmetrie Eindeutigkeit Regelmäßigkeit Bioästhetik Farbe Farbkombinationen Ton in Ton Farbklang Naturfarben Oberflächencharakter und Haptik

45 46 47 47 48 52 56 56 59 60 60 67 72 75 76 76 78 80


Haltbarkeit Authentizität Optische Täuschung Kunstnote

80 80 81 84

04 Material Mechanische Eigenschaften Festigkeit Härte Rockwell-Prüfverfahren Vickers-Prüfverfahren Shore-Härte Elastizität Dichte Chemische Eigenschaften Materialverarbeitbarkeit Ökologische Eigenschaften

87 88 88 91 91 92 94 97 100 101 102 103

05 Ökonomie und Ökologie Reduzierung von Materialaufwand Ideale Form Oberflächeneffizienz Ideale Statik Reduzierung des Produktionsaufwands Material Form Stückzahl Reduzierung der Einrichtungskosten Reduzierung der Montagekosten Nachhaltigkeit und Obsoleszenz Geplante Obsoleszenz Funktionelle Obsoleszenz Psychische Obsoleszenz Obsolete Obsoleszenz

107 108 108 111 114 120 120 121 121 123 123 124 124 125 125 125

06 Marketing Bedeutung einer Identität Definition eines CD Wiederholung Äquivalenz Charakter Produktcharakter im Einklang mit der Funktion Produktcharakter im Einklang mit der CI Produktcharakter im Einklang mit der Zielgruppe

129 130 134 134 134 135 135 136 136

07 Anhänge

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08 Glossar

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02 FunktioNAlität und Usability „Jede Designlösung muss sich täglich aufs Neue bewähren.“

„Gott lässt der Ziege den Schwanz nicht länger wachsen, als sie ihn brauchen kann.“ Deutsches Sprichwort


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02 Funktionalität und Usability

Die Frage, ob und wie Es gibt einen Unterschied zwischen „die richtigen Dinge tun“ und „die Dinge richtig tun“. Dass Produkte gut funktionieren und einfach zu benutzen sind, ist eine Grundvoraussetzung im Produktdesign. Darüber hinaus sollte ein neues Konzept nicht nur möglichst effektiv sein – sondern auch effizient.

Funktionalität Geht ja prima. Was zeichnet ein Produkt aus, das einen Anwender zufrieden macht? Zunächst einmal, dass es einwandfrei funktioniert. Ist das der Fall, ist es auch nützlich. Was wie selbstverständlich klingt, ist allerdings seltener, als man denkt. Funktional ist im Produktdesign immer dann etwas, wenn der Gegenstand eine bestimmte Aufgabe erfüllt. Wenn Föhne föhnen, Fahrräder fahren oder Rasierer rasieren, sind sie funktional. Die Frage, wie und mit welcher Qualität diese Funktion erfüllt wird, beantwortet der Aspekt der Usability. Auf Deutsch: die Gebrauchstauglichkeit.

Usability Der Grad der Nützlichkeit. DIN EN ISO 9241 Teil 11 ist kein wirklich gebrauchstauglicher Name. Dennoch definiert die Norm Gebrauchstauglichkeit. Sie ist demnach immer dann gegeben, wenn folgender Tatbestand erfüllt ist: „... indem ein Produkt oder eine Software bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend erfüllt.“ – Da die Zufriedenstellung des Nutzers das Resultat aus Effizienz und Effektivität und einiger weiterer Faktoren ist, können Sie das Wort „zufriedenstellend“ gleich wieder aus Ihrem Gedächtnis streichen. Merken Sie sich stattdessen lieber Praktikabilität. Doch dazu später mehr, vorher wollen wir uns kurz die beiden wichtigen Themen Effektivität und Effizienz ansehen.


02 Funktionalität und Usability

Effektivität Effektiv ist eine Sache immer dann, wenn man sein Ziel erreicht hat. Findet man zum Beispiel mitten in London einen Parkplatz, ist das effektiv. Hat man dafür zwei Stunden und zig Liter Sprit gebraucht, ist es allerdings wenig effizient. Im Unterschied zur Effizienz zählt bei der Effektivität allerdings nicht der Aufwand, der zur Erreichung eines Ziels nötig ist. Will man aus Designperspektive Effektivität beurteilen, so muss man etwas vorsichtig sein. Denn mangelnde Effektivität ist nicht immer das Resultat schlechter Gestaltung. Wenn zum Beispiel ein Rasierapparat nicht effektiv funktioniert, dann liegt das nicht zwingend an schlechtem Design. Es kann vielmehr technische Ursachen haben oder konstruktionsbedingt sein.

Effizienz Effizienz ist ein Goldenes Kalb, um das alle tanzen. Aus gutem Grund – bezeichnet sie doch das Verhältnis von Aufwand und Resultat. Sprich: Was ist notwendig, um ein Ziel zu erreichen, wie wirtschaftlich ist etwas, rechnet sich das? Je geringer der Einsatz ausfällt, desto effizienter wird ein Ergebnis erzielt. Aufwand meint dabei verschiedene Dinge. Wichtige Faktoren sind die Zeit, die Energie oder auch die Konzentration, die wir für eine bestimmte Sache investieren müssen, um etwas zu erreichen. Ein besonders übersichtliches Produktdesign zum Beispiel kann den Zeit- und Konzentrationsaufwand bei der Bedienung reduzieren und die Effizienz deutlich steigern.

Praktikabilität Was zeichnet ein gutes Handy aus? Sicher auch die Tatsache, dass es gut in die Tasche passt und nicht zu groß ist. Oder eine mobile Festplatte: Hier ist es nicht unerheblich, ob sie gegen Herunterfallen geschützt ist oder nicht. Solche Dinge lassen sich unter dem Punkt Praktikabilität zusammenfassen. Diese ist allerdings schwerer messbar als Effizienz und Effektivität; was praktisch ist, entscheidet jeder zu einem großen Teil subjektiv.

„Ideal bei Design ist eine Verbindung aus Effektivität und Effizienz.“


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02 Funktionalität und Usability

Generell ist zu sagen: Bei Praktikabilität handelt es sich um die Alltagstauglichkeit. Wichtige Punkte wie etwa die Kompaktheit, die Stapelbarkeit oder die Transportierbarkeit bestimmen, wie praktisch wir ein Produkt empfinden. Hohe Beständigkeit oder nützliche Zusatzfunktionen sind weitere wichtige Pluspunkte. Gerade für extravagantes Design schlägt in puncto Praktikabilität oft die Stunde der Wahrheit: Was nützt schon ein aufregend gestaltetes Produkt, wenn es zu sperrig ist oder zu empfindlich? Es ist schlichtweg unpraktisch.

Locko Outdoor-Wasserhahn Wasserhähne, die im Garten oder an öffentlich zugänglichen Plätzen installiert sind, bergen die Gefahr, dass sie durch z. B. Dritte geöffnet werden und das Wasser dadurch über längere Zeit unkontrolliert fließt. Das führt nicht nur zu unnötigem Wasserverbrauch, sondern kann auch große Wasserschäden verursachen. Locko nutzt einen Zahlenverschlussmechanismus. Er bietet somit eine nutzerfreundliche und praktische Lösung an, die sich technisch sehr gut umsetzen lässt.


02 Funktionalität und Usability

Steward Steward ist ein All-in-one-Mundpflegeset – die kompakte Einheit aus Zahnbürste, Zahncreme, Mundwasser und Zahnseide. Der Griff des Sets dient zur Aufbewahrung der Kapseln, die mit unterschiedlichen Pflegemitteln wie Zahnpasta oder Mundwasser gefüllt sind. Sie können genau wie Bürstenkopf und Zahnseidenspindel bei Bedarf einzeln aufgefüllt oder ersetzt werden. Bewusst wurde bei Steward auf eine kanten- und ritzenfreie Gestaltung geachtet, damit Ablagerungen von Zahnputzresten vermieden werden und das Pflegeset leicht zu reinigen ist.


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02 Funktionalität und Usability

NO K.O. NO K.O. ist ein Milchaufschäumer, der nicht nur gut aussieht, sondern auch ein Problem löst: Durch den Stehaufmännchen-Effekt kippt er nicht um, rollt nicht weg, beansprucht wenig Platz und hinterlässt immer einen aufgeräumten Eindruck. Aufgrund des halbrunden Stahlbodens mit tief liegendem Schwerpunkt bringt sich NO K.O. stets von selbst zurück in seine Standposition. Bei der Formgebung wurde bewusst auf eine kantenund ritzenfreie Gestaltung geachtet. So sieht das Gerät gut aus und macht zudem auch das Sauberhalten einfach.


02 Funktionalität und Usability

Farben und Material Angemessenes Äußeres. Ganz in Weiß gekleidet seinen Keller aufzuräumen ist ... nun, gelinde gesagt, unpraktisch. Auf Produkte übertragen, gilt das Gleiche. Die Bereiche, die mit Schmutz in Kontakt kommen, sollten speziell darauf abgestimmt sein. Dunklere Farbtöne absorbieren Verschmutzungen optisch und machen sie quasi unsichtbar. Möglichst ebene Oberflächen sorgen dafür, dass sich Schmutz oder Staub gar nicht erst absetzen können. Das Anbringen von zusätzlichen Beschichtungen kann zudem verhindern, dass Fremdpartikel in die Materialoberfläche eines Produktes eindringen und die Optik nachhaltig beeinträchtigen. Mit anderen Worten: Ein Produkt sollte nicht nur frisch vom Werk gut aussehen, sondern auch noch nach Jahren.

Ergonomie Produkte sollten komfortabel zu nutzen sein. Die Ergonomie sorgt als Wissenschaft für eine Optimierung der Bedienbarkeit von Geräten. Das Wort kommt von ergon (griechisch für Arbeit, Werk) und nomos (griechisch für Gesetz, Regel). Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Produkte für uns Menschen produziert werden und nicht umgekehrt, sollte es logisch sein, dass die Geräte an unsere Bedürfnisse angepasst werden – und nicht andersherum. Bei vielen Produkten hat man diesen Eindruck jedoch leider überhaupt nicht. Warum? Entweder werden die Aspekte der Ergonomie gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt oder die Produkte werden schlicht und einfach auf die „breite Masse“ ausgerichtet, da eine feinere Abstimmung wirtschaftlich nicht lukrativ genug erscheint. Schlechte Zeiten für Individualisten also ... Da der Mensch nicht nur aus Fleisch und Blut besteht, sondern auch einen Geist sein Eigen nennt, muss die Ergonomie in zwei Arten eingeteilt werden – eine physische und eine mentale.



03 Ästhetik „Ästhetik ist die Poesie der Formensprache.“

„Schönheit wird die Welt erlösen.“ Fjodor Dostojewski aus dem Roman „Der Idiot“


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03 Ästhetik

Über Geschmack streiten Liegt Schönheit wirklich im Auge des Betrachters? Oder ist Schönheit universell definiert? Ist Schönheit relativ oder absolut? Vieles deutet darauf hin, dass Schönheit in der Natur unabhängig von unserer persönlichen Wahrnehmung existiert; sie ist also viel weniger subjektiv als vielfach angenommen. In der Natur macht alles Sinn: Welchen Sinn macht dann Schönheit, welche Funktion hat sie? Laut Evolutionstheorie erstrebt die Materie Vollkommenheit. Ist Schönheit also ein Mittel zur Entwicklung, ein notwendiges Rad im Uhrwerk der Natur, um Vollkommenheit anzustreben? Und warum sind wir alle so fasziniert und besessen von ihr? Warum laufen wir Schönheiten wie ferngesteuert und hypnotisiert hinterher? Könnte unsere Welt nicht auch etwas grauer funktionieren? Welche Intelligenz auch hinter den Kulissen stehen mag, sie hätte die Welt viel pragmatischer gestalten können. Im Grunde genommen braucht die Funktionalität die Schönheit nicht, die Welt hätte auch absolut logisch, aber unschön, funktionieren können. Aber warum existiert Schönheit? Und weshalb hat sie so viel Gewicht in unserem Leben? Eine mögliche Erklärung: Schönheit ist kein Mittel zur Entwicklung, sondern ein Teil der angestrebten Vollkommenheit. Sie ist objektiv, universell, übermenschlich. Gegebenheiten wie Symmetrie oder Goldener Schnitt sind nicht Ansichtssache, sondern gehören zur Natur genau wie Anziehungskraft oder Schallwellen. Natürlich spielen auch persönliche Faktoren eine Rolle, wenn es um Schönheit geht. Jeder hat einen eigenen Geschmack, und der ist eindeutig subjektiv. Was man als schön definiert, hängt unter anderem ab vom persönlichen Werdegang, dem sozialen Umfeld oder den biologischen Fähigkeiten. Jemand, der farbenblind ist, sieht die Welt etwas anders als eine Person, die das Farbspektrum in den feinsten Nuancen unterscheiden kann. Wer gern Maßanzüge trägt, wird mit zerrissenen Jeans seine Probleme haben. Das Schönheitsideal der Menschen variiert. Aber wenn wir versuchen, die persönliche Brille abzulegen, finden wir einen gemeinsamen Nenner – und dann lohnt es sich vielleicht doch, über Geschmack zu streiten.

Form Im Alltag sind der Kreativität eines Produktdesigners bestimmte Grenzen gesetzt. Zum einen bestimmt die Funktion die Form in starkem Maße. Außerdem schränkt das Produktionsverfahren den Spielraum weiter ein. Aber lassen Sie uns doch einmal kurz diese Fesseln beiseitelegen und nur die Ästhetik betrachten. Welche elementaren Grundregeln sind zu berücksichtigen?


03 Ästhetik

Harmonie Zusammenhänge aufzeigen. Die Komposition eines neuen Produktes ist wie das Erschaffen visueller Musik. Kann man zwischen den Tönen Verknüpfungen herstellen, erscheint uns etwas harmonisch. Ähnlich verhält es sich mit der Optik. Die visuelle Wahrnehmung beim Menschen funktioniert nach folgendem Prinzip: Unsere Augen liefern dem Gehirn ständig neue Informationen, die Reizflut wird selektiert, Wichtiges wird von Unwichtigem getrennt. Ohne diese Filterung wäre unser Hirn – und damit wir – hoffnungslos überlastet. Die selektierten Informationen werden anschließend in einer Art „Erinnerungs-Datenbank“ mit bereits bekannten Konstrukten abgeglichen. Wir verstehen einen gesehenen Gegenstand, und vor unserem geistigen Auge entsteht ein Abbild der Form. Was wir sehen, ist deshalb keine Wirklichkeit, sondern nur unsere Vorstellung von der Wirklichkeit. Je besser sich die Form von unserem Gehirn analysieren lässt, desto angenehmer wird dieser Prozess empfunden. Zu viele Details, unproportionale oder unbekannte Formen erschweren die Rekonstruktion. Dadurch wirken solche Gestaltungen auf uns unangenehm und unharmonisch. Entdeckt das Gehirn bei einer Form jedoch logische Zusammenhänge und wird es nicht mit unnötigen Details belastet, fällt die Rekonstruktion leichter. Als Folge wirkt die Form auf uns harmonischer, wir schauen sie lieber an. Optimal ist also, einen Gegenstand so zu gestalten, dass er für das Gehirn „leicht verdaulich“ ist. An dieser Stelle einige Empfehlungen, mit welchen Mitteln sich harmonische Gestaltungen entwickeln lassen:

Einheitlichkeit Je weniger Formen, desto besser. Ob identische Radien, gleich große Bedienelemente oder ähnliche Faktoren: Sie erleichtern dem Gehirn die visuelle Wahrnehmung einer Produktgestaltung.

„Es ist verblüffend, wie vollendet die Illusion ist, Schönheit für Tugend zu halten.“ Nikolajewitsch Leo Tolstoi


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03 Ästhetik

Proportionen „Vollkommenheit kann mit Disproportion bestehen, Schönheit allein mit Proportion.“ Johann Wolfgang von Goethe

Das Gehirn belohnen. Ob Sie es wollen oder nicht: Beim Betrachten von Objekten analysiert Ihr Hirn unbewusst die mathematischen Verhältnisse zwischen den Komponenten. Die Komposition wird entweder als durchdacht bewertet, die Teilung einzelner Strecken als harmonisch – oder auch nicht. In sich schlüssige Proportionen „erfreuen“ also eigentlich nicht das Auge, sondern unser Hirn. Der Goldene Schnitt. Der idealen Formel, um Formen miteinander ins Verhältnis zu setzen, ist die Menschheit schon seit einer halben Ewigkeit auf der Spur. Dass sich die Suche lohnt, zeigt unter anderem der Goldene Schnitt. Bereits in der Antike um 300 v. Chr. lieferte der griechische Mathematiker Euklid von Alexandria erstmals Beschreibungen zu diesem Prinzip. Der mit einem beeindruckenden Namen ausgestattete franziskanische Mönch Luca Pacioli di Borgo San Sepolcro bezeichnete den Goldenen Schnitt gar als Göttliche Teilung. Die erste konkrete Berechnung wird dem Tübinger Professor Michael Maestlin zugeschrieben. Im Jahre 1597 definierte er den Goldenen Schnitt in einem Brief an seinen Exschüler Johannes Kepler als einen Wert von „ungefähr 1,6180340“. Doch weil alle Theorie grau ist, verleihen wir ihr einfach etwas Farbe. Stellen Sie sich vor, Sie sollen einen Stab färben: einen Teil orange und einen Teil grau.

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Wann wirkt das Verhältnis zwischen den beiden Strecken in seiner Gesamtheit für Sie besonders harmonisch?


03 Ästhetik

Dasselbe Prinzip gilt auch für dreidimensionale Formen. Die Krümmung einer Fläche im Raum lässt sich analysieren, indem man die Kurven innerhalb dieser Fläche untersucht. So lassen sich Aussagen über die Optik und die Haptik von gewölbten Flächen treffen, die ebenfalls als harmonisch empfunden werden, wenn die Krümmungen einer gewissen Regelmäßigkeit unterliegen. Wie immer gilt aber auch: Ausnahmen bestätigen die Regel. Sparsam und sinnvoll eingesetzt, kann ein unerwarteter Bruch innerhalb einer Form ganz gezielt die Aufmerksamkeit auf das Design ziehen und gerade durch seine Unregelmäßigkeit Akzente setzen. Anders formuliert: „Manchmal ist es nötig, die Regeln zu brechen und einen Knick zu machen!“

Bioästhetik Natürliche Schönheit ist unschlagbar. Während die Bioästhetik in der Natur in erster Linie technische Aspekte untersucht, widmet sich die Bioästhetik ästhetischen Fragen. Sie erforscht die Schönheit natürlicher Organismen, ihre Gesetzmäßigkeiten und Harmonien – mit dem Ziel, die Erkenntnisse für Produkte nutzbar zu machen. Oft genug muss man anerkennen, dass wir auf der Erde durch eine „Dauerausstellung“ in Sachen exzellentes Design wandeln. Es müssen nicht immer Blumen sein, die als Vorbild für gute Gestaltung dienen. Schaut man etwas genauer hin, entdeckt man oft Verblüffendes: Auch das seidenmatte Finish und der harmonische Kurvenverlauf eines Kakerlakenflügels kann Inspirationen für Produktgestaltung liefern. Kurvenverläufe, Oberflächencharakter, Struktur, Farbkombination oder die Komposition und Relation der einzelnen Bestandteile eines natürlichen Organismus sind häufig ideale Designvorlagen. Dabei ist „schön“ oft viel mehr als „schön“ – Schnittmengen zwischen Bionik und Bioästhetik sind keine Seltenheit, das Prinzip „Form follows function“ gilt auch in der Natur. Harmonische Proportionen sind also nicht nur angenehm, sie funktionieren auch besser. Zum Beispiel haben viele Fischarten eine sehr harmonische Form, die im Wasser einen besonders geringen Widerstand leistet, weswegen der Körper von Fischen als Vorbild zur Gestaltung von U-Booten und Schiffen dient. Davon abgesehen kann man im Design mehr oder weniger subtil mit den Assoziationen spielen, die wir mit natürlichen Formen haben: So diente der schnittige Körper eines Hais als Vorlage für die Sportwagenstudie Corvette Mako Shark; die Kraft, Geschwindigkeit und Wendigkeit, die der Betrachter mit einem Hai verbindet, überträgt sich auf das Autodesign.


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03 Ă„sthetik


03 Ästhetik

PowerFlower Immer der Sonne nach. Die Minisolarstation lädt Elektrogeräte besonders effizient: Der facettierte Sensor in der Mitte der Station ermittelt die optimale Sonneneinstrahlung und richtet die Station danach aus. Das Prinzip ist Sonnenblumen abgeschaut, die sich von morgens bis abends effizient nach der Sonne ausrichten. PowerFlower nutzt so Erkenntnisse aus der Bionik – da das Design der Solarstation einer Blume nachempfunden ist, kommen auch Erfahrungen aus der Bioästhetik zum Einsatz.



05 Ökonomie und Ökologie „Viele kleine Tropfen bilden das groSSe Meer.“ Persische RedeWendung

„Wir haben alle als Kinder rechnen gelernt, wozu?“ Erich Fried


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05 Ökonomie und Ökologie

Das doppelte Ö Ökonomie und Ökologie werden häufig als zwei Gegensätze gesehen. Doch stellt sich die Frage, ob man hier nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Eine durchdachte Gestaltung, die zur Reduzierung des Materialaufwands führt, spart Kosten, entlastet die Umwelt und schont Ressourcen.

Reduzierung von Materialaufwand Die Verantwortung der Produktdesigner ist groß. Gerade wenn es um hohe Stückzahlen geht, summieren sich auch kleinste Mengen zu beachtlichen Zahlen. So machen zum Beispiel 10 g unnötig verwendetes Material bei einer Serienproduktion von 100.000 Stück einen Materialverlust von 1 t aus! Dabei gibt es einfache Methoden, die den Materialaufwand reduzieren, ohne dass es zulasten der Stabilität und Langlebigkeit geht.

Ideale Form Stellen Sie sich bitte vor, Sie müssen für ein Unternehmen, das Ravioli produziert, eine Blechdose gestalten. Diese soll ein vorgegebenes Volumen haben – sagen wir 0,5 l. Außerdem soll diese Dose produktionsbedingt die Form eines Zylinders besitzen. Es gibt fast unendlich viele Möglichkeiten, diese Aufgabe zu realisieren. So kann die Dose zum Beispiel breit und flach gestaltet werden oder aber schmal und dafür besonders hoch. Alle drei Zylinderformen in der Grafik fassen das vorgegebene Volumen von 0,5 l. Dabei hat die mittlere Form die geringste Oberfläche und daher den geringsten Materialverbrauch. Im Gegensatz zu den beiden Alternativen ist für die mittlere Dose rund 20 % weniger Material nötig. Sicher macht das bei einer einzelnen Dose lediglich ein paar Gramm aus. Aber bei einem Produktionsvolumen von einer Million Ravioli-Dosen pro Jahr kommen schnell ein paar Tonnen Metall zusammen.


05 Ökonomie und Ökologie

Die höchsten Momentkräfte treten in der Bügelmitte auf.

Moment [Nmm] f

f

1000

0

l/2

l (Bügellänge)

Der Bügel muss die Belastung der Garderobe aushalten, die an ihm befestigt wird. Die Art der Kleidung ist sehr unterschiedlich – und vor allem unterschiedlich schwer. Neben luftig leichten Sommerkleidern mit einer durchschnittlichen Schulterbreite von nur 30–40 cm muss unser Bügel auch schwere Wintermäntel tragen. Um also unangenehme Überraschungen zu vermeiden, sollten wir stets von dem Extremfall ausgehen. Wenn man sich die Kräfteverteilung in der Grafik ansieht, stellt man fest, dass die höchsten Momentkräfte in der Bügelmitte auftreten. Besitzt das Material an dieser Stelle nicht genügend Biegefestigkeit, versagt der Bügel. Er verformt sich oder schlimmer – er bricht. Natürlich können wir das Problem durch den Einsatz festerer Materialien oder durch eine große Materialstärke lösen. Aber davon einmal abgesehen: Wie lässt sich der Materialeinsatz durch eine ideale Form reduzieren? Um die Auswirkung der Gestaltung auf die Stabilität plastisch darzustellen: Nehmen Sie einfach ein Plastiklineal in die Hand und versuchen Sie, es in Längsrichtung zu biegen. Besonders einfach geht das, wenn die Kräfte auf die flache Seite wirken, das Lineal biegt sich ohne großen Aufwand. Dreht man es um 90°, sieht das schon erheblich anders aus: Es ist so gut wie unmöglich, das eben noch instabile Lineal zu verbiegen.

f

f

f f

a b

b f

S1

a f

S2

Wirken Kräfte auf die flache Seite eines Plastiklineals, gibt es schneller nach, als wenn sie auf die schmale Seite treffen.


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05 Ökonomie und Ökologie

Dieses einfache Beispiel zeigt, welche große Rolle Geometrie bei der Stabilität eines Produktes spielt. Das gleiche Material mit der gleichen Wandstärke verändert seine Stabilität mit der Richtung der wirkenden Kräfte um ein Vielfaches. Auf unseren Kleiderbügel angewandt, bedeutet das Folgendes: f

f

a

f f

b

Ein flacher Bügel würde schnell verbiegen; dreht man das Material um 90°, wird er viel stabiler. Form b bietet sich für einen Kleiderbügel eindeutig an, aber auch sie ist noch nicht ideal. Laut unserem System tritt die größte Belastung in der Mitte des Bügels auf. Das Gewicht der Kleidung, eines schweren Wintermantels zum Beispiel, übt hier eine besonders große Hebelwirkung aus. Die nach außen geringer werdenden Kräfte bieten also noch erhebliches Einsparpotenzial: An den Spitzen des Bügels kann der Materialeinsatz deutlich reduziert werden.


05 Ökonomie und Ökologie

c

Der Bügel wird an den Außenseiten weniger belastet. Weniger Krafteinwirkung erfordert weniger Material. Die erhaltene Form c kommt der idealen Form schon ziemlich nahe. Aber, wie könnte es anders sein, auch sie hat noch einen Nachteil. Zwar ist sie sehr stabil, sie verbraucht am wenigsten Material und lässt sich z. B. einfach aus dünnem Blech produzieren. Was allerdings fehlt: breitere Trageflächen im Schulterbereich. Durch sie verteilt sich die Last der Kleidung und die Garderobe wird nicht durch scharfe Kanten beschädigt. Hier kommt wieder Form a ins Spiel: Sie erinnern sich, sie war zwar nicht sonderlich stabil, dafür bietet sie der Kleidung eine breite Auflagefläche. Also kombinieren wir einfach die Vorteile der zwei Formen: Aus Form a und Form c wird durch einen kleinen Dreh die nahezu ideale Form d. Die Mitte des Bügels bietet nun die erforderliche Stabilität, und der Schulterbereich verfügt über komfortable Trageflächen. Zudem lässt sich solch ein Kleiderbügel einfach und äußerst ressourcenschonend aus extrem dünnen Materialien herstellen. Trotz seiner filigranen Form hält er dank intelligenter Statik selbst schwerste Mäntel aus. Ein zusätzlicher praktischer Effekt: Der Bügel ist bequem stapelbar und spart dadurch Platz bei der Lagerung und beim Transport.

d


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05 Ă–konomie und Ă–kologie

Swan Durch die Drehung ist der BĂźgel stabil und komfortabel, das Material wird perfekt ausgenutzt, Form und Statik sind ideal.


08 Glossar

Wichtige Grundlagen im Überblick Idee

Innovation Neuheit Notwendigkeit Produzierbarkeit Vermarktungspotenzial

Funktionalität

Effektivität Effizienz Praktikabilität Einklang mit den Umgebungsprodukten Physische Ergonomie Mentale Ergonomie

Ästhetik

Einheitlichkeit Proportionen Gestaltungsraster Symmetrie Eindeutigkeit Regelmäßigkeit Farbkombinationen Materialkombination Produktgrafik und Typografie Oberflächencharakter und Haptik Authentizität Produktionsqualität

Ökonomie und Ökologie

Materialwahl bezogen auf Ressourcen Materialwahl bezogen auf Energieverbrauch Materialwahl bezogen auf Belastung und Funktion Materialwahl bezogen auf Umweltverträglichkeit Materialeffizienz bezogen auf Geometrie Materialeffizienz bezogen auf Statik Produktiosaufwand bezogen auf Form und Material Produktiosaufwand bezogen auf notwendige Montageschritte Health-Rate Nachhaltigkeit und Obsoleszenz

Marketing

Äquivalenz und Einheitlichkeit Eigenständigkeit Produktcharakter im Einklang mit der Marke Produktcharakter im Einklang mit der Funktion Produktcharakter im Einklang mit der Zielgruppe Emotionalität


16x red dot design award | Design Zentrum Nordrhein-Westfalen 2014 supraGuide ECO | 2014 supraGuide MULTI | 2013 File/it | 2013 Milli | 2013 Locko 2012 IVDR Verbatim | 2012 USB Kingston | 2012 Square HDD | 2012 Mobile SQ | 2012 Digipipe 2012 Handycan | 2012 Loopo | 2012 Art Detector | 2010 Neolog OS | 2009 Steward 2006 Neolog A24 II

3x red dot design award – best of the best | Design Zentrum Nordrhein-Westfalen 2013 Zipper | 2010 USB-Clip | 2009 USB-Clip

5x iF design award | International Design Forum 2013 Data Traveler | 2012 Hard SQ | 2011 Neolog OS | 2011 Neolog OS Packaging | 2009 Neolog Europe Internetpräsenz

2x iF design award gold | International Design Forum 2012 Mobile SQ | 2012 Hard SQ

2x GOOD Design Award Japan | G-Mark JIDPO 2010 USB-Clip | 2006 Neolog A24 II


11x GOOD Design Award USA | Chicago Athenaeum Museum of Architecture and Design 2012 Zipper | 2012 Locko | 2012 Freecom SQ Mobile Drive | 2011 Milli Motal and Pestle 2011 Loopo USB Flash | 2011 Timeout Glove | 2010 Neolog OS | 2010 USB-Clip 2009 NO K.O. | 2006 Cha Cha

3x Designpreis Deutschland | Rat für Formgebung German Design Council 2014 Zipper | 2014 supraGuide ECO | 2013 USB-Clip

11x Designpreis Deutschland – Nominierung | Rat für Formgebung German Design Council 2014 supraGuide MULTI | 2013 Loopo | 2013 Timeout Glove | 2013 Sq hard drive 2012 USB-Clip | 2011 NO K.O. | 2011 USB-Clip | 2011 Neolog Europe Internetpräsenz 2010 Neolog OS | 2009 Cha Cha 2007 Neolog A-24 II

2x Focus Open | Internationaler Designpreis Baden-Württemberg 2011 Neolog OS | 2011 USB-Clip


Arman Emami hat EMAMIDESIGN 2005 gegründet. Er leitet das Büro in Berlin-Mitte. Er entwickelte in der Zeit über 41 Produkte, 23 Patente und wurde für seine kreativen Designs 54-fach international ausgezeichnet. Emamidesign liegt auf dem ersten Platz des internationalen red-dot-Rankings der Designagenturen für die besten Designkonzepte. www.emamidesign.de



360° industrial design Das Buch liefert eine Gesamtübersicht der wichtigsten Bereiche, die für Produktgestaltung relevant sind. Schrittweise wird die Entwicklung von der Idee bis zur Serienproduktion analysiert und mit passenden Beispielen belegt. Ein praxisorientierter Ratgeber nicht nur für Designstudenten und junge Designer, sondern auch für kreative Querdenker, Produkt- und Marketing-Manager und alle diejenigen, die sich für intelligentes Design interessieren. Die Inhalte sind unterhaltsam und leicht verständlich geschrieben, denn wie Albert Einstein schon sagte: „Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher.“

ISBN 978-3-7212-0914-3


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