Max Reger - op73 - Erläuterungen (Lukas Stollhof)

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M. Reger: Variationen und Fuge über ein Originalthema in fis-Moll (op. 27, etwa 35 Min.)

Auslöser für dieses großangelegte Orgelwerk war die Bitte des Organisten Karl Straube an Reger, ihm einmal „ein Orgelwerk ohne Bezugnahme auf evangelische Choräle schreiben zu wollen“. Dies geschah nach dem berüchtigten Konzert Straubes beim Baseler Tonkünstlerfest am 14. Juni 1903, bei dem Straube u. a. Regers „Symphonische Phantasie und Fuge“ (op. 57) spielte und für das der Komponist (auch der Organist) angegriffen wurde: „In der Tat scheint ja bei Reger so etwas wie eine ton- und klangpsychologische Perversität vorzuliegen, infolge derer er ebenso in der Kakophonie, im Musikalisch-Häßlichen schwelgt wie andere im rein sinnlichen Wohllaut.“ Das Manuskript trägt die Widmung „Karl Straube zur Erinnerung an den 14. Juni 1903“ und Reger schreibt dem Freund später: „Das Werk selbst ist aus einer recht wehmütigen Stimmung heraus geboren.“ Obwohl nicht im Titel angegeben beginnt dieses opulente Werk mit einer Introduzione. In ihr erschafft der Komponist bereits die Atmosphäre der Zerrissenheit und Resignation durch offene oder ins Leere laufende Motive und Steigerungen sowie ein Auf und ab der Gefühle und Stimmungen. Ihre Fünfteiligkeit ist anhand der Vortragsbezeichnungen Adagio – Molto piu mosso – Adagio – Quasi vivacissimo – Adagio gut nachzuvollziehen: Die einrahmenden Adagios mit gleicher Motivik und die beiden ins Tutti reichenden, virtuosen Steigerungen. Dass Reger die Introduktion nicht extra im Titel vermerkt hat, ist nur durch die vielen Motive und Stimmungen zu erklären, die im Verlauf der Variationen eine große Rolle spielen werden und hier bereits vorkommen; so gleicht die Introduktion selbst einer Variation des Themas, das noch gar nicht vorgestellt wurde. Das Thema der Variationen ist keine bekannte Melodie, sondern ein eigenes, 15taktiges „Originalthema“ von Reger, das er direkt harmonisiert vorstellt. Widerwillig gibt der Komponist seinem Freund Straube die Auskunft: „Das Thema in seiner Resignation gibt alles an; eine große Rolle spielt im ganzen Werke der ‚melancholische’ Takt 3 aus dem Thema selbst.“ Dieser dritte und die beiden darauffolgenden Takte sind es auch, die am Ende des Themas wiederholt werden und so dem Thema einen Rahmen geben. In den Variationen, die mit Andante überschrieben sind, sind die meisten Motive aus dem Thema verarbeitet. Der Ablauf der Variationen ist in der folgenden Tabelle dargestellt.

Thema Andante 1. Var. poco piu mosso 2. Var. Allegretto 3. Var. quasi prestissimo 4. Var. Andante 5. Var. quasi prestissimo 6. Var. Sostenuto 7. Var. Vivacissimo 8. Var. Vivacissimo 9. Var. Grave 10. Var Andante 11. Var Andantino 12. Var Vivacissimo 13. Var Andante

fis-Moll fis-Moll fis-Moll

Thema wird vorgestellt Thema wird wiederholt und quasi barock verziert Thema wird noch weiter ausgeziert, so dass es nur noch stellenweise zu erkennen ist d-Moll Völlig andere Stimmung, kein thematisches Material verwendet, mehr oder weniger einstimmige Läufe fis-Moll Motive aus dem Thema (T. 3! und 8) in immer neuen harmonischen Formen und Wendungen formuliert fis-Moll Anfang und Ende des Themas in langen Noten im Pedal, dazu virtuose Sechstolen in beiden Händen a-Moll ganz neues Motiv und neue Stimmung, auch Reprisenform durch A (leise) – B (Ausbruch) – A’ (wieder leise) d-Moll über drei Manuale hin und her wechselnde kurze Motive (Echoeffekt) über Pedallinie; kein Thema d/fis-Moll Melodie des Themas in gleichen Notenwerten im Pedal, dazu wuchtige Akkorde in den Manualen d-Moll schnelle Läufe und Akkord(-brechungen); mit großer Steigerung (molto agitato) zum Höhepunkt f/fis-Moll klingt wie ermattet; mit Takt 3 und 6 aus dem Thema G-Dur ätherische Idylle in Dur, fast Caféhausmusik der 20er fis-Moll Aufbrausende Akkordbrechungen und Läufe; am Ende die Schlussfloskel des Themas im Tutti fis-Moll/ verklärt-ruhiger Nachklang des Themas mit Motiven Fis-Dur von Takt 3 bis 6; endgültiger, friedlicher Abschluss


Das Thema der Variationen


Die abschließende Fuge bringt nicht nur Ordnung nach der Zerrissenheit des Variationssatzes, sondern durch ihr vitales Thema mit Pausen, Läufen und Sprüngen eine fast ausgelassene Wirkung.

Nach der kurzen Exposition des Themas in allen Stimmen werden die Einzelmotive des Themas für die weitere musikalische Fortspinnung herangezogen. Immer wieder eingestreute Themeneinsätze sind durch das auffallende Kopfmotiv sofort herauszuhören. Mit mehreren Engführungen des Themas und immer steigender Dynamik im zweiten Teil steuert Reger zielsicher auf den fulminanten Schluss zu, in dem sich alle Anstrengung der Variationen und angestauten Stimmungen und Empfindungen entladen können. Als Reger von Karl Straube um eine Erläuterung des komplexen Werkes gebeten wurde, antwortete dieser etwas wortkarg: „...ja, was soll ich da angeben: Das Werk selbst ist aus einer recht wehmütigen Stimmung heraus geboren; das Thema in seiner Resignation gibt alles an; eine große Rolle spielt im ganzen Werke der ‚melancholische’ Takt 3 aus dem Thema selbst. Ich glaube, das wird dir wohl genügen. Du weißt, ich spreche darüber so furchtbar ungern, weil ich es als ‚Pose’ empfinde, mit seinen Stimmungen u. Empfindungen zu ‚protzen’.“ Vor allem die Unbestimmtheit der Struktur und die Art der Variation erschwert den meisten Hörern das Verstehen. Dabei gehen die Variationen oft direkt ineinander über, sind aber durch unterschiedliche Textur und Stimmungsgehalt klar voneinander zu unterscheiden. Lediglich der Begriff der Variation ist bei Reger neu zu fassen: Er variiert nicht nur Melodie und Harmonie, sondern oft verändert er in Abwesenheit des Themas einfach den Charakter und lässt auf eine ruhige Variation eine aufwühlende folgen. Nichts desto trotz konstatierte der Essener Organist Gustav Beckmann 1905: „Bachs Orgelkompositionen bilden für uns das Alte Testament der Kunst, diejenigen von Max Reger das Neue Testament!“ Lukas Stollhof


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