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DAS FACHMAGAZIN DER DEUTSCHSCHWEIZER GESELLSCHAFT FÜR TRANSAKTIONSANALYSE

Diversität · Perfekt!

NR. 1 | 2020/2021


Wir im Kontakt Professionalisierung in Transaktionsanalyse Organisation und Beratung Ausbildung auf allen Stufen

EINFÜHRUNG IN TRANSAKTIONSANALYSE (TA101) Beziehung – Kommunikation – Persönlichkeit − Ichzustände und Transaktionen − Psychologische Spiele − Lebensskript ➜ 2.5 Tage

LEHRGANG IN TRANSAKTIONSANALYSE Für Menschen, die mit Menschen arbeiten in Beratung, Führung, Pflege, Bildung, Leitung… − Grundlagen und praktische Anwendung der TA − Entwicklung von persönlichen, sozialen und fachlichen Kompetenzen − Training in Coaching, Beratung und Gesprächsführung ➜ 20 Tage pro Ausbildungsjahr ➜ in Zürich und Winterthur Aktuelle Daten und Informationen unter www.ebi-zuerich.ch. Besuchen Sie uns! WWW.EBI-ZUERICH.CH

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Leitung Maya Bentele TSTA-OC

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Martin Bolliger

KULTURELLE KOMPLEXITÄT IST NICHT DIE AUSNAHME, SONDERN DER STANDARD Im Herbst 2019 haben wir im DSGTA Vorstand beschlossen, unsere verschiedenen Informationskanäle in Teilen zu digitalisieren. Im Oktober 2019 habt Ihr das letzte "info" in gedruckter Form per Post erhalten. Inzwischen sind fünf digitale Newsletter erschienen. Und fast jeden Monat gab es einen spannenden Artikel auf unserer Website: im 1. Halbjahr 2020 zum Leitthema "Diversity", im 2. Halbjahr zu "Perfekt!". Wie seid Ihr mit dieser Vielfalt zurecht gekommen? Konntet Ihr Euch die Zeit nehmen, neben dem Newsletter auch die Artikel zu lesen? "Kulturelle Komplexität ist nicht die Ausnahme, sondern der Standard." lese ich im Artikel "TA in Diversity-Mediationen". Ein weiterer Autor erkennt im gutschweizerischen "Röstigraben" "eine Goldgrube für Diversity-Erfahrungen."

"Nicht perfekt ist perfekt genug"! So der Titel eines "Perfekt!" Artikels. Wenn wir uns diese Erkenntnis erlauben, haben wir viel verstanden. Dass unsere Antreiber uns sehr gute Dienste leisten, solange sie nicht "zu Sklaventreibern mutieren", ist eine weitere wichtige Erkenntnis. Und wie liest sich ein Artikel, "der superkalifragilistigexpialigetisch ist"? An soviel Humor habe ich meinen Spass - und die Autorin auch. Um einmal im Jahr etwas richtig Gedrucktes in Händen zu halten, auf die Schnelle durchzublättern, oder in Ruhe nachlesen zu können: genau dafür haben wir Euch die Artikel in diesem ersten Sammelband zusammengestellt. Wir wünschen Euch viel Freude und Spass am entspannten Blättern und Lesen.

Martin Bolliger, DSGTA-Präsident

Editorial | 3


IMPRESSUM Herausgeberin DSGTA, Postfach 3603, 8021 Zürich Auflage 900 Exemplare Erscheinungsdatum März 2021 Erscheint jährlich Redaktion redaktion@dsgta.ch Angaben Inserate / Werbebanner * Grosses Printinserat (1 Ausgabe pro Jahr) | 90x125 mm hoch (pdf) | 650.- CHF ° Kleines Printinserat (1 Ausgabe pro Jahr) | 90x60 mm quer (pdf) | 425.- CHF * Grosses Inserat pdf-Artikel digital (für 1 Jahr) | 90x125 mm hoch (pdf) | 650.- CHF ° Kleines Inserat im pdf-Artikel digital (für 1 Jahr) | 90x60 mm quer (pdf) | 425.-CHF

ERINNERUNG

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Es besteht immer wieder Unsicherheit in der Anwendung von Titeln in verschie­ denen Ausbildungsstadien der Transak­ tionsanalyse. Laut EATA dürfen folgende Bezeich­nungen verwendet werden: • nach bestandenem Examen: geprüfte(r) TransaktionsanalytikerIn oder Certifizierte(r) Transaktions­ analytikerIn oder schlicht Trans­aktions­ analytikerIn oder ganz korrekt TransaktionsanalytikerIn CTA-P TransaktionsanalytikerIn CTA-C TransaktionsanalytikerIn CTA-E TransaktionsanalytikerIn CTA-O • mit Vertrag: in fortgeschrittener Ausbildung in Transaktionsanalyse • mit Bestätigung Praxiskompetenz: Praxiskompetenz in Transaktions­ analyse, z.B. BudgetberaterIn mit Praxis­kompetenz in Transaktions­ analyse

4 | Impressum

Änderungen vorbehalten Weitere Angaben: redaktion@dsgta.ch Gestaltung Mediamacs KG, 39100 Bozen, Südtirol, Italien Druck Schmid-Fehr AG, 9403 Goldach Für die Redaktion Isabelle Thoresen Sämtliche Fachartikel sind online verfügbar unter www.dsgta.ch


INHALT

artikelmärz20 Die kleinen Unterschiede – Transaktionsanalyse in DiversityMediationen Jule Endruweit und Katharina Stahlenbrecher 06 artikelapril20 Die inklusive Schule: Verschiedensein und dazugehören Eva Bobst 12 artikelmai20 Der Röstigraben – eine Goldgrube für Diversity-Erfahrungen Franz Liechti-Genge 18 artikeljuni20 Komplexität durch Diversity – Was bedeutet das für die Führung von Organisationen? Maya Bentele 23 artikelseptember20 Nicht perfekt ist perfekt genug Jürg Bolliger 28

artikeloktober20 Das perfekte Gefängnis Dasa Szekely 34 artikelnovember20 Perfekt oder schnell: Wem gehört die Welt Armin Ziesemer 40 artikeldezember20 „Sei perfekt!“ – Wie uns ein kleiner Antreiber das Leben ganz schön schwer machen kann. Dr. Angelika Marighetti 46 artikeljanuar21 Eine warme Wohlfühl-Dusche statt perfekt sein zu müssen – vom Umgang mit einem fiesen Antreiber Monique Naef 53 artikelfebruar21 Ich entscheide mich – Fragen an eine Grundannahme Identität als soziale Konstruktion Peter Rudolph 59

Inhalt | 5


DIE KLEINEN UNTERSCHIEDE

Transaktionsanalyse in Diversity-Mediationen Der Kerngedanke des Konzepts Diversity ist, dass Vielfalt die Normalität ist. Das klingt lapidar und hat gleichzeitig zahllose Implikationen: Wenn Vielfalt die Normalität ist, bin auch ich Teil der Vielfalt. Nicht allein das Gegenüber ist „anders“, auch ich bin "anders". Und die kleinen Unterschiede können große Wirkung entfalten - besonders im Konfliktfall. Sie können selber Inhalt des Konfliktes sein oder die Konfliktdynamik befeuern. Der Vielfaltsbegriff von Diversity beschränkt sich nicht auf sichtbare Eigenschaften, sondern umfasst auch unsichtbare Unterschiede wie Eigenschaften, Verhalten und Vorlieben. (Thomas 2001, S.38f.) In unseren Mediationen hat diese Erkenntnis Auswirkungen auf unser Verständnis von Konflikten, unseren Blick auf die Mediant*innen und unsere Haltung und Interventionsrichtung. In diesem Artikel werfen wir Schlaglichter auf diese Aspekte.

MANAGING DIVERSITY Managing Diversity wurde in dem rechtlichen und demografischen Umfeld der USA entwickelt: Einem Einwanderungsland mit einer Geschichte der Sklaverei und Segregation. Hier wurde in den 1960gern das Recht ins Bürgerrechtsgesetz gegossen, im Erwerbsleben und bei Behörden nicht diskriminiert zu werden. Es wurde eine Gleichstellungsbehörde gegründet. Seitdem müssen Unternehmen und Behörden nachweisen, nicht zu diskriminieren und Diskriminierung im Kollegium keinen Vorschub zu leisten. Andernfalls drohen Klagen und Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe. Die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz sind dagegen nominell keine Einwanderungsländer. Und doch leben Gastarbeiter*innen/ Vertragsarbeiter*innen, ausländische Fachkräfte, Geflüchtete und ihre Nachkommen hier. Darüber hinaus ist Deutschland als Mitglied der EU u.a. dem Schengener Abkommen und dem Europäischen Binnenmarkt mit seinen Arbeits- und Antidiskriminierungsgesetzen verpflichtet und auch die Schweiz hat Abkommen z.B. über Frei6 | artikelmärz20

zügigkeit. Durch die Wiedervereinigung leben in der Bundesrepublik Deutschland bis heute Menschen, die in zwei verschiedenen deutschen Staaten geboren und sozialisiert wurden. Ähnliches gilt für die Schweiz, in welcher seit Jahrhunderten Menschen aus vier verschiedenen Landeskulturen mit- und nebeneinander leben. Im Kontext der postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2017) erscheint es also schlichtweg praktisch und menschengerecht, dem Kampfbegriff "Leitkultur" mit seiner Homogenisierungstendenz die Idee "Diversität" entgegen zu setzten, und so kulturelle Komplexität nicht als Ausnahme, sondern als Standard zu verstehen.

UNSER VERSTÄNDNIS VON DIVERSITYMEDIATION Ob die Mediant*innen Stadt- und Landbewohner*innen, männlich, weiblich oder divers, straight oder queer, ost- oder west-, nord- oder süd- sozialisiert sind, welchen Alters sie sind und welcher Klasse (bzw. Schicht) sie zugehören, wie ihr Gesundheitszustand, Bildungsgrad, Einkom-

Jule Endruweit Dipl. Pol., Lehrende und Supervidierende Transaktionsanalytikerin im Bereich Organisation (PTSTA-O), Mediatorin.

Katharina Stahlenbrecher Dipl. Theol., Diversity Management, Zertifizierte Mediatorin (Master of Mediation).


men etc. aussieht, spielt eine Rolle für ihr Selbstbild, für ihr Auftreten, ihre Kommunikation und vielleicht für ihre Streitkultur. Dann helfen uns bei ihrer Mediation Ansätze, die üblicherweise als "interkulturelle Kompetenz" beschrieben werden. Aber Interkulturalität als Handlungs- und Gender-Kompetenz (Hüffeli 2010, S. 21ff.) sind nicht das gleiche wie Diversity Kompetenz, sie sind Basiskenntnisse. Die Reflexion über Diversity bezieht die nicht-sichtbaren Teile des „anders seins“ mit ein. In diesem Kontext sind die originären Aufgaben einer Mediatorin a. Das Steuern des Prozesses als Hüterin des Verfahrens mit seinen Phasen.1 b. Die allparteiliche Unterstützung der Mediant*innen auf dem Weg zur Klärung. c. Die Herstellung des Maximums an Freiheit für die Sachentscheidungen und Expertise. d. Die Wahl angemessener Interventionsformen auf der Grundlage des von den Medianten geschlossenen Vertrags. Diversity-Kompetenz kann helfen b., c. und d. zu erweitern. Damit wird sie zu einem Schatz. Die Fragen „Was haben wir von der Vielfalt?“, „Was hat das Konfliktsystem-, was die Konfliktsysteme von der Vielfalt?“ bedienen den eigentlichen Ansatz der Mediation: die Verbreiterung des Verhandlungsraumes. So kann Diversität als Kreativpotential und Erfolgsfaktor (Klappenbach 2010) in die Liste möglicher Lösungen gelangen. So verstanden wirkt Diversity in jeder Mediation in zwei Richtungen: Erstens: Sie wirkt passiv bei der Vermeidung von Diskriminierung und der (erneuten) Konstruktion von Bildern. Oder in TA ausgedrückt: sie hilft dabei keine Zuschreibungen zu machen und ist dafür geeignet das eigene ER zu ent-trüben, da ich meinen und die Wertmaßstäbe der Mediant*innen hinterfrage. Zweitens: Sie wirkt aktiv in der Gestaltung von Beziehungen aus einer kulturellen OK/OK Haltung und ermöglicht durch entsprechende Interventionen, aus der Vielfalt Nutzen zu ziehen und den Verhandlungsrahmen zu erweitern. Das stellt klare Ansprüche an die Mediatorin2: Sie muss mit Verschiedenheit unterschiedlich umgehen können, und gleichzeitig in Bezug auf den Streitinhalt neutral bleiben - sie muss allparteilich sein.

DER VERTRAG ALS MASSSTAB UND RAHMEN FÜR ALLPARTEILICHKEIT Allparteilichkeit ist eins der 5 Prinzipien3 der Mediation. Der Vertrag ist ein Vehikel, um Allparteilichkeit im Verfahren zu sichern. Nach Claude Steiner gibt es 4 Voraussetzungen für gute Verträge (Steiner 1974), die für alle Seiten förderlich sind. Sie helfen, die allparteiliche Haltung in der Mediation einzunehmen, denn sie schaffen eine transparente Basis für ihre Handlungen. • Gegenseitige Übereinkunft zum Ergebnis der Verhandlungen: Wir fragen, worum es in der Mediation gehen soll, mit welchem Ziel die Mediation versucht wird. • Leistung und Gegenleistung müssen sich ausgewogen gegenüberstehen (im Kontrakt müssen Art, Umfang und übrige Konditionen eindeutig und bindend beschrieben werden). • Geschäftsfähigkeit: Die Mediatorin ist professionell kompetent, die Kundinnen sind urteilsfähig und berechtigt, mit der Beraterin Leistung und Gegenleistung zu vereinbaren. Keine Verträge zu Lasten Dritter! • Der Vertrag verstößt nicht gegen geltende Gesetze und/oder Ethik und Moral – er muss zum Wertesystem passen. Diese Voraussetzung verweist einerseits auf nicht-verhandelbare Elemente der Mediation, andererseits auf die kulturelle Ebene, in die die Moral- und Ethikvorstellungen aller Beteiligten der Mediation eingebettet sind. Sie helfen auf diese Weise, den kulturellen Rahmen der Mediatorin und der Mediant*innen abzustecken. Hieran knüpft die allparteiliche Mediatorin an, indem sie die unterschiedlich diversen Parteien unterstützt, ihr Wertesystem jeweils zu versprachlichen. So kann sie es zunächst selber verstehen. Damit hat sie eine Basis, von der aus sie während der Mediation ihre Übersetzungsleistung in beide Seiten anbieten kann. Ihre Interventionen sind also einerseits vom konkreten Vertrag abhängig, andererseits vom Bezugsrahmen der Mediant*innen. Außerdem müssen sie sich außerhalb der Konflikt-Dynamik bewegen, damit die Mediatorin allparteilich wirksam ist. Dazu hilft die Mediationshaltung.

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DIE MEDIATIONSHALTUNG (VGL. ENDRUWEIT/STAHLENBRECHER, 2020) In der Rolle der Mediatorin heißt OK/OK auszuhalten, dass Menschen Verhaltensweisen und Umgangsformen pflegen, die ihr vielleicht fremd sind. Für die Dauer des Verfahrens geht es alleine darum, eine Übersetzungsleistung zu liefern, die es beiden Seiten ermöglicht sich zu hören und eine Lösung ihres Problems zu finden. Diversity hilft dabei, Fragen auf der Meta-Ebene, nach der Logik der Argumente zu stellen, TA unterstützt dabei sich außerhalb der (psychologischen) Konflikt-Dynamik zu halten und sich in einer OK/ OK Haltung zu stabilisieren und Interventionen abzuleiten. Um die eigene Haltung im OK/OK zu balancieren, hilft es sich selbst im stabilen ER (im Hier und Jetzt reflektiert) zu halten. Eine neugierig, forschende, erlaubende und Distanz wahrende Haltung, in der wir uns immer wieder der Qualität vergewissern: Die Mediant*innen dürfen so sein wie sie sind, mit ihrem eigenen Selbstbild, Auftreten, der eigenen Kommunikation und Streitkultur. Wir haben keinen Auftrag sie zu entwickeln. Grenzen werden von uns gesetzt, wenn die andere Person bspw. beleidigt oder angegriffen wird. Die Rolle der Mediatorin gleicht einer Reinigungsanlage, damit das Gemeinte in einer anderen Form gehört werden kann, der Bezugsrahmen beider Mediant*innen der jeweils anderen Partei deutlich wird. Die Gefühle und Gedanken der Mediatorin sind Hinweise, um das Wesentliche herauszuhören und sich aus der Konflikt Dynamik zu halten. Die Distanz wahrende Haltung bezieht sich auch darauf, den Beteiligten die Verantwortung zu lassen und ihnen zuzutrauen, untereinander eine Lösung für ihr Problem zu finden. Neigungen der Mediatorin, zum Retter, zum Verfolger oder gar zum Opfer zu werden, können als Marker genutzt werden, sich zu stabilisieren und emotional außerhalb des Geschehens zu bleiben. Sind die Beteiligten in einem psychologischen Spiel verfangen hilft es, die Positionen des Gewinnerdreiecks (Choy, 1990) zu erfragen. In der Mediation stellt die Mediatorin ihre Kompetenz (Potency) im Rahmen des Mediationsvertrages und mit dessen Ziel zur Verfügung. Sie ist für den Schutz (Protection) der Mediant*innen zuständig, ihre Interventionen sind geeignet, einen Raum aufzutun und zu erhalten, der den 8 | artikelmärz20

Mediant*innen die Erlaubnis (Permission) zu Äußerungen, Wahrnehmungen und Entscheidungen gewährt. (Binner, 2014, S. 380f). Um klar zu sein: Mit dem Argument der Diversity dürfen auch in der Mediation Rangeleien um Macht, Teilhabe und Ausgrenzung nicht legitimiert werden. Vielmehr steht Diversity für die Normalisierung der Vielfalt und für den Blick auf die Vorteile, die diese Vielfalt mit sich bringt. Stabil in der Mediationshaltung am Vertrag orientiert braucht es für uns noch eine Richtung, um in verfahrenen Konflikten zu einer Sachfrage zurückkehren zu können. Bei dieser Interventionsplanung hilft uns die Ent-homogenisierungstabelle, die auf dem Konzept der Diversity-Reife und der Abwertungstabelle aufbaut.

DIVERSITY-REIFE UND ABWERTUNG ALS INTERVENTIONSPLANUNG Die kleinen Unterschiede können eine große Wirkung entfalten und zu einer Behinderung der Kommunikation führen. Dies wird in passiven Verhaltensweisen der Mediatorinnen oder der Mediant*innen deutlich. Die Ent-homogenisierungstabelle (Endruweit/Stahlenbrecher 2016) hilft uns dabei, systematisch Entwicklungsprozesse aus dieser Sackgasse heraus in Gang zu setzen. Wir haben die Ent-homogenisierung­stabelle aus zwei Konzepten entwickelt: die Reifegrade der Diversität (Gardenzwarz/Rowe 2002) und der Discount-Tabelle (Mellor/Sigmund, 1975). Bei den Reifegraden der Diversität geht es um die Beschreibung, wie in einer Organisation mit Vielfalt umgegangen und wie über Vielfalt gedacht wird. Die Geschichte, die eine Organisation bereits in dem Feld Homogenität – Heterogenität durchlaufen hat, wird darin gewürdigt. Die Diversitätsgrade reichen von 0 bis 3 und werden mit folgenden Begriffen beschrieben: • 0 Diskriminierung • 1 Toleranz • 2 Akzeptanz • 3 Dialog Betrachtet man die Reifegrade unter OK/OK Aspekt (Endruweit/Stahlenbrecher 2016), wird deutlich, warum sie sich zur Konfliktbearbeitung eignen:


0 Bei Diskriminierung ist offenbar, dass der andere für Nicht-OK gehalten wird, denn schon in den Handlungen (expliziter Ausschluss aufgrund von Herkunft, Geschlecht etc.) wird dies deutlich.Diskriminierung heißt Ungleichbehandlung von Individuen oder Gruppen (Wiktionary 2015). 1 Auf der Ebene der Toleranz, ist die OKness zunächst nicht eindeutig. Toleranz ist die „Eigenschaft, etwas dulden, ertragen oder zulassen zu können“ (Wiktionary 2015). Ich kann den anderen vordergründig ok finden, indem ich feststelle: jedem das Seine. Du machst deins, ich mache meins. Allerdings gehe ich dann davon aus, dass mich seine oder ihre Handlung niemals tangiert und also meine Konstruktion von Normalität gar nicht in Frage stellen kann. In der Phase der Fairness und Antidiskriminierung (re-) konstruiere ich Pole und Rollen der Opfer, Retter und Verfolgten. Somit ist die OKness an die Bedingung gebunden, in der zugewiesenen Rolle zu bleiben, die allein ich formuliere. 2 Akzeptanz wird definiert als (zustimmende) Annahme, Anerkennung oder auch Bereitschaft, etwas anzunehmen oder zu akzeptieren (Wiktionary 2015). In der Phase des Zugangs und der Legitimität gehe ich davon aus, dass deine Andersartigkeit mich in meinem Sinne ergänzt. Du wirst als Person auf deine Andersartigkeit reduziert und stereotypisiert, um meine Konstruktion von Normalität um begrenzte Ergänzungen zu erweitern. Somit ist auch hier die OKness an mein Bild von Normalität gebunden. Im Vergleich zur Toleranz jedoch schlägt der Handlungskatalog der akzeptierten Person(engruppe) in die positive Richtung aus. 3 Dialog. Wo zuvor noch Pole konstruiert werden und mit Leitkultur argumentiert wird, fragt Diversity auf dem Grad des Dialogs nach Funktion und Rolle, fordert Verträge, unterscheidet zwischen Fragen nach der Person und Fragen nach Handlungsformen. In der Phase des Lernens und der Effektivität wird Heterogenität zum Normalzustand. Es

werden nicht mehr einzelne personenbezogene Heterogenitätskriterien aufgestellt, wie Geschlecht, Herkunft, Aussehen, sexuelle Orientierung etc., sondern alleine verhaltensbezogene Kriterien, wie z.B. was sind Kriterien für eine gute Lösung? Welche Fähigkeiten sind geeignet eine bestimmte Rolle auszufüllen oder Funktionen zu übernehmen? Ist das Verhalten beim Erreichen der Ziele funktional?

© Katharina Stahlenbrecher

Der Fokus stellt nicht die Homo- oder Heterogenität in Frage, sondern die Überwindung praktischer Probleme, die aus Heterogenität erwachsen und die zu erweiterten Lösungen führen. Heterogenität wird grundsätzlich als Realität anerkannt. In der Mediation heißt das, dass zunächst in einen Dialog über Definitionen eingetreten wird und Verträge (im TA Sinne) verhandelt werden. Dadurch entsteht etwas Entscheidendes, was auch in der Transaktionsanalyse als erstrebenswert gilt: Menschen gehen miteinander in Beziehung. Gelingt es als Mediatorin ein Dialog-Verständnis in den jeweiligen Positionen der Mediant*innen herzustellen, ist eine sachliche Lösung möglich. Die Discount-Tabelle zeigt Interventionsmöglichkeiten, um das Denken der Mediant*innen zu erweitern. Discounting heißt etwas auszublenden, also nicht wahrzunehmen, was für die Lösung eines Problems relevant ist. Das kann die blanke Existenz von etwas sein, dessen Bedeutsamkeit, dessen Änderbarkeit oder die persönlichen Fähigkeiten. Je nach Reifegrad liegt diese Ausblendung auf einer anderen Ebene. Nach außen hin drückt sich dieser Denkfehler in passivem Verhalten aus (vgl. Schiff 1972/75). Die Passivität zeigt sich in den sich steigernden artikelmärz20 | 9


DIE ENT-HOMOGENISIERUNGSTABELLE IN DER MEDIATION (STAHLENBRECHER 2017)

DIVERSITYREIFEGRADE BZW. PHASEN

0. DISKRIMI­ NIERUNG

1. FAIRNESS UND ANTIDISKRIMINIERUNG

2. ZUGANG UND LEGITIMITÄT

3. LERNEN UND EFFEKTIVITÄT

Ausblenden

Toleranz

Akzeptanz

Dialog

Die Organisation und ihre Mitglieder übersehen, dass Diskriminierung langfristig dysfunktional ist.

Tolerieren heißt für die Beteiligten, den anderen auf Abstand zu halten, dabei Unterschiede zu personalisieren und sich nicht mit dem „Fremden“ auseinander zu setzen.

Personen werden auf ihre Andersartigkeit reduziert und stereotypisiert, um die Konstruktion von Normalität um begrenzte Ergänzungen zu erweitern.

Wenn Menschen aufeinandertreffen, treten sie genauso wie ihre Model­ le, Werkzeuge, Ansätze, Normen in den Dialog. Sie entwickeln sich weiter, werden ver­ feinert, erneuert. Gemeinsam können die Fragen immer wieder erarbeitet werden:

Was übersehe ich?

Zwischen wem / was wird unterschieden? Zwischen wem / was wird nicht unterschieden?

Zwischen wem / was wird unterschieden? Welche Dinge, Eigenschaften, Arbeitsweisen werden toleriert, welche nicht? Wozu?

Welche Ergänzungen bringen uns „die Anderen"? Und was können diese Menschen auch gut?

Was übersehe ich?

Ist es überhaupt ein Problem? Welche Bedeutung hat es?

Inwieweit ist Diskriminierung bzw. Vielfalt wichtig für die Organisation, ihr Ziel zu erreichen?

Was hat die Organisation davon, „das Andere“ zu konstruieren oder „das Andere“ zu dekonstruieren?

Welches Potenzial ist in der Reduktion der Menschen auf diese Felder vergeudet?

Ist es überhaupt ein Problem? Welche Bedeutung hat es?

Ist es überhaupt lösbar?

Wie machen es andere Organisationen? Was haben die davon?

Wie machen das andere Organisationen? Was haben die davon?

Wie machen das andere Organisationen? Was haben die davon?

Ist es überhaupt lösbar?

Kann ich es lösen?

Was habe ich von der Diskriminierung bzw. von der Vielfalt?

Was habe ich vom Tolerieren bzw. von der Personalisierung der Unterschiede?

Was habe ich von der Reduktion bzw. vom Blick auf das gesamte Potenzial?

Kann ich es lösen?

Wie kann ich es tun?

Wie kann ich das erreichen, ohne abzuwerten?

Wie kann ich das erreichen, ohne abzuwerten?

Wie kann ich das erreichen, ohne abzuwerten?

Wie kann ich es tun?

Hypothese

Fragen aus den Abwertungsstufen

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Formen 1. des Nichtstuns, 2. der Überanpassung, 3. der Agitation (zwar etwas tun, aber nichts zur Problemlösung beitragen) und 4. der Gewalt. Ist passives Verhalten in Form einer Konfliktverhärtung sichtbar, z.B. als Hilflosigkeit, eignet sich eine Überprüfung mit den OK-Reifegraden. Welche Vorstellung von „Normalität“ habe ich, was ist der Maßstab zur Bewertung von anderen? Welche geschlossenen Kartons habe ich im Kopf? Oder habe ich eine OK/OK Haltung, die im Dialog versucht Lösungen zu finden? In der Mediation sind die Fragen gleichermaßen für die Selbstreflexion der Mediatorin geeignet, wie für die Unterstützung der Mediant*innen durch alle Phasen des Verfahrens. Das gilt besonders, wenn die Mediatorin Mechanismen von Passivität erkennt. Die Fragen können die Augen für Vielfalt öffnen - eine Grundvoraussetzung, um an ihr Potenzial anzuknüpfen.

MIT DIVERSITY ZUM GELUNGENEN ABSCHLUSS Stabil in der Mediationshaltung am Vertrag orientiert, mit einem Blick für Diversity Reife, für Passivität und passenden Interventionen, bleibt die Frage nach dem Abschluss mit einem guten, gerechten Ergebnis. Da auch „Gerechtigkeit“ mit Diversität betrachtet unterschiedliche Bedeutungen haben kann, ist es sinnvoll, dass die letztendliche Entscheidung über Lösungsoptionen auf transparenten Kriterien basiert (Kessen 2016, S.56). Die Kriterien können aus den im Vertrag gemeinsam festgelegten Zielen entwickelt werden, oder Zahlen, Daten, Fakten sein, die alle Beteiligten akzeptieren, aber auch in der Einigung auf die Frage entstehen: was ist gerecht und was praktikabel? Aufgaben einer transaktionsanalytischen Diversity-Mediator*in sind also: • Das Steuern des Prozesses als Hüterin des Verfahrens mit seinen Phasen. • Die allparteiliche Unterstützung der Mediant*innen auf dem Weg zur Klärung: - insbesondere ein an die Mediantenkultur angepasster Vertrag durch Klärung des jeweiligen Bezugsrahmens - eine allparteiliche Mediationshaltung: Sich als Reinigungsanlage oder Übersetzerin zu verstehen und unterschiedliche Verständnisse der Mediant*innen deutlich zu machen.

• Die Herstellung des Maximums an Freiheit für Sachentscheidungen und Expertise - durch Anerkennen von Vielfalt als Schatz und Ressource - durch Heraushalten aus dem psychologischen Konflikt - durch konstruktiven Umgang mit Passivität zur Dialog-Diversitäts-Reife. • Die Wahl angemessener Interventionsformen auf der Grundlage des von den Mediant*innen geschlossenen Vertrags. Die ausdrückliche Suche nach den kleinen Unterschieden, nach verschiedenen Kriterien und ihrer Anerkennung minimiert blinde Flecken bei der Lösungssuche. Das Mediationsergebnis ist gestärkt, genauso wie die Erkenntnis der Beteiligten, dass ihre jeweilige Besonderheit zum gelungenen Ergebnis beigetragen hat.

1. Vorbereitung, Sammlung, Vertiefung, Verhandlung, Vereinbarung. 2. Wir nutzen allein die weibliche Form. Alle anderen sind mitgemeint. Fühlen Sie sich eingeladen die Wirkung zu reflektieren. 3. Allparteilichkeit, Freiwilligkeit, Selbstverantwortung, Informiertheit und Vertraulichkeit. Literatur • Binner, Cordula (2014) Das Stroke-Konzept als Anlalyse- und Interventionsinstrument in der Konfliktbearbeitungsphase; in: Weigel, Sascha; Theorie und Praxis der Transaktionsanalyse in der Mediation. Ein Handbuch; Leipzig 2014; S 370 - 389. • Choy, Acey (1990) The Winners Triangle, TAJ 20:1; 1990. • Endruweit, J., Stahlenbrecher, K. (2016) Kartons im Kopf. Mit TA gegen Homogenisierungsdruck zu einer höheren Diversitätsreife und Autonomie; in: Raeck, H., Lohkamp, L.; Tore und Brücken zur Welt. Reader zum 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse; Lengerich 2016, S. 80 – 94. • Endruweit, J, Stahlenbrecher, K. (2020) Mediation verstehen mit Transaktionsanalyse. Allparteilichkeit als missverstandene Einladung zum Coaching. In: Bettina Heinrich, Iris Fassbender und Elke Kauka: Toleranz und Respekt – für ein friedvolles Miteinander. Reader zum 40. Kongress der DGTA; erscheint 2020. • Foroutan, Naika (2017) http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantischegesellschaft; Stand 23.10.2017. • Gardenzwartz/Rowe (2002) Arbeitsmaterial Affirmative Action. Valuing Differences and Managing Diversity Compared. Unterlagen zum Workshop Managing Diversity. Evangelische Akademie, Schwerte, June 16, 2002. • Hüffell, S. (2010) Relevanz von Gender-Kompetenz der MediatorInnen; in: Spektrum der Mediation. Fachzeitschrift des Bundesverbandes Mediation; 39/2010; S. 21-23. • Kessen, S./ Troja, M./Zilleßen, H./ Hehn, M./Runkel-Hehn, S. (2016) Mediation im öffentlichen Bereich. Teil I; Hagen 2016. • Klappenbach, D. (2010) Diversity-Kompetenz. Zum Diversitätsmanagement des Diversitätsmanagements; in: Spektrum der Mediation. Fachzeitschrift des Bundesverbandes Mediation; 39/2010; S. 13-16. • Koall, I. (2001) Managing Gender & Diversity. Von der Homogenität zur Heterogenität in der Organisation der Unternehmung; Münster 2001. • Mellor, K./Sigmund, E. (1975). Discounting. TAJ, 5, 3, p. 295-302. • Schiff et al. (1975) Cathexis Reader: transactional analysis treatment of psychosis. New York 1975. • Schiff, A./Schiff, J. (1971) Passivity. TAJ, 1971; I, 1, p. 71-78. • Stahlenbrecher, K. (2017) Diversity in der Mediation, Masterarbeit, Fernuniversität Hagen, Dez. 2017. • Stahlenbrecher, K. (2019) Diversity und vermeintliche Homogenität in der Mediation; in: Schlieffen, K.v. (Hg.); Jahrbuch Mediation. Essays 2018 - Harte Zahlen, weicher Kern; Hagen 2019. • Steiner, Claude (1990) Scripts People live; Grove Weidenfeld 1990; S. 243 - 250. • Thomas, R. Roosevelt (2001) Management of Diversity. Neue Personalstrategien für Unternehmen. Wie passen Giraffe und Elefant in ein Haus? Wiesbaden 2001. • Weigel, Sascha (2014) Theorie und Praxis der Transaktionsanalyse in der Mediation. Ein Handbuch; Leipzig 2014.

intaqt - Institut für Transaktionsanalyse und Qualität Organisationsentwicklung, Mediation, Aus- und Weiterbildung, Supervision und Coaching. Rykestr. 43, 10405 Berlin info@intaqt.de, www.intaqt.de artikelmärz20 | 11


VIELFALT IN DER PÄDAGOGIK

BESONDERE BEDÜRFNISSE

Du darfst dich selbst sein und du darfst dazugehören: Dieses Erlaubnispaar aus der TA tut jedem Schulkind gut. Darum stelle ich es an den Anfang meiner Gedanken zur Vielfalt in der Pädagogik. Eine inklusive Schule schliesst alle ein und geht davon aus, dass jeder Schüler einmal mehr und einmal weniger besondere Bedürfnisse hat und sich von den anderen unterscheidet. Die inklusive Schule ist über weite Strecken immer noch eine Vision. Eine Vision, von der ich mich jeden Tag wieder aufs Neue herausfordern lasse und mit mir auch viele engagierte Lehrerinnen und Pädagogen. In der TA finde ich wertvolle Anregungen, um diese Herausforderung anzunehmen und Veränderungen für eine gelebte Vielfalt im Schulalltag anzupacken. «Erforderlich wäre ein Schulsystem, das in allen seinen Gliederungen, auf allen Stufen und in jeder pädagogischen Hinsicht in ausreichendem Masse für den Besuch sämtlicher Schulkinder ausgestattet ist.» (Speck S. 252)

Mein Berufsauftrag besteht darin Schüler mit besonderen Bedürfnissen in der Regelschule zu unterrichten und zu fördern. Diese besonderen Bedürfnisse können sich ergeben aus Fähigkeiten, die nicht der Altersnorm entsprechen in Bezug auf Kognition, Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung, Verhaltenssteuerung und physischen Voraussetzungen. Die Abweichungen von der Norm werden von Fachpersonen wie Kinderneurologen, Kinderpsychiatern und Schulpsychologen diagnostiziert. Diese Diagnosen ergeben für die betroffenen Kinder das Anrecht auf eine heilpädagogische Unterstützung. Bei ihren Diagnosen stützen sich die Fachärzte und Fachpersonen auf zwei internationale Klassifikationssysteme, das ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) und das ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit). Beide Klassifikationssysteme werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Als schulische Heilpädagogin in einer Regelschule stellt sich mir die Aufgabe diesen amtlich anerkannten «besonderen Bedürfnissen» im Schulalltag in Zusammenarbeit mit den Regelklassen-Lehrpersonen Anerkennung zu verschaffen und zu gewährleisten, dass diese im Schulalltag berücksichtig werden.

DIE INKLUSIVE SCHULE:

Verschiedensein und dazugehören

Eva Bobst Schulische Heilpädagogin Transaktionsanalytikerin CTA-E eva.bobst@bluewin.ch 12 | artikelapril20

DURCHSCHNITT ALS NORM Die Regelklassenlehrpersonen stehen in der Schultradition der Jahrgangsklassen. In dieser Tradition wird davon ausgegangen, dass die Schülerinnen und Schüler des gleichen Jahrgangs grundsätzlich in ihrer Entwicklung weitgehend auf dem gleichen Stand sind und folglich auch weitgehend die gleichen Lernvoraussetzungen mitbringen und die gleichen Bedürfnisse haben. Als Konsequenz davon wird meist abgeleitet, dass alle Schüler einer Klasse denselben Stoff in derselben Form, zur selben Zeit, im gleichen Zeitraum bearbeiten und beherrschen sollen. In dieser Tradition bietet der Lehrplan 21 insofern eine gewisses Lockerung, als er sich auch an Kompetenzen und nicht nur an Inhalten orientiert, welche die Schüler erreichen sollen. Im Weiteren werden neu


auch Grundanforderungen und erweiterte Anforderungen als auch fachliche und überfachliche Kompetenzen als Ziele definiert. Erhalten bleibt auch im Lehrplan 21 die summative Leistungsmessung (ab der 3. Klasse mit Noten), welche die Schüler belohnt, die Leistungen zeigen können, die der Altersnorm entsprechen oder diese übertreffen.

HETEROGENITÄT ALS HERAUSFORDERUNG Mein Arbeitsauftrag besteht darin die Lernumgebung für die Schüler mit «anerkannten» besonderen Bedürfnissen anzupassen und auch die Lehrpersonen zu unterstützen, welche die Vielfalt und die besonderen Bedürfnisse ihrer Regelklassenschüler wahrnehmen und bestmöglich darauf eingehen. Heterogenität in der Regelklasse als Chance und nicht als Problem wahrzunehmen bedeutet eine Herausforderung und setzt ein Umdenken gegen über den schulischen Traditionen voraus. So gilt es dem «Diversity-Management-Ansatz» auch in der Schule zum Durchbruch zu verhelfen (siehe Müller, S. 54). «Auch die Schule bildet sich aus einer ‘vielfältig zusammengesetzten Belegschaft’. Die Sozialisierungshintergründe von Kindern und Jugendlichen weichen zunehmend voneinander ab. Lernarrangements, die eine individuelle Kompetenzentwicklung in sozialen Kontexten zum Ziel haben, müssen folglich eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten innerhalb und ausserhalb der Schule fördern. Das heisst: Lernarrangements dienen der Organisation von Komplexität. Es geht darum für heterogene Gruppen von Lernenden adäquate Settings zu gestalten, in denen zielführendes und selbstwirksames Lernen sich entwickeln kann.» (Müller, S. 55)

GRUNDLAGEN DER GRUPPENBEHANDLUNG NACH BERNE In seinem Standardwerk «Grundlagen der Gruppenbehandlung» beschreibt Berne die professionelle Arbeit mit Gruppen. Berne entwickelte seine Praxis und seine Theorien zur Gruppen-«Behandlung» als Arzt und Psychotherapeut in unterschiedlichen Settings. Unter anderem beschreibt er das Konzept des Gruppenimagos: Jedes Mitglied einer

Gruppe hat eine Vorstellung, ein inneres Bild der Gruppe. Diese Vorstellung entwickelt sich im Verlauf des Gruppenprozesses. Das Bild der Gruppe, die Gruppenimago, verläuft in 4 Phasen und wird von Phase zu Phase differenzierter und realistischer. Der Lernprozess eines einzelnen Gruppenmitglieds wird von der Entwicklung seiner Gruppenimago am stärksten bestimmt. (Berne S. 145)

PROFESSIONELLE ARBEIT MIT SCHÜLERGRUPPEN GEMÄSS DEN PHASEN DER GRUPPENENTWICKLUNG Die Phasen der Gruppenentwicklung nach Berne zeigen anschaulich, welche Merkmale ein Setting für zielführendes und selbstwirksames Lernen gemäss TA-Konzepten aufweisen kann. Clarkson hat die Gruppenphasen und durch eine 5. Phase ergänzt. (Clarkson S. 300ff) • Provisorische Gruppenimago Das innere Bild besteht aus einem unklaren Muster, indem zunächst nur der Leiter und die eigene Position deutlich sind. Es bestehen Erwartungen an die Gruppe, die auf Vorerfahrungen in der eigenen Familie oder auf früheren Erfahrungen in anderen Gruppen beruhen. • Angepasste Gruppenimago Die Gruppenmitglieder beginnen auch andere Gruppenmitglieder wahrzunehmen und einzuschätzen. Die Gruppenleitung wird herausgefordert. • Operative Gruppenimago Das eigene Bild der anderen Gruppenteilnehmer wird weiter ausdifferenziert. Es entsteht ein Gruppenzusammenhalt. Familienkonstellationen werden wiederholt. • Sekundär angepasste Gruppenimago Der Gruppenzusammenhalt wirkt stärker als die persönlichen Einstellungen. Die Gruppe ist arbeitsfähig. • Geklärte Gruppenimago Das anfänglich provisorische Bild der Gruppe hat sich gewandelt und bezieht sich jetzt auf die gegenwärtige, reale Gruppe. Damit beim Abschied die starke Kohäsion der Gruppe aufgelöst werden kann, wird die emotionale Energie innerhalb der Gruppe reduziert. artikelapril20 | 13


GRUPPENPHASEN IM VERLAUF EINES SCHULJAHRES In den ersten Wochen eines Schuljahres ist es mir als Lehrperson wichtig, die ersten drei Phasen der Gruppenimago gut im Auge zu behalten. Der Schwerpunkt liegt auf der Beziehungsebene und der Organisation der Abläufe. Die Vielfalt der Schüler ist gerade in dieser Phase häufig noch sehr ausgeprägt wahrnehmbar. Auf den Inhalt wird noch weniger Gewicht gelegt, oft wird auch Stoff nur wiederholt. Dies ist die Voraussetzung, dass dann im weiteren Verlauf des Schuljahrs eine gute Arbeitsatmosphäre herrscht und möglichst viele Schülerinnen der Klasse den Schritt zur sekundär angepassten Gruppenimago vollziehen können. In Bezug auf die Diversität bedeutet dies auch, dass die Schüler mit ihren unterschiedlichen Hintergründen und persönlichen Bedürfnissen alle ihre Position gefunden haben. In den letzten Schulwochen wird das Arbeitstempo reduziert, die Geselligkeit in der Klasse mit Ausflügen und gemeinsamem Spiel gepflegt, es wird aufgeräumt und Abschied genommen. Dies entspricht der geklärten Gruppenimago.

GRUPPENPHASEN IM VERLAUF EINES SCHULTAGES ODER EINER LEKTION Die Gruppenphasen lassen sich auch täglich in kleineren Unterrichtseinheiten beobachten. Diese können je nach der Organisation des Schulbetriebs einen ganzen Tag, mehrere Lektionen oder auch nur eine Lektion umfassen. Im Folgenden wird ausgeführt, wie die Phasen der jeweiligen Gruppenimago in einer Doppellektion von neunzig Minuten ablaufen können. Die provisorische Gruppenimago wird sehr kurz gestaltet, Begrüssungsrituale, Fragen nach der Befindlichkeit, Small Talk, kurzer Kontakt zwischen der Lehrperson und jedem einzelnen Schüler. In der Phase der angepassten Gruppenimago geht es um organisatorische Fragen, die in der ganzen Gruppe erörtert und von der

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Lehrperson entschieden werden, wie etwa offene Fragen zu vorherigen Lektionen, Rückmeldungen zu Hausaufgaben, Sitzordnung, Gruppenzusammensetzungen. In der Phase der operativen Gruppenimago schafft die Lehrperson die Voraussetzungen für die Arbeit der Schüler während der Lektion. Sie gibt die Lernziele bekannt, stellt das Material zur Verfügung, gibt Anweisungen zum Vorgehen und zum Verhalten. Bei der sekundär angepassten Gruppenimago der Schülerinnen und Schüler tritt die Lehrperson in den Hintergrund, die Schüler sind nun alleine oder in Gruppen an der Arbeit und helfen sich gegenseitig. Die Lehrperson beobachtet, lobt und hilft bei Bedarf. An dieser Stelle ist von Bedeutung, dass die Schülerinnen oft nicht gleichzeitig die gleiche Phase ihrer Gruppenimago erreichen. Einige sind noch mit ihrer angepassten oder operativen Gruppenimago beschäftigt, während die anderen Schüler an der Arbeit sind. Auf diese «Nachzügler» gehe ich als Lehrerin ein und unterstütze sie, damit sie sich in die gemeinsame Arbeit integrieren können. In der Phase der geklärten Gruppenimago wird die Lektion dann abgeschlossen. Die Schülerinnen fassen ihre Arbeitsergebnisse zusammen. Die Lehrperson verabschiedet sich und macht je nach Situation eine Bemerkung zum weiteren Verlauf des Schultages oder gibt einen guten Wunsch auf den Weg mit.


ÜBERSICHT ZU DEN PHASEN DER GRUPPENIMAGO

PHASE

MERKMALE DER PHASE

AUFGABE DER LEITUNG

UMSETZUNG IN DER SCHULE

• Definition der äusseren und inneren Grenzen • Vorgabe der Zeitstruktur • Allgemeine Infos

• Positiv unbedingte *Strokes durch die Lehrperson für alle Schüler

Angepasste Gruppenimago

• *Zeitvertrieb • «Vorgeplänkel» • Agitation gegen Gruppenleitung • *ok-ok auf dem Prüfstein

• Rückmeldung der Gruppe ernst nehmen • verhandeln • Position *ok-ok halten

• auf die Schüler eingehen • Lehrer zeigt sich als streng aber gerecht

Operative Gruppenimago

• *Psychologische Spiele • Gruppen­ zusammenhalt wird aufgebaut • Wiederholung von Familien­ dramen • gewinnen von Einsicht • gegenseitige Unterstützung

• Modell für Verhalten • Infos geben • Ressourcen bereitstellen • eigene Werte klar benennen

• Lehrer sagt, wie er «es» haben will in Bezug auf fachliche und überfachliche Kompetenzen • Modell für die Forderungen, die er an die Schüler stellt

Sekundär angepasste Gruppenimago

• effektive Aufgaben und Problemlösung • Eigenverant­­­ wortung • *Intimität häufig möglich

• Freude an Arbeit zeigen • Führung teilweise abgeben • Verantwortung bleibt • Lob und positiv bedingte *Strokes anbieten • Mindestmass an Schutz

• Leistung und Verhalten der Schüler benennen • nach Bedarf Unterstützung anbieten • Möglichkeiten zur Selbsteinschätzung und Selbstkorrektur geben

Geklärte Gruppenimago

• Bedürfnisse auf Hier-und-jetzt ausgerichtet • Rückzug, loslassen der Gruppe

• Arbeit abschliessen • Abschiedsritual • Pünktlicher Abschluss

• Möglichst ruhiger, entspannter Abschluss einer Lektion oder eines Schultages

Provisorische Gruppenimago

• *Rituale

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© Roland Bobst

*Erklärung von TA Begriffen in der Tabelle • Rituale: Interaktionen, bei denen die Beteiligten wissen, wie sie ablaufen, z.B. Begrüssung. • Zeitvertrieb: Unverbindliche Unterhaltung. • ok-ok Haltung: Grundhaltung, die in der TA angestrebt wird, ich bin ok und du bist ok (+ +). • Psychologische Spiele: Die Kommunikation wird von verborgenen Motiven beherrscht, sie verläuft nicht konstruktiv. • Intimität: Offene, echte zwischenmenschliche Begegnung, ohne psychologische Spiele. • Strokes: Zuwendung, die in verschiedener Qualität (positiv bedingt und unbedingt / negativ bedingt und unbedingt) und Intensität gegeben werden kann. In den Phasen der Gruppenentwicklung wird ersichtlich, wie es gelingen kann eine Balance herzustellen zwischen empathischem Verstehen und überzeugender Führung durch Lehrpersonen, wie sie Joachim Bauer beschreibt: «Dies bedeutet, dass die 16 | artikelapril20

Lehrkraft nicht nur in sich Resonanz auf ihre Klasse zulässt (empathisches Verstehen), sondern umgekehrt ihrerseits so auftritt, dass sie in ihren Schülerinnen und Schülern Resonanz auslöst (Ausübung von Führung). Entscheidend für Letzteres ist ein hohes Mass an körperlicher und geistiger Präsenz. Diese entsteht dadurch, dass die Lehrkraft mit sich, so wie sie ist, in hohem Masse identisch ist, also zu sich und ihren Überzeugungen steht, eine freundlich-zugewandte, aber klare Haltung hat, dass sie selbst Freude am zu vermittelnden Stoff hat und einen didaktischen Plan, wie sie diesen den jungen Menschen nahebringen will.» (Bauer, S. 113 -114)

DIE GRUNDBEDÜRFNISSE DER EINZELNEN SCHÜLER Das TA Konzept der *Grundbedürfnisse kann sich hilfreich erweisen, um auf den einzelnen Schüler einzugehen und seine individuellen Bedürfnisse wahrzunehmen. Die Grundbedürfnisse nach Struktur, Stimulierung und Anerkennung gelten für alle Schülerinnen und Schüler gleichermassen.


Sowohl in der Arbeit mit einer Schulklasse als auch im Kleingruppen- und Einzelunterricht achte ich auf eine angemessene Strukturierung. Das heisst, ich plane und ermögliche bewusst neben der hauptsächlich erwünschten Aktivität, nämlich der aktiven Arbeit am Lernstoff, auch Rückzugsmöglichkeiten in Form von Einzelarbeit oder Erholung, Rituale in Form von sich wiederholenden Lernformen oder Stundeneinstiegen. Ich nehme auch das Bedürfnis nach Zeitvertreib (das Spitzen von schon gespitzten Bleistiften, das rauf- und runterkurbeln von Pulten, wiederholtes Bitten um den Gang zur Toilette…..) wahr und kann dafür die Erlaubnis erteilen oder auch verweigern. Einladungen zu psychologischen Spielen der Schülerinnen verstehe ich auch als ein Bedürfnis nach Struktur.

und Didaktiker Hans Aebli habe ich folgende Aussage gefunden, die mich eine Verbindung herstellen lässt zum *TA-Konzept der Ich-Zustände: «Das Kind zum Aufbau der Strukturen seines Handelns, Denkens und Erlebens anleiten heisst, auf seinen aktiven Beitrag in diesem Vorgang zählen, mehr als das: wissen, dass Anleitung immer die spontane Bereitschaft zur Tätigkeit im angeleiteten Kind voraussetzt. In dieser Bereitschaft zur Tätigkeit ist auch eine Bereitschaft, diese zu strukturieren, ihr eine gute Ordnung zu geben, mit beschlossen. Aber das Kind und der Jugendliche vermögen diese Ordnung nur in seltenen Fällen selbstständig zu finden. Die innere Ordnung des Menschen ist eine zarte Pflanze. Ihre Heranbildung bedarf über Jahre der Unterstützung, bis sie schliesslich zur *Autonomie erwächst.» (Aebli, S. 393)

Die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogisch anerkannten besonderen Bedürfnissen haben letztlich die gleichen Bedürfnisse wie Regelklassenschüler. Sie unterscheiden sich allenfalls darin, welche existentielle Bedeutung die Erfüllung der Grundbedürfnisse in der Schule für sie, im Gegensatz zu den Regelklassenschüler, darstellt. Für den an Landwirtschaft interessierten Schüler *Max mit der Diagnose einer Lese- und Rechtschreibschwäche und einer Dyspraxie ist die Ruhepause mit Blick auf den Bauernhof eine unerlässliche Möglichkeit sich vom anstrengenden handschriftlichen Verfassen eines Textes zu erholen. Für die Schülerin *Susanne mit einer Rechenschwäche ist es wichtig, dass sie positiv bedingte Strokes bekommt, indem sie Bestätigung erhält und gelobt wird, weil die lange geübte 3er-Reihe jetzt sitzt, und sie diese bei Sachaufgaben anwenden kann. Das Bedürfnis nach Stimulierung kann mit einer abwechslungsreichen Didaktik und Methodik erfüllt werden. Durch das reale Hantieren mit Geld findet *Jasmin mit der Diagnose Asperger Autismus den Zugang zur Mathematik. (*alle Namen geändert)

Das wunderbare Bild der zarten Pflanze möchte ich zum Abschluss aufnehmen. In jedem Schulkind wartet eine zarte Pflanze auf Hege und Pflege. Diese Pflanzen ergeben zusammen eine vielfältige und bunte Blumenwiese. Meine Vision einer Schulklasse in einer inklusiven Schule.

Gute Didaktik und Methodik bieten leistungsstarken, wie auch leistungsschwächeren Schülern wichtige Lernvoraussetzungen. Beim Schweizer Entwicklungspsychologen

*Erklärung von TA Begriffen: • Grundbedürfnisse: Psychologische Grundbedürfnisse, die von vitaler Bedeutung sind: a) Stimulierung in Form von sinnlicher Anregung; b) Struktur in Form von Zeitgestaltung; c) Zuwendung und Anerkennung (Strokes) • Ich-Zustände : In jedem Menschen sind drei Ich-Zustände vorhanden (Eltern-Ich / Erwachsenen-Ich / Kind-Ich). Jeder dieser Ich-Zustände umfasst das Denken, Fühlen und Verhalten und kann je nach Situation aktiviert werden. • Autonomie: Unabhängigkeit und Selbstständigkeit in Urteil und Entscheidung. Bewusstheit in der Wahrnehmung, Spontanität im Verhalten und Intimität im Sinn von ehrlicher zwischenmenschlicher Begegnung. Literatur • Aebli, Hans: Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart (Klett-Cotta) 2003 • Bauer, Joachim: Wie wir werden, wer wir sind. München (Blessing) 2019 • Berne, Eric: Grundlagen der Gruppenbehandlung. Paderborn (Junfermann) 2005 • Eyer, Hanna: Kursunterlagen zu «Gruppenphasen nach Berne (aus Clarkson)» Gossau 2016 • Müller, Andreas: Mehr ausbrüten, weniger gackern. Bern (hep) 2008 • Speck, Otto: System Heilpädagogik. München (Reinhardt) 2003

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DER RÖSTIGRABEN1 –

eine Goldgrube für Diversity-Erfahrungen

EINLEITUNG Beim Lesen der Nachtstücke des romantischen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann, der schon zu seiner Zeit ein Flair für psychologische Feinheiten entwickelt hat, bin ich zufälligerweise auf folgende Lesefrucht gestossen. Der Ich-Erzähler der Geschichte "Die Jesuitenkirche in G." muss wegen einem Kutschenunfall ein paar Tage in einer fremden Stadt verbringen und beklagt sich darüber, dass ihm dabei sicher langweilig wird, weil er befürchtet mit niemandem verständig sprechen zu können und er bemerkt dann: "In dem Wort geht ja erst der Geist des Lebens auf in allem um uns her; aber die Kleinstädter sind wie ein in sich selbst verübtes, abgeschlossenes Orchester eingespielt und eingesungen, nur ihre eignen Stücke gehen rein und richtig, jeder Ton des Fremden dissoniert ihren Ohren und bringt sie augenblicklich ins Schweigen"2 Manchmal kommt es mir vor, dass auch die Schweiz aus solchen "verübten Orchestern" besteht, bei denen nur die eigenen Stücke "rein und richtig" gehen. Neben dem "Kantönligeist" denke ich vor allem an die grossen Orchester diesseits und jenseits des Röstigrabens, nicht zu vergessen das Kammerorchester im Tessin und das Musikensemble in Graubünden. In diesem Essai möchte ich davon sprechen, wie viel "Geist des Lebens aufgehen kann" wenn wir lernen, die Worte und Musikstücke der anderen Musikensembles zu lernen, wie vielfältig und vielstimmig, wie laut und leise, harmonisch und anregend disharmonisch die Musik werden kann, wenn wir uns von den "verübten" Stücken verabschieden, und uns für Anderes öffnen 18 | artikelmai20

Franz Liechti-Genge Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker im Bereich Bildung und im Bereich Beratung (TSTA-E/C); Supervisor bso; Theologe; Leitungsmitglied Eric Berne Institut Zürich, www.ebi-zuerich.ch; f.liechti-genge@ebi-zuerich.ch

oder sogar Neues wagen. Dabei gehe ich von meinen eigenen Erfahrungen aus, der ich als "Stockberner" vor knapp fünfzehn Jahren in den französischsprachigen Kanton Jura gezogen bin und werde ein paar Reflexionen anfügen, die hoffentlich dazu einladen, den Röstigraben als Chance zu erkennen und auch zu nutzen, sich im Umgang mit Vielstimmigkeit bzw. Diversity zu üben.

MEINE GESCHICHTE MIT DER FRANZÖSISCHEN SPRACHE Seit der fünften Klasse und später im Gymnasium tat ich mich schwer mit dem Fach Französisch. Unter einem meiner letzten Aufsatztexte vor der Matur, den ich im Schweisse meines Angesichtes zusammen schusterte, notierte Monsieur Delachaux, unser FranzLehrer "vous négligez toute la grammaire française"3 und entsprechend dem Kommentar fiel auch die Note aus. Zugleich war ich immer auch fasziniert von dem Fremden, irgendwie reizte mich das, was anders klang. Und als unser Sekundarlehrer zusammen mit der "École française" in Bern ein Skilager organisierte, war ich der erste, der mit den französischsprachigen Mädchen auf einmal ganz eloquent wurde, schliesslich hatten wir als Schüler einer "Knabensekundarschule" wenig Gelegenheit mit Mädchen in Kontakt zu kommen.


Und ich erinnere mich, wie ich mit staunenden Augen und Ohren am Familientisch sass, wenn manchmal der französischsprachige Arbeitskollege meines Vaters mit seiner ausserordentlich elegant gekleideten Gemahlin aus Paris bei uns zu Gast war. Das tönte - und roch - sehr anders, als ich es mir in unserer eher biederen und braven Familie gewohnt war. Und mit Aufregung beobachtete ich den Wandel, der sich mit meinem Vater vollzog. Der "Geist des Lebens" kam über ihn, wenn er so charmant wie fehlerhaft französisch zu parlieren versuchte. Seit ich in der Romandie wohne, freue ich mich mehr und mehr über das, was im Kontakt mit der Frankophonie entsteht. Meine Grammatik ist nicht besser geworden und mein "Vocabulaire" ist immer noch mager im Vergleich zu den unglaublich reichen Möglichkeiten der französischen Sprache, verschiedene Nuancen und Stimmungen auszudrücken. Ich habe alle Scham abgelegt und das Schweigen aufgegeben und bin daran den Reichtum zu geniessen, der sich entfaltet, wenn ich mich auf das für mich "dissonante" Französisch einlasse.

DIVERSITY-ERFAHRUNGEN MIT DER FRANZÖSISCHEN SPRACHE IM JURA UND ANDERSWO Eine Erfahrung, an die ich mich schmerzlich erinnere, betrifft eine Begegnung auf eine Hundespaziergang mit unserem damals jungen Hund. Er ist "fou-fou, mais gentil"4, wie unsere Tierärztin in Porrentruy zu sagen pflegt, und auf diesem Spaziergang ging er - wie es seinem Naturell entsprach - überfallmässig auf eine Familie mit kleinen Kindern los. Begreiflicherweise waren die Kinder verängstigt und der Familienvater kam auf mich zu und deckte mich mit einer Schimpftirade sondergleichen ein, wahrscheinlich mehr als nötig, auch wenn ich sein Erschrecken gut nachvollziehen konnte. Das liess mich einen Moment absoluter Ohnmacht erleben, ich musste die Tirade über mich ergehen lassen, ohne dass ich alles verstand und ich war unfähig adäquat zu reagieren - wie ich das in meiner Muttersprache ohne weiteres gekonnt hätte - mir fehlten die passenden Worte, die Situation zu beruhigen, mich zu

entschuldigen. So dumm und wehrlos habe ich mich noch selten gefühlt. Szenenwechsel: ich sitze nach einem Schulanlass meiner Tochter im Gartenrestaurant mit anderen Eltern, eine neue Familie kommt hinzu und ein kleines Mädchen begrüsst alle der Reihe nach mit "la bise"5 , ich bin auch in der Reihe und strecke dem Kind - wie ich es gewohnt bin (ich küsse doch keine fremden Kinder!) - meine Hand hin, um es zu begrüssen, das Kind bleibt irritiert stehen, gibt mir die Hand nicht, was mich wiederum irritiert, bis ich merke, was ich "falsch" gemacht habe. Ich lasse die Hand fallen und neige ihr mein Gesicht einen halben Centimeter zu und schwups - werde ich herzlich rechts, links, rechts auf die Wange geküsst. An den Strategietagen der SGTA-ASAT6 geht es darum, am zweiten Tag am Morgen das weitere Vorgehen zu besprechen. Ein deutschsprachiger Kollege macht einen ziemlich detaillierten Vorschlag, Schritt 1, Schritt 2, Schritt 3 ... und fast gleichzeitig werden die Teilnehmenden aus der Romandie unruhig, fühlen sich eingeengt und geschulmeistert. Sie hätten das lieber in einem gemeinsamen Gespräch geklärt. Erst nach einer Aussprache gelingt es wieder, die Gemüter zu beruhigen, die Dissonanz zu klären und das Zusammenspiel des Gesamtorchesters wieder zum Klingen zu bringen. Diese Beispiele stehen für Erfahrungen von Diversität. Sie illustrieren die Irritation, die das Fremde und Andere bei mir auslösen kann. Warum lösen solche Erfahrungen von Anderssein eine Irritation bei mir aus? Warum wirken sie dissonant?

EIN STÜCK THEORIE Gemäss der Transaktionsanalyse entwirft ein Mensch schon in seinen jungen Jahren seine eigene Lebensgeschichte wie ein Filmskript, das den Verlauf und die Stimmungen des zu realisierenden Filmprojekts festlegt. Dieses Skript gibt mir vor, welche Rolle ich im Leben zu spielen habe, wie ich mich anderen Menschen gegenüber verhalte, was mir erlaubt und was verboten ist, wie ich mich selbst, die Welt und die anderen sehe. artikelmai20 | 19


Dadurch entsteht ein individueller Bezugsrahmen. Leonhard Schlegel versteht unter "Bezugsrahmen, die Bedeutung, den Sinn und den Wert, den jemand dem, was ihm begegnet, zuordnet"7. Immer wieder wurde in der Transaktionsanalyse diese individuelle Sichtweise des Skripts dahingehend ergänzt, dass dieses Skript nicht nur auf persönlichen Entscheidungen beruht, sondern auch von kulturellen Einflüssen geprägt wird. "Rollenbücher einer Kultur sind die akzeptierten und erwarteten dramatischen Muster innerhalb einer Gesellschaft und werden bestimmt durch die ausgesprochenen und unausgesprochenen Normen, denen die Mehrheit innerhalb dieser Gruppe folgt... Die Rollenbücher der Kultur enthalten Bühnenanweisungen für das Ensemble, die auch Details wie Haltung, Gestik und Handlungen vorschreiben. Selbst ob und wie man Gefühle zeigt, kann kulturell bestimmt sein."8 Und wer in diesem eingespielten Orchester mitspielt, um das Bild von Hoffmann noch einmal aufzunehmen, ist sich dessen meistens nicht bewusst, dass er oder sie sich innerhalb seiner Kultur und Sprache bewegt. Eine solche Person hat keinen Sinn für und keine Einsicht in die Diversität, sondern geht von einem für alle gleichen und einheitlichen Weltbild aus. "Kultur verhüllt mehr als dass sie enthüllt, und eigenartig ist es, dass sie das, was sie verhüllt am wirksamsten vor denen verhüllt, die an ihr teilhaben. Mit anderen Worten, wie die unbewussten individuellen Skriptüberzeugungen, werden die Sitten und Normen als selbstverständlich verstanden und wir sind uns dessen nicht bewusst, wie sie unsere individuellen Bezugsrahmen beeinflussen."9 Das Skript und der Bezugsrahmen und vor allem dann deren kulturelle Einflüsse werden grundlegend durch das "Wort" geprägt, d.h. von der Sprache. Jede Sprache generiert ihre eigenen Bilder, findet Ausdrücke, die es nur im jeweiligen Sprachspiel gibt. So hat jede Sprache ihre eigenen Ressourcen und auch ihre Beschränkungen. Das Wahrnehmen dieser Vielfalt und der jeweiligen Unterschiede macht die Begegnung an der Sprachgrenze so anregend.

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Kulturelle Prägung, das Skript und der Bezugsrahmen sind Elemente, die Identität vermitteln. So bin ich, so sind wir, das gibt Sicherheit, verschliesst aber gleichzeitig für Anderes. Deshalb wird ein "Rütteln" am Bezugsrahmen, das in Frage stellen des Skripts oder die Konfrontation mit Andersartigkeit manchmal als etwas Erschütterndes erlebt. Das sind "dissonierende Töne", die "ins Schweigen bringen". Zugleich sind es genau diese Grenzerfahrungen, die die Lernprozesse in Gang bringen. Das "verübte Orchester" muss sich neu besinnen und auch neue Stücke lernen. Identitätsfindung wird immer mehr zu einer Herausforderung. Eric Lippmann10 beschreibt "Chamäleoneigenschaften", die Menschen brauchen, um in der "Multioptionsgesellschaft" bestehen zu können.11 Sein Fazit: "Neben dem Streben nach Zusammenhang, Kohärenz und Sinn müssen wir als weitere Kompetenz auch eine Toleranz entwickeln, mit Widersprüchen, Paradoxien und Verrücktem umzugehen. Im Zeitalter des Chamäleons heisst das: flexibel sein und Farbe bekennen."12

DIE IDEE VOM KREATIVEN ABSTAND Bei der Vorbereitung dieses Essais stiess ich auf das schmale Büchlein von François Jullien "Es gibt keine kulturelle Identität"13. Jullien schlägt vor, die Verschiedenheit von Kulturen nicht als Differenz zu beschreiben, sondern als Abstand (französisch: écart). Differenz wird seiner Meinung nach "klassifikatorisch..., die Analyse funktioniert über Ähnlichkeit und Unterschiede; zugleich ist sie identifizierend: Indem man von 'Unterschied zu Unterschied' voranschreitet, wie Aristoteles sagt, gelangt man zu einem letzten Unterschied, der das in seiner Definition ausgedrückte Wesen des Dings zu erkennen gibt". Aus Gewohnheit definiere ich mich, indem ich mich von den anderen abgrenze, mein eigenes Rollenbuch spiele, nur meine eigenen Stücke als "rein und richtig" anerkenne. Das engt ein. Jullien fährt weiter: "Demgegenüber erweist sich der Abstand als eine Denkfigur nicht der Identifikation, sondern der Exploration, die andere Möglichkeiten zutage fördert."14


Die Möglichkeiten in Abständen zu denken und nicht in entweder-oder-Kategorien ermöglicht das "Dazwischen" ernst zu nehmen. Das Denken in Differenzen isoliert und bringt die Menschen zum Schweigen. Das Explorieren des Abstandes lädt ein zu ermitteln: wie ist das bei mir? wie ist das bei Dir? "[Die Ermittlung] will herausfinden - sondieren bis wohin andere Wege führen können. Sie ist auf Abenteuer aus."15 Dadurch wird ein Zwischenraum etabliert, in dem die Verschiedenheiten nicht negiert, sondern als Ressourcen aktiviert werden. "In dem eröffneten Zwischen - einem aktiven, erfinderischen Zwischen - verbindet sich mit dem Abstand eine Aufgabe, da er die einmal voneinander gelösten Terme auch weiterhin miteinander verbindet und da diese trotz der Brüche, die sich aufgetan haben, nicht aufhören, einander in Frage zu stellen. Jeder bleibt vom anderen betroffen und verschliesst sich ihm nicht. Könnten die Beziehungen zwischen Kulturen, die dazu tendieren, sich auf 'Unterschiede' zurückzuziehen, davon profitieren?"16

DAS GOLD DER RESSOURCEN Die oben von François Jullien gestellte Frage regt mich an, darüber nachzudenken, inwieweit der Röstigraben in der Schweiz als ein "kreativer Abstand" genutzt werden kann. Die Schweiz hat schon eine lange Geschichte, sich mit kultureller Diversity auseinander zu setzen17, immer wieder wogten die Wogen hin und her, einmal fürchtete sich die Romandie wegen einer Germanisierung ihre Identität zu verlieren, zu anderen Zeiten wehrten sich die Deutschsprachigen gegen ein überhandnehmen der französischen Gebräuche. Daraus entstanden ist ein lebendiges und fragiles Gleichgewicht von Interessenskonflikten und Interessensausgleich. Und auch wenn nicht alles immer optimal läuft - oder vielleicht eben gerade deshalb - ist das ein bemerkenswertes Zeugnis von gelebter Diversität. Anregende Versuchslaboratorien sind die Städte Biel und Freiburg bzw. Bienne und Fribourg. Das Fazit von Rainer Schneuwly

in seinem Buch über den Bilinguismus dieser beiden Städte lautet: "Eine Auskunftsperson sagte im Rahmen einer Umfrage ... 'Le bilinguisme, c'est intéressant, mais c'est fatiguant!' in Deutsch: Zweisprachigkeit ist interessant, aber anstrengend! Der Lohn für die Anstrengungen ist, dass Städte wie Biel und Freiburg etwas Besonderes sind, sie sind spannend, im wahrsten Sinn des Wortes. Die Frage, ob sie sich Biel jemals als rein französischsprachige Stadt gewünscht hätten verneinten die Welschbieler Stéphane Hofmann und Jean-Philippe Rutz. Seien sie in Genf oder Lausanne, fehle ihnen etwas: die Zweisprachigkeit"18 Die Anstrengung lohnt sich auch im zwischenmenschlichen Bereich. Es ist die Anstrengung sich einem Lernprozess zu stellen, der am Bezugsrahmen rüttelt und vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Erfahrungen des Abstandes laden ein, Skriptüberzeugungen zu revidieren. Das ist anstrengend und herausfordernd und zugleich bereichernd und lebensförderlich. Ist es ein Zufall, dass Terri und Jerome White in ihrem Artikel über das kulturelle Skript am Schluss ein - auch in der englischen Originalfassung - französisches Wort verwenden, um den Gewinn zu beschreiben, den eine Öffnung des kulturellen Skripts bewirkt: "joie de vivre"19? Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft mich auf die "Fremdsprache" einzulassen und sie mir ein Stück weit anzueignen. Und auch dieser Effort ist manchmal anstrengend. Ich brauche keine perfekten Kenntnisse, es genügt, wenn es mir gelingt, die Noten in einer neuen Partitur einigermassen zu lesen und so am Reichtum der Diversität teilzuhaben. Ganz praktisch lerne ich im Zwischenraum zwischen den Sprachen besser auf die Unterund Obertöne zu horchen. "C'est le ton qui fait la musique". Auch wenn ich etwas nicht ganz verstehe, so lerne ich, besser auf den "ton" zu hören. Ich werde überhaupt hellhöriger für Unstimmigkeiten und feinfühliger für Empfindlichkeiten. In Gesprächen über die Sprachgrenze hinweg, gehe ich sozusagen selbstverständlich davon aus, dass wir uns nicht verstehen könnten und ich frage eher artikelmai20 | 21


nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Das braucht Zeit, ich werde langsamer. Und nicht zuletzt verhilft diese Verlangsamung, die dadurch entsteht, dass ich und mein Gegenüber immer wieder den Abstand zwischen uns explorieren müssen, zu einer qualitativen Vertiefung der Begegnung. Zugleich habe mich auch endgültig von der Illusion verabschiedet, immer alles verstehen zu können oder gar verstehen zu müssen, bevor ich mit jemandem arbeiten kann. Sich verstehen bleibt immer ein offener Prozess. Diese Einsichten helfen mir übrigens auch, wenn ich mit Menschen der gleichen Muttersprache spreche.

ZUSAMMEN RÖSTI ESSEN Der Röstigraben ist eigentlich gar keine passende Metapher. Vom Wort her stimmt der Begriff nicht, ist doch der Begriff "Rösti" beidseitig der Saane für das Gericht gebratener Kartoffeln geläufig, darüber hinaus stammt "Rösti" etymologisch vom französischen Wort "rôtir" (= braten) ab. Vielleicht können wir das Bild so nutzen, dass es darum geht zu lernen, zusammen Rösti zu essen, von beiden Seiten her, den kreativen Zwischenraum als gemeinsamen Teller zu nutzen. Sich daran zu freuen, wie anders wir sind, uns davon herausfordern zu lassen, zu lernen und zu üben, unsere Bezugsrahmen zu erweitern und im Umgang mit Diversity insgesamt geschmeidiger zu werden. Wenn uns das mit unseren französischsprachigen Nachbarn gelingt, dann können wir das auch mit allen anderen Menschen, die anders sind als wir.20 Um noch einmal das Wort von Hoffmann leicht abgeändert aufzunehmen: Jeder Ton des Fremden dissoniert in meinen Ohren, ja das stimmt; und statt ins Schweigen zu kommen, beginne ich heute Kontakt aufzunehmen und zu sprechen. 1.

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Scherzhafte Bezeichnung für die "gefühlten" Unterschiede zwischen den beiden grössten Schweizer Sprachregionen: Deutschschweiz und Romandie E.T.A Hoffmann: Die Jesuitenkirche in G.; in: Nachtstücke, Insel-Taschenbuch 589, S. 109 "Sie vernachlässigen die gesamte französische Grammatik" "er spinnt, ist aber lieb" "faire la bise" = "sich mit Küsschen begrüssen"

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© Bella RaKo / Pixabay

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SGTA-ASAT: Schweizerische Gesellschaft für Transaktionsanalyse - Association Suisse d'Analyse Transactionnelle, deren Präsident ich im Moment bin Schlegel, Leonhard: Handwörterbuch der Transaktionsanalyse; Herder, 1993, S. 36 James, Muriel; Jongeward, Dorothy: Spontan leben; rororo TB 1290, 1993, S. 95 und 98 Shivanath, Shith; Hiremath, Mita: The psychodynamics of race and culture: an anlysis of cultural scripting... in: Sills, Charlotte; Hargaden, Helena: Ego States; Worth Publishing, 2003, p 171, übersetzt von FLG Lippmann, Eric: Identität im Zeitalter des Chamäleons; V & R Verlag, 2018 (3., aktualisierte Auflage) a.a.O., S. 95ff a.a.O., S. 196 Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität; edition suhrkamp 2718, 2017; a.a.O. S. 36f a.a.O. S. 38 a.a.O. S. 43 vgl. Büchi, Christophe: "Röstigraben" - Das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Schweiz, Geschichte und Perspektiven - Verlag NZZ, 2001 Schneuwly, Rainer: bilingue - Wie Freiburg und Biel mit der Zweisprachigkeit umgehen; hier-und-jetzt Verlag, 2019, S. 147 White, Terri; White, Jerome D.: Die Bedeutungen des kulturellen Skripts; in: Barnes, G. et al. Transaktionsanalyse seit Eric Berne, Band 2: "Was werd' ich morgen tun?; 1980; S. 169 Ein deutschsprachiger Ausbildungsteilnehmer am Eric Berne Institut, der in einem Vorort von Freiburg-Fribourg lebt und als Verkäufer in einem international vernetzten Unternehmen arbeitet, sagte unlängst sinngemäss: wenn ich mit meinem französischsprachigen Nachbarn über die Sprachgrenze zugange komme, dann kann ich auch mit den Chinesen verhandeln.


KOMPLEXITÄT DURCH DIVERSITY – Maya Bentele dipl. Psychologin FH/SBAP, Lehrende und Supervidierende Transaktionsanalytikerin TSTA in den Bereichen Organisation und Beratung. Dolderstrasse 24, CH-8032 Zürich, www.bentele.ch, maya@bentele.ch

Aus der Sicht einer Transaktionsanalytikerin aus dem Organisationsfeld1 werde ich den Zusammenhang zwischen Diversity und Komplexität aufzeigen und daraus ableiten, was dies für die Führung von Organisationen bedeutet. Diese theoretischen Grundlagen nutze ich dann, um anhand einer Organisation, die aufgrund der Vielfalt ihrer Mitglieder, Aufgaben und ihrer Geschichte hoch komplex ist, zu beschreiben, was es für die Führung heisst, Diversität zu bewältigen. Kurz zusammengefasst geht es bei Diversity vor allem um Vielfalt beziehungsweise um den Umgang mit Vielfalt. Vielfalt wird bezogen einerseits auf die Menschen (Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft), aber auch auf Werthaltungen und Erfahrungen, die Einfluss auf den Umgang miteinander sowie auf die gemeinsame Arbeit und Leistungserbringung haben. In einer Organisation sollen möglichst alle Menschen mit ihrer Vielfalt einbezogen und berücksichtigt werden. Auch soll Verschiedenartigkeit positiv besetzt sein und genutzt werden. Wird mit dieser Brille auf eine Organisation geschaut, erhöht sich die interne Komplexität der Organisation und damit ihre Fähigkeit mit extern induzierter Komplexität umzugehen.

Was bedeutet das für die Führung von Organisationen? Komplexe Systeme haben Merkmale, die so beschrieben werden können: • Vernetzt – Jede Aktion oder Intervention wirkt in verschiedenen Bereichen mit unterschiedlichen zeitlichen Auswirkungen. • Unüberschaubar – Die Aussengrenzen des Systems können nur willkürlich bestimmt werden. • Eigendynamisch – Es gibt ständige und stetige Veränderungen und Entwicklungen, auch ohne Einwirkungen von aussen. • Intransparent – Es gibt Fakten oder Daten, die schnell und genau mit Zahlen erfassbar sind (z.B. Anzahl Mitarbeitende), andere Informationen können nur ungenau oder nachträglich erschlossen werden (z.B. Motivation oder Befindlichkeit der Einzelnen). • Nicht streng determiniert – Reaktionen auf Stimuli erfolgen je nach innerem Zustand oder Wahrscheinlichkeit anders. Es gibt immer wieder Veränderungen, bei denen keine Ursache gefunden werden kann. • Instabil – Es entstehen plötzliche Brüche oder unerwartete Wirkungen. Kleine Unterschiede können auf einmal grosse Veränderungen hervorrufen. artikeljuni20 | 23


Das bedeutet für den Umgang mit solchen Systemen, dass es keine Tipps und Tricks, im Sinne von Patentrezepten, gibt. Ein komplexes System ist nicht wirklich durchschauund auch wirklich nicht steuerbar. Es kann höchstens in Teilen analysiert und kaum kontrolliert werden. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass im Einzelfall überlegt werden muss, welche Mechanismen für die Steuerung hilfreich sind. Da im Vorneherein auch unklar ist, was wie wirkt, muss immer wieder ausprobiert und nachgesteuert werden. Die Wahrung von Flexibilität ist dabei sehr wichtig. Übertragen auf Führung bedeutet dies, dass viele althergebrachte Führungstheorien und -konzepte nicht mehr hilfreich sind. Seit einigen Jahren wird deutlich, dass es neue Ansätze braucht, die den oben beschriebenen Voraussetzungen Rechnung tragen. Ein zentrales Thema bei diesen neuen Führungsansätzen ist die Kommunikation und Beziehungsgestaltung sowie die Haltung der Führungspersonen. Dazu bietet die Transaktionsanalyse hilfreiche Landkarten und Theorien, zum Beispiel Grundhaltungen*, Spiele* oder Strokes*. Ausserdem werden je länger je mehr nicht mehr wie früher Funktionen, sondern Rollen beschrieben. Je nach Thematik sind unter-

schiedliche Rollen involviert mit den entsprechenden Kompetenzen und Entscheidungsmöglichkeiten. Das bedeutet, dass die Mitarbeitenden mehr einbezogen werden und damit mehr Verantwortung bekommen. Gleichzeitig braucht es gute Vereinbarungen bzw. Verträge* für die Entscheidungsfindung, für den Umgang mit Konflikten, für die Kommunikation usw. Wichtig sind auch eine gemeinsame Wertebasis und ein gemeinsam getragener Zweck der Organisation. Für diese Art der Führung gibt es keine Tools oder Rezepte, auf die zurückgegriffen werden kann. Das bedeutet, dass ganz vieles gemeinsam neu gedacht und entwickelt werden muss. Dazu müssen oft bewährte Pfade verlassen und Lösungen zweiter Ordnung* entwickelt werden. Diese erfordern Mut und Experimente. Das bedeutet, dass alle – auch die Führung – bereit sein müssen, Bewährtes in Frage zu stellen und sich auf Prozesse einzulassen, von denen niemand im vornherein weiss wohin sie führen. Dies gelingt nur, wenn die Führungskräfte klare Visionen und Ziele für sich und die Organisation haben. Ausserdem müssen sie bereit sein, den Mitarbeitenden Verantwortung zu übergeben. Dabei müssen sie Vertrauen in deren Fähigkeiten sowie die Bereitschaft loszulassen haben. © Michael Weber

*Grundhaltungen oder Grundpositionen: Eric Berne beschreibt, dass Menschen früh Überzeugungen über sich selbst und ihre Umgebung entwickeln. Wahrscheinlich behalten Menschen diese Überzeugungen ein Leben lang bei. Sie lassen sich folgendermassen zusammenfassen: Mit mir ist alles in Ordnung oder mit mir stimmt etwas nicht; Mit dir hat es schon seine Richtigkeit oder mit dir ist etwas nicht in Ordnung.“ Daraus ergeben sich verschiedene Kombinationen und Stellungnahmen von Menschen zu sich selbst und anderen:

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1. Mit mir hat es seine Richtigkeit, und du bist mir recht, so wie du bist; 2. Mit mir stimmt etwas nicht, du bist in Ordnung; 3. Ich bin in Ordnung, aber mit dir stimmt etwas nicht; 4. Mit mir stimmt etwas nicht, und mit dir ist auch etwas nicht in Ordnung. Diese vier Ansichten sind bekannt als Grundhaltungen. Sie stellen die grundlegende Haltung dar, die jemand einnimmt, wenn es um den wahren Wert geht, den er sich und anderen zuschreibt. Diese Haltungen werden benutzt, um Entscheidungen oder Verhalten zu rechtfertigen.

*Spiele: Kommunikation und Beziehungsgestaltung, die nach einem bestimmten Muster ablaufen und von unbewussten Motiven der Beteiligten gesteuert werden. Sie haben einen vorhersehbaren Ablauf und enden für alle Beteiligten in der Regel unbefriedigend. *Strokes: Berne verstand das ganze Leben als Austausch von Anerkennung, der vor allem im sozialen Kontakt entsteht. Dafür prägte er den Begriff „Stroke“. Im Englischen deckt dieser Begriff die Bandbreite von Streicheln bis Schlagen ab. Im Deutschen wird oft der Begriff „Zuwendung“ gebraucht. Berne definiert


dieses Anliegen als Grundbedürfnis oder einen Grundhunger nach Anerkennung und Zuwendung. Damit sich Menschen gut entwickeln und gesund bleiben können, brauchen sie Strokes bzw. Zuwendung. Diese holen oder organisieren sie sich auf ganz unterschiedliche Weise. Die verschiedenen Grundformen von Strokes: positiv bedingte und unbedingte Strokes: Ich mag dich, wenn…, ich mag dich! Negativ bedingte und unbedingte Strokes: Ich mag dich nicht, weil…; ich hasse dich! Jeder Stroke ist besser als keiner. Daraus folgt, dass Menschen, die zu wenig Strokes erhalten, sich negative Strokes organisieren.

*Verträge: In einem Vertrag werden konkrete Ziele für die gemeinsame Arbeit formuliert, die verständlich, verbindlich und für alle nachvollziehbar sind. Alle Beteiligten tragen Verantwortung für ihren Teil, wenn es um die Erfüllung der Vereinbarungen geht. Das führt zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Jede Form der Zusammenarbeit basiert in der Transaktionsanalyse auf einem Vertrag, meist einer mündlichen Vereinbarung. *Lösungen erster Ordnung, Lösungen zweiter Ordnung: Watzlawick (Watzlawick et al, Lösungen, 1992) beschreibt im Zusammenhang

mit Veränderungen Lösungen erster und zweiter Ordnung. Lösungen erster Ordnung sind Veränderungen oder Lösungsansätze, die im ursprünglichen Denk- und Verhaltensmuster stattfinden. Oft ist es mehr desselben, was schon immer getan oder versucht wurde. Lösungen zweiter Ordnung beinhalten eine wirkliche Neuerung, einen qualitativen Sprung. Sie bringen in einem System nachhaltige Veränderungen, die eine höhere Organisationsebene ermöglicht. Es werden neue Denkansätze und Verhaltensmuster möglich.

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Eine Organisation, die mit sehr viel Diversität umgehen muss, ist die EATA (European Association for Transactional Analysis). Bei der EATA handelt es sich um eine Non-Profitorganisation, die 1976 gegründet wurde, mit dem Ziel die zahlreichen Ausbildungen in Transaktionsanalyse zusammenzuführen, um deren Qualität und Standards zu vereinheitlichen. Ausserdem sollten die nationalen europäischen Verbände mit einer gemeinsamen Plattform gestärkt werden, damit sich die Theorie und Ausbildung der Transaktionsanalyse in Europa verbreiten konnte. Dabei war von Beginn an eine enge Kooperation mit den Verbänden auf anderen Kontinenten im Fokus. Die Ausbildung und Theorie der Transaktionsanalyse ist weltweit abgestimmt und koordiniert. Seit Beginn war die Zusammenarbeit innerhalb und ausserhalb der EATA geprägt von einem kooperativen Ansatz, indem wichtige Themen gemeinsam diskutiert und entwickelt wurden. Die EATA ist inzwischen sehr stark gewachsen. Mittlerweile gehören ihr 44 Mitgliedverbände mit mehr als 7’550 Mitgliedern in 29 europäischen Ländern an. Diese Ausgangslage bedeutet, dass die Organisation einen Umgang finden muss, um eine Vielfalt von Menschen, Kulturen, Themen und unterschiedlichen Bedürfnissen miteinander in Beziehung zu bringen und immer wieder Lösungen zu entwickeln, die für alle tragbar und umsetzbar sind. Das war und ist eine sehr grosse Herausforderung für die Führung, in diesem Fall ein Executive Committee (Vorstand) von sechs Personen. Da die EATA erfreulicherweise immer noch Zuwachs an Mitgliedern hat, wachsen die Herausforderungen ständig weiter. Es zeigte sich in den vergangenen Jahren immer mehr, dass die jahrelang bewährten Führungsstrukturen je länger je mehr der Aufgabe, diese Vielfalt zu führen, nicht mehr gerecht wurden. Daher wurde ein Reorganisationsprozess angestossen, mit dem Ziel, die Führung neu zu gestalten. Dazu wurden zunächst viele Diskussionen mit den Delegierten2 geführt. In diesem Austausch wurde klar, wie komplex die Strukturen der EATA und wie vielfältig die unterschiedlichen Themen und Interessen sind. Ausserdem wurde deutlich, dass Führung in verschiedenen Kulturen ganz anders verstanden werden kann. 26 | artikeljuni20

Die Herausforderung war zu überlegen, wie diese hohe Komplexität unter Berücksichtigung der Anforderungen der Diversität geführt werden kann. Es benötigt einerseits viel Flexibilität, um mit den unterschiedlichen Ansprüchen und den anstehenden Entwicklungen gerecht zu werden. Andererseits braucht es für ein solches System auch verlässliche Strukturen, damit sich die Mitglieder orientieren können. Notwendig ist also Führung und Struktur, diese muss sich gleichzeitig ständig neuen Gegebenheiten anpassen können - eigentlich ein Widerspruch in sich. Für die EATA-Führung war das oben beschriebene neue Führungsverständnis, das auf gemeinsam definierten und ausgehandelten Rollen beruht, eine gute Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Eine solide Basis dafür ist der gemeinsame Boden der Transaktionsanalyse sowie das Mission Statement der EATA3. Gleichzeitig bleibt es eine Herausforderung immer wieder an den Verträgen zu arbeiten, damit es verbindliche Regeln für die unterschiedlichen Rollen gibt. Zentrale Themen in diesen neuen Führungsansätzen sind die Kommunikation und die Beziehungsgestaltung. Diese sind in der EATA nicht ganz einfach umzusetzen, da alle Delegierten nur einmal im Jahr zusammenkommen. Wie kann eine stabile Beziehung entstehen, in der Kommunikation auch bei anspruchsvollen Themen gewährleistet werden kann? Dazu kommt noch, dass in den verschiedenen Committees und Task Forces (Arbeitsgruppen) Delegierte zusammenarbeiten, die räumlich weit voneinander entfernt sind. Wie können hier die Kommunikation und Beziehung gut gepflegt werden? Die neuen technischen Möglichkeiten bieten zwar eine Vielzahl von Möglichkeiten. Gleichzeitig haben diese natürlich auch ihre Grenzen oder sogar Tücken. Und nach wie vor kann auch die beste technische Lösung die sporadische persönliche Begegnung nicht ersetzen. Viele Fragen, die im Zusammenhang mit diesem Prozess aufgetaucht sind, konnten nicht auf Anhieb beantwortet werden. Ein gemeinsamer Suchprozess war nötig, der seine Zeit benötigte. Dabei ist es normal, dass immer wieder neue Fragestellungen auftreten, die angegangen werden müssen. Dies zu akzeptieren und auszuhalten ist oft eine Herausforderung. Gelingt es der Führung, in diesem Fall dem Executive Com-


mittee der EATA, mit einer wertschätzenden Haltung innerhalb des Führungsteams und nach aussen mit den Herausforderungen umzugehen, dann kann es Vorbild sein und Halt geben im Prozess. Damit schafft das Executive Committee die Voraussetzungen dafür, dass der Prozess erfolgreich fortgeführt und implementiert werden kann. Als ehemalige EATA-Delegierte der DSGTA war ich mitbeteiligt an diesem Prozess. Diesen habe ich als anspruchsvoll und gleichzeitig sehr bereichernd und befruchtend wahrgenommen. Solche Entwicklungen sind nie wirklich ganz abgeschlossen, sondern müssen laufend evaluiert und nachgesteuert werden. Ich bin zuversichtlich, dass die Basis der TA hilfreich ist, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Es gibt viele hilfreiche TA-Konzepte zum Beispiel die bereits erwähnten Grundpositionen, Spiele, Strokes, die zur Reflektion und Stressreduzierung von allen Beteiligten beitragen können.

1. 2. 3.

In der Transaktionsanalyse werden vier Anwendungsfelder/Fachbereiche unterschieden: Beratung, Pädagogik/Erwachsenenbildung, Organisation und Psychotherapie Die nationalen Verbände entsenden Delegierte des Verbandes (1-2 Personen pro Verband je nach Grösse des Verbandes) zu einer gemeinsamen jährlichen Konferenz (Council). EATA Purpose:In our mission statement we say (among other things): 1 The purpose of the European Association for Transactional Analysis is the following: To promote knowledge and research on Transactional Analysis, to develop its theory, and to ensure agreed standards of practice. 2 To promote cooperation in Europe in the field of Transactional Analysis. 3 To connect the affiliated members of EATA through their national, regional, international or specialist TA Associations. (www.eatanews.org).

Literatur • About EATA – EATA Organizational Structure, EATA (www.eatanews.org) • Bentele M. (2019): Halt und Haltung in der Führung: Der reflektierte Umgang mit sich selbst. In: Scheurenbrand (Hrsg.): Halt und Haltung – Reader zum 39. Fachkongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse, 10.- 12. Mai 2019, Lindau. Lengerich: Pabst Science Publishers. (Seite 179 – 183). • Bentele M. & Weber M. (2015): Macht und Komplexität – Führung verändert sich. DSGTA info eins 15, S. 28 – 31. • Hüther G. (2015): Etwas mehr Hirn bitte – Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht • Kaduk S., Osmetz D., Wüthrich H. & Hammer D. (2013): Musterbrecher – Die Kunst das Spiel zu drehen. Hamburg: Murmann Publisher. • Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations – Ein Leitfaden zu Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Franz Vahlen • Senge P. (1996): Die fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart: Klett-Cotta. • Weber M. (2017): Die Welt im Umbruch – Folgerungen für das Management von Organisationen. DSGTA info eins 17, S. 17 – 21. • Watzlawick et al. (1975): Lösungen.: Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern Stuttgart Wien: Verlag Hans Huber. • Wüthrich H. (2018): Führen als Profession. Referat anlässlich des DSGTA Kongresses 2018 in Luzern. • Zeuch A. (2015): Alle Macht für Niemand – Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Hamburg: Murmann Publishers.

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Jürg Bolliger ist Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker TSTA-E, leitet gemeinsam mit Dr. Maya Mäder und Titus Bürgisser das connecTArt - Atelier für Transaktionsanalyse in Olten und stellt zusammen mit Christin Nierlich verschiedene Angebote zur Online-Weiterbildung zur Verfügung - unter anderem den Podcast „Transaktionsanalyse für’s Ohr“ juerg-bolliger.com | connecTArt.ch | transaktionsanalyse.online jb@juerg-bolliger.com

Nicht perfekt ist perfekt genug

ES SIND HUNDERT! 1. Juli 2020, kurz vor 18 Uhr. In wenigen Minuten geht es los. Christin Nierlich und ich feiern heute mit einigen Hörerinnen und Hörern unsere hundertste Podcast1-Episode. Hundert. Wir haben in den letzten Jahren tatsächlich hundert Gespräche über Themen aus der Transaktionsanalyse aufgenommen und veröffentlicht. Ich lasse den emotionalen Cocktail, der durch diese Tatsache ausgelöst wird, wirken und wandere mit meinen Gedanken in die Vergangenheit.

WIE ALLES BEGANN Es war im November 2014. Wie in jedem Jahr trafen sich die TA-Lehrenden aus dem deutschsprachigen Raum in Rösrath. Im Laufe dieser Tage unterhielt ich mich mit einer Kollegin aus Deutschland über Dieses und Jenes. Ich kannte diese Kollegin bis dahin eher oberflächlich. Wir hatten gelegentlich ein paar Worte gewechselt. Und ich kannte ihren Namen: Christin Nierlich. Unser Gespräch 28 | artikelseptember20

landete irgendwann bei den Möglichkeiten, welche das Internet bietet, und wie diese von uns noch sehr wenig genutzt werden. Eine dieser ungenutzten Möglichkeiten sei das Podcasten, meinte Christin. Ich stimmte ihr bei. Es wäre tatsächlich toll, wenn es einen deutschsprachigen Podcast zu Transaktionsanalyse-Themen gäbe. «Wollen wir das anpacken?» Ich weiss nicht mehr, wer von uns beiden diese Frage stellte. Ich weiss jedoch, dass dies der Grundstein für mindestens hundert Episoden war. Wir machten gleich einen Termin aus. So kam es, dass ich am 21. Januar 2015 den Zug nach Karlsruhe bestieg – im Gepäck ein geeignetes Mikrofon, den Laptop und ein paar TA-Bücher. Ein paar Stunden später sassen Christin und ich am Tisch, zwischen uns das Mikrofon und nahmen unsere ersten Podcast-Episoden auf. Am 1. Februar 2015 war die erste veröffentlicht. Hätte uns damals jemand gesagt, dass es einmal hundert sein werden, wir hätten es nicht geglaubt. Weshalb gelang es uns, in so kurzer Zeit, etwas auf die Beine zu stellen und es kontinuierlich weiterzuverfolgen? Einer der Gründe ist wohl, dass wir nie den Anspruch hatten, perfekt zu sein.


WORUM ES IN DIESEM ARTIKEL GEHT Nach dem kurzen Ausflug in die Vergangenheit unseres Podcasts, wende ich mich dem Thema Perfektion zu. Das Internet bietet heute unzählige Möglichkeiten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu präsentieren. Gerade in diesem Zusammenhang hat die Frage der Perfektion eine besondere Bedeutung. Darauf ist hier der Fokus gerichtet. Ich denke, dass das eine oder andere, das ich vorstelle auch in anderen Kontexten von Bedeutung sein kann. Ich werde erläutern, was ich unter Erfolg verstehe und anschliessend die vier Phasen des Erfolgskreislaufs vorstellen. Darauf aufbauend werde ich die vier Gesichter der Perfektion beschreiben. Dann werde ich den Scheinwerfer noch einmal auf den Podcast richten und spekulieren, wie unsere Geschichte ausgegangen wäre, wären wir in den unterschiedlichen Phasen einem zu hohen Anspruch an Perfektion gefolgt. Mit der Frage, wie Perfektion überwunden werden kann, werde ich den Artikel abrunden und abschliessen.

WAS IST ERFOLG? Jens Uwe Martens und Julius Kuhl bezeichnen das Erreichen von Zielen als Erfolg: Wir wollen hier das Erreichen der selbst gesetzten Ziele Erfolg nennen, unabhängig davon, worauf sich diese Ziele richten2. Ich möchte hervorheben, dass es um selbst gesetzte Ziele geht. Arbeite ich an Zielen anderer und erreiche diese auch, dann ist das im Verständnis von Martens und Kuhl kein Erfolg. Ich ergänze diese Ansicht mit dem Hinweis, dass es auch möglich ist, Ziele von anderen zu eigenen zu machen. Geschieht dies bewusst und reflektiert, ist es als Erfolg zu betrachten, wenn das Ziel erreicht wird.

Erfolgskreislauf (Gysa Jaoui)

DER ERFOLGSKREISLAUF Die französische Transaktionsanalytikerin Gysa Jaoui teilt den Weg zum Erfolg in vier Phasen auf3: 1. Projekt / Idee (project) 2. Umsetzung (implementation) 3. Erfolg (success) 4. Zufriedenheit (satisfaction over success) Wer die vierte Phase abgeschlossen hat, ist bereit für ein neues Projekt. Dadurch entsteht ein fortlaufender Kreislauf. Geht es darum, sich im Internet zu präsentieren, beginnt das mit einer Idee, woraus sich ein konkretes Ziel ergibt. Das kann beispielsweise eine neue Webseite, das Sich-zeigen in Social-Media-Kanälen oder – wie in unserem Fall – ein neuer Podcast sein. Dann geht es ums Umsetzen der Idee. Es stellt sich die Frage, was man selbst tun kann und in welchen Bereichen man Unterstützung von anderen benötigt. Ist das Ziel erreicht, die Idee umgesetzt, ist die Phase des Erfolgs erreicht. Nun heisst es erst einmal, sich freuen an dem, was man erreicht hat. Der Kreislauf beginnt von vorne, wenn man eine neue Idee hat, diese umsetzt usw. Bleibt jemand in einer der vier Phasen stecken, ist laut Jaoui oft ein innerer Antreiber aktiv. Nach Manfred Gührs und Claus Nowak handelt es sich dabei um Verhaltensmuster, mit denen wir versuchen, uns aus Nicht-okay-Gefühlen zu retten4. Jaoui ordnet vier der von Taibi Kahler beschriebenen Antreibern5 den Phasen zu. artikelseptember20 | 29


Phase 1 (Idee): Sei stark!

DIE VIER GESICHTER DES PERFEKTIONISMUS

Bei diesem Antreiber geht es darum keine Schwäche zu zeigen und keine Hilfe anzunehmen. Setzt man eine Idee um, braucht man dafür unter Umständen punktuelle Unterstützung von anderen. Ausserdem besteht das Risiko des Scheiterns. Beides läuft dem Sei-stark-Antreiber zuwider. Darum bleibt man in der Phase 1 stecken, wenn er aktiv ist.

Folgt man den Erläuterungen von Gysa Jaoui, könnte man davon ausgehen, dass Perfektion erst in der dritten Phase ein Thema ist. Ist das so? Nein. Perfektion kann in allen Phasen zum Stolperstein werden. Je nach Phase und damit verbundenem Antreiber zeigt sie sich unterschiedlich.

Phase 2 (Umsetzung): Streng dich an! Folgt jemand diesem inneren Antreiber, dann muss das, was man macht, anstrengend sein. Alles, was nicht mit einem hohen Energieaufwand verbunden ist, ist verdächtig. Das Erreichen von Zielen ist dabei nicht erstrebenswert, weil man sich sonst nicht mehr anstrengen könnte. Daher liegt es auf der Hand, dass jemand, der diesem Antreiber folgt, nicht von der Phase der Umsetzung zum Erfolg gelangen wird. Sonst könnte er oder sie sich nicht mehr anstrengen.

Phase 3 (Erfolg): Sei perfekt! Auch wenn man ein Ziel erreicht hat, kann man stecken bleiben. Konkret heisst das, jemand kann zwar sein Ziel erreichen, diesen Erfolg jedoch nicht geniessen. Das Ergebnis könnte noch verbessert, perfektioniert werden. Ist das der Fall, dann ist nach Gysa Jaoui der Sei-perfekt-Antreiber aktiv. Er verhindert den Übergang zur vierten Phase.

Phase 4 (Zufriedenheit): Mach es anderen recht! Bei diesem Antreiber geht es darum, Bedürfnisse und Wünsche anderer zu erfüllen. Oft sind diese nicht ausgesprochen, sondern werden lediglich vermutet. Eigene Ideen haben keinen Platz, wenn es darum geht, es allen anderen recht zu machen. Hier kommt das Verständnis des Begriffes Erfolg von Martens und Kuhl wieder ins Spiel. Solange jemand Ziele anderer verfolgt, ohne diese zu eigenen zu machen, wird diese Person nicht in den Erfolgskreislauf einsteigen.

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Sei-stark-Perfektion Das Streben nach Perfektion kann der Versuch sein, den Bedarf nach Unterstützung von anderen und das Scheitern des Projekts zu vermeiden. Beides wird als Schwäche interpretiert, wenn der Sei-stark-Antreiber aktiv ist. Jemand kann beispielsweise die Idee einer neuen Webseite so lange perfektionieren, dass es nie zur Umsetzung kommt. Somit entzieht sich diese Person dem Risiko, Schwäche zeigen zu müssen.

Streng-dich-an-Perfektion Perfektion kann dazu dienen, ein gestecktes Ziel nicht zu erreichen. Dies wiederum liefert den Grund, sich weiter reinzuknien und sich mit viel Energieaufwand anzustrengen. Wer an einer neuen Webseite arbeitet und sich aufgrund des Antreibers richtig lange und intensiv anstrengen will, wird immer wieder Details finden, die er noch optimieren kann. Solange die Umsetzung der Idee noch nicht perfekt genug ist, gibt er sich dadurch die Berechtigung, sich weiter anzustrengen und so seinem Antreiber zu folgen.

Sei-perfekt-Perfektion Im Gegensatz zu den anderen hier beschriebenen Arten der Perfektion, geht es nun tatsächlich um den Anspruch, perfekt zu sein. Die neue Webseite steht. Der Erfolg ist da. Wer dem Anspruch des Sei-perfektAntreibers folgt, wird immer wieder Kleinigkeiten finden, die noch optimiert werden können. Hier noch ein Pünktchen, da noch ein Komma. Solange ein erreichtes Ziel nicht als solches gewürdigt werden kann, auch wenn es vielleicht noch perfekter gegangen wäre, wird man diesen Erfolg nicht geniessen können.

Mach-es-anderen-recht-Perfektion Eine weitere Wurzel für Perfektion ist die Erwartung anderer. Geht jemand davon aus, dass andere Perfektion erwarten – egal ob sie das tatsächlich tun oder nicht –, wird er alles daran setzen, diese Erwartung zu erfüllen, solange der Antreiber «Mach es anderen recht» wirksam ist. Entwickelt jemand eine Webseite, weil das alle so machen, wird es nicht zu einem Erfolg im Sinne von Martens und Kuhl führen.


Die vier Gesichter der Perfektion

DER FÜNFTE ANTREIBER

ZURÜCK ZUM PODCAST

Taibi Kahler hat einen weiteren Antreiber beschrieben: «Beeil dich!» Weshalb tritt dieser weder im Erfolgskreislauf von Gysa Jaoui, noch in den beschriebenen Gesichtern der Perfektion auf? Ich erachte diesen Antreiber als eine Art Gegenspieler der Perfektion. Meine Erfahrung ist, dass Menschen, welche dem Anspruch der Perfektion folgen, oft sehr viel Zeit für eine Tätigkeit benötigen. Umgekehrt beobachte ich immer wieder Personen, die dem Beeil-dich-Antreiber folgen und dadurch tendenziell den einen oder anderen Fehler mehr machen als andere. Auf den Erfolgskreislauf bezogen bedeutet das, dass jemand, bei dem der Beeil-dich-Antreiber aktiv ist, die Phasen sehr schnell durchläuft. Die Folge davon können Unvollständigkeit oder Fehler sein.

Im Zusammenhang mit dem Podcast gibt es verschiedene Ziele. Ein entscheidendes war sicher das Erscheinen einer ersten Episode. Das Erreichen von hundert Episoden ist ein Beispiel für ein grösseres Ziel. Ich werde nun einen Ausflug in die Welt der Spekulation wagen. Wie wäre unsere Podcast-Geschichte verlaufen, wären wir einem zu hohen PerfektionsAnspruch gefolgt?

Phase 1: Idee Christin und ich besprechen, wie ein Podcast sein müsste. Was sollte der Podcast beinhalten? Wer ist unser Zielpublikum? Woran müssen wir noch denken, um ein Scheitern zu verhindern? Die Zeit am Lehrendentreffen reicht nicht aus, um alles im Detail zu besprechen. Wir vereinbaren, uns in einem Jahr wieder darüber zu unterhalten und uns bis dann mit E-Mails über unsere Vorstellungen auszutauschen. Auch im Folgejahr gelingt es uns nicht, die Idee so zu perfektionieren, dass wir uns ans Umsetzen wagen können. Nach dem dritten Jahr verläuft die Idee im Sand. artikelseptember20 | 31


Die Folge: Es wäre nie zur Umsetzung gekommen.

daran, zu versuchen, das Gespräch perfekt aufzunehmen.

Phase 2: Umsetzung

Phase 3: Erfolg

Wir haben uns geeinigt: wir wollen einen TA-Podcast ins Leben rufen. Nun geht es darum, unsere Idee umzusetzen. Das ist jetzt mit viel Anstrengung verbunden. Da gibt es so viel zu berücksichtigen. Wir versuchen die perfekte technische Ausrüstung zusammenzustellen. Uff… da gibt es so viele Möglichkeiten, nur schon die richtigen Mikrofone. Und dann müssen wir auch noch ganz genau besprechen, wie wir die einzelnen Episoden gestalten wollen. Und welche Themen behandeln wir? Irgendwann haben wir die ersten Klippen mit viel Energieaufwand überwunden und nehmen die erste Episode auf. Hm,… das war nun aber nicht perfekt genug. Wir machen das nochmal. Und nochmal, und nochmal… Die Folge: Wir wären heute noch am Diskutieren, welches das richtige Mikrofon ist. Oder wir wären zum x-ten Mal

Es ist uns gelungen, wir haben die erste Episode veröffentlicht. Richtig gut fühlen wir uns nicht. Es gibt zu viele «Ähms». Und wir haben ein paar Aspekte des Themas nicht erwähnt. Und überhaupt, die Episode war viel zu kurz. Wir hätten das besser machen können. Die Folge: Es wäre bei einer Episode geblieben und wir würden uns bis heute nicht daran freuen können.

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Phase 4: Zufriedenheit Wow! Wir haben es geschafft. Die erste Episode ist veröffentlicht. Wir freuen uns riesig. Die Feedbacks von Hörerinnen und Hörern sind positiv. Und jetzt? Wie weiter? Was erwarten andere? Kolleginnen und Kollegen wollen wahrscheinlich, dass wir die Theorie möglichst präzise wiedergeben. Menschen, die sich in TA weiterbilden wollen vermutlich hören, wie sie die Theorie mit der Praxis verbinden können. Und Leute, welche die Transaktionsanalyse noch gar nicht kennen, wollen sicher die Modelle so erklärt bekommen, dass sie sie verstehen können.


Die Folge: Entweder hätte es keine zweite Episode gegeben, weil wir die vielen möglichen Erwartungen nicht unter einen Hut gekriegt hätten, oder wir hätten weitergemacht, es wäre jedoch nicht mehr «unser Ding» gewesen. Wir hätten uns an vermuteten Erwartungen orientiert und schon bald die Freude am Podcasten verloren.

Wie es wirklich war Die obigen Beschreibungen sind extrem und absolut. Glücklicherweise trifft keines der Szenarien auf uns zu. Es ist nicht so, dass das Streben nach Perfektion bei uns kein Thema ist. Es gab durchaus auch Momente, in denen wir uns dadurch selbst blockierten. Glücklicherweise ist es uns jedoch immer gelungen, sie zu überwinden.

PERFEKTIONISMUS ÜBERWINDEN Die von mir beschriebenen Arten von Perfektionismus haben gemeinsam, dass innere Antreiber aktiv sind. Da mit dem Befolgen der Antreiber unbewusst versucht wird, das Nicht-okay-Empfinden zu überwinden, gilt es hier anzusetzen. Es geht also nicht darum, Strategien gegen den Perfektionismus zu entwickeln, sondern solche, die dazu beitragen, das Okay-Empfinden zu stärken. Es gibt dafür keinen 7-Punkte-Plan. So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so verschieden sind auch die hilfreichen Strategien.

Im Sinne einer Anregung, nenne ich zwei Konzepte aus der Transaktionsanalyse, die diesbezüglich förderlich sind.

Wertschätzung (positiv-bedingungslose Zuwendung) Die Wertschätzung anderer wirkt sich positiv auf das eigene Okay-Empfinden aus. Die Fragen, die es zu stellen gilt, lauten: Welche Menschen vermitteln mir dieses Gefühl? Wer akzeptiert mich, ohne dass ich dafür etwas leisten muss (auch ohne perfekt zu sein)? Dann lohnt es sich, Zeiten mit diesen Menschen immer wieder ganz bewusst zu geniessen, die Wertschätzung sozusagen tief einzuatmen.

Erlaubnis Die inneren Erlaubnisse, eine Idee zu haben, diese umzusetzen, erfolgreich zu sein und diesen Erfolg zu geniessen, sind gute Voraussetzungen, um die Intensität der Antreiber zu reduzieren. Auch hier gibt es Fragen, die man sich stellen kann: Welche Erlaubnisse brauche ich ganz konkret? Welche Personen vermitteln mir diese Erlaubnisse? Wie gelingt es mir, diese Erlaubnisse zu verinnerlichen? Als eine Art der Erlaubnis schliesse ich diesen Artikel mit der Skala der Perfektion ab. Sie erstreckt sich von mangelhaft bis perfekt. Egal ob es um einen Internetauftritt oder ein sonstiges Projekt geht, soll das Ergebnis gut sein. Absolute Perfektion ist jedoch ein zu hohes Ziel und wahrscheinlich nicht erreichbar. Die Perfektgenug-Zone ist der Bereich, in welcher ein Ergebnis gut oder sehr gut ist. Wer sich erlaubt, es als Erfolg zu sehen, in dieser Zone zu «landen» wird die Perfektionshürden leichter überwinden.

Skala der Perfektion

1. 2. 3. 4. 5.

transaktionsanalyse.online/podcast Martens Jens­Uwe und Kuhl Julius (2014): Die Kunst der Selbstmotivierung Jaoui Gysa (1988): Stages for Success. in: Transactional Analysis Journal, 18 ­ 3, S. 207 ­ 210 Gührs Manfred und Nowak Claus (2006): Das konstruktive Gespräch (6. Aufl.). Meezen: Limmer Verlag Kahler Taibi und Capers Hedges (1974): The Miniscript.In: Transactional Analysis Journal, 4 ­ 1, S. 26 ­ 42

© Bilder und Grafiken von Jürg Bolliger

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Das perfekte Gefängnis Stell dir vor, du bist in einem Gefängnis. Stell dir vor, du weisst nicht, dass du in einem Gefängnis bist und das ist kein Wunder, denn du fühlst dich frei, du kannst gehen wohin immer du willst und tun, was immer du magst. So fühlt es sich jedenfalls an, deshalb hast du dich freiwillig in Gefangenschaft begeben. Dein persönliches Gefängnis rettet dich davor, dich klein, blöd, dick, nicht zugehörig, uninteressant, unliebenswert zu fühlen. Lieber gefangen sein, heisst die Devise, als Schmerz über die eigene Unzulänglichkeit fühlen! Also bringst du dich in Sicherheit. Und für einen Moment fühlt sich das saugut an. Für einen Moment. Der Transaktionsanalytiker Taibi Kahler hat 1974 diesen Gefängnissen Namen gegeben. Er nannte sie »Driver«, zu deutsch »Antreiber«, weil sie uns in ein Verhalten treiben, ohne dass wir das bewusst wahrnehmen: Wir handeln dann ohne zu denken, ohne zu fühlen, als würden wir auf Autopilot fahren, immer die gleiche Straße lang, abbiegen unmöglich. Gefangen eben. Taibi Kahler hat fünf Antreiber herausgestellt, die er am wichtigsten fand und noch heute beschränken sich die meisten Transaktionsanalytiker darauf: Den Sei stark!-Antreiber Den Streng dich an!-Antreiber Den Mach’s recht!-Antreiber Den Beeil dich!-Antreiber Den Sei perfekt-Antreiber

Dasa Szekely Transaktionsanalytikerin (CTA-C), Coach, Autorin, Cartoonistin, Lebensgestalterin, Ausbilderin, Mutter, Freundin, Brotbäckerin, Ungarin, Italienerin u.v.a., nicht immer in dieser Reihenfolge. www.dasacoaching.de kontakt@dasacoaching.de instagram @dasacoaching 34 | artikeloktober20

Wie schafft man es, in eins dieser Antreiber-Verhalten reinzurutschen? Und wie kommt man da wieder raus? Um darauf zu antworten, nehme ich euch mal mit auf meine persönliche Gefängnis-Tour. Überm Eingangstor steht »Sei stark! Sei perfekt!«, das sind meine beiden Lieblingsgefängnisse, flankiert von »Beeil dich!« Von den beiden anderen erzähl ich euch im Anschluss. Wenn ihr mögt, folgt mir in Gedanken und prüft, zu welchem Verhalten ihr in Stress-Situationen tendiert – auf welche der fünf Weisen ihr euch freiwillig eurer Freiheit beraubt.


© Dasa Szekely

LOS GEHT’S! Mein perfekt-Antreiber freut sich: Ich soll einen Artikel für die DSGTA schreiben, da wird er sicher gebraucht werden. In letzter Zeit hab ich ihn ein bisschen vernachlässigt, aber schreiben, das weiß er, das geht nicht ohne ihn! Und so sitze ich hier an einem Sonntag Morgen auf meiner sonnigen Terrasse und beginne diesen Artikel, aufmerksam beobachtet von meinem altbekannten Gefängniswärter Mr. Perfect ( ja, ein Mann, aber das ist eine andere Geschichte). Noch ist alles okay. Anfänge sind total okay. Ich freu mich drauf! Ich möchte darüber schreiben, wie mein Streben nach Vollkommenheit sowohl wunderbar als auch eine Bürde sein kann. Dabei möchte ich ganz locker bleiben und deshalb werde ich auf gar keinen Fall kritische Stimmen meiner Leser antizipieren, so etwas wie: »Uninteressant!« »Kaschiert ihr Unwissen mit vermeintlich lustigem Geschwätz.« »Weiß nicht viel und redet deshalb nur über sich.« »Und die ist Certified Transactional Analyst??« »Hätte mehr erwartet.« »Die fragen wir nicht mehr an!« Obwohl mir bewusst ist, dass diese Stimmen nur in meinem Kopf existieren, verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Mein Herz klopft, ich spüre Druck auf der Brust, atmen geht nicht mehr so

gut. Ich kenne das Gefühl, dieses »Ich bin-nicht okay«-Gefühl. Ich widerstehe meinem Fluchtimpuls (Wäsche abhängen, verdorrte Hibiskusblüten abzupfen, Mails checken usw.) und bleibe bei mir sitzen, beobachtend. Warum haben diese Fantasie-Stimmen eine solche Macht über mich? Nun, sie haben eine direkte Leitung zu sehr, sehr alten verinnerlichten »Botschaften« über mich, die sehr schmerzhaft sind und mit Ängsten verbunden. Und obwohl sie so weh tun, kann ich für einen Moment nicht anders als ihnen folgen, sie ziehen mich in ihren Bann – in der TA nennen wir sie »Bannbotschaften«.

GEHÖRE! NICHT! DAZU! Einer meiner größten Ängste ist, nicht dazuzugehören. Ich bin Flüchtlingskind, in den 60ern als ungarisch-italienische Mischung in einem schwarz-braunen kleinen Dorf in Süddeutschland aufgewachsen (da waren Ungarn noch Zigeuner und/oder Kommunistenschweine). Meine schwarzen Locken gingen bis zum Po und meine Klappe war so groß wie Afrika. Im Kindergarten belehrte man mich schnell einen Besseren, flocht mir strenge Zöpfe (old school Botox) und bedrohte und bestrafte mich so lange bis Afrika auf Liechtenstein-Größe schrumpfte. Nein, kein Galgenhumor. Heute kann ich darüber traurig sein und mich gleichermaßen daran erfreuen, was ich aus meinem Leben gemacht habe – gerade deshalb, weil es so war. Dennoch, manchmal ist sie wieder da, diese Angst. Besonders, wenn ich mich zeigen muss, wie jetzt, gegenüber der DSGTA und deren Leartikeloktober20 | 35


serschaft: Text ist schlecht, du bist eine schlechte TAlerin, keine von uns! Raus!! Aber – Rettung naht: Wenn ich einen suuuuuuuper perfekten Text abliefere, finden mich andere toll und ich gehöre dazu! Wäre mein perfekt-Antreiber ein Hund, würde er freudig mit dem Schwanz wedeln: Jetzt geht’s Gassi! Gemeinsam drehen wir meine Worte auf links. Wir bürsten Sätze so lange bis sie glänzen und streichen dann alles wieder, weil’s einfach immer noch nicht richtig gut ist, nicht gut genug, nicht perfekt genug: Die Gouldings … Mary und Robert Goulding … die beiden Transaktionsanalytiker Mary und … Das amerikanische Ehepaar Mary und Robert Goulding hat 19 … Mist. Wann war das? 1973? Nee, das klingt falsch. 1975? Könnte sein … Das muss unbedingt rein, nicht dass man denkt, ich hätte keine Ahnung, ich muss nachschauen (peinlich!! hätte ich wissen müssen!). In welchem ihrer Aufsätze haben sie denn erstmals über Bannbotschaften geschrieben? Ich schau mal im Transactional Analysis Journal. Stopp - hießen die nicht auch mal »Hexenbotschaften«? Das sollte ich vielleicht erwähnen. Campos, Leonard Campos hieß der mit den Hexenbotschaften. Darauf basierend haben die Gouldings … nein, zu kompliziert. Stattdessen vielleicht noch kurz über die Kultur schreiben, aus der dieses Gedankengut kam. Ja, das wäre noch wichtig: ein kurzer Abriss über das Jahrzehnt von 1965 bis 1975. Mein Herz rast. Das schaff ich nie!!! Ich höre eine Stimme: »Reiß dich zusammen, Dasa! Das kriegst du hin! Wollen doch mal sehen, wie du es diesen hochwohlgeborenen Transaktionsanalytikern und überkritischen Lesern zeigst! 36 | artikeloktober20

Ich bin sauer und wir sind jetzt zu dritt: Mein sei stark-Antreiber hat sich dazu gesellt. Ich fühle mich gleich besser: stark, gewappnet. Und dann – wäre doch gelacht! – schau ich mir das alles an, was ich da zusammen geschrieben habe, und mach das mal ordentlich, so wie ich’s von mir gewohnt bin. Ich schaff das, kein Problem. Hab doch alles in meinem Leben geschafft! Würde ich so – mich immer wieder korrigierend - einen Vortrag halten hätte ich spätestens jetzt alle Zuhörer verloren und würde das im Nachhinein auf die Tatsache zurückführen, dass ich eben nicht perfekt genug vorbereitet war. Das stimmt aber nicht, der eigentliche Grund für mein Verheddern liegt eine Etage tiefer: Bei meinen verinnerlichten Bannbotschaften – die haben mich gestresst. Das Ehepaar Mary und Robert Goulding hat in den 70er Jahren folgende Bannbotschaften als die relevantesten herausgestellt: Sei nicht! Sei nicht du! (Sei kein Junge/ Mädchen!) Sei nicht wichtig! Sei nicht nahe! (Traue keinem!) Gehöre nicht dazu! Sei kein Kind! Werde nicht erwachsen! Fühle nicht! Zeige keine Gefühle! Denke nicht! Schaffe es nicht! Sei nicht gesund! Sei nicht normal! Sei nicht glücklich! »Sind das wirklich die richtigen Bannbotschaften?«, fragt Mr. Perfect, »Es gibt doch noch andere«, sagt er, »solltest du alle auflisten.« Okay. Ich gehe zum Buchregal. Ich schaue, ich lese. Ich schaue auf meinem Computer nach, widerstehe

dem Impuls, den kompletten Originaltext aus dem TA Journal von 1975 zu lesen. Keine Zeit! Das muss ich jetzt schnell hinkriegen. Zackzack! Chopchop! Noch so viel zu tun und so wenig Zeit! Ah - mein »Beeil dich!!!«-Antreiber ist nun auch dabei. Wir sind jetzt zu viert, ich und meine drei Antreiber kopflos im Gefängnishof. Wir sehen nicht, dass die Sonne scheint. Wir fühlen nicht die angenehme Wärme auf unserer Haut. Wir fühlen nichts mehr, wir rennen um mein Leben. Kennst du dieses Gefühl? Kennst du dieses Antreiber-Verhalten von dir? Ich hab mich durchs Beschreiben meiner Situation beruhigt (oder Mr. Perfect holt sich nur schnell was zu trinken) und komme nochmal zurück zu den Bannbotschaften: Was ist das? Bannbotschaften im transaktionsanalytischen Sinne sind in uns abgespeicherte »Verbote«, die uns daran hindern ein erfülltes Leben zu führen. Wir entwickeln sie selbst von Geburt an in Resonanz auf die Menschen in unserem Umfeld, in der Regel zunächst Eltern und Großeltern. Für welche Botschaften wir uns unbewusst entscheiden ist abhängig von der Art und Weise wie andere uns anschauen, berühren, halten, mit uns sprechen … Schon als sehr kleine Wesen erfühlen wir, ob wir in ihrer Welt willkommen sind, ob wir als Junge oder Mädchen erwünscht sind, ob wir mehr Liebe bekommen, wenn wir schon sehr früh sehr vernünftig sind, ob wir unseres Lebens froh, erfolgreich sein dürfen … Noch bevor wir richtig denken und sprechen können entwickeln wir bereits eine Haltung zu uns selbst, anderen und dem Leben gegenüber, die uns unbewusst begleitet bis ins Erwachsenenleben – so lange bis wir sie uns bewusst machen. Unsere Bannbotschaften stellen


Während unsere Bannbotschaften uns nach unten in die Tiefe ziehen, holen uns unsere Antreiber nach oben.

das eigentliche Gefängnis dar und mit den Antreibern versuchen wir, deren Bann zu entgehen. Die Antreiber geben uns ein vorübergehendes Gefühl, okay zu sein.

DROWNING WOMAN

um okay zu sein und von anderen Wertschätzung zu erfahren. Was kann man tun, fragst du dich vielleicht, um diesen Moment zu verlängern, so etwa bis zum Lebensende? Dazu komm ich gleich – Mr. Perfekt möchte unbedingt noch etwas ergänzen:

Die Transaktionsanalytikerin Adrienne Lee hat diese Verbindung sehr nachvollziehbar visualisiert und ich hab‘s nachgezeichnet (Zeichnen ist eines meiner bewährten Hausmittel gegen akute Bannbotschafteritis). Ich hoffe, ich konnte euch deutlich machen, dass es einem als drowning (wo)man nicht gut geht. Die Ballons sind nur besser lebbar, weil sie uns für einen Moment vorgaukeln, wir müssten einfach nur perfekt, stark, sauschnell etc. sein

Sowohl unsere Bannbotschaften als auch unsere Strategien, ihnen zu entgehen sind wichtige Kapitel in unserem »Lebensdrehbuch« oder »Lebensskript«. Das ist ein Konzept von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, und er bezeichnet damit einen Lebensplan, dem wir von Geburt an unbewusst folgen. Daher ist das Ziel der transaktionsanalytischen Beratung oder Therapie die »Skriptfreiheit«, die »Autonomie«. artikeloktober20 | 37


Nun folgt eine Teilantwort auf meine obige Frage, was man tun kann: Ein erster Schritt in Richtung Autonomie ist überhaupt anzuerkennen, dass man sich in einem Gefängnis befindet.

MINISKRIPT – MAXIFRUST Mein Antreiber-Prozess, den ich euch gerade beschrieben habe, ist eine Mini-Variante meines großen »Lebensskriptes« - meinem »Miniskript«. Das lässt sich beschreiben als ein Verhaltensmuster, das einem bestimmtem Ablauf folgt. Innerhalb weniger Minuten kann - unbewusst – folgendes passieren: 0 Ich stehe unter Stress, mein Selbstwertgefühl ist »angeknabbert«. Wie könnte ich mich wieder stabilisieren? Was kann ich tun, um mich wieder gut zu fühlen? 1 Als vermeintliche Rettung gehe ich in mein Antreiber-Verhalten. In diesem Zustand spüre ich mich wenig, habe kaum Kontakt zu mir und meinen echten Bedürfnissen. Aber ich erlebe mich handlungsfähig. Ich kann was dagegen tun! 2 Da man nie stark, schnell, perfekt etc. genug sein kann, wenn man im Antreiber-Gefängnis sitzt, geht die Aktion schief. Ich fühle mich schlecht, verletzt, schuldig, besorgt, leer, verwirrt oder verlegen. 3 In einem Aufbäumen versuche ich, der Verzweiflung über mein schlechtes Gefühl zu entkommen, indem ich andere dafür verantwortlich mache. Hier fühle ich mich möglicherweise vorwurfsvoll, triumphierend, euphorisch, gehässig, wütend. 4 Aber es hilft nichts: Letztlich bringt der Angriff auf andere keine Entlastung und Selbstvorwürfe und Lebensskriptüberzeugungen 38 | artikeloktober20

sowie die dazugehörigen Gefühle breiten sich aus. Hier fühle ich mich möglicherweise wertlos, unerwünscht, hoffnungslos, in der Klemme, ungeliebt, aussichtslos – total frustriert. Diesen Ablauf kenne ich bei mir mittlerweile recht gut, deshalb hat’s bei mir nicht so lange gedauert bis ich bemerkt habe, dass ich »drin« bin in meinem Gefängnis. Als ich mir dabei zuschaute und euch beschreiben habe, was ich gerade erlebe – da war ich mit einem Bein schon draußen. Jetzt hol ich mir noch das andere Bein und beschreibe euch wie versprochen die beiden noch fehlenden Antreiber-Verhalten »Mach’s (anderen) recht!« und »Streng dich an!« Vielleicht erkennst du dich in diesen Beschreibungen wieder? Dann bist du auch schon mit einem Bein draußen. Was das andere Bein angeht – da brauchst du womöglich Unterstützung von einem Berater oder Therapeuten. Der »Mach’s recht«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich es anderen recht mache. Hier zeigen sich Menschen stets bemüht, das Wohlbefinden anderer sicherzustellen. Sie haben immer alle im Blick und versuchen, es ihnen recht zu machen: »Kann ich was tun, brauchst du was?« Oft agieren sie schon im Vorfeld, ohne Aufforderung. Sie können sich gut in andere einfühlen und wissen daher oft schon, was andere brauchen. Meine Klienten mit diesem Antreiber bezeichnen sich häufig als »harmoniebedürftig«. Sie halten Konflikte nicht gut aus, können schlecht nein sagen und verzichten auf ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der anderen: »Mir egal, wo wir hingehen!« Das ist nicht zu verwechseln mit bewusster Rücksichtnahme auf andere. Bei einer bewussten Entscheidung würde man wohl eher mal so-

mal so entscheiden. Andere erleben dieses Verhalten oft als konturenlos: »Jetzt sag doch mal, was DU willst!!« Tja, das fällt unter diesem Antreiber schwer … Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen: Sie sind einfühlsame Zuhörer, sie geben anderen viel Raum und schaffen häufig eine angenehme Atmosphäre für alle. Der »Streng dich an«-Antreiber: Ich bin nur dann okay, wenn ich mich total anstrenge. Menschen, die dieses Antreiber-Verhalten zeigen spüren einen permanenten Leistungsdruck und zweifeln an ihrer Leistungsfähigkeit. Alles fühlt sich dann schwer und unerreichbar an. Sie haben Angst, es nicht zu schaffen – und meistens schaffen sie es dann auch nicht, eben weil sie sich so anstrengen. Sie misstrauen »leichten Erfolgen«: Wenn es zu leicht geht, ist es nichts wert – sind sie nichts wert, nicht okay. Die Mühe, die sie sich mit allem geben steht im Vordergrund, nicht das zu erreichende Ziel. Andere erleben dieses Verhalten oft als lähmend, erdrückend. Manchmal lassen sie sich vielleicht in die Schwere einladen oder sie machen Hilfsangebote à la »Mach’s dir doch nicht so schwer!«, die dann brüsk abgelehnt werden: »Ja, du machst es dir einfach!!« Menschen, die zu diesem Antreiber-Verhalten tendieren haben meist folgende Ressourcen: Sie haben einen langen Atem, sind ausdauernd, beharrlich, geben nicht gleich auf. Sie scheuen keine Mühen und haben oft auch Freude daran, sich in etwas so richtig reinzuknien. Wohlgemerkt: Wir sind nicht immer im Antreiber-Verhalten! Dieses Verhalten aktivieren wir unbewusst in Situationen, in denen wir uns gestresst fühlen.


Wir »haben« auch nicht nur einen Antreiber, sondern meistens eine Kombination, wobei einer oft am stärksten ist. Meine Erfahrung ist, dass sich das je nach Situation verändern kann: Mal führt der eine, mal der andere Antreiber. So. Und wie kommt man da raus oder erst gar nicht rein? Der erste Schritt ist wie gesagt, sich dessen bewusst zu werden, dass man »drin« ist. Sich mit einem liebevollen Blick (also nicht wertend) beobachten hilft schon ungemein: Innehalten, Atmen, spazierengehen, zeichnen … was immer dir hilft, um wieder in Kontakt zu dir zu kommen. Der zweite Schritt ist komplexer:

SUPERKALIFRAGILISTIGEXPIALIGETISCHE BANNBRECHER Ich sagte oben, dass unsere Bannbotschaften das eigentliche Gefängnis darstellen. Nun, Bannbotschaften sind unbewusst verinnerlichte Verbote und die lassen sich mit Erlaubnissen entkräften. Diese Idee ist sensationell (und einer der Gründe, warum ich TA liebe), aber das ist natürlich nicht so einfach wie das klingt. Um seinen Bannbotschaften auf die Spur zu kommen und sie zu entkräften braucht es professionelle Hilfe. Es braucht eine gelingende Beziehung zu einem Menschen, der einem genau

das gibt, was man als Kind nicht bekommen hat. Es braucht Zeit, um sich genau so okay zu fühlen wie man ist. Das vielerorts in den sozialen Medien grassierende »Love yourself« ist alleine nicht zu bewerkstelligen, denn der Grund, warum uns das so schwer fällt, liegt in unseren ersten Beziehungen. Meinen Prozess habe ich als bisweilen schwer und gleichermaßen erfüllend und bereichernd erlebt. Oft hat es auch Spaß gemacht und ich hab’s genossen. Ich bin noch dabei – ich glaube, wir sind immer dabei – und ich erfreue mich daran, mich immer besser kennenzulernen, immer mehr zu mir zu kommen. Ich teile meine Erfahrungen gerne, weil ich andere dazu ermutigen möchte, auch diesen Weg zu gehen: Den einzigen Weg in die Freiheit. Freiheit für mich bedeutet zum Beispiel: Ich bin okay, wenn ich einen Artikel schreibe, der nicht superkalifragilistigexpialigetisch ist. Ich hoffe, er gefällt euch und ich kann es aushalten, wenn jemand von euch enttäuscht ist. Ich mag meinen Hang zu Vollkommenheit, meine Stärke und meine Schnelligkeit. So lange ich nicht im Gefängnis sitze sind das wunderbare Werkzeuge. Den Schlüssel zu meiner Gefängniszelle halte ich in der Hand – und wenn ich ihn mal nicht finde, weiß ich, wer mir beim Suchen helfen kann.

Quellen Zu allen in diesem Artikel genannten Konzepten gibt es Originalliteratur (Eric Berne, Taibi Kahler) und zahlreiche Sekundärliteratur. Hier einige ausgewählte Quellen (Themen alfabetisch geordnet): • Antreiber (Drivers) -> Taibi Kahler (1975) https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/036215377500500318 • Bannbotschaften -> Mary und Robert Goulding Buch »Neuentscheidung. Ein Modell der Psychotherapie.« (1999) Mr. Perfect ergänzt: Leonard Campos (1970) Hexenbotschaften. M. u. R. Goulding haben diese Botschaften nach Campos aufgegriffen und zusätzliche beigefügt (R. Goulding 1972a; R. u. M. Goulding 1976; M.u.R. Goulding 1979, p. 34-42/S. 51-60). • Drowning Person Diagram -> Adrienne Lee YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=OuxCl5A98gE • Lebensskript -> Eric Berne Buch »Was sagen Sie, nachdem Sie Guten Tag gesagt haben?« (1972) • Miniskript -> Taibi Kahler, Hedges Capers (1974) https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/036215377400400110

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Armin Ziesemer Verfügt als zertifizierter Märchenerzähler über ein tiefes Wissen von den Wirkmechanismen der Volksmärchen. Er verbindet dieses als Betriebsökonom mit der Transaktionsanalyse (Praxiskompetenz/ unter Supervision) im Feld Organisation, in der Organisationsentwicklung und im Coaching. www.synop-sys.ch, info@synop-sys.ch

PERFEKT ODER SCHNELL:

Wem gehört die Welt Dieser Artikel betont die Notwendigkeit der Reflexionsfähigkeit von Führungspersonen in einer Zeit, in der psychosoziale Belastungen stetig zunehmen. Die Transaktionsanalyse als psychologische Methode beschreibt mit der Idee des Antreiberverhaltens unbewusste lösungsuntaugliche Verhaltensmuster unter erhöhtem Stress. Dieser Artikel empfiehlt, die Fantasie als Ressource in Gestaltungsprozesse zu integrieren. Dabei wirkt die Arbeit mit Märchen und Geschichten inspirierend, um neue Zugänge für heute unbekannte Lösungen in der Organisationsgestaltung und der Führungsentwicklung zu finden. Als Entwicklungsziel für Menschen in Organisationen wird abschliessend eine «bezogene Autonomie» vorgeschlagen.

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Für die Unternehmensentwicklung gelten heute langfristige, planorientierte Strategieansätze als Mittel der Wahl. Rational und perfekt sollen sie wirken. Dagegen beginnen sich zunehmend aktivitätenorientierte Methoden in die ökonomische Logik zu integrieren. In agilen Organisationen spricht man vom Konzept «Fail fast» (sinngemäss: Untaugliches frühzeitig erkennen und schnell abbrechen). Hier wird spielerisch experimentiert und das Verhalten schnell adaptiert. Dies bedingt eine Kultur, die offen mit Fehlern umzugehen und sie als Lernerfahrung zu verstehen weiss, um rasch vorwärtszukommen. Kurzum: Die Anforderungen an Organisation und Führung wandeln sich. Es scheint, die Perfekten haben ausgedient und den Schnellen gehört die Welt. Für Führungskräfte bedeutet dies, lösungsorientiertes Verhalten neu zu gestalten. Die Transaktionsanalyse kennt «Sei perfekt!» und «Beeil dich!» als Antreiberverhalten: Von Taibi Kahler, dem amerikanischen Psychologen und Transaktionsanalytiker, stammt die Beobachtung, dass Menschen in Stresssituationen immer tiefer in ein Schlamassel geraten, während sie sich selbst als lösungsorientiert wahrnehmen1. Als Ausdruck von Antreiberverhalten haben Sie vielleicht schon einmal beobachtet, wie Ihr Mitarbeiter mit einer Arbeit nicht weiterkommt. Termine werden immer wieder


verschoben, weil das Ergebnis noch nicht perfekt genug erscheint. Nur schon das Email zur Verschiebung – ein Zweizeiler – dauert Stunden bis zum Versand, weil die richtige Formulierung gesucht wird. Oder jemand spricht sehr schnell und hört gleichzeitig nicht richtig zu, weil er in Gedanken bereits schon wieder woanders ist. Ein solch sprunghaftes Verhalten macht es schwer, wirkliche Nähe zu anderen zu erleben. Von aussen betrachtet wirkt der Anspruch, den diese Mitarbeitenden an sich selbst stellen, übermässig. Wirkliche Lösungen werden nicht gefunden. Neben einer latenten oder offenen Frustration entsteht der Wunsch, diesen Menschen zu sagen: «Befrei dich von dieser fremden, bedrängenden Macht!» Bereits als Kind kreieren wir Gestalten für psychische Energien, mit denen wir unser Erleben ausdrücken können. Später unterstützen Modelle Erwachsene, passende Worte für Gutes wie Hinderliches im Leben zu finden. Das Volksmärchen kennt für das Gute stille Helfer. Es kennt auch die Widersacher, die die Heldin oder den Helden an der Entwicklung hindern. Antreiberverhalten ist hinderlich und zeigt sich in existenziell und emotional bedrängenden Situationen. Wir meinen, alte, früh erlernte Verhaltensstrategien lassen uns Probleme «wie früher» gut lösen. Doch funktioniert das meist schlecht. Neben einer als anstrengend erlebten oder gar verfehlten Problemlösung liegt darin eine Not. Daraus resultieren inneres Leid, Konflikte oder krankheitsbedingte Absenzen. Coaching- und Personalentwicklungsmassnahmen unterstützen idealerweise eine integrale Selbstwerdung und fördern eine erlebte psychologische Sicherheit. Antreiberverhalten betreffen über das Verhalten hinaus, so die praktische Erfahrung, emotionale, gedankliche und entwicklungspsychologische Dimensionen. Es ist unbewusst begleitet von einer tiefen Sehnsucht, in der Welt angenommen zu sein. Coachees beschreiben diese oft mit dem Gedanken: «Wenn ich mir noch mehr Mühe geben würde, dann würde ich endlich geschätzt und anerkannt werden.» In Organisationen werden Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» oder «Beeil dich!» belohnt und damit verstärkt. Hier bewusst hinzuschauen, birgt Potenzial in der Perso-

nalentwicklung; denn der Grat zwischen einer gesunden Leistungsbereitschaft und einem ungesund überhöhten Selbstanspruch ist schmal. Führungspersonen sind in ihren Rollen besonders mit den eigenen Antreiberverhalten konfrontiert. Ihnen gilt für gesundheitsförderliche Organisationen in einer sich rasant verändernden Umwelt hohe Aufmerksamkeit. Sollen Führungsstile diese Aspekte integrieren, sind neue Kompetenzen und Modelle gefragt.

NEW WORK: FANTASIE ALS RESSOURCE Über den Begriff «New Work» herrscht ein uneinheitliches Verständnis. Frithjof Bergmann, der Begründer des Begriffs, versteht darunter, den Freiheitsbegriff in die Arbeit einzuführen und sich von «versklavender Lohnarbeit» loszulösen und sich selbst in der Arbeit zu verwirklichen. In einem Interview kritisiert er die heutigen Entwicklungen: «Ich habe mir diese ‘Neue Arbeit’ schon anders vorgestellt, als sie heute zelebriert wird. Mir geht es um grundlegende Dinge, darum, dass Menschen sich nicht in Lohnarbeit, zu der sie keinen inneren Bezug haben, erschöpfen und am Lebensende feststellen, dass sie gar nicht richtig gelebt haben.»2 In der Praxis beschreibt New Work oftmals die Digitalisierung der Arbeitswelt, welche zu Effizienzgewinnen und Einsparungen von Personalkosten führt. Ich selbst schliesse mich einem Verständnis von Arbeit an, das den Menschen in die Bedeutungszumessung von Arbeit in seinem Lebensplan und unter Berücksichtigung einer digitalen Transformation miteinbezieht. Die «neue Arbeit» führt zu einem neuen Verständnis von Arbeit. Wir suchen mehr Sinnstiftung. Dieser hohe Selbstverwirklichungswert lädt uns zunehmend ein, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. In einer Welt, die als unsicher, unberechenbar und mehrdeutig erlebt wird, wird das Selbstvertrauen in die eigene Wahrnehmung zu einem Pfeiler für Entscheidungen. Zusätzlich entsteht in Arbeitsbeziehungen mehr Nähe und Transparenz. Die alte Arbeitswelt trennte Arbeit und Privates. Bei neuen Arbeitsmodellen verschwimmt die Work-Life-Balance, was sich auf unser soziaartikelnovember20 | 41


© Pixabay Gerd Altmann

les Miteinander auswirkt. Wir teilen in der Arbeit mehr Privates. So sehen auch Schnell & Schnell3 in der Definition von New Work, dass sie das Miteinander beim Arbeiten fordere, indem die Vermenschlichung und gemeinschaftliche Interaktion gefördert werde. Nach Rifkin4 benötigt die Entwicklung eines neuen Arbeitsbegriffs einen «Quantensprung der menschlichen Fantasie». Fantasie gilt als Produktionskraft des Bewusstseins und als besondere Verarbeitungsform der Wirklichkeit5. Welche Geschichten wir über uns erzählen, ist von den Vorstellungen abhängig, wie wir uns selbst sehen. Beispielswiese in Beratungen mit Stellensuchenden zeigen sich gerne festgefahrene Antreiberverhalten wie «Sei perfekt!» und «Beeil dich!», die Dämonen gleich, Transformationen im Weg stehen. Ja. Es ist eine heldische Heraus42 | artikelnovember20

forderung, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und bewusst an den gegebenen Kontext anzupassen. Mit der Analyse des Antreiberverhaltens und den damit verbundenen Verhaltensweisen lernen Führungspersonen ihre Beziehungen neu zu gestalten. Das Mehr an individueller Bewusstheit trägt dazu bei, dass Organisationen spontaner werden und sich gesundheitsförderlicher entwickeln. In Organisationsentwicklungen stelle ich fest, dass der Rationalität ein hoher Stellenwert zugemessen wird. Darüber hinaus ist neben dem Erspüren der eigenen Körpersignale, dem impliziten Wissen, die Intuition «überlebenswichtigt, weil wir darüber Entscheidungssituationen vereinfachen.»6 Die Intuition gilt als Quelle der Fantasie. Ihre Akzeptanz erweitert das Blickfeld und


ermöglicht treffende Eingebungen. Andererseits gebären wir mit der Fantasie wiederholt dieselben hohlen Gespenster. Wir erfahren so gelegentlich, dass wir in wiederkehrenden und stereotypen Mustern verharren. In Transformationsprozessen entdecken wir immer wieder Muster des «Mehr desselben». Einem Hamsterrad gleich erkennen wir, wie wir uns in Antreiberverhalten festgefahren erleben. Im einen Fall kann es dauernd «nicht perfekt genug sein» oder im andern «nicht schnell genug gehen». Das Empfinden einer stimmigen, gesunden Qualität, die ein leichtes «Genau so» fühlen lässt, fehlt. Der Entwurf fantasievoller Handlungsalternativen anstelle einer fixierten Wahrnehmung schafft Entwicklungsoptionen. Damit werden unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. Der persönliche Erlebnisraum wird vergrössert und wir nehmen differenzierter wahr. Und es lassen sich Konsequenzen gedanklich vorwegnehmen.

BEGEGNUNG: INNERER DIALOG ALS LERNERFAHRUNG Verständigung lediglich auf sprachlicher Ebene zu suchen, greift zu kurz. Es geht mehr darum, einander zu verstehen, als miteinander zu reden. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung darüber, was Perfektion oder Eile für ihn bedeuten. Wir tragen Prägungen und Bilder in uns, die den Begriffen eine ureigene Bedeutung verleihen. Solche Bedeutungszumessungen abzugleichen schafft offene Lernprozesse für eine gemeinschaftliche Realität in unseren Beziehungen. Unsere inneren Stimmen hindern uns oftmals, einen Realitätscheck zu wagen. Wir bauen in uns geistige Konstrukte, wie die Welt draussen ist und suchen danach, diese auch laufend zu bestätigen. Als soziale Wesen streben wir immer wieder neu nach Beziehungen, auf die wir existenziell angewiesen sind. Wenn wir es zulassen und offen sind, entstehen in der Begegnung Möglichkeitsräume. In solchen Momenten erfahren wir, wie wir Realität im Hier und Jetzt gemeinsam gestalten können und erweitern damit unseren Horizont. Die Bilder unserer Mitmenschen und von uns selbst verändern sich dadurch laufend.

Die stetige Erneuerung unseres Selbstbildes erfordert ein Lassen und ein Handeln im Moment. Wir selbst haben die Wahl, auf welche inneren Stimmen wir hören. Doch die Vielzahl innerer Stimmen erschwert es uns oft, spontan treffend zu wählen. Denn sobald mehrere Stimmen in unser Denken und Fühlen treten, entstehen innere Konflikte. Dadurch verlieren wir die Fähigkeit, ambivalenzfrei zu leben. Wir können diese inneren Konflikte ignorieren oder wir schöpfen daraus Lernerfahrungen. Basierend auf der Transaktionsanalyse und gestalttherapeutischen Techniken entwickelten Mary McClure und Bob Goulding in den 60er Jahren die Neuentscheidungstherapie. Sie geht davon aus, dass der innere Dialog vergleichbar unter Feen, Hexen und Geistern als «Kopfbewohner»7 unser Selbsterleben bestimmt. Ein Teil unserer «Kopfbewohner» strebt danach, dass unsere Weltsicht dominiert und ich bestimmend bin. Ein anderer Teil dieser inneren Stimmen, sucht nach Integration und Kooperation. Aus dieser inneren Zerrissenheit heraus in ein bewusstes Handeln zu kommen, benötigt Arbeit mit und an sich selbst. Lebendig und frei zu handeln, während wir unseren inneren Dialog und unser Leiberleben bewusst wahrnehmen, setzt voraus, dass wir unsere zerstörerischen, dunklen Seiten kennen.

VON DER GRANDIOSITÄT ZU BEZOGENER AUTONOMIE Antreiberverhalten geht mit Selbstabwertungen einher. Solche destruktiven «Kopfbewohner» anerkennen wir im äussersten Fall als so gültig wie das Gesetz der Schwerkraft. Gedanken wie «Ich muss mich immer dafür entschuldigen, dass ich es schon wieder nicht vollkommen hinbekommen habe» oder «Es tut mir immer leid, dass ich zu wenig Zeit für alles habe», können zu paradoxem Erleben führen: Irgendwann geht es nicht mehr perfekter; nicht mehr schneller. Positive oder negative Überhöhungen eines Aspekts der Realität bezeichnet die Transaktionsanalyse als Grandiosität. Wir über- oder minderbewerten Aspekte unserer Selbstwahrnehmung. So geraten wir in Situationen, in denen uns das Alltagserleben vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt. Ebenso tut es artikelnovember20 | 43


das Märchen: In einer einzigen Nacht sollen Berge abgetragen, Schlösser gebaut oder ein Diadem aus Morgentau hergestellt werden. Was im Märchen am Ende meist gelingt, ist vorgängig oft mit grossen Aufgaben verbunden. Nicht selten steht auf das Verfehlen einer Aufgabe gar eine grausame Todesstrafe. Diese Märchenmotive drücken symbolisch die zu tragende Last solcher Selbstabwertungen aus. Sie wirken nicht lustbezogen lebendig, sondern destruktiv. Das Empfinden, nie gut genug zu sein oder nie Zeit vergeuden zu dürfen, staut den Fluss der Lebensenergie. Hören wir sklavisch auf diese Botschaften, schränken wir uns in unseren Handlungsmöglichkeiten ein. Womöglich haben «Kopfbewohner», die lohnende Handlungsalternativen für das Hier und Jetzt anbieten, just in diesem Moment zu schweigen? Neue zu entdecken, kommt dem märchenhaften Zauber gleich, in dem Märchenheldinnen und -helden Zugang zu stillen Helfern finden. Es kommen wie bei Aschenputtel beispielsweise Tauben und legen «die rechten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen». So ist die Aufgabe wie von selbst gelöst und es reicht doch noch zum Tanz auf dem Ball im Königsschloss. Schön wär’s. Nur: Das Volksmärchen ist in seiner Struktur selbst perfektionistisch. Es fällt ihm leicht, das Extreme zu suchen, die hohen Grade zu übertreffen oder verbotene Türen zu öffnen. Was sich immer in einem Märchen auch zu erkennen gibt: Es wird in der Fantasie wirklich und wahr; denn Märchen sind «Träger von Wirklichkeit und Dichtung»8. Im Denken, Fühlen und intuitiven Erspüren entwickelt der Mensch als Held seiner biographischen Erzählung im Heranwachsen sein Lebensdrehbuch. In der Beratung erfahre ich immer wieder, wie aktivierend die Fähigkeit zum magischen Denken auf das Verhalten Erwachsener wirkt. In ihm findet sich die für das Erfassen der Wirkkraft des Märchens notwendige Imaginationsfähigkeit. Märchen beschreiben den Weg, wie Not überwunden werden kann in ihrer eigenen Weise. Als zertifizierter Erzähler schätze ich seine Wirkmechanismen sehr. Sie betonen nicht Flucht oder Kampf als Leitstern zum Handeln, sondern die Perspektive 44 | artikelnovember20

wandelt sich «zum freien, bejahenden Kind»9. Diese Energie fördert im Antreiberverhalten Ressourcen, die zu beeindruckenden Leistungen beflügeln können. So ist die Stärke von «Sei perfekt!» eine «beeindruckende Gründlichkeit und Genauigkeit»10. Menschen mit bevorzugtem Antreiberverhalten «Beeil dich!» können in kurzer Zeit sehr viel schaffen. «Sie sind besonders gut für Aufgaben geeignet, in denen Tempo und Dynamik gefragt sind» (ibid)11. Von Grandiosität und abwertenden Verhaltensweisen in eine bezogene Autonomie zu gelangen wird im Antreiberverhalten durch den Glaubenssatz «ich bin nur OK, wenn …» verhindert. Die «bezogene Autonomie» kann als das Entwicklungsziel der Transaktionsanalyse betrachtet werden. Sie drückt das Paradox aus, dass wir uns hingeben und gleichzeitig abzugrenzen suchen. Den Glauben an diese «Nur-Wenn»-Annahme haben wir in uns oder möglicherweise in einem Gründermythos bei Organisationen verinnerlicht. In Stresssituationen greifen wir darauf zurück. Das Lassen der «Nur-Wenn»-Annahme fällt in einem angstfreien, vertrauensvollen Umfeld leichter. Dabei sind Erlaubnisse hilfreich. Erlaubnisse ermutigen, neue Denk- und Verhaltensmuster auszubilden. Manchmal gelingt es uns, uns selbst Erlaubnisse zu geben. Für die Entwicklung einer bezogenen Autonomie kann es zusätzlich unterstützend wirken, eine Beratung oder gar therapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen. In der Literatur finden wir zahlreiche Varianten

ERLAUBNISSE ZU «SEI PERFEKT!» ➜ Du darfst Fehler machen, ohne dich unzulänglich zu fühlen, und kannst daraus lernen. ➜ Du darfst dich so zeigen, wie du bist, und deinen eigenen Stil entwickeln. ➜ Du darfst die Zusammenarbeit mit anderen geniessen.

ERLAUBNISSE ZU «BEEIL DICH!» ➜ Du darfst dir Zeit nehmen und herausfinden, was du selbst willst. ➜ Du darfst nachdenken, bevor du es auf deine Art tust. ➜ Du hast das Recht auf eine eigene Meinung.


von Antithesen. Gührs und Nowak12 haben in ihrer Arbeit wesentliche gesammelt (siehe Kasten S. 5).

WEM GEHÖRT NUN DIE WELT Die zunehmende Beschleunigung wandelt Arbeitsbeziehungen und digitale Arbeitsmodelle bergen die Gefahr zur Entfremdung. Gängige Rezepte sind nach wie vor im «Mehr desselben» zu finden. Beschleunigung und Perfektion heizen unter dem Deckmantel von Begriffen wie «New Work» oder «Digitaler Transformation» Organisationen auf, was die psychosoziale Belastung erhöht. Führungspersonen tragen die Verantwortung darüber, ob sie Arbeitsbeziehungen abwertend oder wertschätzend gestalten. Dafür ist es wesentlich, welchen «Kopfbewohnern» wir das Zepter überreichen. In klassisch hierarchischen Strukturen wird der Mut zur Eigenverantwortung unterbunden und Dialog auf Augenhöhe gemieden. Der Regent sitzt auf dem Thron und die Untertanen passen sich an – das Bild eines grandiosen Herrschers. Eine Transformation hin zu einer bewussten Gestaltung konstruktiver Arbeitsbeziehungen erfordert neue Kompetenzen und Fantasie, Arbeit schliesslich als sinnstiftende Lebenszeit neu verstehen zu lernen. Im Märchen finden sich viele Motive, solche neuen Wege zu suchen. Gerade das Bild der Königin resp. des Königs im Märchen lohnt sich, erforscht zu werden. Denn der Weg zur Herrschaft, liegt nicht darin, möglichst schnell oder perfekt zu sein. Wahres Königtum liegt darin, das eigene Leben frei, spontan, in Beziehung und unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts zu gestalten. Sich zu erlauben, sich selbst lebendig und authentisch im Hier und Jetzt auszudrücken; darin liegt der Königsweg. Auf diesem ist es eine heldische Tat, das eigene Antreiberverhalten zu durchschauen und sich selbst als Mensch mit seinen wahren Bedürfnissen zu entdecken.

1. https://inkovema.de/blog/das-antreiber-konzept-der-transaktionsanalyse-alsdiagnose-und-interventionskonzept-fuer-die-mediation/ [17.07.2020] 2. https://blog.derbund.ch/berufung/index.php/35779/es-gibt-sehr-viele-arten-dasleben-zu-verpassen/ [17.07.2020] 3. Schnell, N. et Schnell, A. (2019: 16): New work hacks. Springer. Berlin. 4. Rifkin, J. (2011: 26): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft: Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert. 3. aktualisierte Auflage. Fischer Taschenbuch. Berlin. 5. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/phantasie/11488 [16.07.2020] 6. Korpiun, M. et al. (2017: 97): Vom Ich zum Wir – Warum wir ein neues Menschenbild brauchen. In Relation Publication No. 2. Books on Demand. Norderstedt. 7. Goulding, M. (2011: 17): «Kopfbewohner» oder: Wer bestimmt mein Denken? 8. durchgesehene Auflage. Junfermann. Paderborn 8. Lüthi, M. (2004: 115): Märchen. 10. Auflage. J. B. Metzler. Stuttgart. Weimar. 9. Rosenkranz, H. (2016: 50): Wie wir aus Stroh Gold machen können – Wertorientierte Erfolgsstrategien durch Gruppendynamik, Transaktionsanalyse und systemische Organisationsentwicklung. Team Dr. Rosenkranz. Gräfelfing. 10. Gührs, M. et Nowak, C. (2014: 112): Das konstruktive Gespräch – Ein Leitfaden für Beratung, Unterricht und Mitarbeiterführung. Christa Limmer. Meezen. 11. ibid: 110 12. ibid: 115 ff

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„SEI PERFEKT!“ Dr. Angelika Marighetti Marighetti Coaching & Consulting Beraterin und Coach mit den Schwerpunkten Führung, (agile) Transformation / Change Management, Teamentwicklung, Kommunikation Aus- und Weiterbildungen: Agile Culture Coach bei Synnecta, Köln – Kommunikationspsychologie / Kommunikationsberatung beim Schulz-von-ThunInstitut, Hamburg – Familien- und Systemaufstellungen bei Angelika Glöckner, Bammental Diverse interne Weiterbildungen als angestellte Unternehmensberaterin – Beraterin und Coach beim Institut für Transaktionsanalyse und Tiefenpsychologie, Kassel. – R.O.M.P.C.-Beraterin und Coach beim Institut für Transaktionsanalyse und Tiefenpsychologie, Kassel.

Wie uns ein kleiner Antreiber das Leben ganz schön schwer machen kann. Wer möchte nicht perfekt sein? Auch wenn wir wissen, dass die Fotos, die in den sozialen Netzwerken gepostet werden, inszeniert und retuschiert sind: wir sind doch fasziniert von den perfekten Gesichtern, den perfekten Körpern und dem perfekten Leben, das uns da entgegen lächelt und uns auffordert, genauso zu sein. Und dann setzen wir uns hin

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und bearbeiten unser Selfie so lange, bis es auch perfekt aussieht. Während wir das tun, hören wir immer wieder eine kleine Stimme im Ohr die Sätze sagt wie „Komm, das geht noch besser!“ oder „Ja, schon ziemlich gut – aber da am Kinn ist die Linienführung noch nicht optimal.“ Oder „Schau mal nach, ob es mit einem anderen Filter nicht noch besser aussieht.“

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Bei manchen von uns ist diese Stimme ganz schön laut und kann dazu führen, dass wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, bis wir auch den minimalen, fast unsichtbaren Farbunterschied auf der Stirn oben links ausgeglichen haben. Einige Menschen würden uns fragen, warum wir diesen Aufwand betrieben haben, wenn das eh keinem auffällt, aber wir sind überzeugt, dass es jedem aufgefallen wäre und der Aufwand gerechtfertigt ist. Die Stimme in unserem Ohr macht sich in vielen Situationen bemerkbar. Sie führt oft dazu, dass wir uns das Leben schwerer als nötig machen, dabei jedoch überzeugt sind, dass unser Tun notwendig und unverzichtbar ist. Die meisten von uns haben mehr als eine dieser Stimmen im Ohr – je nach Situation. Wir nennen sie unsere „Inneren Antreiber“, die seit unserer frühesten Kindheit unser Verhalten beeinflussen1. Bei den Antreibern handelt es sich um Botschaften, die uns als Kinder verbal oder nonverbal eingeschärft wurden und die sich in unseren Denk- und Verhaltensmustern widerspiegeln, ohne dass sie uns bewusst sind. Die Transaktionsanalyse hat fünf Antreiber identifiziert, auf die wir Menschen uns in besonders herausfordernden Situationen verlassen. Sie heißen: „Sei stark!" „Streng dich an!“ „Sei perfekt!“ „Sei anderen gefällig!“ beziehungsweise „Mach’s allen Recht!““ „Beeil Dich!“ Die „Inneren Antreiber“ sind mit spezifischen Verhaltensweisen verbunden. Im positiven Sinne motivieren und unterstützen uns diese Antreiber, unsere Ziele zu erreichen und ein glückliches Leben zu leben. Wenn einer oder mehrere von ihnen jedoch zu dominant sind, sitzen sie uns wie fiese kleine Sklaventreiber im Nacken und machen uns das Leben schwer. Denn wir können gar nicht anders, als ihnen in problematischen Situationen oder unter Stress fast automa-

tisch zu folgen und merken nicht, dass sie uns auf Dauer nicht guttun. Die Frage ist natürlich, wie solche Antreiber entstehen. Wie die meisten psychologischen Schulen geht auch die Transaktionsanalyse davon aus, dass wir uns unsere grundlegenden Verhaltensmuster in den ersten 3-6 Lebensjahren aneignen. Ab dem Zeitpunkt unserer Geburt wirken unsere Eltern und Bezugspersonen durch ihr bewusstes und unbewusstes Verhalten auf uns ein. Die Aktionen und Re-Aktionen unserer Eltern stellen für uns einen Referenzrahmen dar, an dem wir unser eigenes Handeln ausrichten. Wir bilden Grundüberzeugungen über uns selbst, die anderen Menschen und die Welt im Allgemeinen. Das geschieht in einem Alter, in dem wir noch nicht reflektieren können, deshalb nehmen wir sie unhinterfragt als Wahrheit an. Unsere Eltern und Bezugspersonen wollen in der Regel nur das Beste für uns, möchten, dass es uns gut geht und dass wir gut auf das Leben vorbereitet sind. Dazu loben und ermutigen sie uns und geben uns viele positive Rückmeldungen. Andererseits schärfen sie uns auch bestimmte Verhaltensweisen ein durch Sätze wie: „Trödel doch nicht so!“ „Das geht aber noch besser!“ „Streng Dich an, dann kriegst Du es hin!“ „Jetzt reiß Dich mal zusammen!“ „Nimm Dich nicht so wichtig!“ Oft reichen dazu auch kritische Blicke oder eine missbilligende Körpersprache. So lernen wir als Kinder, dass wir dazugehören und geliebt werden, wenn wir diese Einschärfungen befolgen. Wenn wir das nicht tun, werden wir getadelt oder beschämt und fühlen uns unzulänglich und letztendlich minderwertig. Um diese Gefühle und die durch sie entstandenen seelischen Verletzungen zu vermeiden, machen wir uns die Anweisungen zu eigen. Dadurch entsteht in uns eine Art innere Landkarte, an der wir uns unser Leben lang orientieren. Sie bestimmt in hohem Maße unsere Wahrnehmung, unser Empfinden, Denken und Handeln, ist jedoch zum Glück durch Erfahrungen, Lernprozesse und Selbstreflexion veränder- und erweiterbar. artikeldezember20 | 47


© Pixabay Gerd Altmann

Um unsere innere Landkarte zu verändern oder durch eine neue zu ersetzen, ist zuallererst einmal die Selbstreflexion wichtig. Um herauszufinden, welcher meiner inneren Antreiber mir das Leben schwer macht, gibt es mehrere Möglichkeiten: Entweder beobachte ich mich selbst und reflektiere meine eigenen Muster oder ich frage mir nahestehende Personen, welche Muster sie an mir wahrnehmen oder ich mache einen onlineAntreiber-Test oder ich arbeite mit einem Coach oder Therapeuten. Noch einmal: unsere Antreiber tun uns sehr gute Dienste! Wenn sie allerdings zu „Sklaventreibern“ mutieren, ist es Zeit, hinzuschauen und ihnen diese Rolle zu entziehen!

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DA ES IN DIESEM ARTIKEL UM DEN ANTREIBER „SEI PERFEKT!“ GEHT, SEIEN HIER ZUERST DIE POSITIVEN SEITEN DES ANTREIBERS GENANNT: Wenn bei uns dieser Antreiber gut ausgeprägt ist, motiviert er uns, mehr zu lernen und besser zu werden. Wir fordern uns zu Höchstleistungen heraus und haben einen hohen (Qualitäts-) Anspruch an uns selbst. Wir sind gut darin, die Konsequenzen unseres Handelns schon im Voraus mit zu bedenken. Wir haben einen Blick für’s Detail und bemerken mühelos Fehler oder Unstimmigkeiten. Das sind ganz wunderbare Fähigkeiten, die besonders im beruflichen Kontext sehr geschätzt werden. So ist es sehr von Vorteil, wenn der Mechaniker, der mein Auto repariert, einen gut ausgeprägten „Sei perfekt!“-Antreiber hat, denn dann kann ich sicher sein, dass der Fehler dauerhaft behoben ist. Auch freue ich mich, wenn mein Zahnarzt einen Hang zum Perfektionismus hat, weil sich dann die Füllungen von der Farbe her optimal an die natürliche Farbe und Form anpassen.


© Pixabay John Hain

Zeigt sich dieser Antreiber aber als Sklaventreiber, so führt er dazu, dass wir Entscheidungen verzögern und Aufgaben nicht abschließen, weil wir nicht alle Informationen haben oder nicht genug in die Tiefe gegangen sind. Auch ist unser Wunsch, detaillierte Informationen zu geben und zu erhalten, oft zeitraubend für andere. Wir wenden viel Energie für Details auf und vernachlässigen dadurch die wichtigen Aufgaben. Für alle Beteiligten wäre es allerdings schwierig, wenn der Zahnarzt mehrere Stunden für eine einzige Füllung bräuchte, um die perfekte Farbschattierung zu erhalten. Denn dadurch würde der Patient eine Kiefersperre bekommen und die Zahnarztpraxis wäre finanziell nicht überlebensfähig. Neben diesen sehr generellen Beispielen möchte ich Beispiele mit dem Antreiber „Sei perfekt!“ aus meiner Praxis teilen. Dabei ist auffallend, dass mir mehr weibliche Führungskräfte mit diesem Antreiber begegnen als männliche. Deshalb schildere ich ein typisches Beispiel anhand einer Coaching-Klientin. Frau Katharina Wagner2 leitet seit 3 Jahren eine Abteilung mit 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einem internationalen Konzern. Sie ist verheiratet und hat 3 Kinder zwischen 7 und 12 Jahren. Ihr Mann ist ebenfalls Führungskraft. Frau Wagner kam zu mir ins Coaching, weil sie – wie sie es ausdrückte - ihre „individuellen Baustellen in einem geschützten Raum bearbeiten“ wollte: sie fühle sich auch nach 3 Jahren immer noch nicht souverän genug als Führungskraft. Auch hatte sie immer wieder Zweifel, ihrer Familie und da besonders den Kindern gerecht werden zu können. Zudem machten

sich körperliche Symptome wie Schlafstörungen und „Gedankenkarusselle“ bemerkbar. Alles in allem wollte sie das Coaching nutzen, um zu reflektieren, ob sie die Führungsposition beibehalten oder besser abgeben sollte. Während unserer Coaching-Sitzungen wurde bald deutlich, dass Frau Wagner vom „Sei perfekt!“-Antreiber dominiert wird: Sie hat nicht nur die üblichen Führungskräfte-Schulungen besucht, sondern auch viele Fachbücher zu diesem Thema gelesen und hält sich in Bezug auf neue Entwicklungen auf dem Laufenden. Ihre Kommunikations- und Meetingkultur ist vorbildlich: sie hat mit ihren 3 direct reports regelmäßig individuelle Gespräche und Teammeetings, dazu Feedback- und Zielgespräche. Hinzu kommen zweimal jährlich Offsites zu strategischen Themen, die auch dem Teamgeist dienen. Sie kommuniziert wertschätzend und transparent – auch in schwierigen Situationen. Wenn irgend möglich, bezieht sie alle Betroffenen in Entscheidungen mit ein und erläutert die getroffenen Entscheidungen. Die Atmosphäre in der Abteilung ist ihr wichtig; sie möchte, dass sich die Leute wohl fühlen und sie achtet darauf, dass sie für die Mitarbeitenden nahbar ist. Jedes Jahr findet ein Teambildung-Event für die gesamte Abteilung statt und ihre Tür steht immer offen. Frau Wagner setzt alles daran, den Ansprüchen, die sie durch eigene Erfahrungen und durch Fachliteratur an sich stellt, gerecht zu werden und die perfekte Führungskraft zu sein. So bereitet sie sich beispielsweise akribisch auf Gespräche und Meetings vor, besonders auf kritische Unterredungen und auf Konfliktgespräche. Für alle Unterlagen, die an den Bereichsleiter oder Vorstand gehen, macht sie höchstpersönlich die Qualitätssicherung. An manchen Abenden sitzt sie noch bis kurz vor Mitternacht vor dem PC, um sicherzustellen, dass alles berücksichtigt artikeldezember20 | 49


wird, sich keine Fehler eingeschlichen haben und auch, weil sie einige Passagen neu formuliert oder die Visualisierungen austauscht. Sie hat eine genaue Vorstellung davon, wie die Ergebnisse auszusehen haben und investiert gerne Zeit, um das zu erreichen. Denn es ist ihr wichtig, dass ihre Abteilung einen optimalen Eindruck abgibt. 11-Stunden-Tage sind für Frau Wagner eher die Regel als die Ausnahme. Deshalb übernimmt ihr Ehemann, der einen geregelten Feierabend hat, abends den Haushalt, damit sie „quality time“ mit ihren Kindern verbringen kann, wenn sie heimkommt. Trotz der hervorragenden Arbeitsteilung mit Ihrem Ehemann in Bezug auf Haushalt und Kinder hat Frau Wagner den Anspruch, eine perfekte Mutter zu sein. Deshalb stellt sie sich auch nach einem langen Arbeitstag nach Mitternacht noch in die Küche, um ihrem Sohn einen Geburtstagskuchen zu backen. Am Wochenende bastelt oder backt sie mit den Kindern oder näht für sie Halloween-Kostüme, denn die müssen originell und selbstgemacht sein. Mit mir als Sparringspartnerin reflektiert Frau Wagner im Coaching diese Situationen. Dabei wird schnell deutlich, dass der „Sei perfekt!“-Antreiber bei ihr die Rolle des Sklaventreibers übernimmt. Intellektuell begreift Frau Wagner sehr rasch, dass dieser Antreiber ihr das Leben schwer macht. Gemeinsam erarbeiten wir Strategien auf der sachlich-fachlichen sowie auf der emotionalen Ebene, um ihn zu entschärfen. Dazu gehört einerseits, dass sich Frau Wagner bewusst macht, wie sie ihre Rolle als Abteilungsleiterin leben will. Welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten gehören wirklich dazu und welche wurden von ihrem Antreiber diktiert? Welches ist ihr Führungsverständnis und wie kann sie das authentisch und ohne Selbstausbeutung leben? Sie definiert ihre 5 Prinzipien guter Führung und entschlackt ihre to-do-Liste. Das gelingt, indem bei jedem Punkt hinterfragt wird, ob er wirklich notwendig ist und – wenn ja – ob sie ihn delegieren kann. Ihr Zeitmanagement wird rigoros hinterfragt und entschleunigt. Pausen und regelmäßi50 | artikeldezember20

ge Termine der gedanklichen Reflexion / Grundsatzüberlegungen / Besinnung werden feste Bestandteile ihres Kalenders. So wird der Fokus auf das Wichtige gelegt und durch die regelmäßige Reflexion auch dort gehalten. Ihre „Hausaufgabe“ besteht in den ersten Monaten darin, 2x pro Woche um 17 Uhr Feierabend zu machen. Diese sachlichfachlichen Punkte sind für Frau Wagner nur mittlere Herausforderungen. Es ist Frau Wagner durchaus bewusst, dass kein Mensch „perfekt“ sein kann und dass Fehler passieren. Beides gesteht sie anderen Menschen ohne weiteres zu, doch in Bezug auf sich selbst kann sie das nicht gelten lassen. Sie stellt an sich weit höhere Ansprüche als an ihre Mitmenschen. Denn der wahre Knackpunkt ist die innere Gefühlslage, die sich bei ihr einstellt, wenn der Antreiber „Sei perfekt!“ nicht bedient wird. Dann kommen Ängste und Befürchtungen hoch. Gefühle tiefen Ungenügens und der Wertlosigkeit stellen sich ein, wenn die selbst (zu hoch) gelegte Messlatte nicht erreicht wird. Als Konsequenz daraus stellt sie dann alles in Frage: trägt ihre motivierende Ansprache einem Mitarbeitenden gegenüber keine Früchte, stellt sie in Frage, ob sie eine gute Führungskraft ist. Kommt Kritik vom Vorstand an der Performance der Abteilung, bezweifelt sie, für die Rolle der Abteilungsleiterin überhaupt geeignet zu sein. Selbst wenn diese Momente meist nur kurz dauern, so sind sie doch energieraubend und schwächen das Selbstwertgefühl. Wie geht das also, den inneren Antreiber zu entmachten und zu fühlen, dass wir human BEINGS (und nicht Human Doings) sind? Ein erster Schritt ist, sich klar zu machen, welche positiven Aspekte und welchen Nutzen der Antreiber in unserer Kindheit hatte und welche er auch heute noch hat. Als zweiten Schritt nutze ich gerne die Methode des Inneren Teams3, um den Ängsten und Befürchtungen eine Stimme und ein Gesicht zu verleihen und alle zu Wort kommen zu lassen.


Anschließend wird der Sklaventreiber nach und nach entmachtet, indem Frau Wagner sich auf ihre Situation zugeschnittene Erlaubnisse formuliert, die eine emotionale Reaktion bei ihr hervorrufen. Um das noch zu verstärken, hat sie sich ein Symbol gewählt, das sie an ihre Erlaubnisse erinnert. Inzwischen geht Frau Wagner gelassen und entspannt mit ihrem Antreiber um und nutzt seine motivierende Kraft, ohne sich versklaven zu lassen.

GANZ GRUNDSÄTZLICH SEI FOLGENDES GESAGT: Wir können unsere Antreiber nicht einfach löschen oder ignorieren. Wir können sie jedoch so abmildern, dass sie wieder zu einer motivierenden Energie für uns werden. Dazu bedarf es Erlaubnisse, die wir ihnen wie einen Gegenzauber entgegenhalten. Es gibt allgemein formulierte Erlaubnisse wie „Ich bin gut genug!“ „Gut ist gut genug!“ „Ich bin wertvoll und liebenswert!“ „Ich darf Fehler machen!“ „Besser erledigt, als perfekt!“ „Ich habe alles, was ich brauche, um diese Aufgabe zu erledigen!“ Diese Erlaubnisse entlasten uns vom Druck, immer noch besser sein zu müssen. Wenn wir uns diese Erlaubnis in jeder Situation, in der uns unser Sklaventreiber drückt, geben, schwächen wir nach und nach seinen Einfluss. Doch oft scheint uns diese Erlaubnis nicht ganz glaubhaft und wir zweifeln daran, dass das wirklich stimmt. Wirksamer ist es meiner Erfahrung nach, die allgemeine Erlaubnis durch einen Bezug auf die konkrete Situation zu ergänzen. Das könnte dann z.B. so lauten: „Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich erlaube mir jetzt, den Bericht abzuschließen, auch wenn noch Informationen fehlen. Denn es ist wichtiger, den Bericht fertigzustellen, als perfekt zu sein.“ Oder: „Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich bin eine gute Mutter, auch wenn ich den Geburtstagskuchen kaufe.“ Oder:

„Ich bin gut genug, so wie ich bin! Und ich erlaube mir, den Workshop zu moderieren, auch wenn mir noch die Schulung für das Schönschreiben am Flipchart fehlt.“ Oder „Ich bin wertvoll und liebenswert, so wie ich bin! Auch wenn ich grade den Kaschmirpullover meiner Frau in der Kochwäsche mitgewaschen habe. Ich nehme das zum Anlass, nächstes Mal jedes einzelne Wäschestück in die Hand zu nehmen, bevor ich es in die Maschine lege.“ Oder „Ich bin ein guter Mitarbeiter, so wie ich bin! Auch wenn ich vorhin den falschen Bericht an meinen Chef geschickt habe. Fehler sind Entwicklungshelfer.“ Oder Durch diese individuelle Anpassung gebe ich mir gleichzeitig eine auf mein ganzes Sein bezogene Affirmation und eine spezifische, konkrete Erlaubnis. Die Erlaubnis-Sätze sollen positiv formuliert sein (also ohne die Wörter „nicht“, „kein“ etc.) und wir können sie mit einer kleinen Geste verstärken: die rechte Hand kreisen wir langsam oberhalb unseres Herzens in Richtung Schulter, atmen dabei tief in den Bauch und sprechen unsere Erlaubnis (laut oder leise) 3 Mal hintereinander. Das Kreisen der Hand beruhigt uns und die Worte dringen tiefer in uns ein. Nach und nach nimmt der Sklaventreiber dann wieder seine normale Form und Größe an und wird zu einer Energie, die uns motiviert und fordert, ohne uns zu Getriebenen zu machen. Neben den Erlaubnissen lade ich meine Coaching- Klientinnen und Klienten ein, sich Symbole oder Bilder zu wählen, die sie an ihre Erlaubnisse erinnern oder die den Antreiber veranschaulichen. Bei „Mach es allen Recht!“ kann z.B. die Figur von Pippi Langstrumpf als Gegenbild dienen, der es egal ist, was Andere von ihr halten. Dem „Sei perfekt!“ Antreiber könnten der liebenswert unperfekte „Donald Duck“, Forrest Gump oder Bridget Jones entgegengesetzt werden. Manchmal passen auch ein Symbol aus der Natur oder eine geometrische Figur besser artikeldezember20 | 51


als Figuren oder Menschen. Nur wir selbst können wissen, was am besten passt. In den letzten Jahren ist verstärkt zu beobachten, dass der Antreiber „Sei perfekt!“ immer größeren Raum in unserer Gesellschaft einnimmt. Der Druck dieses Antreibers ist überall spürbar und wird durch unsere technischen Möglichkeiten, die weltweite Vergleiche ermöglichen, noch verstärkt. Der Wunsch, ein „perfektes“ Äußeres zu haben oder zu präsentieren, zeigt sich sowohl in den durch Styling oder Schönheits-OPs optimierten Gesichtern und Körpern, als auch an den Fotos, die in den sozialen Netzwerken gepostet werden. Make-up-Spezialisten bringen uns bei, uns so zu schminken, dass unser Gesicht dem angesagten Schönheitsideal gleicht. Photoshop und Snapchat sorgen für den Rest. Trainer weisen Männern den Weg zum ultimativen Sixpack und Schönheits-OPs nehmen weltweit bei allen Geschlechtern zu. Junge Mütter wetteifern, schon kurze Zeit nach der Geburt ihren „After Baby Body“

1. Das Konzept der „inneren Antreiber“ geht auf die Transak­ tionsanalyse zurück, die Eric Berne (1910-1970) begründet hat. 2. Name geändert. 3. nach Schulz von Thun

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präsentieren zu können; Männer zeigen ihren durchtrainierten Körper in enganliegenden Hemden. Das perfekte Äußere – egal, ob es sich um den eigenen Körper, einen Kuchen oder die Wohnungseinrichtung handelt – soll auf die „innere Perfektion“ verweisen: der After Baby Body und das enge Hemd versinnbildlichen die Fähigkeit zur Disziplin. Die perfekte Wohnung, das perfekte Haus sind Zeichen für die perfekte Familie(nharmonie). Der Sklaventreiber „Sei perfekt!“ führt dazu, dass wir uns permanent vergleichen und uns unter Druck setzen: alles könnte immer noch besser sein… Deshalb begreifen wir Fehler als persönliches Versagen und versuchen, alles, was nicht diesem Bild entspricht, zu verstecken oder – zumindest auf den geposteten Fotos – zu korrigieren. „Sei perfekt!“ ist der Antreiber, der uns unterstützt, die beste Version unserer selbst zu werden. Nutzen wir seine motivierende Energie, ohne uns von ihr versklaven zu lassen!


EINE WARME WOHLFÜHL-DUSCHE STATT PERFEKT SEIN ZU MÜSSEN VOM UMGANG MIT EINEM FIESEN ANTREIBER Vater: «Beeil dich, wir sind spät dran!» Nora: «Ich bin noch müde, ich mag nicht.» Mutter: «Sei stark und mach vorwärts!» Nora: «Ich kann den Reissverschluss nicht schliessen, er klemmt!» Vater: «Streng dich an, wir müssen gehen.» Nora: «Ich bin soweit, tschau Mami.» Mutter: «Tschau, sei brav im Kindergarten und bring mir wieder die schönste Zeichnung nach Hause!»

In diesem kurzen Gespräch sind der 4jährigen Nora von ihren Eltern erzieherisch gemeinte Aufforderungen vorgeschrieben worden. Diese Verhaltensweisen versucht das Kind zu erfüllen, um von den Eltern für ok gehalten zu werden. In diesem Beispiel hat das Kind alle fünf sogenannten Antreiber («mach schnell», «sei stark», «streng dich an», «machs andern recht» und «sei perfekt») erfüllt. Mit den Antreibern versucht ein Mensch, das Gefühl nicht zu genügen mit dem entsprechenden Verhalten zu korrigieren. Beispielsweise hat Nora gelernt, dass sie «nur» für die schönste (perfekte) Zeichnung Anerkennung erhält. Die meisten Menschen haben einen bevorzugten Antreiber, ihren Primärantreiber. Sind Antreiber nicht auch fördernd in einer Leistungsgesellschaft? Genauigkeit, Unabhängigkeit, Durchhaltevermögen, Freundlichkeit und Schnelligkeit – sind das nicht Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft von wichtiger Bedeutung sind und unsere Kinder zu guten Leistungen anspornen? In der Schule ist Bewertung von Leistung ein zentrales Thema, auch wenn heute von «Kompetenzstufen» gesprochen wird und die «Leistung» an Bedeutung verlieren soll. Das Kompetenzkonzept an den Schulen ist mit Pisa gross geworden, der Idee von Messbarkeit mit standardisierten Tests in internationalen Schulleistungsuntersuchungen. Die Qualität von Bildungsinhalten, pädagogischen Konzepten lässt sich so nicht verbessern, die Bedürfnisse der Kinder werden kaum beachtet.

Monique Naef Transaktionsanalytikerin CTA-E Kindergartenlehrperson Montessori Heilpädagogin Practitioner für Emotionale Kompetenz (DGEK) Erwachsenenbildnerin (SVEB 1) monique.naef@bluewin.ch artikel januar2021 | 53


Antreiber wirken sich deswegen negativ auf die Kinder aus, weil sie immer, selbst in unpassenden Situationen erfüllt werden müssen. Das «OK-Gefühl» des Kindes ist vom Einhalten des Antreibers abhängig, das kostet Zeit und Kraft. Es bedeutet eine Belastung für das Kind, es bemüht sich um ein unerreichbares Ziel.

Die Positionen zwei, drei und vier haben die Funktion eine Abwehr zu bilden gegen die Wirksamkeit von Bannbotschaften und machen den Impuls, sich durch Anstrengung ok zu fühlen zunichte. Der Ablauf des Miniskripts dauert einige Sekunden bis einige Minuten, die Positionen können unterschiedlich durchlaufen werden.

MINISKRIPT Das Nicht-ok-Miniskript hat 4 Positionen und beginnt immer mit einem Antreiber. Taibi Kahler und seine MitarbeiterInnen haben das «Konzept der Antreiber» in die Transaktionsanalyse (TA) eingeführt. Die Antreiber gehören zu einem umfassenden Verhaltensmuster das Kahler «Miniskript» nannte. Das Konzept beschreibt das übertriebene und unpassende Ausleben dieser Eigenschaften. Der Antreiber zwingt den Menschen zum entsprechenden Verhalten, er kann nicht mehr wählen.

© Diagramm aus «Transaktionsanalyse» von Ian Stewart und Vann Joines S. 243

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Nora kommt mit ihrem Vater im Kindergarten an. Sie verabschieden sich und Nora zieht sich in der Garderobe um. Sie begrüsst die anderen Kinder, Neuigkeiten werden ausgetauscht. Ich werfe einen Blick in die Garderobe und mache die Kinder auf die Zeit aufmerksam. Nora erlebt sich nur noch als bedingt ok und ihre Antreiber, insbesondere «sei perfekt» werden wirksam. Sie erschrickt, blickt mich reumütig an und gerät in die 2. Position, wo sie sich weiterhin als nicht ok erlebt und beschuldigt die anderen Kinder, sie


nicht in Ruhe gelassen zu haben. Dadurch gerät sie in die 3. Position, sie tadelt die anderen Kinder und fühlt sich wieder ok. Bald kommt sie in den Raum, nimmt mich an der Hand und führt mich in die Garderobe, um mir zu zeigen, dass ihre Kleider alle am vorgesehenen Platz sind. Perfekt, Nora hat ihren Antreiber «sei perfekt» nach einem Umweg über das Miniskript doch noch erfüllen können. Nochmals bedient sie ihren Antreiber, indem sie mich auch darauf aufmerksam, dass nicht alle Kinder ihre Schuhe schön hingestellt haben. Nora sucht eine Bestätigung für ihr perfektes Verhalten. Diesen Wunsch möchte ich so nicht erfüllen, um ihren Antreiber nicht zu unterstützen. Ich lobe sie für ihr Erinnerungsvermögen an die Ordnungsregeln in der Garderobe und freue mich über ihren Kontakt zu den anderen Kindern. Ich frage Nora, was sie in der Garderobe erzählt hat, um ihr die Erlaubnis zu geben Freude am Austausch mit den anderen zu haben. Nun möchte Nora ein Spiel spielen nur mit mir allein. Dazu bin ich nicht bereit, ich möchte sie wieder in die Gruppe führen und ihr keine Gelegenheit geben in die «Verzweiflung» (4. Position) zu geraten. Sie hat in der Garderobe ihre Freundinnen zu Unrecht bei mir angeschuldigt und braucht jetzt Unterstützung, um wieder zu ihnen zu finden. Ich biete ihr ein Spiel an, in welchem kooperatives Verhalten zum Ziel führt und es keine Sieger oder Verlierer gibt. Sie holt die betroffenen Kinder und wir spielen zusammen. Die Antreiber bei den Kindern zu fördern, hilft ihnen kaum bessere Leistungen zu erreichen. Mit gezielten Erlaubnissen versuche ich Nora immer wieder dabei zu unterstützen, ihrem Antreiber nicht mehr zu gehorchen und sie von nichterreichbaren Zielen zu befreien. Gezielte Erlaubnis: • Du bist gut genug, so wie du bist, du darfst Fehler machen! Neben dem Nicht-ok-Miniskript gibt es auch das Ok-Miniskript. Hier wird «Einhalt» durch Motivation, «Tadel» und «Verzweiflung» durch Freude ersetzt und es entsteht ein motivierender, konstruktiver Kreislauf.

LERNBEREITSCHAFT Wie können wir Kinder mit Freude zum Lernen motivieren? Glücklicherweise wollen Kinder üben! Sie wiederholen Fertigkeiten, bis sie diese beherrschen – vom ersten Stehen bis zum ersten Schritt übt das Kind unermüdlich. Vorausgesetzt es fühlt sich ausreichend geborgen und nicht so allein gelassen, dass seine Neugier erlahmt. Kinder lernen, weil sie dafür Anerkennung erhalten. Können sie dabei schöne Beziehungserfahrungen machen, spannende Inhalte kennen lernen und sich kompetent fühlen sind sie motiviert zum Lernen. Die TA bietet uns eine Fülle von Konzepten, die uns helfen das Kind in seiner Lernfreude zu unterstützen. Ich erzähle hier von meinen Erfahrungen in einem öffentlichen Kindergarten in Zürich, mit der Überzeugung, dass sich diese Anwendungsmöglichkeiten der TA auch auf alle anderen Schulstufen anpassen lassen.

GEFÜHLE UND EMOTIONEN Der Schultag beginnt für die Kinder mit dem Eintreffen in der Garderobe. Bei der Begrüssung können wir dem Kind unser persönliches Interesse an ihm zeigen, indem wir nach seinem Befinden fragen, Veränderungen wie z. B. die neue Frisur beachten und sie so willkommen heissen. Im Kindergarten versammeln sich die Kinder im Kreis. Es hat sich bewährt, den Kindern die Möglichkeit zu geben ihr Befinden zu spüren und zu zeigen. Dazu hat jedes Kind die Kreisgesichter mit den 4 Grundgefühlen zur Verfügung. Die TA geht davon aus, dass ein Baby von der ersten Sekunde an die Gefühle Freude, Wut, Trauer und Angst zeigen und ausleben kann. Jedes Kind legt das passende Gefühl vor sich hin. Um Unstimmigkeiten auszuräumen und eine gute Stimmung für das Einzelne und die Gruppe zu erreichen, frage ich jedes Kind nach dem gewählten Gefühl. Wütende Kinder erhalten die Gelegenheit ihre Wut in den Boden zu stampfen, in die Luft zu boxen oder herauszuschreien. Traurige Kinder suchen sich ein anderes Kind aus, von dem sie sich festhalten und trösten lassen. Angstgefühle sind selten aktuell, bei der Erarbeitung der einzelnen Grundgefühle, behaupten viele Kinder, insbesondere Knaben, nie Angst zu haben, eventuell ein Hinweis perfekt sein artikel januar2021 | 55


Kreisgesichter

zu müssen. Ab und zu erzählen die Kinder aber von Träumen, die ihnen Angst gemacht haben. Das Erzählen hilft ihnen die Angst nochmals zu spüren und aus dem Gefühl heraus zu finden. Können alle Kinder sich wieder freuen singen wir ein passendes Lied, mit dem die Kinder, auch mit Bewegung ihre Freude ausdrücken können. Über Gefühle zu sprechen hilft den Kindern ihre eigenen Emotionen im Blick zu haben. Emotionen zu versprachlichen, unterstützt sie in der Steuerung ihres Gefühlslebens. Gefühle in der eigenen, persönlichen Ausprägung sind Folgen eines anhaltenden Lernprozesses, beeinflusst durch die Interpretation von Situationen, Reaktionen, ihren Zusammenhängen und Auswirkungen. Dadurch entstehen die unterschiedlichen Gefühle der jeweiligen Menschen in ähnlichen Situationen. Durch die täglichen Gespräche in verschiedenen Situationen, verstehen die Kinder zunehmend auch die Gefühle der anderen anzunehmen. Hilfreich ist es Möglichkeiten kennen zu lernen sich selbst zu guten Gefühlen zu verhelfen. 56 | artikel januar2021

STROKES Das englische Wort «stroke» bedeutet sowohl streicheln wie auch Schlag, Stoss, Hieb, Schicksalsschlag, Schlaganfall. Berne wählte das Wort, um damit das ursprüngliche Bedürfnis des Säuglings nach körperlicher Berührung, nach streicheln, deutlich zu machen. Als Kinder und auch noch als Erwachsenen sehnen wir uns nach körperlichem Kontakt. Mit der Zeit lernen wir uns auch mit anderen Formen von Anerkennung zufrieden zu geben. Der Begriff «Stroke» wird für jede Art von menschlichem Kontakt verstanden, Hauptsache wir werden überhaupt wahrgenommen. Die englische Vielfalt ist im deutschen Wort Zuwendung nicht enthalten. Ich benutze Zuwendung, Anerkennung und Stroke gleichwertig. Kinder probieren gerne viele verschiedene Arten von Verhalten aus, um herauszufinden, welche davon ihnen Zuwendung bringen und welche nicht. Sie lernen, welches positive oder negative Verhalten die Strokezufuhr aufrecht-


erhält. Hat das Kind das Gefühl zu wenig Anerkennung zu bekommen, kämpft es um mehr. Erhält es vorwiegend negative Beachtung, wird es sich um diese bemühen, um nicht komplett auf Strokes verzichten zu müssen. Die Kinder in unserem Kindergarten können Strokes einfordern, indem sie eine warme Wohlfühl-Dusche geniessen. Eine Halbkugel symbolisiert einen Duschkopf. Die farbigen Papierstreifen stellen das warme Wasser dar und schützen das Kind auch vor Blicken. Das Kind setzt sich unter die warme Dusche und erhält von jedem Kind und auch von mir eine positive Zuwendung. Anfänglich geben die Kinder viele bedingte Strokes zu Kleidung und Aussehen. In dieser Situation achte ich darauf in meiner Vorbildfunktion ausschliesslich unbedingte Zuwendung zu formulieren, wie beispielsweise «du kannst schön singen». Das Angebot wird oft gebraucht, es werden zuweilen auch «Probleme» erfunden, um sich eine warme Wohlfühl-Dusche zu gönnen. Dies ist der Moment, die Kinder erleben zu lassen, dass sie Zuwendung um der Zuwendung willen verlangen dürfen, «einfach so, weil ich es möchte». Strokes erlauben den Kindern sich selbst zu guten Gefühlen zu verhelfen: • wenn ich Zuwendung möchte, kann ich sie verlangen • wenn ich Zuwendung gebe, fühle ich mich glücklich • wenn ich Zuwendung gebe, erhalte ich auch Zuwendung • wenn ich Zuwendung geben will, darf ich sie geben Für Nora ist es wichtig für alle ihre Handlungen eine Reaktion zu erhalten, sie sucht nach Bestätigung, wie alle Kinder. Aber nur wahrgenommen werden reicht für sie häufig nicht, sie möchte es korrekt gemacht haben. Anderen Kindern Strokes zu geben fällt ihr schwer, insbesondere bedingungslose, nicht an eine Leistung gebundene Zuwendung auszusprechen. Anfänglich bewirkt die warme Dusche bei Nora eine starke Anspannung, die sich mit «Hustenanfällen» oder lautem räuspern zeigt. Es hilft ihr, wenn ich vor ihr meinen Stroke äussere, so kann sie dieselbe Zuwendung wiederholen und den in ihren Augen perfekten Stroke geben. Es ist für sie auch schwierig selbst eine warme Dusche zu nehmen, weil sie hohe Ansprüche an

Warme Dusche

die Gruppe hat: »Ich spiele gerne mit dir» genügt nicht «Ich spiele am liebsten mit dir oder nur mit dir» möchte sie hören. Sie möchte keine warme Dusche mehr nehmen. Es dauert ein halbes Jahr bis Nora beginnt warme Duschen zu geniessen.

DIE VIER HUNGER DES MENSCHEN Die täglichen Rituale, die Kinder mit «Kreisgesichtern» und «warmen Wohlfühl-Duschen» ihre Emotionen spüren zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich wohl zu fühlen, stärkt sie ihre zentralen Bedürfnisse («Hunger») zu erfüllen: ihr Bedürfnis nach körperlicher und seelischer Stimulation, der Stimulus-Hunger, ebenso ihr Hunger nach Strokes, ist befriedigt. Der sich täglich wiederholende Ablauf unterstützt den Hunger nach einer sinnvollen Zeitstrukturierung. Auch der Hunger nach Position, den die Kinder bei einer persönlichen Begrüssung und dem Eingehen auf ihr Befinden erleben stärkt sie. Nora hat einen grossen Hunger nach Position. Sie drängt sich vor, gibt ungefragt Antworten artikel januar2021 | 57


und wirkt dadurch vorlaut. Ihre ungefragt erteilten Ratschläge möchte sie von mir als richtig und passend beurteilt haben. Damit befriedigt sie nicht nur ihren Hunger nach Position, sie ist auch getrieben von ihrem «sei perfekt»-Antreiber und will in eine +/- Haltung (ich bin ok, du bist nicht ok) kommen. Sie stellt sich damit über die anderen Kinder, die auch entsprechend reagieren. Immer wieder mache ich Nora darauf aufmerksam, wie ihr Verhalten auf andere wirkt, indem wir solche Szenen mit Stofftieren nachspielen. Wichtig ist bei der Darstellung das Nora nicht beschämt wird, ein positives Rollenangebot stärkt sie und hilft den anderen Kindern wieder freundlich auf Nora zuzugehen. Die Konzentration und die Neugier für die anschliessende Kreissequenz sind bei den meisten Kindern nun gegeben. Die Aufgabe für den heutigen Tag weckt das Interesse der Kinder, sei das die Einführung eine Bastelarbeit, eines Spiels, einer neuen Technik, eines Liedes oder das Erzählen und Darstellen einer Geschichte. Im Kreis kann ich für alle Kinder gleichzeitig erklären und vorzeigen, ich kann die Kinder für einzelne Schritte einbeziehen. Stelle ich ein Beispiel für eine Bastelarbeit vor, ist das für Kinder, die meinen perfekt sein zu müssen, schwierig. Darum ist es wichtig den Kindern immer wieder zu erklären, dass ich schon viele Jahre üben konnte und sie selbst, es so gut machen dürfen, wie es ihnen gelingt. «Sei perfekt»-Kinder brauchen zusätzliche Unterstützung, um mit ihrem Resultat zufrieden zu sein. Insbesondere Nora, die sprachlich und mathematisch von ihren Eltern gefördert wird, motorisch, aber ungeschickt ist. Kinder, die denken sie hätten die gestellte Aufgabe verstanden, dürfen sich ihren Arbeitsplatz einrichten. Es stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, entweder Einzelplätze oder unterschiedlich grosse Gruppentische. Es ist eine grosse Herausforderung einen Arbeitsplatz auszuwählen, der dem einzelnen Kind erlaubt die gestellte Aufgabe zu erfüllen. Die beste Freundin kann vielleicht gute Unterstützung anbieten, aber auch viel Ablenkung. Die Nachbesprechung im Kreis hilft den Kindern für sie sinnvolle Arbeitskombinationen zu finden.

4P Meine Bewusstheit über die «3 P» (Protection: Schutz, Permission: Erlaubnis, Potency: Überzeugungskraft) ist für eine fördernde Unterstüt58 | artikel januar2021

zung der Kinder besonders wichtig und hilft ihnen sich in der Gruppe aufgehoben zu fühlen. In der täglichen Arbeit kommen die drei P vereint zur Anwendung. Die Wirkung einer Erlaubnis (Permission) ist nur möglich, wenn sich das Kind geschützt weiss (Protection) und meine Ermutigung, mein Einfluss und meine Überzeugungskraft (Potency) genügend stark sind. Für die pädagogische Arbeit möchte ich ein «viertes P» einbringen, nämlich Patience: Geduld. Bei der Arbeit mit so jungen Kindern merke ich, dass Geduld eine bedeutsame Eigenschaft ist. Die ursprünglichen Bannbotschaften, Antreiber, die skriptgebundenen Verhaltensweisen beeinflussen und prägen auch (unbewusst) den Alltag der Kinder. Ich muss ebenso überzeugend sein, wie es die jeweiligen Autoritätspersonen waren. Es braucht viel Geduld, immer wieder genügend Zeit, den Moment abzuwarten, in dem das Kind bereit ist. Eine Konfrontation kann beim Kind auch Trotz auslösen oder es reagiert mit Anpassung. Das ist der Moment, um eine Intervention zu unterbrechen und auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Viele Kinder erleben bereits im Kindergartenalter einen hektischen Alltag und werden durch Zeitdruck und hohe Anforderungen teilweise in ihrer Selbständigkeit und Selbstverantwortung gehindert. Wichtig ist jedoch, dass die Kinder sich die Zeit nehmen dürfen, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Daraus entstehen ganz normale Konflikte mit sich und anderen. Wir können die Kinder unterstützen ihre Persönlichkeit in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln, ihnen genügend Zeit zur Entfaltung zu gewähren und unsere geduldige Unterstützung anzubieten. Den Wert von positiven Beziehungen auch in Lernbeziehungen zu erleben und einen sinnvollen Umgang mit ihren Gefühlen zu üben, stärkt die Kinder in ihrer weiteren Entwicklung. Die Grundeinstellung «ich bin ok, du bist ok» ist eine Voraussetzung für eine sinnvolle Arbeit im Klassenzimmer.

Literatur • Berne, Eric: Was sagen Sie, nachdem Sie «Guten Tag» gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens. Fischer Taschenbuch Verlag 2007 • Steiner, Claude: Emotionale Kompetenz. Deutscher Taschenbuch Verlag 2006 • Schlegel, Leonhard: Die Transaktionale Analyse. Deutschschweizer Gesellschaft für Transaktionsanalyse, Zürich 2001 • Stewart, Ian und Joines, Vann: Die Transaktionsanalyse. Taschenbuch Verlag Herder 2000 • Kleinewiese, Elisabeth: Kreisgesicht-Symbole. Institut für Kommunikationstherapie 1999


Ich entscheide mich – FRAGEN AN EINE GRUNDANNAHME IDENTITÄT ALS SOZIALE KONSTRUKTION In diesem Artikel reflektiere ich, wie transaktionsanalytische Beratung Identitätsarbeit unterstützen kann. Ausgehend von einigen allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Identität, Selbst und Welt beleuchte ich dabei beispielhaft das Modell der Transaktionen in Bezug auf diese Frage, um dann anhand eines Fallbeispiels darzustellen, wie diese Überlegungen in der Beratung ihren Niederschlag finden.

Als transaktionsanalytischer Berater und Heilpraktiker für Psychotherapie ist das Verständnis von Menschen, ihres Ich-Seins, ihres Ich-Werdens, ebenso wie ihres Wir-Seins ein basales und auch für das konkrete Arbeiten wichtiges Anliegen. Wie verstehe ich die Person, die vor mir sitzt mit bestimmten Wünschen, Hoffnungen, Phantasien, Erschöpfungszuständen, Enttäuschungen, Ängsten? Wie sehe ich in ihr ein Ich als eine selbständige, abgegrenzte Ganzheit, die sich mit anderen abgegrenzten Ganzheiten selbstbestimmt und bewusst verbindet. Oder sehe ich ein Netzwerk von Personen, die sich gegenseitig durchdringen, aufeinander einwirken, voneinander abhängig sind? Transaktionsanalytische Beratung ist ebenso wie andere Formen psychosozialer, reflexiver Beratung über die anlassorientierte Unterstützung bei Problemlösungen hinaus ein Raum zur weitergehenden Selbstreflexion und Selbstkonstruktion1. Sie bietet eine Möglichkeit, eigene Identität zu finden, zu spüren, und in einem Diskurs der Freiheit2 zu gestalten. Wer bin ich wie mit wem wofür – ist die Frage, die sich hinter der Erschöpfung, dem eskalierten Konflikt oder dem Burnout (meist) verbirgt. Im Verhalten, das zum Problem wird, die Haltung zu finden und zu nennen, in dieser dann die Gewordenheit und die Identität zu erkennen und hier Entwicklungsoptionen zu öffnen, das ist aus meiner Erfahrung Kernaufgabe von Beratung.

Peter Rudolph Dipl. Sozialwissenschaftler TSTA – Co. Am Korsorsberg 100 a 26203 Wardenburg, Deutschland Oldenburger Institut für Weiterbildung, Beratung und Psychotherapie peter.rudolph@ewetel.net

Es ist eine Stärke der Transaktionsanalyse, dass sie Modelle anbietet, die personenorientierte, ebenso wie dyadische, triadische und polyadische Perspektiven ermöglichen. Gerade die Mehrperspektivität macht es in der Beratung möglich, sozusagen ‚Modellintern‘ die Perspektive des konkreten Alltagshandelns in seinen unterschiedlichen artikel februar2021 | 59


gesetzt und zum Maßstab für ein neues Ordnungssystem gemacht. Die Renaissance kann in gewisser Weise als der Beginn der der neuzeitlichen anthropozentrischen Weltsicht begriffen werden. Etwas später finden wir den ersten wichtigen Ich – Roman: Der abenteuerliche Simplicissimus (Teutsch) ist ein sogenannter Schelmenroman, der von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1625–1676) im Jahr 1668 veröffentlicht wurde. Dieser Roman stellt das wichtigste Werk seiner Art in dieser Zeit dar. Er gilt als der erste deutschsprachige Abenteuerroman. Es ist ein faszinierender Roman eines Ich-Erzählers. Das Leben einer einzelnen Person ist der rote Faden dieser Geschichte des 30-jährigen Krieges. So haben wir in diesem Roman einerseits die Perspektive des Ich, des Individuums und andererseits noch den Einzelnen als Träger für die Geschichte – also quasi nur als Folie.

© Pixabay janeb13

Dimensionen z.B. mit der der transgenerationalen Loyalität oder aber der frühkindlichen Prägung relativ bruchfrei zu verbinden. Bevor ich die Vernetztheit des Einzelnen mit der Welt stärker in den Fokus nehme und die Bedeutung für das konkrete Beratungshandeln, ist es sinnvoll, sich einen Moment lang mit der Frage zu beschäftigen, was wir unter Identität verstehen – und wie dies mit dem Thema ‚Perfekt‘ zusammenhängt.

60 | artikel februar2021

Schauen wir die Geburt dieser Ich – Identität oder auch des Individuums an, so will ich auf die Renaissance verweisen, die zunächst mal eine Zeit gigantischer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Veränderung war. Der Einzelne, die Gesellschaft, Welt, Spiritualität – alles organisierte sich neu. Hier passt die bekannte Proportionsstudie von Leonardo da Vinci (1492) als Zeichen der neuen Weltsicht. In ihr wird der Mensch in seiner körperlichen Beschaffenheit in das Zentrum

Jörg Rasche schließlich verweist in seinem Buch „Musik als Spiegel der Seele“3 auf das 18. und 19. Jahrhundert mit seinen schwerwiegenden politischen und wirtschaftlichen Krisen. Nach einer Welle der Hoffnung wurde Europa von Zensur und Unterdrückung erschüttert. Die entstehende bürgerliche Klasse wandte sich nach innen und entdeckte das ‚Ich‘. Jean Paul, ein romantischer Autor der Zeit formuliert es folgendermaßen: „An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ‚ich bin ein ich’ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.“ Erik Erikson sieht „das Kernproblem der Identität in der Fähigkeit


Dem Einzelnen kommt die Aufgabe zu, sich selbst und sein Leben passend zu den Umständen, bzw. zu seinen externen Kontexten und passend zu seiner Geschichte und seinen inneren Bedürfnissen, mit anderen Worten zu seinen inneren Kontexten zu gestalten – mit all den Freiheitsrisiken, die damit verbunden sind. Das Gelingen dieser inneren und äußeren Gestaltungsarbeit führt für die einzelne Person • zum Erleben von Kohärenz und Authentizität als eher innere Qualitätsmerkmale • und zum Erleben von Anerkennung und Handlungskompetenz als eher äußerliche Qualität. Das Herstellen und Erleben dieser Qualitäten kann als Anzeichen für „gelungene Identität bezeichnet werden.“ (ebda. S. 62) Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter

denen Identitätsentwicklung heutzutage stattfindet, sind herausfordernd und in Bewegung. Schlagworte, die diese Bewegung charakterisieren, sind • „die Erfahrung der Entbettung oder eine ‚ontologische Bodenlosigkeit’“ (Keupp) • die Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster • eine verringerte Erwerbsarbeit im Sinne eines Systems, das der eigenen Identität lebenslange Grundlage und Rahmen gibt • eine Pluralisierung von Lebensformen und Milieus Die Konstruktion des Selbst und der eigenen Identität gestaltet sich als ‚multioptionaler Prozess‘ der täglich neu zu kalibrieren ist. Was sich im Rahmen des Artikels theoretisch abgehoben anhören mag, findet in der konkreten Beratungswirklichkeit statt, wenn z.B. der ostfriesische Arbeiter von VW im Rahmen von Umstrukturierungen Umzüge nach München,

© Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen 15. März 2008 (Hochladedatum) durch Abrev, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org

des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrecht zu erhalten. „… Das Gefühl der Ich-Identität ist … das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen der anderen hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrecht zu erhalten.“4 Er definiert Identität • „als einen Prozess, der im Kern des Individuums lokalisiert ist und doch auch im Kern seiner gesellschaftlichen Kultur, …“ (ebda. S.18). • Weiterhin ist es ein Prozess, in dem der Einzelne seine Wahrnehmung von sich selbst und von den anderen abgleicht mit den Wahrnehmungen, die er bei den anderen Menschen von ihm und von sich wahrnimmt – also ein Prozess wechselseitiger Durchdringung und Abstimmung aufeinander. • „Und schließlich“, so führt Erikson aus, „können wir bei der Besprechung der Identität nicht das persönliche Wachstum vom Wandel der Gesellschaft trennen.“ Hier formuliert Erikson noch einmal deutlich die gesellschaftliche Bedingtheit persönlicher, subjektiver Identität. Für uns als BeraterInnen ist von Bedeutung, dass Identität eine Konstruktion ist, • die uns hilft, uns in der Welt zurecht zu finden und • innere und äußere Ansprüche miteinander zu verbinden.

artikel februar2021 | 61


nach Bern, nach Frankfurt, nach Warschau, nach Bremen zu bewältigen hat – und jeweils sich auf die Kultur, die Rhythmen, die Arten des Fühlens und sich Verbindens einzustellen hat – nicht als äußeren oberflächlichen Anpassungsprozess, sondern als authentischen und autonomen Entwicklungsprozess. Wo bleibt er mit seiner Trauer um die vielen Abschiede und der Unsicherheit um die vielen ‚Ankommen‘, wo bleibt er mit Vorlieben? Wieviel Trauer ist angemessen? Was ist mit seiner Sehnsucht, Tee zu trinken und dabei auf Deiche zu schauen – ist das ‚erwachsen‘ (funktionsanalytisch gesprochen)? Es findet statt, wenn der syrische Arzt, der nach einer langen und für seine Familie noch fort dauernden Migrations – und Fluchtgeschichte, Zweifel daran hat, ob er seine Tochter zum Schwimmunterricht gehen lassen will oder ob seine Frau mehr verdienen kann und darf als er. Das sind nicht nur ‚interessante‘ äußere Normenkonflikte, sondern Entscheidungsprozesse, die tief in seine Identität hineinwirken.

Identitätsarbeit ist ein Prozess, den wir jeden Tag zu leisten haben. Dabei lassen die äußeren Bedingungen nicht immer die Zeit, die wir brauchen, um in Ruhe und eigener Geschwindigkeit die inneren Prozesse zu tun, die für die Bewältigung von Entwicklung nötig und sinnvoll sind. In diesem Zusammenhang taucht dann wieder eine Flut von Ratgeber Büchern auf, in denen auch transaktionsanalytische Modelle die Produktion eines ‚perfekt‘ funktionierenden Selbst eher im Rahmen eines ‚Get-happy-im-Do-it-yourself-Verfahrens‘ anregen5. Die Produktion eines gelingenden Selbst ist aber nicht so eindimensional zu fassen. Die täglichen Begegnungen in der Beratungspraxis zeigen, dass Identität ein komplexer, fragiler und stets neu zu formender Prozess ist, der Zeit, Verstehen, Achtsamkeit und Unterstützung braucht. Nehmen wir uns diesen Raum nicht, schleicht sich in diesen Prozess das ‚Be Perfect‘ hinein, das dann in seinem Zusammenbruch hohe Ausfallkosten (Gewalt, Sucht, Erschöpfungssyndrom

Beziehung zum Selbst

Beziehung zur Umgebung

che su „ver

Kraft

Durchhaltevermögen

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Distanzierungsvermögen

Gefühl für Vollkommenheit

Raum-ZeitGefühl

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Einfühlungsvermögen

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Technik

„beeil dich“ Geschwindigkeit Das dynamische Handlungspentagon

62 | artikel februar2021


I Person vor dem Hintergrund der aktuellen ‘Hier und Jetzt‘ Situation II Hintergrund Familie Vergangenheit III Hintergrund allgemeine Lebenssituation IV Hintergrund Schicht V Hintergrund Kulturkreis

© Hilarion Petzold: Mehrdimensionalität des Menschen

Zukunft

und andere Formen) mit sich bringt. Hannes Schneider6 zeigt in seinen Überlegungen und Weiterentwicklungen zum Antreiber- Modell, wie wir die Fähigkeiten, die sich in den Antreibern entwickeln, benötigen, um uns in der Welt zurecht zu finden. Diese Transformation benötigt Raum und Zeit. Gerade der Antreiber ‚Sei perfekt‘ beinhaltet neben den Einschränkungen auch eine Fähigkeit und ein Gefühl für Vollkommenheit. Der ostfriesische Landarbeiter ebenso wie der syrische Arzt benötigen ein Empfinden darüber, was ist eine gelungene Einstellung auf die immer neuen Verhältnisse, was ist das gelungene und gelingende Identisch-Bleiben. Das ist dann vielleicht keine Perfektion, aber eine Gelungenheit, die auch mit Schönheit zu tun hat. Im Folgenden werde ich zunächst Überlegungen verschiedener AutorInnen vorstellen, die die Vernetztheit des Einzelnen mit der Welt thematisieren. Im weiteren Verlauf werde ich das Modell der Transaktionen kurz kritisch reflektieren – und dann an einem Beispiel aufzeigen, wie sich das Verständnis stärker vernetzter Identität in der Beratungsarbeit auswirken kann. All dies bleibt in einem kurzen Artikel fragmentarisch, zeigt aber, so hoffe ich, die Richtung auf, in der transaktionsanalytische Theorie- und Modellentwicklung noch Entwicklungsoptionen und -bedarf hat.

AUTORINNEN ZUM THEMA Hilarion Petzold, ein wesentlicher Autor der Integrativen Therapie, hat die Mehrdimensionalität des Menschen, seine Verbundenheit in unterschiedlichen Ebenen und Zeiten in einem Modell verbildlicht (siehe Abbildung oben). Die Person organisiert und lebt in den unterschiedlichen Dimensionen und Hintergründen. Sowohl Vergangenheit als auch Zukunftsbilder sind mitgestaltend für die Konstruktion eines Selbst in einer Hier-und-Jetzt-Wirklichkeit. Entwicklung im Hier und Jetzt findet auf der Grundlage dieser Dimensionen statt und wirkt in diese wieder hinein. James M. Sedgwick z.B. betont in seinem Buch ‘Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World’ (2021 Oxon) die vertikale und die horizontale Ebene von Problem- und Wirklichkeitsdefinitionen. Die vertikale Ebene betont die klientenzentrierten Perspektiven – die subjektive Geschichte, ebenso wie intrapsychische Konfliktdimensionen. Die horizontale Ebene betont die Ebene der Vernetzung mit externen Bedingungen – soziale Verhältnisse, Beziehungen, Loyalitäten, Verstrickungen, sozioökonomische Bedingungen. Sedgwick arbeitet daran, nicht subjekt- oder kontextorientiert Probleme zu definieren, sondern Modelle zu entwickeln, die Subjekt und Welt integrieren als einander bedingendes Ganzes. „Claiming that a clear point can be found where we end and the world begins is neither possible artikel februar2021 | 63


nor necessary to understand ourselves even as the deeply ingrained habits of clinical theory may make it seem so. … Sweep away the borders and we have to understand autonomy differently.”7 Mathias Sell entwickelt Beziehungsformen und Beziehungszustände als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen.8 Er weist darauf hin, dass bereits Berne die Vermitteltheit innerer Zustände mit der Außenwelt als konstitutiv für gelingende Identitätsentwicklung betrachtete: „Es bleibt die Frage offen, wie viel Eigenständigkeit die innere Welt behält oder wie sehr die innere Tätigkeit von dieser äußeren kommunikativen Tätigkeit in Abhängigkeit verstanden und erklärt werden muss. … Wir meinen mit Beziehung nicht mehr einen Bezeichnungsbegriff, der das Zusammenkommen von zwei Menschen bezeichnet, sondern beschreiben sie als eine Grundkategorie des menschlichen Daseins selbst. Ein Beziehungszustand ist definiert als ein kohärentes System von Gefühlen und Gedanken, das in Verbindung mit gewählten Mustern von kohärenten Verhaltensweisen, bezogen auf eine bestimmte Situation, in Ich-Zuständen zum Ausdruck kommt.“9

REFLEXION EINES TRANSAKTIONSANALYTISCHEN MODELLS Ausgehend von der oben beschriebenen strukturellen Vernetztheit von uns Menschen ist es notwendig, einige unserer transaktionsanalytischen Modelle weiterzuentwickeln – so wie z.B. Matthias Sell es mit den Ich-Zuständen macht –, aber auch kritisch zu hinterfragen. Das Modell der Transaktionen ist hierfür ein Beispiel. Es lädt dazu ein, den Prozess wahrzunehmen, 64 | artikel februar2021

wie Menschen sich miteinander verbinden und damit eine gemeinsame Wirklichkeit herstellen. Es ist ein außerordentlich hilfreiches Modell, das Menschen dabei unterstützt, wahrzunehmen, was sie tun und wie sie dabei ihre Wirklichkeit konstruieren. Dieses Modell ist aber auch mit Risiken verbunden. Denn es bietet ein Kommunikationskonzept, das suggeriert, wir könnten Kommunikation selbstbestimmt und bewusst steuern. Die eine getrennte Person handelt mit der anderen Person und entwickelt sich in diesem Austausch weiter. Im Modell bleiben sie dabei autonome und getrennte Personen. Die Komplexität und Vielschichtigkeit dessen, was in Kommunikation stattfindet, bleibt damit häufig verborgen. Diese bewusste Reduzierung befördert die Idee und manchmal auch die Illusion einer unabhängigen willentlichen Steuerung, ebenso wie die Vorstellung einer linearen Abfolge von Aktionen mit Stimulus und Reaktion10. Hier reduziert das Modell der Transaktionen die Komplexität kommunikativer Wirklichkeit in einer hilfreichen, aber oftmals eben auch reduzierenden Weise, in der wesentliche Aspekte nicht gesehen werden. In Bernes Beispiel, in dem „ein väterlicher Ehemann sich um seine ihm dankbar ergebene Frau kümmert“ (ebda. S. 27), ist seine Deutung, dass es sich hier um eine komplementäre EL-K-Transaktion handelt, zwar möglicherweise zutreffend. Zugleich greift dieses Modell aber nicht annähernd den möglicherweise chronischen Charakter der Unterwerfung und/oder das dahinterstehende strukturelle sozialökonomische Abhängigkeits- und Gewaltverhältnis auf. Das Beziehungsmuster der Frau, die sich autonom und selbstbestimmt gegenüber ihrem väterlich

sorgenden Ehemann gibt – ist kurz gegriffen und brisant, da es Aspekte, die die Selbstbestimmung infrage stellen, nicht angemessen aufgreift. Dass dieses Modell von einem Autor entwickelt wurde, dem die Rolle des ‚väterlich sorgenden Ehemanns‘ attraktiv ist, betont die Brisanz dieser Reduzierung. Das Modell fördert die Idee zweier unabhängiger Individuen, die sich aus freien Stücken zu ihren jeweiligen Handlungsmustern entschieden haben – und übersieht dabei die wechselseitige und soziokulturelle Verschränktheit der beiden Individuen. Auf der Ebene der Konzepte und Theorieentwicklung werden wir, so hoffe ich, Anregungen bekommen, die über unsere bisherigen Modelle hinaus die Bedingtheit und Gebundenheit des Menschen in und mit seiner Welt zupackender und hilfreicher zusammenfassen, als es unsere Modelle schon jetzt tun. Selbstverständlich haben Modelle die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren, damit wir mit dieser Komplexität von Wirklichkeit überhaupt arbeiten können. Zugleich müssen wir aber aufpassen, die Modelle nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Dabei brauchen wir auch den Mut und die Standfestigkeit, auszuhalten, dass diese Wirklichkeit unfassbar komplexer ist als unsere Modelle. Aufgabe transaktionsanalytischer Beratung und Psychotherapie ist es aus meiner Sicht, die Ganzheit und Komplexität des Menschen mitzudenken, wissend, dass wir sie nicht fassen können: „Ein menschliches Wesen, das in Beziehung zu einem anderen steht, hat nur eine sehr begrenzte Kontrolle über das, was in dieser Beziehung passiert. Es ist Teil einer Zweipersoneneinheit und die Kontrolle, die irgendein Teil über irgendein Ganzes haben kann, ist streng begrenzt.“10


„Über die meisten unserer Handlungen, Gedanken und Empfindungen haben wir keinerlei bewusste Kontrolle. Im undurchdringlichen Dickicht unserer Neuronen laufen eigenständige Programme ab. Unser Bewusstsein – das ‚Ich’, das den Motor anwirft, wenn wir morgens aufwachen – macht nur den kleinsten Teil dessen aus, was in unserem Gehirn abläuft. … (Das) Bewusstsein ist wie ein blinder Passagier auf einem Ozeandampfer, der behauptet, das Schiff zu steuern, ohne auch nur eine Ahnung von der Existenz des gewaltigen Maschinenraums zu haben.“12 Die Idee, dass wir uns autonom und selbstbestimmt – sozusagen perfekt – selbst gestalten und bestimmen, bleibt eine freundliche und manchmal hilfreiche Illusion. Diese Überlegungen und Fragmente mögen theoretisch fern klingen, haben aber in der Praxis transaktionsanalytischer Beratung durchaus Folgen. Hierzu will ich ein Beispiel aus meiner Praxis darstellen.

FALLBEISPIEL Angela13 , eine 39 – jährige Hortleiterin – hatte bisher erfolgreich in ihrer Einrichtung gearbeitet; sie erlebte aber immer wieder frustrierende Konflikte mit ihrer Vorgesetzten. Sie sah in dieser Zusammenarbeit keine mögliche Perspektive und überlegte nun, ob und wohin sie sich neu bewerben könne. Als sie sich in der Beratung damit einbringt, entwickelt sie Ideen, was sie tun kann und will, findet aber immer wieder Gründe, warum alle diese Ideen nicht wirklich funktionieren können. Es ist – auf der Ebene des Verhaltens - das Muster eines Ja-Aber-Spiels. Ich erlebe sie immer wieder in einer Haltung des angepassten Kind-Ichs. Ich selber erlebe mich zunehmend angestrengt, hilflos. Die Atmosphäre zwischen uns wird zunehmend ruhiger, passiver, schwerer. Eine ge-

drückte Stimmung entwickelt sich, als wären wir eine verschworene verlorene Gemeinschaft. Ich frage sie, ob sie diese Schwere, Atemlosigkeit auch wahrnehme – und sie bejaht dies. Wir sprechen über diese Atmosphäre der Schwere und von Ausgeliefert-Sein – über eine erlebte Chancenlosigkeit und es wird deutlich, dass das so nicht in die Gegenwart passt. Hier findet ein erstes Durchatmen statt. Die Schwere hat Worte bekommen und ist damit nicht mehr so drängend schwer. Ich greife ihre anfängliche Idee einer erfolgreichen und ‚leichten‘ Berufskarriere auf, sage ihr: ‚Stell Dir vor, Du würdest eine Stelle finden, die Deinen Kompetenzen und Wünschen gemäß wäre, Du würdest diese Stelle nehmen und Dich daran freuen – für wen wäre das ein Problem?‘ Hier fällt ihr sofort ihre Mutter ein, und Angela erzählt, dass diese als ganz junges Kind mit ihrer Mutter aus Ostpreußen geflohen sei; sie waren im letzten Treck über die zugefrorene Ostsee und dabei von den nachrückenden russischen Truppen eingeholt worden. Als Angela erzählte ‚und da sind die Russen 3-mal rüber gegangen‘, war dieses Atemanhalten im Raum – die Entscheidung, auszuhalten, um zu überleben. Sich zusammenzureißen, nicht zu spüren, die Hoffnung auf Glück aufzugeben und den Atem anhalten, das waren die Überlebensstrategien, die die Großmutter, die Mutter und dann auch die Tochter entwickelt und übernommen hatten. Was nach aussen als Ja-aber-Spiel sichtbar wird, ist nach innen eine ‚perfekte‘ Adaption an die Bezugsrahmen und die Lebensgeschichten ihrer Mutter und Großmutter – eine fein austarierte Aufrechterhaltung des Generationen-übergreifenden Bezugsrahmens.

Mir war es in der Situation wichtig, dass diese Erzählung und das Leid der beiden vorhergehenden Generationen einen eigenen Raum hatten und auch eigene Würdigung erfuhren. Auch wenn spürbar war, dass sich die Tochter mit der Mutter liebend verbunden fühlte, so wie diese wiederum mit ihrer Mutter, so schien es gleichzeitig nicht erlaubt, als getrennte Person mit einer eigenen Lebendigkeit aufzutauchen. Die Beziehungsgrundlage war identifizierend und so sich gegenseitig schützend. Weder die Großmutter, die geflohen war, noch die Mutter, die das als Kind erlebt hatte, noch Angela waren emotional jemals in Norddeutschland angekommen. Ihre gemeinsame Selbstkonstruktion blieb die der Geflüchteten, Heimatlosen, Ausgelieferten. Da die historische Erfahrung nicht integriert werden konnte, ‚erstarrte‘ der Prozess der permanenten Identitätswandlung. Das Gefühl der Vollkommenheit (Perfektseins) wurde gestört, was zur Abwehrreaktion auf der Ebene des Antreibers führte. Hätte Angela sich eine Stelle gesucht, die ihrer Fähigkeit und ihren Wünschen entsprochen hätte, so wäre sie aus dieser Lebensform der Ausgelieferten herausgetreten. Sie hätte begonnen, eine echte Ich-DuBeziehung zu entwickeln. In den nächsten Schritten klärte Angela, dass ihre frühen Entscheidungen, ,Nicht zu fühlen und nicht glücklich sein zu dürfen‘ und ‚perfekt zu sein‘ angemessene Muster waren, sowohl um selber psychisch überleben zu können, als auch um Mutter in dieser Zeit loyal zu sein. Dieser Prozess war getragen von Trauer und Erleichterung. In dieser Situation ging es um Angela und ihre Berufsklärung, es ging um die individuelle Verarbeitung ihrer Geschichte und es ging ebenso um die Verarbeitung einer artikel februar2021 | 65


nicht bewältigten historischen Not von Geflüchteten und ihren Kindern. Angela war nicht nur die Person, die in diesem Moment im Raum war, sondern sie war auch die Mutter und die Großmutter, die Dramatisches und Unaushaltbares erlebt und ausgehalten hatten. Der Prozess befreite Angela, gab aber ebenso den Personen, die vorher beteiligt waren, einen angemessenen und würdevollen Raum. Diese Wiedererlangung von Würde und Sprache der vorigen Generationen war ein notwendiger Teil zur Individuation von Angela. Selbst zu werden im Hier und Jetzt voller Möglichkeiten, das gelang ihr erst durch Anerkennung und Würdigung der Anderen. Die identifizierende Verstrickung, die sie symbiotisch mit ihrer Mutter ge-

lebt hatte, konnte sie damit auflösen und transformieren zugunsten einer anerkennenden und unterscheidenden Beziehung.

SCHLIESSLICH Mein Anliegen ist es, auf die strukturelle Vernetztheit von Identität hinzuweisen und verschiedene Ansätze in der transaktionsanalytischen und nicht transaktionsanalytische Theorieentwicklung damit zu verbinden. Die Verbundenheit des Menschen in und mit der Welt ist ein Aspekt, den wir in der Beratung als Teil unseres Menschenbildes und als anthropologische Grundbedingung zur Verfügung haben sollten. Wenn wir diese Grundbedingung klar in unserer Praxis und Theorie integrieren, wird das folgende Beispiel für uns nichts Überraschendes haben:

In einer Schweizer Gemeinde wurden die Einwohner befragt, „ob sie ein atomares Endlager bei sich genehmigen würden, falls das Schweizer Parlament beschlösse, es dort einzurichten, …“.14 Die Befragten stimmten der Anfrage zu 51 % zu. Als ihnen zusätzlich angeboten wurde, dass sie für diese Zusage eine jährliche Ausgleichszahlung bekommen sollten, sank die Zustimmungsquote auf 25 %. Bei Befragungen über diese erstaunliche Veränderung erklärten 83 % derer, die abgelehnt hatten, ihre Entscheidung damit, „dass sie nicht bestechlich seien.“ (ebda.).

1. ‘Everything keeps changing: Counselling, identity and society’ Peter Rudolph, in IAT Journal 1-2-2017 2. “discourses of freedom” Petzold, H., Polyloge – Materialien aus der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit, Düsseldorf/ Hückeswagen, Internetpublikation, 2002b, S. 70 3. „Das Lied des grünen Löwen – Musik als Spiegel der Seele“ Rasche, Jörg, Düsseldorf 2004 4. Keupp, Heiner, Identitätsarbeit als Lebenskunst, in: Engel, F, Nestmann, F., Die Zukunft der Beratung, Tübingen, dgvt Verlag 2002, S. 51 5. Zum Beispiel: ‚Das Kind in dir muss Heimat finden - Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme‘, Stefanie Stahl, München 2015 6. Das dynamische Handlungspentagon, Dr. Johann Schneider, ZTA 1/2006, S.15f 7. "‘Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World’, James M. Sedgwick, S. 24, 2021 Oxon „Zu behaupten, dass ein klarer Punkt gefunden werden kann, an dem wir enden und die Welt beginnt, ist weder möglich noch notwendig, um uns selbst zu verstehen, auch wenn die tief verwurzelten Gewohnheiten der klinischen Theorie es so suggerieren mögen. ... Wenn wir die Grenzen wegnehmen, müssen wir Autonomie anders verstehen." Übersetzung PR 8. Beziehungsformen als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen, Sell, Matthias, ZTA, 2/ 2009 9. Ebda. S. 106 ff. 10. ‚Was sagen Sie nachdem Sie guten Tag gesagt haben‘, Berne Eric, München 1975, S. 26 11. ‚Ökologie des Geistes‘, Gregory Bateson, Ffm 1981, S. 350 12. Inkognito: Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns, Eagleman, David, Ffm. 2013, S. 11

Literatur • Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes - Ffm 1981 • Berne, Eric Was sagen Sie nachdem Sie guten Tag gesagt haben - München 1975 • Eagleman, David - Inkognito: Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns - Ffm. 2013 • Keupp, Heiner - Identitätsarbeit als Lebenskunst in: Engel, F, Nestmann, F., Die Zukunft der Beratung - Tübingen, dgvt Verlag 2002 • Petzold, Hilarion - discourses of freedom”, Polyloge – Materialien aus der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit - Düsseldorf/ Hückeswagen, Internetpublikation, 2002b • Rasche, Jörg - Das Lied des grünen Löwen – Musik als Spiegel der Seele - Düsseldorf 2004 • Rudolph, Peter Everything keeps changing: Counselling, identity and society in IAT Journal 1-2-2017 • Sandel, Michael ‚Moral und Politik – Gedanken zu einer gerechten Gesellschaft‘ - Berlin 2015 • Schneider, Dr. Johann - Das dynamische Handlungspentagon - ZTA 1/2006 • Sedgwick, James M. - Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World - Oxon, 2021 • Sell, Matthias- Beziehungsformen als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen - ZTA, 2/ 2009 • Stahl, Stefanie - Das Kind in dir muss Heimat finden - Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme - München 2015

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Das Hallo-Spiel Das Hallo-Spiel enthält 96 gezeichnete Karten zu TA-Begriffen und -Konzepten. Sie sind so gestaltet, dass sie auch ausserhalb des TA-Rahmens, z.B. als Seminareinstieg oder in einer Beratung verwendet werden können. Bezugsquelle www.dsgta.ch/service/literatur

Das Buch kann direkt bei der DSGTA bezogen werden. www.dsgta.ch/service/literatur

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