Dr. med. Mabuse Nr. 263

Page 1

/S Á "VTHBCF Á +BISHBOH Á % ' Á &VSP Á XXX NBCVTF WFSMBH EF

;FJUTDISJGU G S BMMF (FTVOEIFJUTCFSVGF

4DIXFSQVOLU

5FJMIBCF

"V FSEFN JO EJFTFS "VTHBCF

7FSH UVOH jS[UMJDIFS -FJTUVOHFO .ZUIFO VOE 'BLUFO %FO ,PNQBTT WFSMPSFO %BT (FTDIjGU NJU EFS "COFINTQSJU[F ,* JO EFS 5SBVFSBSCFJU &JOF LSJUJTDIF #FPCBDIUVOH %FO ,PGGFS BVTQBDLFO &JO (FTQSjDI NJU 'BUJI bFWJLLPMMV


Dr. med. Mabuse abonnieren und eine Prämie erhalten!

• vertiefende Einblicke in ein Schwerpunktthema • Spannendes aus allen Bereichen des Gesundheitswesens • Praxis- und Fachwissen für alle Interessierten • 4 Hefte (116 Seiten) im Jahr für 47 Euro www.mabuse-verlag.de/Dr-med-Mabuse/Abonnement

Eine Ausgabe verpasst? Jetzt nachbestellen!

Nr. 261 (3/2023)

Nr. 260 (2/2023)

Nr. 259 (1/2023)

Nr. 258 (4/2022)

Nr. 257 (3/2022)

Trauma

Schwangerschaft und Geburt

Nähe und Distanz

Sucht | Cannabis

Sterben, Tod, Trauer

Nr. 256 (2/2022)

Nr. 255 (1/2022)

Nr. 254 (6/2021)

Nr. 253 (5/2021)

Nr. 252 (4/2021)

Ausbildung & Studium

Psychiatrie

Ambulante Pflege

Zwang

Klima & Gesundheit

Bezugsbedingungen für unsere Abos: Dr. med. Mabuse erscheint viermal im Jahr (47 Euro/Jahr). Die Jahres- und Schüler:innen-/Student:innen-Abos (29 Euro) verlängern sich um ein Jahr, falls sie nicht spätestens sechs Wochen nach Erhalt der vierten Ausgabe im Rechnungszeitraum gekündigt werden. Geschenkabos (39 Euro) laufen automatisch aus. Für das Schüler:innen-/Student:innen-Abo ist bei Abschluss des Abos ein entsprechender Nachweis vorzulegen. Für den Versand ins Ausland fallen Portokosten in Höhe von 6 Euro pro Jahr an.

Mabuse-Aboservice • Postfach 90 06 47 • 60446 Frankfurt am Main • Tel. 069-70 79 96 17 • abo@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de • www.mabuse-buchversand.de


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, Teil einer Gemeinschaft zu sein bedeutet nicht nur, unseren Teil beizutragen und andere teilhaben zu lassen, sondern auch Anteil zu nehmen und beteiligt zu sein. Es bedeutet, mit am Tisch zu sitzen, uns einzubringen und auszutauschen – und uns ein Stück vom Kuchen zu schneiden. Wenn alle Stühle einmal besetzt sind, jemand nicht zu Wort kommt oder für manche nur die Krümel übrig bleiben, erfordert das unsere Aufmerksamkeit. Unterschiedliche Initiativen und Projekte, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Teilhabemöglichkeiten von Einzelnen und Gruppen zu vergrößern, werden im Schwerpunkt dieser Ausgabe vorgestellt. Neben der selbstorganisierten Arbeit im Krankenhaus und in der Altenpflege werden Einblicke in die medizinische Versorgung von Menschen ohne festen Wohnsitz und von Flüchtenden im Mittelmeer gewährt. Unsere Autor:innen beleuchten außerdem Möglichkeiten der Schwangerenvorsorge dank digitaler Angebote, der kulturellen Teilhabe von Menschen mit Demenz und der gelungenen Inklusion am Arbeitsplatz. Zwei Artikel widmen sich dem Begriffskern von Teilhabe und den gesundheitspolitischen Lehren Rudolf Virchows. Spannend wird es auch in den Beiträgen außerhalb des Schwerpunkts. Drei kontroverse Kommentare von Hartmut Reiners, Florian Reifferscheid, Katja Boguth, Johannes Gräske und Bennet Priesemuth befassen sich mit der Vergütung ärztlicher Leistungen, der Reform des Rettungsdienstes und dem Pflegestudiumstärkungsgesetz. Wolfgang Wagner referiert aktuelle Entwicklungen der Gesundheitspolitik.

Peter Chroust, Anne Linneweber und Florian Grundei berichten uns von Tagungen in Hadamar, Berlin und Köln. Jutta Bender setzt sich kritisch mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Trauerarbeit auseinander und Ulrike Faber beurteilt den Einsatz von Abnehmspritzen. Ludwig Janus befasst sich mit der lebensgeschichtlichen Bedeutung von Schwangerschaft und Geburt. Sein neues Buch „Kartonwand“ stellt der Autor Fatih Çevikkollu im Interview mit Christoph Müller vor. Mpumi Zondi erzählt Julia Manek von der Arbeit der Sophiatown Community Psychological Services in Johannesburg und Semyon Gluzman berichtet im Gespräch mit Gisela Krauss und René Papenfuß über die psychischen Folgen des russischen Angriffskrieges. Martina Baumann und Uwe Loda zeigen anschaulich, wie Körpermusik im therapeutischen Setting zum Einsatz kommen kann. Viviane Scherenberg und Nadine Berling erklären, welche Rolle die Ernährungskompetenz im Umgang mit Lebensmittelverschwendung spielt und Jörg Stanko träumt von allumfassender Teilhabe im Gesundheitswesen.

Wir wünschen Gesundheit, Glück und Lebensfreude für das neue Jahr!

Charlotte Fischer

Dr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024

Florian

Grundei

3


Inhalt 14 Vergütung ärztlicher Leistungen – Mythen und Fakten Hartmut Reiners 18 Die Wiederentdeckung der

NS-Krankenmorde Bericht von der Tagung im Psychiatrischen Krankenhaus Hadamar vom 12.–14. Oktober 2023 | Peter Chroust 21 #EchtGut – für alle! Bericht zum Paritätischen Gesundheits- und Pflegekongress am 8. November 2023 in Berlin Anne Linneweber 24 Zukunftsfähig werden Wie eine Reform des Rettungsdienstes aussehen müsste Florian Reifferscheid 26 Lust auf morgen –

trotz vieler Herausforderungen Bericht vom 14. DGP Hochschultag – Pflegewissenschaft im Dialog Florian Grundei 28 Kritik von allen Seiten Apotheken, Krankenhäuser und Arztpraxen sehen sich in ihrer Existenz bedroht | Wolfgang Wagner 67 Jahresregister 2023 70 Den Koffer auspacken Christoph Müller im Gespräch mit Fatih Çevikkollu 73 Vom Seelenleben der Ungeborenen Die lebensgeschichtliche Bedeutung von Schwangerschaft und Geburt Ludwig Janus Kunst und Kultur:

77 Ganzheitliches Schwingen

und Klingen Körpermusik und Bodysongs als psychosomatische Gesundheitserreger Martina Baumann und Uwe Loda 80 Trauer oder was? Eine kritische Beobachtung Jutta Bender 82 Das Pflegestudium-

stärkungsgesetz Perspektiven und Regelungslücken Katja Boguth, Johannes Gräske und Bennet Priesemuth 84 Ozempic®: Den Kompass verloren Ist nicht eigentlich alles gesagt? Ulrike Faber

Foto: istockphoto.com/Turkey

87 „Ich werde weitermachen!“ Gisela Krauss und René Papenfuß im Gespräch mit Semyon Gluzman

Rubriken 03

Editorial

06 Leserbriefe Gesundheit global:

90 In der Ruhe liegt die Kraft Mpumi Zondi und die Sophiatown Community Psychological Services in Johannesburg | Julia Manek

08 Nachrichten 09 Cartoon 12

Neues aus dem Mabuse-Verlag

13

Bitte zur Anamnese

93 Lebensmittelverschwendung Welche Rolle spielt die Ernährungskompetenz | Viviane Scherenberg und Nadine Berling

97

Buchbesprechungen

114 Besser reich und gesund

108 Termine

als arm und krank Jörg Stanko

102 Neuerscheinungen 106 Zeitschriften 107 Broschüren/Materialien 112 Fortbildungen/Kleinanzeigen 113 Impressum

Dr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024


Schwerpunkt

Teilhabe 32 Teil sein, teilhaben Konzeptionelle Überlegungen Charlotte Fischer

43 Gemeinsam Barrieren überwinden Kulturnetzwerke bereichern die Versorgungsstrukturen für Menschen mit Demenz vor Ort | Georg Weigl

37 Physiotherapie und Gebrechlichkeit Medizinische Versorgung von Menschen ohne festen Wohnsitz: Erfahrungsbericht aus der ElisabethStraßenambulanz in Frankfurt Carmen Speck

Entstehung einer selbstorganisierten Station im Krankenhaus am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau Stefanie Schwinger

Dr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024

Gelebte Inklusion am Universitätsklinikum Augsburg | Diana Zapf-Deniz

58 Hebammenmangel in Deutschland 47 Versorgungssicherheit durch Selbsthilfestrukturen Die Seniorengenossenschaft Riedlingen | Josef Martin

50 Einstehen für Menschenrechte 40 Station Zukunft

54 Ein Gewinn für alle Beteiligten!

Die Arbeit des Medical Teams an Bord des Rettungsschiffes Humanity 1 Melanie M. Klimmer

Kinderheldin ermöglicht die digitale Versorgung | Nicole Höhmann

62 Dem Gemeinwohl verpflichtet Gesundheitspolitische Lehren von Rudolf Virchow bis Ilona Kickbusch Ellis Huber 65 Teilhabe Bücher zum Weiterlesen


Buchbesprechungen


Buchbesprechungen

Silke Heimes

Therapeutisches Schreiben bei Depressionen Hilfe zur Selbsthilfe

S

ich auf einen psychotherapeutischen Weg zu machen, bedeutet immer auch eigenes Engagement und viel Kreativität. Dies zeigt auch das Buch „Therapeutisches Schreiben bei Depressionen“, das die Ärztin und Psychotherapeutin Silke Heimes geschrieben hat. Sie ist im besten Sinne eine Fachfrau für die Bewältigung seelischer Krisen mit dem Füller oder der Tastatur und spricht die Leserinnen und Leser direkt an: „Aber das Wichtigste: Sie haben nicht aufgegeben. Sie haben weitergemacht und nach Lösungen gesucht. Das heißt, Sie haben den Mut und Willen, sich für sich selbst einzusetzen und Neues auszuprobieren“ (9). Für Heimes geht es beim therapeutischen Schreiben darum, „einen sprachlichen Ausdruck für Gedanken und Gefühle zu finden“ (16). Schreiben vermöge Einsichten in Lebenszusammenhänge und die Bedingtheit des Schicksals zu geben und zur Bewältigung von Lebensproblemen und Krisen beizutragen. Für die unbedachte Leserin/den unbedachten Leser mag es trotzdem den Eindruck erwecken, dass der Sprung zum eigenen Schreiben mit einer großen Hürde verbunden ist. Dabei will Heimes Menschen ermuntern, erst einmal ein Notizbuch aus der Tasche zu holen, um die aktuellen Gefühle und Erfahrungen aufzuschreiben. In einem zweiten Schritt geht es darum, eine Schreibgewohnheit mit dem Füller oder dem Computer zu finden. Heimes stützt sich auf Studienlagen, wenn sie erläutert: „Durch das Schreiben, dem ein genaues Wahrnehmen und Benennen vorausgeht, eröffnet sich die Möglichkeit, unsere Emotionen genau zu erkunden und Reaktion sowie Verhaltensmuster zu erkennen und diese (…) so anzupassen, dass sie uns nicht mehr schaden, sondern guttun“ (21). Das Buch zeigt eine klare Struktur. Heimes stellt in einem ersten Schritt die Grundlagen des therapeutischen Schreibens vor. Sie beschäftigt sich mit den psychischen Wirkungen des Schreibens und zeigt anschaulich, für wen sich das therapeutische Schreiben eignet. In einem zweiDr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024

ten Schritt beantwortet sie die Frage „Was ist eine Depression?“. Es werden unterschiedliche Therapieansätze zugänglich gemacht. Einen zentralen Raum nimmt in diesem Zusammenhang das „Depressionstagebuch“ ein. Es dokumentiert unterschiedliche Parameter, die Hinweise auf das Vorliegen einer Depression geben. Mit dem Blick auf das therapeutische Schreiben als selbstgeleitete Intervention warnt sie jedoch davor, das „Depressionstagebuch“ als einziges Tool zu verwenden, denn es würde dem oder der Betroffenen Chancen nehmen. „Schreibpraxis pur“ ist schließlich die Hinführung zum Schreiben an sich. In erster Linie nimmt das Buch die Angst und die Verunsicherung, das Schreiben auf dem Weg aus der individuellen Krise hinaus zu nutzen. Heimes zeigt sich dabei als hilfreiche Anleiterin. Christoph Müller, Wesseling

Kohlhammer, Stuttgart 2022, 112 S., 22 Euro

Hans-Walter Schmuhl

Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit

E

twa 450 000 Kinder waren zwischen 1951 und 1993 in einem der drei Kinderkurheime der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK), einem ihrer 65 Vertragsheime oder in einer von der DAK bezuschussten Kinderkur eines anderen Trägers untergebracht. Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt acht bis zwölf Millionen Kinder in dieser Zeit mindestens einmal in solch einer Einrichtung waren. Diese Zahlen führen die gesellschaftliche Relevanz der Kinderkuren eindrücklich vor Augen. Der renommierte Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl hat nun im Auftrag der DAK von ihr finanzierte Kinderkuren genauer betrachtet und historisch aufgearbeitet.

In seiner Studie setzt Schmuhl einen klaren Fokus auf Gewaltpraktiken innerhalb der Kinderkurheime. Er fragt danach, von wem Gewalt ausging, welche Anlässe es für Gewalttaten gab, wer zum Opfer wurde, welche Formen von Gewalt angewendet wurden, welche Handlungslogiken dahinterstanden und welche Überlebensstrategien Betroffene entwickelten. Er begreift Kinderverschickungskuren damit als Beispiele für institutionelle Gewalt, ähnlich wie das die Forschung in den letzten Jahren mit Heimen und psychiatrischen Einrichtungen getan hat. In einem ersten Schritt gibt der Autor einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Heime: beginnend kurz nach dem Ersten Weltkrieg, über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Danach beschreibt er eingehend, wie sich das Kinderkurwesen in der Bundesrepublik von seiner Wiederaufnahme 1951 bis zum Auslaufen 1993 entwickelt hat und macht damit die Rahmenbedingungen für die weitere Analyse deutlich. Insbesondere medizinische, pädagogische und soziale Konzepte werden hier näher beschrieben, was immens dabei hilft, die Kinderkuren sozialgeschichtlich besser kontextualisieren zu können. Quellengrundlage hierfür bilden in erster Linie Aktenbestände der DAK, öffentlicher Einrichtungen und die Sekundärliteratur. Das dritte Kapitel kann als Scharnier zwischen dem normativen Rahmen und dem Alltag in den Kinderkurheimen verstanden werden. Es legt die theoretische und methodische Basis für die Untersuchung der Gewalt, in dem es das Konzept der „totalen Institution“ aufgreift und sich an einer Typologie von Gewalt versucht. Der folgende Teil ist das Herzstück der Untersuchung. Anhand einer Vielzahl von leitfadengestützten Interviews, die der Autor mit Betroffenen mittels der Methode der Oral History geführt und ausgewertet hat, nähert er sich dem Alltag innerhalb der Kinderkurheime an. Dass es hier nicht darum gehen kann, die Wirklichkeit en détail darzustellen, sondern vielmehr die Erfahrungen und Erinnerungen ehemaliger Patient:innen zusammenzutragen, ist Schmuhl klar – er macht dies auch immer wieder deutlich. Dennoch gelingt es ihm, durch eine dichte Beschreibung ein lebendiges Bild des Kurlebens zu zeichnen. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung nochmals zu-

97


98

Buchbesprechungen

sammengefasst. Hier ist insbesondere die Einordnung in den zeitgenössischen Kontext hervorzuheben, welche die Geschehnisse nicht relativiert, aber zumindest etwas besser verstehbar macht. Insgesamt ist das Buch allen zu empfehlen, die sich mit dieser schwierigen Thematik näher auseinandersetzen möchten oder müssen. Beim Lesen merkt man die langjährige Erfahrung des Autors auf dem Gebiet: Die Studie ist wohlüberlegt konzipiert, methodisch fundiert und professionell verschriftlicht worden. Auch wenn sie in erster Linie als wissenschaftliche Arbeit dazu dienen soll, den Fachdiskurs zu bereichern, werden Betroffene sie gleichermaßen zu schätzen wissen, weil Hans-Walter Schmuhl sie nicht nur als Untersuchungsobjekte versteht, sondern ihre Perspektive ernst nimmt. Pierre Pfütsch, Stuttgart

Dölling & Galitz, Hamburg 2023, 304 S., 28 Euro

Angelika Feichtner & Ulrich Körtner u. a. (Hg.)

Assistierter Suizid Hintergründe, Spannungsfelder und Entwicklungen

G

leich zu Beginn: Dieses Buch ist absolut lesenswert für Personen, die sich mit dem Thema assistierter Suizid beschäftigen. Wegen gesetzlicher Änderungen in Österreich haben sich die Herausgeber:innen daran gemacht, das Thema ausführlich und von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Auch internationale Regelungen und Erfahrungen kommen nicht zu kurz. Der vorliegende Band besteht aus vier Teilen mit insgesamt 38 Einzelbeiträgen. Nicht alle Beiträge haben die gleiche Qualität, in Summe ergibt sich aber ein sehr guter Überblick zum Thema. Leider ist es aus Platzgründen nicht möglich, die Beiträge einzeln zu würdigen, was ausgesprochen schade ist.

Im ersten Teil werden allgemeine Grundlagen des assistierten Suizids dargestellt und es erfolgt eine Annäherung an die Motive und Ursachen für den Wunsch nach suizidalem Handeln. Der zweite – und umfangreichste – Teil beleuchtet den assistierten Suizid aus verschiedenen Perspektiven. Patrick Schuchter verweist darauf, dass sich die wichtigsten (philosophischen) Fragen im Leben zugleich nicht befriedigend lösen lassen, etwa ob „der menschliche Wille wirklich frei“ sei (79). Der assistierte Suizid sei „Ausdruck einer Gesellschaft der Starken“ (86), aber die Frage nach der Legitimität könne nicht beantwortet werden. Ein wichtiges Problem, das in mehreren Beiträgen behandelt wird, ist die Rolle von Palliative Care in Bezug auf assistierten Suizid. Insbesondere Palliativ- und Hospizvereine lehnen die Beihilfe grundsätzlich ab, aber es entbindet sie nicht von der Verantwortung zu entscheiden, ob sie todkranke Menschen trotzdem begleiten und eventuell auch Kontakte vermitteln. In Deutschland wird oft betont, dass es den Wunsch nach Suizid bzw. Suizidbeihilfe viel weniger geben würde, wenn eine hinreichend gute palliative Versorgung gewährleistet wäre. Dem widersprechen Erfahrungen insbesondere aus Australien und Kanada, die im dritten Teil ausgeführt werden. In Australien wurde parallel zum Voluntary Assisted Dying (VAD)-Gesetz die palliative Versorgung stark ausgebaut, aber „viele der Patient:innen, die einen VAD-Antrag stellen, befinden sich in dieser Zeit in der Betreuung eines PalliativeCare-Teams“ (319). In Kanada gibt es seit 2016 MAiD (Medical Assistance in Dying). Dort befanden „sich 97 Prozent der durch MAiD Verstorbenen zuvor in Betreuung von spezialisierten Palliative-Care-Teams“ (339). In Kanada führen auch Nurse Practitioners assistierten Suizid sowie Tötung auf Verlangen durch (334). Es dürfte das einzige Land weltweit sein, in der die Pflege ausdrücklich nicht nur erwähnt, sondern auch eingebunden wird. In allen anderen Ländern wird assistierter Suizid auf die ärztliche Profession reduziert, dabei erfolgen sowohl Vor- und Nachsorge von Suizident:innen sowie die Begleitung, speziell auch der Angehörigen, sehr häufig durch Pflegende. Über die – in der Regel nicht wahrgenommene – Rolle der Pflege in Bezug auf assistierten Suizid schreiben Sabine Pleschberger und Christian Pet-

zold einen wichtigen Beitrag (141ff.), der auch die Hilflosigkeit der übergangenen Berufsgruppe bei diesem Thema aufzeigt. Der vierte Teil rundet das Buch mit zwei sehr einfühlsamen, auch bedrückenden Erzählungen von Psychotherapeutinnen ab, die schwerstkranke Frauen begleiten, mit und ohne assistiertem Suizid. Ein absolut lesenswertes Buch, das dazu beiträgt, das Thema immer wieder nochmal neu zu denken. Irmgard Hofmann M.A. (phil.), Pflegeethikerin und Lehrerin für Pflegeberufe, München

Springer VS, Wiesbaden 2022, 380 S., 54,99 Euro

Mark Solms

The Hidden Spring Warum wir fühlen, was wir sind

W

arum empfinden wir ein subjektives Selbst? Wo im Gehirn entsteht menschliches Bewusstsein? Mark Solms, der als Begründer der Neuropsychoanalyse gilt, hat sich – angestoßen durch ein sehr persönliches Ereignis – zeitlebens der Erforschung des menschlichen Bewusstseins verschrieben. In seinem neuen Buch nimmt er uns mit auf eine ebenso außergewöhnliche wie subjektive Reise von den Anfängen der Neuropsychologie bis hin zu den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften. Es ist schon ein merkwürdiges Ding, das Bewusstsein. Jeder und jede hat es, vorausgesetzt, man ist nicht auf den Kopf gefallen. Genau das ist dem Bruder von Mark Solms passiert, als er beim Spielen mit Freunden vom Dach fiel. Seitdem erlebte Solms ihn, als sei er „da und nicht da“. Besonders intensiv erinnert Solms den Widerspruch, dass der Bruder genauso aussah wie vorher, aber nicht mehr er selbst war: Er verstand nicht, wohin der Bruder von einst entschwunden war. Diese Erfahrung hat ihn während seiner gesamten wissenschaftlichen Karriere angetrieben. Er wollte begreifen, was mit seinem Bruder Dr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024


Buchbesprechungen

geschehen war und was möglicherweise irgendwann mit allen geschehen könnte. Sprich: Er wollte verstehen, was Bewusstsein ist und wie es auf neuronaler Ebene zustande kommt. In seinem Buch nimmt er uns mit auf den langen Weg seiner beruflichen und wissenschaftlichen Entwicklung. Er holt dabei weit aus und beschreibt seinen persönlichen Zugang, seine eigenen Erfahrungen und die vielen Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den Fachkollegen. Bei seinen Untersuchungen von Hirnverletzten kam er an die Grenze von objektiv Belegbarem, weshalb er sich nicht scheute, eine Psychoanalyse zu machen – in der berechtigten Vorstellung, dass subjektive Erfahrungen nicht weniger wert sind als das objektiv Messbare. Auf diese Weise näherte er sich dem Dilemma, dass Bewusstsein nur erforscht werden kann, während das eigene Bewusstsein immer schon ein Teil der Beobachtung ist. Herausgekommen ist eine sowohl neurowissenschaftlich spannende wie subjektiv berührende Geschichte über die Erkenntnis, dass Gefühle ein wesentlicher Teil dessen sind, was Bewusstsein ausmacht. Etwas hochgegriffen kann man sagen, dass Solms an der Stelle reichlich nachgearbeitet hat, wo Freud noch scheiterte, weil ihm die dazu erforderlichen Methoden fehlten. Vor diesem Hintergrund erläutert Solms, dass das Bewusstsein letztlich nicht in der Hirnrinde entsteht, dem Sitz des Denkens, sondern im Hirnstamm, wo die grundlegenden Emotionen beginnen: „Das fühlende Subjekt wird im wahrs-

ten Sinne des Wortes durch den Affekt konstituiert“ (277). Dabei geht er davon aus, dass individuelle Abweichungen von überlebensfähigen Zuständen als Bedürfnisse registriert werden, die zu Handlungen führen können. Da nicht alle Bedürfnisse gleichzeitig wahrgenommen und schon gar nicht umgesetzt werden können, bringt das Mittelhirn sie in einem Entscheidungsdreieck in eine Rangordnung. Erst danach unterliegen die Aktionen, die durch priorisierte Affekte ausgelöst werden, der Willkür – und mehr oder weniger auch der Entscheidungsfreiheit. Ohne die Vorarbeit der Gefühle würden Herausforderungen wie etwa Hunger, Kälte und Hitze, körperliche Gefahr, soziale Isolation unsere Denkvorgänge überfordern. So gesehen sind Gefühle eine effektive und effiziente Möglichkeit, um bestmögliche Entscheidungen zu treffen. Dennoch erklären wir uns – in unreflektierter Selbstüberschätzung – unser Verhalten oft als „freien Willensakt“. Ist damit das Rätsel des Bewusstseins gelöst? „Ich muss zugeben, dass mir ein Rest von Unbehagen geblieben ist“, schreibt Solms mit bewundernswerter Offenheit und dem Wissen, dass auch er nur innerhalb seines eigenen Bewusstseins erkennen kann. Das Buch wurde im englischen Sprachraum hochgelobt, nicht nur von denen, die es wissen müssen wie Eric Kandel oder Oliver Sacks. Mein Eindruck ist, dass es hilfreich ist, über neurologische Grundlagenkenntnisse zu verfügen oder zumindest bereit zu sein, sich in diese einzuarbeiten.

Dann aber erwartet einen eine ebenso persönlich gehaltene wie spannende Lektüre. Dr. med. Helmut Schaaf, Ltd. Oberarzt Psychotherapie an der Tinnitus Klinik und dem Gleichgewichtsinstitut Dr. Hesse, Bad Arolsen

Klett-Cotta, Stuttgart 2023, 368 S., 35 Euro

Hilde Schädle-Deininger & Christoph Müller (Hg.)

Praxisbuch Pflege und Psychopharmaka

D

urch die Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen einer Behandlung mit Psychopharmaka, die Diskussion möglicher Behandlungsalternativen, das Einnehmen ethischer Betrachtungsweisen sowie die Vielstimmigkeit der Autor:innen ist das Buch von Hilde Schädle-Deininger und Christoph Müller zwingend für die Praxis aller Berufsgruppen in der Psychiatrie geeignet. Es versteht sich dabei nicht als Handreichung zur aktuellen leitliniengerechten Behandlung, sondern als Impulsgeber für eine zeitgemä-

Missbrauchtes Vertrauen Sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Ursachen und Folgen

23,00 € ZZGL. UMSATZSTEUER

Erhältlich im Buchhandel oder über den Verlag.

IA23040

'DV 6WDQGDUGZHUN LVW MHW]W LQ GHU ¾EHUDUEHLWHWHQ $Xƃ DJH erhältlich. Der Autor Dr. med. Werner Tschan blickt auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zurück und zeigt auf, wo wir heute in Bezug auf die Thematik Grenzverletzungen durch Fachleute stehen. Das Buch dient der Enttabuisierung dieser Problematik und ebnet den Weg zu einem sachlichen Dialog über Ursachen und Lösungsstrategien. «Ich rate Betroffenen, nicht zu schweigen und sich Hilfe XQG 8QWHUVW¾W]XQJ ]X KROHQ} HPSƂ HKOW +HUU 'U 7VFKDQ

99


100

Buchbesprechungen

ße, recoveryorientierte, individualmedizinische Therapie. Früh wird gezeigt, dass Psychopharmaka zur Behandlung gehören, zwar nicht allein ausreichend sind, aber oftmals als „Türöffner“ für Gespräche und psychotherapeutische Interventionen fungieren. Dabei ist oberstes Ziel, eine subjektiv empfundene Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen, auch unter Einbezug des sozialen Netzwerkes der Betroffenen. Eine reine Bekämpfung der Symptome und Vernachlässigung der Ursachen stellt in der heutigen Zeit einen klaren Kunstfehler dar. Hier wird zugleich die Anforderung an psychiatrische Pflegefachpersonen deutlich: Sie müssen nicht nur die Medikation verabreichen und sicherstellen, dass diese von Betroffenen eingenommen wird, sondern benötigen Wissen zu (Neben-)Wirkungen, ein entsprechendes Interventionsvermögen, die Kompetenz und Bereitschaft, Betroffene hinsichtlich medikamentöser Fragen zu beraten (Adhärenzförderung) und eine Offenheit für nichtmedikamentöse Behandlungsansätze. Das alles ist Bestandteil der pflegerischen Durchführungsverantwortung und einer ethisch betrachtet „guten Psychiatrie“. Dabei ist es unabdingbar, dass Perspektiven und Ansätze im multiprofessionellen Team betrachtet und diskutiert werden. Im zweiten Kapitel werden Psychopharmaka aus trialogischer Sicht betrachtet. Dabei kommen sowohl Betroffene als auch An- und Zugehörige zu Wort. Anschließend widmet sich das Werk der Handhabung von Anordnungen im Alltag. Hier darf ein kritischer Blick auf psychiatrische Begrifflichkeiten wie Compliance, Adhärenz und Krankheitseinsicht ebenso wenig fehlen wie die Betrachtung rechtlicher Aspekte und die mit der Anordnung und Gabe einhergehenden Entscheidungsprozesse im multiprofessionellen Team. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Medikamenten in unterschiedlichen Lebensphasen und Behandlungssettings. Hierbei werden das Kinder- und Jugendalter, die Bedeutung des oftmals notwendigen Off-Label-Use, die Behandlung Erwachsener sowie älterer Menschen und die Bedeutung der medikamentösen Behandlung in stationären, teilstationären, komplementären und ambulanten Settings betrachtet. Im fünften Kapitel finden sich spezifisch psychiatrisch-pflegerische Gesichtspunkte. Neben Themen wie Recovery und

Empowerment geht es um die Ressourcen der zu Behandelnden, die trialogische Betrachtung unerwünschter Wirkungen, Behandlungsvereinbarungen als vertrauensbildende und Zwang vermeidende Maßnahmen, eine gezielte Entlassungsvorbereitung, die Durchführung eines Medikamententrainings in der Alterspsychiatrie und auch um die Begleitung beim Reduzieren und Absetzen. Dieses Thema hätte ich mir etwas ausführlicher gewünscht: Ist es doch in der Praxis nach wie vor so, dass Betroffene mit ihren Wünschen allein gelassen oder als „non-compliant“ (besser wäre: non-adhärent) bzw. krankheitsuneinsichtig bezeichnet werden. Dabei wäre eine Beratung zu einer fachlich begleiteten Reduktion und dem Umgang mit Absetzphänomenen zielführend. Im sechsten Kapitel werden frühere Veröffentlichungen zum Thema betrachtet und (kritisch) kommentiert. Dies führt zu einem gelungenen Abschluss des Buches, auch wenn – wie bereits von den Herausgebern im Geleitwort angemerkt – das Thema nie als abgeschlossen betrachtet werden kann, da es zu vielschichtig und kontrovers ist. Das Buch ist ein Muss für alle psychiatrisch Tätigen, die sich mit dem Thema Psychopharmakotherapie auseinandersetzen möchten. Es ist impuls- und ideengebend für Fragen zur praktischen Umsetzung und Bedeutung, aber auch für berufsgruppenübergreifende Diskussionen. Nur so kann sich die Psychiatrie zu dem entwickeln, was von ihr erwartet werden darf: zu einem Ort, an dem personenorientiert, unter Einbezug des sozialen Umfelds und unter Berücksichtigung ethischer Dimensionen eine ganzheitliche Behandlung erfolgt. Stefan Rogge, M.A. Health Administration, B.A. Psychiatrische Pflege, Pflegerischer Leiter d. Klinik für Forensik, Universitäre Psychiatrische Kliniken, Basel (Schweiz)

Hogrefe, Bern 2023, 248 S., 32,95 Euro

Lola Maria Amekor

Dazwischen Das Phänomen der Zwischenleiblichkeit aus der Perspektive beruflich Pflegender

D

er Krankenschwester, Kunsttherapeutin und Pflegewissenschaftlerin Lola Amekor geht es um nicht weniger als die Frage, was den Kern pflegerischen Handelns ausmacht. Eine Antwort findet sie vor dem Hintergrund der Leibphänomenologie: Vorrangig ermöglicht das Konzept der Zwischenleiblichkeit von Maurice Merleau-Ponty, ergänzt um das der Emotionalität und des personalen Raums von Thomas Fuchs sowie der Responsivität von Bernhard Waldenfels, den theoretischen Zugang zur Empirie. Diese besteht in der Rekonstruktion subjektiver Einschätzungen und Haltungen von Pflegenden im Hinblick auf die Frage, wie sie in ihrem Alltag auf chirurgischen und internistischen Stationen „zwischenleibliche Ereignisse“ wahrnehmen und bewerten. Die Stichprobe setzt sich aus fünf Pflegefachpersonen zusammen, die teils über langjährige Berufserfahrung verfügen. Dabei richtet Amekor ihren Blick insbesondere auf die Resonanz, denn Interaktionen, Begegnungen und das „Dazwischen“ lassen niemanden kalt und unberührt. Die Frage ist nur, ob und in welcher Art die entsprechenden Erlebnisse reflektiert und für die pflegerische Arbeit nutzbar gemacht werden. Der Begriff des Nützlichen ist hier im Sinne von Martin Heidegger zu verstehen, der den Begriff von einem rein technisch-instrumentellen Verständnis abgrenzt und damit das Nützliche im Sinne des Heilsamen versteht, also als das, was den Menschen zu sich selbst bringt. Amekor kommt zu dem Schluss, dass sich die metaphorischen Konzepte des „Spürens“, des „Gefühls“ sowie des „Gespürs“ durch alle Interviews ziehen. Unter dem „Dazwischen“ ist ein enges Verhältnis zu verstehen, das aber sehr unterschiedlich konkretisiert wird. Damit verwandt ist das „Dazwischen“ als ein „Aufspüren von Nicht-in-Ordnung-Seiendem“ – etwa bei Patient:innen auf einer kardiologischen Station – und als intensives Verhältnis in einer Arbeitssituation, die von Schnelligkeit und Risiken geprägt ist. Zwischen diesen beiden Interpretationsformen ist ein Verständnis vom „Dazwischen“ als Übertragung rekonstruierbar, die eine gewisse Ambivalenz aufweist: Einerseits Dr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024


Buchbesprechungen

zeigt sich eine enge Verbindung zwischen der Pflegekraft und den ihr anvertrauten Personen. Andererseits wird eine Distanz erkennbar, denn die Pflegeperson berichtet weniger von ihrem eigenen Erleben, sondern agiert als Zuschauerin und empfindet kein gemeinsames Erlebnis. Daneben lassen sich weitere Konzepte herausarbeiten, etwa das des Weges (das „Dazwischen“ wird als ein Hin und Her empfunden), der Situationen und Momente (das „Dazwischen“ als Objekt, das gestaltet und bewältigt werden muss), des Gebens (und Nehmens), des Zugangs und der Öffnung oder des Trainings bestimmter Kompetenzen. Letzteres beschreibt nicht primär ein Wohlfühlen oder die Bedürfnisbefriedigung (wie der Pflege häufig unterstellt wird), sondern ein professionell geleitetes Heranführen an Grenzen und deren Erweiterung. Allen, die Pflege als aktivierend-rehabilitatives Programm verstehen, ist klar, was damit gemeint ist. Hier zeigt sich ein nachhaltiger Einfluss von Patient:innen auf Pflegefachpersonen (und umgekehrt). Die Ambiguitätstoleranz besteht aus dem Spektrum zwischen einer nüchtern-fachlichen Professionalität und dem intuitiven Zugang zur anderen Person und der Verbundenheit mit ihr. Hier die richtige Grenzziehung zu entwickeln, ist keine einfache Anforderung, sondern bedeutet eine fachliche und menschliche Leistung, welche die Pflege jeden Tag aufbringt. Beeindruckend sind die methodische Klarheit, die interessanten empirischen Befunde sowie der hohe Grad an Selbstreflexion, die in Amekors Arbeit erkennbar werden. Ihr geht es nicht um eine technische Innovation zur Optimierung der Praxis, sondern um ein Verständnis davon, warum die pflegerische Arbeit so ist wie sie ist. Es geht um einen Einblick in die Denkweise und den Habitus der Pflegenden. Univ.-Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Dekan Pflegewissenschaftliche Fakultät, Vinzenz Pallotti University, Vallendar

Tectum, Baden-Baden 2023, 198 S., 39 Euro

Dr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024

Gerd Steffens

Ein Lebensversuch mit Demenz Bericht über K.

B

ei etwa 1,8 Millionen Demenzkranken in Deutschland (2021) und vielen Millionen mitbetroffenen Angehörigen ist es wenig erstaunlich, dass inzwischen eine große Fülle von Ratgebern, Erfahrungsberichten, literarischen Annäherungen und (populär)wissenschaftlichen Abhandlungen existiert. Gerd Steffens berichtet in seinem Buch über das Zusammenleben mit seiner 2020 verstorbenen demenzkranken Ehefrau. Er beschreibt Demenz jenseits ihrer neurologischen Erscheinungen auch und vor allem als soziale Krankheit, die nicht nur die Erkrankten von ihrem bisher vertrauten Leben trennt, sondern auch Angehörige und Freunde so sehr verstören kann, dass diese ebenfalls in bedrohliche Krisen geraten können. Das Buch besteht aus drei Kapiteln, die einen tiefen Einblick in seine eigenen Entwicklungsprozesse und den schwierigen gemeinsamen Weg als Paar geben. In der Einleitung wird die lange Vorgeschichte der Erkrankung eindrücklich geschildert. Dabei beschreibt der Autor das Aufkommen „unbegriffener Entfremdungen“ und die spätere Erkenntnis, welche psychischen Mechanismen die fragile Balance der Paarbeziehung und des Alltags noch längere Zeit aufrechterhalten haben. Er bezeichnet seine Verdrängungsmechanismen treffend als „Normalisierungsmaschine“ und die Versuche von K., ihre zunehmenden Ausfälle oder Aussetzer zu überspielen als „Dissimulationsmaschine“. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung werden diese Abwehrmechanismen brüchiger, der gemeinsame Alltag immer schwieriger und aus den „rätselhaften Findlingen“ werden „unwegsame Geröllfelder“. In dieser Phase zunehmender Verstörung und Verzweiflung gelingt es Steffens, das gemeinsame Arrangement von Verleugnung und Dissimulation entscheidend zu verändern, indem er die Demenz seiner Ehefrau zu seiner „Aufgabe“ macht, um nicht – wie er es ausdrückt – zum „Opfer von K.‘s Demenz“ zu werden. Es ist beeindruckend, wie er es schafft, ein Gleichgewicht zwischen der Nähe als tagtäglicher Helfer und der notwendigen Distanz als teilnehmender Beobachter zu finden.

Als hilfreiches Instrument der Beobachtung, aber auch der seelischen Entlastung erweist sich schließlich das Aufschreiben seiner „Selbstgespräche“. Im Prozess des Schreibens entdeckt er „Sinnspuren“ und mögliche neue Perspektiven für den gemeinsamen Lebensversuch mit oder trotz Demenz. Diese authentischen und empathischen Tagebucheinträge bilden den zweiten Teil des Buches und verdeutlichen, dass Steffens die Aufgabe als Selbstobjekt für K. übernimmt. Damit unterstützt er K. bei der Aufrechterhaltung ihrer Selbstorganisation. Der dritte Teil des Buches reflektiert, wie dieser gemeinsame Lebensversuch mit Demenz Steffens und seine Vorstellungen über Demenz verändert haben. Hier wird nachvollziehbar, dass es in der Beziehung zu einer dementen Person keine Wahr-Falsch-Dichotomie gibt: Entscheidend ist, sich auf eine geteilte intersubjektive Wirklichkeit einzulassen. In diesem intersubjektiven Raum ist es möglich, die geteilte Wirklichkeit über die erfahrene empathische Resonanz verbal, aber auch zunehmend averbal auszudrücken, und so kann die demenzkranke K. ihre subjektive Welt im Wechselspiel mit G. entfalten. Trotz aller Tragik der Krankengeschichte und des Todes von K. sind die Schilderungen dieser alltäglichen Begegnungen sehr berührend, tröstlich und ermutigend. Das Buch eröffnet Möglichkeitsräume für neue Sichtweisen auf Demenz und unseren Umgang mit Demenzkranken. Der Autor verdeutlicht, dass gelingendes Leben vor allem in der Wechselseitigkeit von Beziehungen und in starken Impulsen eines Miteinanders zu finden ist. Der persönliche Zugang macht das Buch nicht nur für Angehörige und professionelle Helfer:innen lesenswert, sondern für alle Menschen, die Gesundheit und Krankheit in ihrem sozialen Kontext und in der Wechselseitigkeit von Beziehungen verstehen wollen. Hermann Roth Facharzt f. Psychiatrie/Psychotherapie u. Psychosomat. Medizin, Frankfurt am Main

Kohlhammer, Stuttgart 2023, 225 S., 30 Euro

101


114

Besser reich und gesund ...

... als arm und krank

von Jörg Stanko Schon John Lennon gab vor vielen Jahren die Anregung sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sich alle Menschen alles brüderlich teilen würden („Imagine all the people, sharing all the world“) – alles natürlich schwer gerecht und mit viel Liebe und Frieden sowieso. Also, Nickelbrille auf, Haare auf dem Kopf und im Gesicht wachsen lassen, freundlich lächeln, schon ist alles in Ordnung. Peace, Bruder! Und Schwestern! Alle würden im Hier und Jetzt leben. Alles wäre tutti! Die Jüngeren nennen das heute Achtsamkeitstraining. Wäre doch toll, wenn wir das im Gesundheitswesen auch irgendwie umsetzen könnten. Kommunikation auf Augenhöhe statt Hierarchien nach alten Strickmustern. Dafür bekommen zunächst alle Beteiligten eine Nickelbrille aus der Linie Lauterbach. Bei allen Besprechungen fassen wir uns bei den Händen, stimmen ein Liedchen an und schauen uns tief in die Augen. „Du, wie ist die Operation gelaufen?“ „Ach, ich war ganz im Moment!“ „Schön!“ „Ja!“

stunden mehr. Eine Aufstockung auf 40 Urlaubstage im Jahr wäre selbstverständlich. Die Gesellschaft würde alle Vertreter:innen der Gesundheitsberufe wertschätzen, weil sie endlich versteht, dass wir überhaupt erst die Voraussetzungen für eine Teilhabe aller schaffen. Und ganz neu: Wir nähmen selbst auch teil. Was für eine schöne Utopie! Bruder Patient, Schwester Ärztin. Mein Nachbar dreht gerade die Musik laut. „It's just an illusion, ooh, ooh, ooh, ooh, ah, illusion.“ Das würde Carl Gustav Jung Synchronizität nennen. Kommt, alle aufstehen und tanzen! Tanzt als wär’s der letzte Tanz … Ich schließe die Augen, vor meinem inneren Auge sehe ich John Lennon und Axel Bosse, wir fassen uns bei den Schultern, Anthony Quinn kommt als Alexis Sorbas dazu, wir drehen uns im Kreis, immer höher … immer schneller … „Imagine all the people, living life in peace“ … jetzt nur nicht die Augen aufmachen.

Der Stress wäre Vergangenheit. Niemand müsste mehr über Krankenhausflure hetzen. Alle hätten Zeit. Wir wären gut bezahlt. Es gäbe keine Über-

Dr. med. Mabuse 263 · 1. Quartal 2024


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.