Lovedfound no8 nous sommes humains

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&FOUND_DINGE, &FOUND_ DINGE, DIE WIR TUN KÖNNEN.

Februar 2015

lovedandfound.de

no 3 no 11 no 12 no 21 no 26 no 33

Fremde sind Freunde, die wir nicht kennen. Lachattacken gegen Hass. Das Zeitalter der Rechthaberei. Nie aufhören zu kämpfen. Il n’y a pas de censure en France. Zuhören, auch wenn es schwer fällt.


Sabine Cole (text)

0. Editorial. Aus aktuellem Anlass erscheint LOVED&FOUND diesmal nicht in prächtiger Farbe auf feinem Papier. Sondern in schwarz/ weiß und auf Zeitungspapier und in deutlich höherer Auflage. Als am 7.1.2015 ein Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris verübt wurde, wollten wir nicht zum Tagesgeschäft übergehen, sondern haben in 2 Wochen diese Sonderausgabe auf die Beine gestellt, die sie hoffentlich durch das ganze Jahr 2015 und noch weiter begleitet. Statt Dingen, die wir lieben, stellen wir Ihnen Dinge vor, die wir tun können. Heinz Stoletzky, der Vater unserer Kollegin Judith hat mit der ganzen Kraft seiner Lebenserfahrung immer, wenn jemand überseine intellektuellen Fähigkeiten und seinen Wissenstand über schätzt, gern gesagt: »Da will wieder einer über die Reichweite seines Arsches hinausfurzen.«

Unter charlie@loved.de können übrigens Hefte nachbestellt werden.

Wir sind eine Lifestyle-Redaktion, Redaktion, bestehend aus Designern, Jour Journalisten, Textern, Beratern und Fotografen. Investigativ Investigativ-ReporInvestigativRepor Reporter oder Wissenschaftler befinden sich nicht in unseren Reihen. Deswegen werden Sie in dieser Ausgabe keine Hintergrundberichte, keine Analysen, Schuldzuweisungen, religiösen Abhandlungen oder Auslotungen der Meinungsfreiheit finden. Wir möchten Sie vielmehr dazu auffordern, sich aus der Komfort Komfortzone unseres gutbürgerlichen Alltags inmitten der Mehrheitsgesellschaft herauszubewegen und etwas für unsere unmittelbare Umgebung und unsere Werte zu tun, die wir so kostbar finden. Wir fordern Sie dazu auf, alle, die bei uns Zuflucht suchen, zu begrüßen, auf aufzunehmen und zu beschützen, solange sie unseren Schutz brauchen. Wir fordern dazu auf, alle die bei uns leben, wahrzunehmen und in ihrer Identität zu respektieren. Wir forfor dern dazu auf, sich auch fair mit denen auseinander zu setzen, deren Meinung wir nicht teilen. Wir fordern dazu auf, sich politisch, bürgerschaftlich, privat zu engagieren. Und widmen diese Ausgabe den Opfern der Attentäter von Paris im Januar 2015:

Franck Brinsolaro, 49, Ahmed Merabet, 40, Clarissa Jean-Philippe, 26, Georges Wolinski, 80, Stephane Charbonnier, 47, Bernard Verlhac, V 58, und Jean Cabut, 76, Bernard Maris, 69, Yoav Hat Hattab, 21, Philippe Braham, 45, Yohan Cohen, 22 und FrancoisMichel Saada, 64. Nous sommes humains. Ihre LOVED&FOUND Redaktion


Die Zahlen, die, wie immer in LOVED&FOUND, statt Seitenzahlen die Artikel durchnummerieren, sind arabische Zahlen. Die westliche Numerik, Mathematik und Algebra verwenden das arabische Ziffernsystem – inklusive der Null. Die von uns verwendeten Zahlen unterscheiden sich stark von den heute in den arabischen Ländern verwendeten Zahlen. Nichtsdestotrotz zeigt diese kleine Spielerei, wie sehr das Abendland und das Morgenland miteinander verbunden sind.


Kim Arendt (illustration), Sabine Cole (text)

1. Sie haben die Pflicht Ihren Horizont zu erweitern! erweitern!.

Der Pariser Star Star-Designer StarDesigner Philippe-Patrick Starck ist einer der bekanntesten Vertreter des »Neuen Designs«. Berühmt wurde er durch sein wegweisendes Interior des Café Costes, das 1984 in Paris eröffnete. Starck hat u. a. für Kartell, FLOS, Hans Grohe, Alain Mikli, Puma und alle anderen auch so ziemlich alles designed, was man benutzen, bewegen und besuchen kann. Sogar den Palast

von Mitterand durfte er einst einrichten. Im Produkt Pantheon der Moderne hat er für seine Alessi Zitronenpresse sicher einen Ehrenplatz unter den Top-Ten. --Ten. Trotzdem ist Starck sich seines Platzes in der Menschheitsgeschichte durchaus bewusst: »Leute wie ich schämen sich für die Nutzlosigkeit ihres Tuns, obwohl sie versuchen Design nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern als Tätigkeit für das Allgemeinwohl.« In einer Rede 2007 bei der

TED Conference sprach er über »Design and Destiny« und überraschte die Zuhörer mit seiner pointierten wie richtigen Rede über die Verantwortung, sich einzubringen und vor allem in schwierigen Zeiten einen relevanten Beitrag zu Politik und Gesellschaft zu bringen. Die ganze Rede als Film und Skript finden Sie auf www.ted.com


Sabine Cole (text & illustration) illustration)


Konstanze Habermann (photos), Sabine Cole (text)

3. »Fremde sind Freunde, die wir nicht kennen.« .

»Pegida tut Deutschland gut.« Hourvash Pourkian weiß um die Irritation, die sie mit diesem Satz auslöst. »Endlich ist wieder ein bisschen Druck aus dem Kessel. Die Menschen teilen ihre Sorgen. Das bringt einen kritischen Moment, den wir dringend brauchen.« Die Hamburger Unternehmerin wird immer dann eingeladen, wenn es in den inneren Zirkeln von Wirtschaft und Politik um Integrationspolitik geht. »Das Thema war zwar immer präsent. Es wurde aber deutlich leiser diskutiert als jetzt – es kam zu keiner Diskussion, keine Selbstreflexion. Nun polarisiert es; ich merke, dass die Politiker und Wirtschaftsleute das Thema wieder ernst nehmen. Das freut mich. Und deshalb sind die Denkanstöße, die Leute wie Thilo Sarazzin oder jetzt die Pegida Bewegung gibt, so wichtig.« Hourvash Pourkian ist einer von diesen Menschen, deren Tag deutlich mehr als 24 Stunden haben muss und in deren Leben mehr reinpasst als bei normalen Leuten. Nach ihrer Immigration 1974 aus dem Iran, Deutschkurs, Schule, Abitur, einer Lehre im Außenhandel, einem BWL Studium in Hamburg, Boston und London, einer Karriere in einem Textilunternehmen, dann der Gründung eines eigenen Unternehmens in der gleichen Branche, publizierte sie 1998 gemeinsam mit ihrem Vater das Buch »Macht macht müde Frauen munter«. Ole von Beust entdeckte die erfolgreiche Frau und holte sie in sein Kompetenzteam »Frauen« und von da ins Kompetenzteam »Integration«. Begeistert war sie darüber zunächst nicht. »Das war nicht mein Thema. Nur weil ich nicht aus Deutschland stamme, macht mich das doch nicht automatisch zur Expertin für Integration.« Sagte sie und blieb trotzdem fast 10 Jahre von 2001 bis 2011 lang als parteiloses Mitglied im neu gegründeten Integrationsbeirat des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg. »Wir waren Vorreiter mit dem Thema. Bis dahin hatten Politiker aller Parteien immer nur ÜBER Ausländer gesprochen. Aber nie MIT ihnen. Alles war immer von oben herab. Das wollte ich ändern.« 2003 gründete Hourvash Pourkian die internationale Unternehmer Initiative Kulturbrücke e. V. um die »innere Internationalität« Hamburgs zu stärken.

»In Hamburg leben 180 Nationen zusammen. Fast 50 % aller schulpflichtigen Kinder haben heute schon einen Migrationshintergrund. Diese Gesellschaft wird bald ganz anders aussehen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass sich der Anteil der Migranten in der ganzen Gesellschaft widerspiegelt. Haben Sie schon mal einen schwarzen Banker gesehen?« Nachdenken des Gegenübers. »Nein. Sehen Sie? In Schulen und in der Polizei hat man das Problem erkannt. Da wird konkret um Menschen geworben, die Wirt andere Wurzeln haben. Das muss man in allen Wirtschaftsbereichen machen«. Um die Menschen aller Communities mit denen der Mehrheitsgesellschaft zu verbinden gründete Hourvash Kinder und Familienprojekt Pourkian Ende 2005 das KinderWelt Kinder können an vier Switch – In 4 Tagen um die Welt. Tagen vier in Hamburg lebenden Nationen kennenlernen, jew indem sie jeweils einen Tag im Haushalt einer anderen Familie verbringen. Daraus entwickeln sich Freundschaf Freundschaften, die alle Beteiligten bereichern. »Deutsche lernen was über Polen, Syrer über Italiener, und obwohl ich schon seit über 40 Jahren hier lebe, lerne ich immer noch von den Deutschen. Wussten Sie, wieviele Brotsorten es hier gibt?« Das Vergnügen an anderen Kulturen hat Hourvash aus dem Iran mitgebracht. Dort durfte sie als 11 jähriges Mädchen ein paar Tage eine japanische Familie in Teheran besuchen und war so begeistert von den Kimonos, dem Sushi, den Ritualen, dass sie diesen prägenden Moment als Initial für ihre Freude an der Buntheit der Menschen nennt. Mit Switch hat sie diesen Kindheitstraum zum Leben erweckt. Aber nicht nur Kindern hilft Switch auf die Sprünge, vor allem Erwachsene haben viel zu lernen. »Es gibt in Hamburg Unternehmen, deren Mitarbeiter sind fast alle aus der Mehrheitsgesellschaft. Die bringe ich zusammen mit Unternehmen, in denen sehr viele ausländische Mitarbeiter beschäftigt sind. Auch hier bilden wir Vierer-Teams. Vierer--Teams. ViererTeams. Nach dem gleichen Prinzip wie die Kinder. Vier Tage vier Länder. Danach trifft man sich regelmäßig reihum im Lieblingsrestaurant eines jeden. Die Leute genießen das sehr und haben wirklich Spaß zusammen.« Wer Hourvash Pourkian zuhört hat sofort Lust mit ihr in Norddeutschland und mittlerweile auch Berlin auf Welt Weltreise zu gehen. Auch den Karneval der Kulturen in Hamburg hat sie mit initiiert. Integration soll Spaß vermitteln, das passt auch zu ihrem positiven Temperament. Beim Thema Religion wird sie ernster. »Wir sind zwar aus dem Iran und meine Familie und ich sind nominell Mohammedaner. Aber wir sind zu Hause nach der ZaratZarat hustra Philosophie erzogen worden. Die vier Elemente dürdür fen nicht beschmutzt werden: Luft, Erde, Wasser und Feuer bzw. Sonne. Gutes Verhalten, gutes Denken und gutes Reden sind die Grundlage der Philosophie, Paradies und Hölle gibt es nicht, sondern befinden sich auf der Erde. Alles was man tut, bekommt Mann und Frau auf der Erde zurück. Mann und Frau sind gleichberechtigt. Man muss sich einen Vogel vorstellen, der zwei Flügel hat. Wenn ein Flügel beschädigt ist, kann er nicht fliegen. Es ist genauso wie Mann und Frau. Wenn einer davon unter unterdrückt wird, kann der andere sich nicht weiterentwickeln. Aber wenn die Leute mich trotzdem nach dem Islam fragen, und sie die Strenge und die mangelnde Toleranz gegenüber Andersgläubigen bemängeln, dann frage ich sie, wie es denn in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit war. Vor zwei, drei Generationen hat man als Katholik noch keinen Protestanten geheiratet. Wir gehen auch mit den Switch Kindern manchmal in die Griechisch-orthodoxe Kirche, die haben auch sehr strikte Regeln. Damit will ich nichts relativieren. Ich habe viel mit den VorsitVorsit zenden der muslimischen Gemeinden in Hamburg gesprochen. Es ist ihnen bewusst geworden, dass sie nicht genug aufgepasst haben, welche Imame sie eingestellt haben und was diese in den Moscheen verbreitet haben. Sie sind sehr, sehr vorsichtig geworden. Aber meine grundsätzliche Einstellung zu dem Thema ist: Religion an sich ist repressiv repressiv. Erst durch die monotheistischen Religionen entstand zum Beispiel die Frauenunterdrückung.«

Bei Integration geht es viel um Identität. Wer seine Identität gefunden hat, ist für Ideologien aller Art weniger anfällig. Hourvash Pourkian findet es auch unter wirtschaftlichen Gründen wichtig, dass die Menschen sich in diesem Land wohl fühlen. »So viele junge Türken sind hier zur Schule gegangen. Sie haben hier studiert und sind super ausgebildet. Und weil sie sich in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht wahrgenommen fühlen, gehen sie zum Arbeiten in die Türkei, zahlen dort Steuern und die ganze Investition war umsonst. Rassismus ist schädlich.« Ende dieses Jahres wird Switch 10 Jahre alt. Tausende Kinder, Erwachsene und deren Familien und Freunde haben sich in dieser Dekade gemeinsam auf Weltreise beschnuppert und auch befreundet. Es wird natürlich ein großes Fest geben. Menschen aus allen Nationen werden kommen. Wenn Hourvash Pourkian so weitermacht werden sich bald die meisten Hamburger untereinander kennen. Dann kann eigentlich nichts mehr passieren. Denn ihr Motto lautet schon immer: Fremde sind Freunde, die wir nicht kennen. Mehr Informationen unter www.kulturbrueckehamburg.de und www.switchdeutschland.de.

Fotografin Konstanze Habermann hat zwar keinen Migrationshintergrund, weiß aber selbst sehr gut, wie man sich als Flüchtling fühlt. Mit ihren Eltern lebte sie nach der Flucht aus der DDR in einem sogenannten »Auf»Auf fanglager«. Der Pate, den man der Familie damals zuteilte, um die »Integration« zu erleichtern, war Versicherungsver Versicherungsvertreter und kümmerte sich nur um die Flüchtlinge, um ihnen Policen aufzuschwatzen.


Zum Gespräch trafen wir uns mit Hourvash Pourkian an einem ihrer Lieblingsorte in Hamburg, dem Café Leonar, einem Jüdischen Café im Hamburger Grindelviertel. Angeschlossen ist ein jüdischer Salon, der Veranstaltungen und Gespräche anbietet.


Pastor Wehde (photo & text)

Marjam und Haman sind zwei von 1400 Menschen, die zur Zeit in diesem Flüchtlingslager leben. Eigentlich, so sagen es die Gesetze, nur für drei Monate, dann sollen sie in eine Folgeunterkunft, eine Wohnung umziehen können. Doch das funktioniert nicht, weil es dazu nicht genug Möglichkeiten gibt in Hamburg. Und so bleiben sie eben länger. Haman ist jetzt acht Monate da. »Bei uns zu Hause«, erzählt er, »sind so viele Menschen eine kleine Stadt. Und es gibt eine Schule und eine Werkstatt und einen Lebensmittelladen.«

4. Engagieren Sie sich in Hamburg-Bahrenfeld.

Flüchtlinge haben für uns in Deutschland selten ein Gesicht. Meistens sind sie Teil einer großen Menge, die zu uns will: Menschen hängen an Zäunen, die sie überklet überklettern wollen; sie versuchen, über die spanischen Exklaven in Nordafrika europäisches Staatsgebiet zu erreichen. Grenzpolizisten halten sie mit Gewalt und mit aggressiv wirkenden Hunden zurück. Stärker als diese Bilder bleiben vielleicht die Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer in unserer Erinnerung. Hunderte Menschen zusammengepfercht auf einem Seelenverkäufer, der oft genug die gepfercht Gewässer vor Lampedusa gar nicht erreicht. Menschen, denen die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben steht. Kinder, die ohne begleitende Angehörige lethargisch auf ein wenig Wasser oder etwas zu Essen warten. Der Bür Bürgerkrieg in Syrien, Verfolgung und Folter im Irak, im Iran, in Afghanistan. Die vielen Menschen, die vor dem sogenannten »Islamischen Staat« fliehen und so in die Grenzregionen der Anrainerstaaten gelangen. Auch diese Bilder verdrängen wir zu leicht: elende Zeltstädte, nur das nackte Leben konnte gerettet werden und ist nun auf andere Weise bedroht. Es sind inzwischen allein im Libanon weit über eine Million Flüchtlinge, die unter diesen Bedingungen leben müssen. In der Evangelischen Luthergemeinde in Hamburg-Bahrenfeld hat sich eine andere Wirklichkeit eingeschlichen. Hier haben die sogenannten »Flüchtlinge«, hier hat diese merkwürdig anonyme Menge Gesichter bekommen, hier haben sie Namen bekommen. Hier schauen wir Menschen in die Augen, und wir sehen in diesen Augen, in den Spiegeln der Seele, die einzelnen Leben und Lebensgeschichten. Haman ist sein Name, Augen schwarz und tief wie die Nordsee bei Sturm. Er musste fliehen mit anderen, wurde aufgebracht. Die sechs anderen erschossen. Die Pistole ihm an die Schläfe gesetzt. Er zeigt es mit einer Geste. Irgendwie geschafft, und dann das Boot. Über hundert sind ertrunken. Er hat sie gesehen, gehört. Und nun ist er hier. Versucht zu lächeln. Und wenn es gelingt, dies Lächeln, ist es echter, als alles, was ich bisher sah. Marjam stammt aus Teheran. Sie ist verheiratet, aber wo ihr Mann geblieben ist, weiß sie nicht. Die Beiden wurden auf der Flucht getrennt. Lange hat diese Flucht gedauert, über mehrere Länder ging sie. Und dann kam Marjam nach Hamburg, wurde in die sogenannte »Zentrale Erstaufnahme« gebracht, einem Haufen Container auf einem Parkplatz des HSV direkt gegenüber der Autobahnausfahrt »Volkspark«. » »Volkspark «. Als sie zwei Tage dort war, in diesem Lager, da kam ihr Baby zur Welt. Ein gesunder Junge. Marjam ist glücklich, strahlt und erzählt von der Hilfe, die sie bekam mit dem Kleinen: die spezielle Nahrung, Strampelanzüge, Windeln. Und einen Container nur für sich, ihr Kind und einer anderen Frau.

Dabei hatte es im Dezember 2013 klein angefangen: 300 Menschen sollten vorübergehend auf diesem Parkplatz untergebracht werden. Er ist Teil meiner Gemeinde. Und natürlich haben wir versucht, die Menschen willkommen zu heißen, haben geguckt, wie wir helfen können. Schnell brauchten die Flüchtlinge Kleidung und

Second-Hand-Ware --Ware ist inzwischen sortiert und ange ange-fasst worden, der Helferkreis ist auf 35 angewachsen. Das Gemeindehaus war schon im Sommer nicht mehr ausreichend, um alle Spenden aufzunehmen und die Tage der Ausgabe vernünftig und menschlich vertretbar zu gestalten. Im Dezember ist die Kleiderkammer umgezogen auf ein benachbartes, separates Gelände einer ehemaligen Gärtnerei. Ein Riesencontainer mit 220 qm Grundfläche wurde aufgebaut, alte Schuppen renoviert, um Lagerräume, Toiletten und Aufenthaltsräume zu bekommen.

Seife und Duschgel; sie kamen ja mit nichts als dem, was sie auf der Haut trugen, hier an. Wir begannen, Kleidung zu sammeln in der Gemeinde, sprachen die Eltern unseres Kindergartens an und schrieben was in den Gemeindebrief. Und es waren viele, die ihre Kleiderschränke durchforsteten und uns die Sachen in Kartons und blauen Säcken vor die Tür stellten. Mit so viel Zuspruch hatten wir zunächst nicht gerechnet. Es wurde immer mehr. Eine Gruppe ehrenamtlicher Männer und Frauen sor sortierte die Sachen und baute sie zu einer »Kleiderkammer« im Gemeindehaus auf. Dann kamen die ersten Flüchtlinge und konnten aussuchen: Warme Jacken, feste Schuhe, Pullover … Schnell waren es nicht mehr nur 300 Menschen, die im Lager lebten. Wöchentlich wurden es mehr. Irgendwann mal, so wird gesagt, soll es nur 1200 Bewohner in diesem Containerdorf geben – jetzt sind es 1400. Entsprechend groß ist der Bedarf an Kleidung. Wir haben erstaunliche Erfahrungen gemacht: Eine solche Welle an Unterstützung haben wir nicht erwartet. Aus dem ganzen Hamburger Westen kamen Menschen mit ausgedienter Kleidung oder kamen und boten Hilfe an. Zig Tonnen

Und das ehrenamtliche Team unserer Flüchtlingshilfe hat den Umzug ohne fremde Hilfe geschafft. In den wöchentlichen Teamsitzungen höre ich, mit welchem Engagement die Menschen diese Hilfe leisten. Sie erzählen mir nicht von der vielen Sortiererei, von der ganzen Ar Arbeit, sondern von der Lust und der Freude, die sie dabei erleben. Sie erzählen von der guten Zusammenarbeit, der guten Stimmung im Team, vor allem aber von den vielen Begegnungen, von den Geschichten der MenMen schen, die zu uns kommen, von deren Reaktionen und deren ersten Worte, die sie bei uns in den Deutschkursen gelernt haben. »So ein ›Dankeschön‹ und dann dieser Blick, da bekomme ich Gänsehaut und bin froh und weiß, dass sich das alles lohnt«, lohnt sagte mir eine Helferin. Eine andere erzählt: »Ich finde es gut, dass wir mit Flüchtlingen der Unterkunft Hand in Hand arbeiten, also nicht mehr nur für sie, sondern zusammen mit ihnen.« Menschen aus Syrien, Afghanistan, Iran, Tschet Tschetschenien, Serbien, Albanien und Kosovo engagieren sich ehrenamtlich in der Kleiderkammer. Unsere FlüchtFlücht lingshilfe ist interkulturell geworden und spricht viele Sprachen wie Farsi, Dari, Arabisch, Russisch, Serbisch und Albanisch.


Warum machen wir das in der Luthergemeinde? Weil evangelische Christen aus der Bibel wissen: » »Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.« (3. Mosebuch). Diese Worte sind Ausdruck einer entwickelten Kultur, die schlicht in der Achtung des anderen Menschen ruht. Dieser soll weder übervorteilt werden, weil er sich nicht in unseren Gepflogenheiten auskennt, noch soll er ausgegrenzt werden, weil er nun einmal aus einem anderen kulturellen Zusammenhang oder einer anderen Religion kommt und vielleicht auch von seinem Aussehen bis hin zur Hautfarbe fremd wirken könnte. Allein schon dieses Wort schließt jede Form der Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung aus. Dass ganz zu Beginn Bibel schon der Flüchtlingsschutz groß geschrieben wird, liegt vielleicht daran, dass die Bibel selbst eine Fluchtgeschichte nach der anderen erzählt. Auch Jesus musste mit seiner Familie als Baby fliehen. Die Fremdenliebe wird zu einem praktischen Fall der Nächstenliebe. Und sie kann uns zeigen, uns im andeentdecken. ren Menschen wie in einem Spiegel selbst zu entdecken. Man muss sich das mal vorstellen, dass wir mit dem letzten Mut der Verzweiflung versuchten, über einen Zaun in ein Land zu klettern, das uns Sicherheit statt Angst und Umsorgung statt Verfolgung geben könnte. Oder können wir uns mit auf dem Boot sehen, auf dem wir uns während der langen Überfahrt von den auf der Reise Verstorbenen mit einem Wurf über Bord trennen mussten. Unsicher, ob wir überhaupt noch am Ziel ankommen würden.

Diese Vorstellung kann uns deutlich machen, dass sich unsere Würde, die Würde unseres Lebens, darin spiegelt, wie wir mit diesen Menschen umgehen, sie auf aufnehmen und sie annehmen als unseresgleichen. Dann verstehen wir, wie leicht unsere Würde, nicht nur die Würde der Flüchtlinge, im Aufnahmelager auf Lampedusa oder in den Kellern von Teheran, in den Ruinen von Aleppo und manchmal in den Containern auf HSV-Parkplatz dem HSV HSVParkplatz in Hamburg verlorengehen kann. Oder haben wir das alles längst schon aufgegeben, weil wir gelernt haben, hart mit uns und mit anderen zu sein? Weil wir uns eingegraben haben in unsere Er Erfahrungen voller Lieblosigkeit. Weil wir die Achtung vor dem Leben und auch vor unserem eigenen Leben verloren haben. Dann wird unsere behinderte Selbst Selbstliebe der Ausgangspunkt für die Missachtung des Lebens, auch des Lebens derer, die bei uns Schutz suchen. Dann kann man bei Pegida mitmarschieren. Ja, dann wird Liebe zum eigenen Leben und auch die Liebe zu anderen zu einer Pflicht, die wir nur mit Mühe erfüllen können.

»Wenn Sie sich vorstellen können, sich auf irgendwelche Art und Weise zu engagieren, haben wir einige Ideen für Sie: Sie können sich in der Kleiderkammer beim Sortieren der Kleidungsspenden oder bei der Ausgabe einbringen. Es werden aber auch Freiwillige gesucht, die einzelnen Personen Nachhilfe in Deutsch geben oder zu Ämtern und Ärzten zu begleiten. Auch Schrauber in der neuen Fahrradwerkstatt werden gesucht.«

Christen begreifen, dass Gott mit auf jedem Boot ist, egal ob es Lampedusa erreicht oder nicht. Er ist mit denen, die Schutz und Zuflucht auf dem Landweg suchen. Er ist mit denen, die auf verwunschenen Wegen aus Syrien, aus dem Irak, aus Afghanistan in Hamburg landen. Er hängt dort in Nordafrika mit am Zaun und fleht um Aufnahme. Wir erkennen ihn nicht. Aber allein, indem wir in dem Menschen, der dort fleht, unseren Mitmenschen erkennen, haben wir Gottes Gesicht gesehen, das gerade dort zu finden ist, wo wir es nicht erwarten. Kontakt für alle, die helfen wollen: Pastor Klaus Peter Wehde, Lutherkirche, Lutherhöhe 22, 22761 Hamburg, 040 – 89 49 18, p.wehde@web.de Flüchtlingshilfe der Lutherkirche, Elke Haas, Regerstraße 73, 22761 Hamburg, 040 – 89 52 12, haas@lutherkirche.net


Judith Stoletzky (text), jan van Endert (photos)

5. Flüchtlinge brauchen Wohnungen statt Unterikünfte. In Hamburg hat vor wenigen Tagen im Harbur Harbur-

ger gerger-Binnenhafen, Binnenhafen, die Transit festgemacht. Auf dem 110 Meter langen, umgebauten 20 Jahre alten Hotelschiff sollen bald 224 Flüchtlinge untergebracht werden. Diese zwei kurzen Sätze sind für Bettina Husemann, Anwältin und Vorstand von Aurelius, einer Immobilien und Projekt-Entwicklungsgesellschaft, jekt Entwicklungsgesellschaft, Anlass sich endlos und jektgrundsätzlich aufzuregen. Nicht aus den Gründen, die man jetzt – einem beliebten Vorurteil gegenüber ihrer Branche folgend – vermuten würde. Es passt Bettina Husemann ganz und gar nicht, dass auf der hässlichen Transit, diesem Klotz mit drei Decks, im zweitgrößten Stadtentwicklungsgebiet Hamburgs, dort, wo Aurelius gerade ein großes Wohnhaus für Studenten baut, dort, wo gerade die ersten Mieter und Eigentümer zwischen die Bürohäuser in die Neubauten gezogen sind, Flüchtlinge unterkommen sollen. Bettina Husemann möchte, dass man endlich damit aufhört, Flüchtlinge immer nur unterzubringen, sie zu beherbergen, oder ihnen Obdach oder vorübergehend Unterschlupf zu gewähren. Sie sollen wohnen dürfen. »Der Gesetzgeber spricht von Gemeinschaftsunterkünf Gemeinschaftsunterkünften, die Politik von Flüchtlingsunterkünften, der Volksmund von Asylantenheimen. Schon verbal ist das keine Integration von Menschen. Der Mensch ist Objekt eines Problems, Flüchtlingspolitik ist ein Flüchtlingsproblem, also ein Problem der Flüchtlinge. Die Ausgrenzung liegt schon im Wort – und im fehlenden Konzept.«

Flüchtlingsschiffe wie die Transit sind das Ergebnis einer Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, die immer noch nicht bereit ist, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass diese Menschen nicht den Rest ihres Lebens damit zubringen wollen und sollen, Flüchtlinge zu sein, die von Heim zu Heim, von Transit zu Transit ziehen. Diese Menschen sollen in Deutschland ankommen können. In Harburg wohnen dürfen. In Wohnungen, die sich in Häusern befinden. Nicht in Containern und nicht in Ghettos, sondern in einem gemischten sozialen Umfeld. Erst recht aber nicht auf Schiffen. Nicht auszudenken, welche Alpträume manche von ihnen haben, die eine halsbrecherische Flucht auf über überfüllten Booten über das Mittelmeer hinter sich haben. Husemann kann nur fassungslos den Kopf schütteln, dass man Flüchtlinge wieder auf ein Schiff pfercht, noch dazu nach den Erfahrungen mit dem Flüchtlingsschiff Bibi Altona, das in Neumühlen lag. Diese Unterkunft hat Flüchtlinge derartig ghetthoisiert und stigmatisiert, dass Kriminalisierung vorprogrammiert war. Bettina Husemann erklärt ihren Standpunkt: »Aufgabe der ‘Flüchtlingspolitik‘ ist es, jemanden vorübergehend unterzubringen. Versteht man den Flüchtling aber als Wohnungssuchenden, dann ist es Aufgabe der Wohnungspolitik und Stadtentwicklung für Wohnraum zu sorgen. Ob jemand in Deutschland bleiben darf oder nicht, ist die eine Entscheidung. Die andere Entscheidung ist, ob und wie er wohnen kann.«


Immer wieder heißt es, die Stadt Hamburg – und sie wird da keine Ausnahme sein – suche händeringend nach UnUn terkünften für Flüchtlinge. »Stimmt nicht«, sagt Bettina Husemann. »Es gibt ausreichend städtische und auch pripri vate Grundstücke, die für den nachhaltigen WohnungsWohnungs bau in Frage kommen. Es gibt ausreichend Gewerbegebäude, die vorübergehend oder dauerhaft umgenutzt werden könnten. Auch private Investoren sind bereit, dann Wohnhäuser zu bauen oder Bürogebäude als WohnWohn raum zu nutzen, wenn die Stadt Hamburg sie dafür anan mieten und später dem allgemeinen Wohnungsmarkt zur Verfügung stellen würde«. Das geschehe aber nicht, weil man befürchtet, dass die Wohnungen nicht mehr zu gege brauchen seien, wenn einmal Flüchtlinge in ihnen »untergebracht« waren. Das Interesse der Stadt Hamburg sei nicht vorhanden. Auch Husemanns schriftliches Angebot an die Stadt, die Studentenwohnungen, die Aurelius vis-à-vis der Transit gerade baut und die demnächst fertig werden, nicht an Studenten, sondern an die Stadt zu vermieten, zu einem Preis der unter dem für Miete und Unterhalt des Schiffs liegt, stieß nicht auf Interesse. Hier hätten die Menschen, win-die sich auf der Transit mit mindestens 2 Personen win zige Kabinen teilen müssen, in 64 Wohnungen von 3–4 Zimmern wohnen können. Besonders erschreckend findet Bettina Husemann, was die Stadt Hamburg auf ihrer eigenen Seite formuliert, und es bringt die Integrationspolitik der Stadt auf den Punkt: Der Lenkungsausschuss definiert als nicht für die Unterbringung von Flüchtlingen geeignete Flächen oder Standorte »die für andere Zwecke vorgesehen sind. Zum Beispiel Wohnungsbau.« (www.hamburg.de/fluechtlinge-unterbringung)

»Erstaufnahmen« und die sogenannte »Folgeunterbringung« erheben also gar nicht den Anspruch, dem Wohnen zu dienen. Es sind schlicht »Massenunterkünfte«, die provisorisch errichtet werden und deren Folgeprobleme hinreichend bekannt sind. »Ich glaube, dass die Integration von Flüchtlingen nur halb so problematisch wäre, wenn ein Wohnungsproblem, nicht ein Flüchtlingsproblem zu lösen wäre«, findet Frau Husemann. »Man könnte das ‘Flüchtlingsproblem’ als Chance ver verstehen, den ohnehin schwierigen Wohnungsmarkt in Hamburg zu entspannen. Statt Geld in Massenunter Massenunterkünfte mit bekannten Folgeproblemen zu versenken, könnten dafür Wohnungen gebaut werden, die nachhaltig von Menschen, ob Studenten, Familien, Flüchtlingen, oder wem auch immer genutzt werden können.« Es wer werden ohnehin bezahlbare Wohnungen gebraucht. Warum nicht gleich 800 bauen, statt 600? 200 für Flüchtlinge. Warum kann man sie nicht mit Wohnberechtigungsscheinen ausstatten. Die Politik könnte von Anfang an, schon allein sprachlich, Flüchtlinge integrieren und sie schlicht als einen Teil der Stadtentwicklung betrachten. Vor allem sollte jede Art von Ghetto, auch wenn es nur vorübergehend ist, ver vermieden werden. Es ist die Aufgabe der Stadt, Wohnraum für Menschen zu schaffen. Die ehrenamtliche Initiative Flüchtlingshilfe Binnenhafen befindet sich noch im Aufbau und kann Unterstützung gebrauchen. Denn Harburg ist der Stadtteil Hamburgs, in dem jetzt schon die meisten Flüchtlinge, ja wie soll man das nun nennen: wohnen? www.binimhafen.de/fluechtlingshilfe-binnenhafennimmt-arbeit-auf

photographer: Jan van Endert www.van-endert.com


Sandrine Siregar (illustration), Ilker Yilmazalp & Mustafa ali (text)

6. Das wollen wir nie wieder hören. Egal, wie hoch der Integrationsgrad, wie gut der Schulabschluss ist oder wie gut man Deutsch kann. Selbst wenn ein Elternteil Deutsch ist oder man in Deutschland geboren ist, begegnen Menschen mit ausländischen Wurzeln (teils nicht böse gemeinte) Sprüche, die einen stets daran erinnern, dass man fremd ist.

»Aus welchem Land kommst du?«

»Mit deinem Bart siehst du aus wie ein Salafist!«

»Sie sprechen gut Deutsch für einen Ausländer, wo haben Sie das gelernt?«

»Wie stehen Sie zu den Terroranschlägen/ Al Qaida/Taliban?«

»Wie ist es denn bei Euch?«

»Du bist auf Papier vielleicht offiziell »Deutsch«, aber du wirst immer schwarze Haare haben und dunkler sein als die anderen.« »Duscht du eigentlich auch mit deinem Kopftuch?«

»Isst du auch Kartoffeln?« »Kennst du jemanden von der Taliban persönlich?« »Warum kannst du eigentlich kein Mathe? Du bist doch Asiatin!« »Du kannst bestimmt gut Basketball.« »Du bist doch schwarz. Hast du auch einen großen Penis?« »Wegen dir kommen wir bestimmt nicht in den Club.« »Du willst bestimmt in den Schatten, du willst ja nicht noch dunkler werden!« »Brauchst du Essstäbchen?«


Sandrine Siregar, Mosch Khanedani, Penélope Toro (text)

7. Die Anderen, das sind wir. In den 1950er 1950er-Jahren 1950er-Jahren -Jahren emigrierten meine Eltern aus dem Iran. Das Nachkriegsdeutschland lockte damals in vielen Ländern mit Studienplätzen. Beide waren 19 als sie ihren kleinen Koffer packten und in das fremde Land reisten, das ihnen eine so aufregende Zukunft versprach. Meine Mutter ging mit ihrer besten Freundin und mein Vater, ein sehr offener, geselliger Mensch, allein. Ohne die Sprache zu kennen, stürzten sie sich ins das Abenteuer. Ende der 1950er, mit mitten im Semester, stand meine Mutter am schwarzen Brett der Medizinischen Fakultät in Bonn. Mein Vater sah meine Mutter und sagte zu seinem besten Freund: »Siehst du die Frau da? Die werde ich heiraten!« Er sprach sie an und sollte Recht behalten. Die beiden halfen sich gegenseitig durch das Studium, belegten Sprachkurse, lernten gemeinsam, arbeiteten, bezahlten Steuern und führten über 20 Jahre eine gemeinsame Praxis. Sie schenkten 3 Töchtern das Leben, ermöglichten ihnen eine Ausbildung und ein gutes Leben. Wir waren so gutbürgerlich, wie alle anderen Familien in unserer Nachbarschaft. Und trotzdem waren wir anders. Ich werde nie einen Marktbesuch vergessen, da war ich acht, oder neun. Meine Mutter legte immer großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres, typisch persisch übrigens. Da stand sie also, schick gekleidet mit blondierten Haaren, wir Kinder ordentlich herausgeputzt, und wollte Obst kaufen. Der Obstverkäufer auf dem Dortmunder Markt schrie meine Mutter an: »Nimm deine Dreckskanackenfinger von meinem Obst. Dir verkaufe ich nichts. Und nimm deine dreckige Kanackenbrut mit!« Das war meine erste Begegnung mit offenem Rassismus. Und ich konnte nicht verstehen, warum der Mann so unfreundlich war. Ich war erstens frisch geduscht, zweitens hier geboren, ich ging in Dortmund zur Schule und fühlte mich genauso deutsch, wie all die Kinder um mich herum. Mit dem Unterschied, dass ich es nie war. Ich war nie wie die anderen. Und wollte es so unbedingt sein. Meine Eltern sind Muslime. Auch wenn sie den Glauben nicht praktizieren und meine Mutter nicht mal weiß, wie man richtig betet. Seit ich denken kann, gab es bei uns zum Frühstück einen ordentlichen Schinken und auch sonst alle »Schweinereien«. Unsere Hausbar war stets gut gefüllt und bei den wöchentlichen Partys in unserem Haus auch rege in Betrieb. Ich durfte anziehen, was ich wollte. Meine Eltern ließen mich so freizügig aus dem Haus, dass es mir heute noch die Schamesröte ins Gesicht treibt. Wenn man es genau nimmt, sind wir wirklich sehr unislamisch groß geworden und ich rechne es meinen Eltern heute noch sehr hoch an, dass sie mir nie ihre Religion aufgezwungen haben. Sie haben mich experimentieren lassen. Ich durfte dem katholischen Religionsunterricht beiwohnen, und dem evangelischen. Dazugehört habe ich trotzdem nie. Eine andere Geschichte, die mir heute noch nachhängt ist, dass ich mich als Kind Fremden gegenüber immer als Monika vorgestellt habe. Schon damals empfand ich die Nachfrage nach meinem etwas ungewöhnlichen Namen – Mojgan – lästig, ich wollte einfach in Ruhe gelassen werden und verstand diesen Wirbel um Namen, Aussprache, Bedeutung und Herkunft nicht. Ich war doch wie alle anderen?! Als ich 12 war, hat ein Schulkamerad dann – mehr aus Faulheit – meinen Namen mit Mosch abgekürzt. Es fühlte sich an wie ein Befreiungsschlag – mein Name war zwar immer noch anders, aber jetzt konnte ihn wenigstens jeder aussprechen und das Fremde wich so einem akzeptierenden Achselzucken. Heute weiß eigentlich niemand, wie ich wirklich heiße. Mosch ist meine Identität. Meine Andersartigkeit nun zumindest aussprechbar. Heute fragt auch eigentlich kaum jemand mehr nach, woher der Name kommt und was er bedeutet. Und wie ich mich als Iranerin so mit dem Islam fühle.

Es hat mich viele viele Jahre meines Lebens gekostet, meine Andersartigkeit zu akzeptieren. Dieses Gefühl »Zwischen den Stühlen zu sitzen« kennt jeder, der einen Migrationshintergrund hat. Den Deutschen zu anders und den Iranern zu Deutsch. Ich bin mein Leben lang mit Ressentiments und Vorurteilen wie mit »positivem Rassismus« konfrontiert worden. Heute würde ich sagen, es hat mich dennoch bereichert. Es hat mich gelehrt, offen und vorbehaltlos auf Menschen ak zuzugehen und sie nicht in Schubladen zu stecken. Ich akzeptiere aber, dass Schubladen und Kategorien Sicherheit vermitteln und helfen, das Fremde einzuschätzen. Aber diese Schubladen können auch dazu führen, dass man Menschen aburteilt. Dass aus einem assimilierten, friedexfertigen Menschen orientalischer Herkunft gleich ein ex tremer Islamist wird. Das, was in Frankreich passiert ist, ist furchtbar. Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, in dem ich meine Meinung äußern darf. Ich bin Mosch. Aber ich bin nicht nur Charlie Hebdo. Ich bin auch die Polizistin, die von den Attentätern hingerichtet wurde. Ich bin die Nigerianerin, die von Boko Haram als lebende Bombe missbraucht wurde. Ich bin Reyhane Jabberi, die im Iran hingerichtet wurde, weil sie sich gegen ihren Vergewaltiger zur Wehr gesetzt hat. Ich bin ein Opfer von Anders Brejvik, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Terror ist überall. Ich habe einen Sohn. Er ist jetzt 8 Monate alt und ich habe ihn in eine Welt gesetzt, die sich gerade in einem Glaubenskrieg befindet. Er heißt »Philo«. das bedeutet Liebe und Freundschaft. Sein Namenspate war ein Philosoph und Geistlicher aus dem ersten Jahrhundert nach Christi. Er hat damals versucht, verschiedene Glaubenssätze miteinander in Einklang zu bringen. Mojgan »Mosch« Khanedani ist Mitarbeiterin der loved gmbh und gerade in Elternzeit.

Als ich gebeten wurde, meine Erfahrungen als Migrantin und »Flüchtlingskind« aufzuschreiben, war ich überfordert. Was hab ich schon zu erzählen und warum sollte das irgendjemanden interessieren Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr schwirren meine Gedanken. Aus Gedanken wurden Erinnerungen. Zum Beispiel: Wann ich habe ich eigent eigentlich für mich mich festgestellt: »Ja, wir sind anders«? Nicht nur weil ich eben nicht blond & blauäugig bin. Eigentlich fängt es schon mit meinem Namen an. Wie oft ich diesen buchstabieren musste und wie oft trotz Buchstabieren am Ende doch wieder ein anderer Name daraus wurde. Geboren bin ich in Berlin Friedrichshain zu tiefsten DDR DDRZeiten, lebte unter anderem DDR-Zeiten, anderem in Dresden und mittlerweile in Hamburg. Meine Mutter musste vor der Militärdiktatur aus Chile fliehen, aus einem Land, das sie sehr liebte. Sie war jung, schwanger, allein, wusste nicht, was sie erwartet und sprach die Sprache nicht. Wenige Wochen nach der Flucht wurde ich geboren. Für mich ist Deutschland bis heute mein Zuhause, auch wenn es viele Momente gab, wo ich mir vorstellte, wie es hätte sein können, wenn ich in dem Land meiner Familie leben würde. Ich hätte am Wochenende den Vater, die Großeltern, Tanten und Onkels besuchen können und mit den Cousinen und Cousins Geburtstage feiern. Ich hätte mich frei fühlen können und hätte nicht anders sein müssen. Ich hätte keine peinlichen Momente erlebt, weil wieder jemand mit uns sehr laut und langsam spricht, obwohl weder ich noch meine Mutter schwerhörig sind. Gerade in der DDR waren wir Exoten und wurden auch als solche behandelt. Aber erst mit dem Fall der Mauer kamen die Fragen, die sich nicht gut anfühlten. Die unterschwelligen Vorwürfe. Was machen die hier und wann gehen die wieder zurück. Was ich mir damals und heute auch noch wünsche, ist Offenheit, Neugierde und Mut. So wie meine Klassenkameraden damals, die mich nach meiner Geschichte fragten, mit dieser kindlichen Neugierde, die ohne Vor Vorwürfe war, sondern mit einer Leichtigkeit die einem das Herz erwärmt. Denn eins sollten wir alle nicht vergessen: Irgendwo da draußen sind wir alle Fremde. Penélope Toro hat mit ihrer Familie aus Chile und ihrer DDR Kindheit einen doppelten Migrationsgrund wie sie gerne halblustig beteuert. Penelope ist Bildredakteurin bei Gruner + Jahr Corporate Editor.

Vor einiger Zeit saß ich im Bus und war in das Buch Bitterfotze von Maria Sveland vertieft. Aus den AugenAugenwinkeln sehe ich einen großen Typen der vor mir steht. Der Bus ist in der Zwischenzeit – von mir unbemerkt – rappelvoll geworden. Ich nehme meine Tasche vom Sitz, damit sich der große Mann setzen kann. Ich erwidere sein Lächeln, um mich anschließend wieder meinem Buch zu widmen. Er spricht mich an. »Aus welchem Land kommst du?« Ich schaue irritiert und antworte »Ich komme aus Deutschland.« Seine Augenbrauen ziehen sich mit gespielter Verwirrtheit zusammen. »Nein, ich meine woher du wirklich kommst!« sagt er und grinst zufrieden, als hätte er mir die Frage vereinfacht. Wirklich. Wirklich. Wie woher ich wirklich komme? Ich sagte mit lauter Stimme und verärgertem Ton: »Steht auf meiner Stirn irgendwie, dass mich jeder anquatschen kann? Aber wenn Sie’s so genau wissen wollen, ich bin vor 23 Jahren in Hamburg geboren worden und Deutsche. Basta.« Ich spürte, wie sich die Blicke der Fahrgäste auf mich richteten und fügte noch in einem etwas verständnisvolleren Ton hinzu »Meine Eltern kommen ursprüng ursprünglich aus Indonesien. Papa kam vor über 40 Jahren hier her, dann irgendwann Mama und dann kam ich auf die Welt. Okay?« Er nickte, schaute sich im Bus um in der Hoffnung, irgendjemand würde ihn vor mir beschützen. Ich stopfte die Kopfhörer wieder in die Ohren. Runde Zwei. Der Typ meldete sich wieder: »Du brauchst nicht so gereizt zu reagieren, ich habe doch nur nett gefragt und wollte dich nicht nerven. Ich habe das nicht böse gemeint …«, ich nickte in der Hoffnung, er würde nicht mehr weiter sprechen, denn ich wusste dass jeder weitere Satz die Sache nur schlimmer machen würde. »Außerdem«, fuhr er fort, »siehst du so exotisch aus, ganz und gar nicht deutsch. Wenn dich das nächste Mal wieder jemand darauf anspricht, solltest du etwas net netter darauf reagieren, ich wollte dir ja nichts Schlechtes!« Ich grübelte die restliche Fahrt noch etwas vor mich hin. Was macht mich überhaupt deutsch? Hat er Recht gehabt über mein Verhalten? Tagtäglich werden Leute wie ich darauf aufmerksam gemacht, dass wir anders sind und niemals dazu gehören werden. Es ist egal wie akzentfrei wir sprechen. Wen kümmert es. dass ich die indonesische Kultur nur vom Hörensagen kenne und kaum einen Satz sprechen kann? Dass ich im Englischen Hände und Füße benutzen muss, um mich mit (Haupt meiner eigenen Großmutter aus Bandung (Hauptstadt von West Java, Anm. d. Red.) zu unterhalten. Ich möchte Deutschland »mein Zuhause« nennen, nein, stattdessen machen sie mich heimatlos. Ich sehe exotisch aus, ganz und gar nicht deutsch, hallt es in meinem Schädel. Meine Haut ist brauner, meine Haare fast schwarz und viele schöne Brillen rutschen von meiner Stupsnase runter (deshalb trag ich lieber Kontaktlinsen). Woher nehmen sich Menschen das Recht mich einfach nach Belieben anzuquatschen? Die Bus-Endhaltestelle wird von der monotonen Stimme angesagt und reißt mich aus den Gedanken. Das nächste mal, wenn mich jemand fragt, woher ich denn wirklich komme, antworte ich ganz bitterfotzig: »Aus Schweden«. Sandrine Siregar ist Art-Praktikantin bei thjnk und hat an dieser Ausgabe sehr engagiert mitgewirkt. Sie möchte kein Auskunftsbüro für neugierige Deutsche sein. Wer dennoch nicht anders kann und wissen will, warum sie nicht blond ist, möge es bitte mit der Frage: »Wo sind deine familiären Wurzeln?« probieren.


Kaum zu glauben: Ein Pfarrer, ein Rabbi und ein Imam machen gemeinsame Sache. Sie bauen in Berlin Mitte ein Bet- und Lehrhaus für die drei monotheistischen Religionen. Mitbauen kann jeder. Ein gelber Ziegestein kostet 10 Euro. house-of-one.org photo: Lia Darjes

Judith Stoletzky (text)

88. Zieh mit Gott, Allah und Jahwe in ein Haus. Im christlichen Deutschland ist es keine Sensation mehr, dass sich Protestanten und Katholiken, die nach wie vor ziemlich grundsätzliche Glaubensdifferenzen haben (die sie in blutigen Kriegen austrugen), zu ökumenischen Gottesdiensten oder zu gemeinsamer Gemeinde- oder Wohltätigkeitsarbeit zusammenfinden. Der Papst, den es in den Augen der Protestanten eigentlich gar nicht geben kann, weil Gott zwar einen Sohn, aber keinen Deputy hat, ist ein international hochrespektierter Mann. Nicht weil er so beharrlich seinen eigenen Glauben vertritt, sondern weil er das Gespräch mit Juden sucht, mit Moslems, mit allen Religionen, auch mit Agnostikern und Atheisten. Manchmal gelingt es, die drei großen monotheistischen Religionen unter großzügiger Außerachtlassung der Färbungen innerhalb des jeweiligen Glaubens auf ein Tässchen Tee um einen Tisch zu versammeln. Manche Initiativen bieten sogar sämtlichen Religionen ein Dach über dem Kopf.

Im am 14. Dezember 2014 in Betrieb genommenen, aber noch unfertigen Schweizer »Haus der Religionen – Dialog der Kulturen« in Bern beten außer Moslems und Juden allerlei Sorten von Christen, Aleviten, Hindu, Buddhisten, Sikh und Baha’i. Schon seit 2005 existiert in Hannover das »Haus der Religionen« (e. V.), in dem sich sechs Religionen auf ihre Gemeinsamkeiten konzentrieren. Es wurde zwar im vergangenen Jahr von der Bundesregierung als »Ort der Ideen ausgezeichnet« – aber wer weiß das schon. Da Idealismus und üppige Finanzen auch selten unter einem Dach wohnen, findet er oft in aller Stille in Gemeindehäusern oder Hinterhöfen statt und bleibt für die breite Öffentlichkeit oft eher unsichtbar. Das könnte sich ändern, wenn Juden, Moslems und Christen an exponierter Stelle, noch dazu in der Haupt Hauptstadt, noch dazu auf archäologisch interessanten Grundmauern und Reiseführerrelevanz, einen Sakralbau von imponierender Größe errichten, für den sogar ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben war. In Berlin soll via Crowdfunding finanziert – oder altdeutsch auf Kleinspendenbasis – auf den Grundmauern der mittelalter mittelalterlichen Petrikirche, an der Gertraudenstraße in Mitte, ein Lehr und Gebetshaus entstehen, das aus einer Kirche, Lehreiner Moschee, einer Synagoge sowie einem fast haushohen Gemeinschaftssaal besteht, über dem sich eine Kuppel wölbt. The House of One. Das gemeinsame Haus für Christentum, Judentum und Islam. Für die Architekten Kühn Malvezzi war es nicht einfach, alle Wünsche unter ein Dach zu kriegen, da unter demselben in getrennten Räumen die eigenen Rituale gepflegt werden können müssen. Ein symbolischer gelber Ziegel kostet 10 Euro und das macht es für jedermann erschwinglich an dieser Idee mitzubauen.

Fördermittel lehnen die Initiatoren bewusst ab, die Höhe der Einzelspende ist begrenzt, um unabhängig zu bleiben. Vor allem, um das Übergewicht der Evangelischen Landeskirche zu verhindern, die so gern mehr beisteuern würde. Doch das ginge auf Kosten der Grundidee des gleichberechtigten Miteinanders. Nach außen hin sollen an dem Bau keine religiösen Symbole sichtbar sein, um nicht jene auszuschließen, die sich keiner der drei monotheistischen Religionen zugehörig fühlen. Außerdem: »Der Atheismus«, sagt Tovia Ben-Chorin, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und einer der drei Köpfe des Unter Unternehmens Interreligöser Dialog, »ist eine sehr wichtige Religion heute.« Für ihn ist »Berlin eine Stadt der Wunden und eine Stadt der Wunder« und deshalb gibt es keinen besseren Ort für das House of One. Von hier, wo man verver sucht habe, die Juden systematisch auszurotten, würde sich die friedliche Idee des interreligiösen, intermenschlichen Dialoges in die ganze Welt ausbreiten. Für den Rabbiner ist The House of One gelebter Respekt voreinander. Der Vertreter der christlichen Religion, Gregor Hoberg, ist als Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde St. PetriSt. Marien im wahrsten Wortsinne am nächsten an dem Projekt dran. Er gab den Anstoß dazu, als man bei BauarBauar beiten auf der Brache an der Gertraudenstraße auf die urur alten Kirchenmauern stieß, die als Urzelle Berlins gelten. Er glaubt daran, dass »die die drei Glaubensrichtungen mitmit einander und mit der säkularen Stadtgesellschaft in ein friedliebendes Gespräch treten. Es wird ein Haus sein, in dem Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung wohnen.« Der Imam Kadir Sanci als Vertreter des Islam steht keiner muslimischen Gemeinde in Berlin vor, sondern vertritt das »Forum für Interkulturellen Dialog«, das der Gülen Bewegung angehört. In der Anfangsphase sorgte das für reichlich Kritik, weil deren Gründer sich in den Neun-

Kein Kreuz, kein Davidstern, kein Halbmond. Das House of One wird auf jedes religiöse Symbol verzichten, denn willkommen ist hier jeder, auch, wer an gar nichts glaubt. photo: Kuehn Malvezzi

zigern offen judenfeindlich geäußert hat, doch der Rabbi scheint bereits ganz im Geiste der Versöhnung und des Dialogs zu handeln. Imam Kadir Sanci findet es wunder wunderbar, dass mit dem House of One ein gemeinsamer Ort geschaffen wird, auf dem man Muslimen, deren Heimat Deutschland ist, auf Augenhöhe begegnen kann. Schon jetzt, obwohl das Haus noch lange nicht fertig ist, es wurde noch nicht einmal der Grundstein gelegt, kann man sich im House of One in Seminaren zu Themen wie »Was ist ein auserwähltes Volk? » Volk?«, «, » »Wieviel Wieviel Humor ver ver-trägt der Glaube?« und »Was » ist die Scharia? Scharia?« « informieren und mit Gläubigen, Andersgläubigen, Zweiflern und Ungläubigen, wahrscheinlich auch mit Rechthabern und Besserwissern ins Gespräch kommen, und all das, gott gottlob, aus erster Hand. Bis zum 25.1.2015, 11:47 wurden leider erst 146.390 € von ge-den 43 Millionen, die das House of One kosten wird, ge sammelt. Das ist zu wenig, um mit dem Bau zu beginnen und erst recht zu wenig, um wie geplant 2016 fertig zu sein. Doch an eines glauben der Rabbi, der Pfarrer und der Imam fest und auf die gleiche Weise: Dass das House of One gebaut und das Projekt gelingen wird. house-of-one.org


Imke Jurok & Julia Holtz (illustration), Eva Bolhoefer (text)

9. Vermiete dein WG Zimmer an einen Flüchtling.ee

WG-Zimmer statt Massenunterkunft: Der Berliner Grafikdesigner Jonas Kakoschke hat gemeinsam mit seiner Mitbewohnerin Mareike Geiling die Internetplattform Flüchtlinge Willkommen gegründet, die Dächer über die Köpfe von Menschen wie Bakary Konan aus Mali vermitvermit telt, Jonas’ neuem Mitbewohner. Die Idee kam den beiden, als sie auf einen Aufruf des Berliner Flüchtlingsrates stießen, leerstehenden Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Und weil Mareike beruflich für ein Jahr nach Kairo ging, war das die ideale Gelegenheit selbst aktiv zu werden. Sie sammelten Spenden im Bekanntenkreis und innerhalb von zwei Wochen hatten sie die Miete für ein Jahr zusammen. Jetzt wohnt Bakary in Mareikes Zimmer und muss nicht länger an öffentlichen Plätzen schlafen. »Von der Resonanz waren wir so überrascht wie ge» gerührt«, sagt Jonas. »Da dachten wir uns, wenn das bei uns so einfach geht, sollten wir das Konzept vielleicht auch anderen Leuten vorschlagen.«

Jonas Kakoschke und sein Mitbewohner Bakary Konan bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch ihrer WG.

Auf der sehr übersichtlichen und einladenden Website von Flüchtlinge Willkommen werden alle Fragen beantbeant wortet, die für interessierte Wohngemeinschaften wichtig sind. Das Ziel ist es, dass sich die Perspektive der Menschen durch die Wohnsituation verbessert, sei es, dass er die Sprache besser beherrscht oder sogar eine eigene Wohnung und Arbeit findet. Flüchtlinge Willkommen verfügt außerdem über ein großes Netzwerk an lokalen Hilfsund Beratungsorganisationen, die sich um die Menschen kümmern, wie die Arbeiterwohlfahrt oder der Berliner Flüchtlingsrat. Die Plattform unterstützt die WGs auch bei der Finanzierung, sollte kein Anrecht auf Wohngeld bestehen. Über 190 Wohngemeinschaften haben sich bereits dazu entschlossen, einen neuen Mitbewohner aufzunehmen. Es sind innovative Ideen wie die von Jonas und Mareike, die unbürokratische und direkte Hilfe leisten, bei der jeder mitmachen kann. Alle Infos unter www.fluechtlinge-willkommen.de


Cartoonist Kai Flemming zeichnet jeden Tag einen Cartoon. Er nennt das JEDEN TAG 1 RAUSHAUEN und man kann die gleichnamige Seite bei Facebook abonnieren. Gemeinsam mit Judith Stoletzky entwickelte er den Running Gag mit den Göttern auf der Couch, der sich durch diese Ausgabe zieht. Die beiden diskutierten wild über die Bedeutung diverser jüdischer Begrifflichkeiten wie »Schmock« oder »Tinnef«. Judith glaubte sich gelegentlich im Vorteil, weil ihr Freund ein amerikanischer Jude ist. Kai hielt allerdings dagegen, er habe eine große Nase und wohne deutlich näher an Osteuropa. Eine fruchtbare Zusammenarbeit, wie wir finden.


UNSER LEBEN WIRD VON EINEM NEUEN ERNST GEPRÄGT SEIN.“ MATHIAS DÖPFNER

Julia Kerschbaum (illustration), (illustration) Sabine cole (text)

10. Lachen Sie! Das sind Sie Charlie Hebdo schuldig.

Apropos Pressefreiheit: Die auflagenstärksten Zeitschrif Zeitschriften waren 2014 mal wieder die TV ProgrammzeitschrifProgrammzeitschrif ten. Die große Magazin Erfolgsstory 2014 war aber laut Gruner + Jahr der Launch des Magazin Flow, der bunte Gegenentwurf zu all den schlimmen Nachrichten dieser Zeit. Mit Illustrationen, Basteltipps, und ergötzlichen Sinnsprüchen wird zum Handarbeiten (»Wenn »Wenn alle stri » stri-cken würden, wäre Frieden auf der Welt.«) animiert, denn »Egal welche Zeitung man aufschlägt, sofort sind wir mit beängstigenden, brutalen oder traurigen Nachrichten konfrontiert.« Das Magazin Landlust ist mittlerweile MarktMarktführer des boomenden Segments für den Traum vom herrherr lichen Leben auf dem Land. Über eine Millionen Leser

verfolgen Ratschläge zum Anlegen einer Streuobstwiese oder zum Filzen einer Katzenhöhle. Gleichzeit sinken die Auflagen der Nachrichtenmagazine und Tageszeitungen. Am 7.1.2015 wurde ein Anschlag auf die Pressefreiheit verver übt. Aber die Erosion des politischen Interesses schadet der vierten Gewalt, wie die Presse informell genannt wird, weit mehr. Bei seiner Neujahrsansprache am 12.1.2015 hat der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, eine Rede gehalten, in der er fragt: »Darf man über Glück sprechen vor diesem Hintergrund?« Freiheit und glücklich sein schließen sich nicht aus. Sie sind voneinander abhängig. Wer die Freiheit genießen möchte, eine Katzenhöhle filzen zu dürfen, wann immer

ihm danach ist, der muss dafür etwas tun. Bikram Yoga machen, Latte Macchiato trinken, Tische dekorieren und vegan kochen sind ein Luxus, den es zu verteidigen gilt. Mit ein bisschen mehr Ernst, politischem Interesse und bürgerschaftlichem Engagement. Kneifen gilt nicht mehr. Denn, und hier zitiert Mathias Döpfner seinen Lieblingssatz von Perikles: »Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit. Und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.« Die ganze Rede finden Sie auf unserem LOVED&FOUND Blog oder unter http://www.welt.de/print/welt_kompakt/ kultur/article136303673/Lachen-Sie-Das-sind-Sie-CharlieHebdo-schuldig.html


Thies Rätzke (photo), Hans-Hermann Kotte (text)

11. Über Rassismus lachen. Es ist hartes Zeug, was in 11 diesen Leserbriefen und Mails steht: »Bepimmelter Kackmuslim« oder » »Türkische Islam-Muschi Islam-Muschi« « zum Beispiel. Rassistische und sexistische Beleidigungen wie diese gehen an die Adresse von Journalisten, die das haben, was man »Migrationshintergrund« nennt und deren Namen nicht bio-deutsch klingen. Über solchen Hass kann man sich ärgern, in schlimmeren Fällen die Polizei einschalten oder vor Gericht klagen. Es gibt aber auch einen anderen Weg, mit solchen Einschüchterungsversuchen umzugehen. Man bringt sie auf die Bühne – und macht sich lustig über sie. Hate Poetry heißt die unterhaltsame Show, bei der Journalisten von SPIEGEL, ZEIT, taz oder anderen Medien im Stil eines Poetry-Slams aus Hassbriefen vorlesen. Dann lassen sie das Publikum über die heftigste Beschimpfung abstimmen. Mit Humor gegen Intoleranz: Hate Poetry begann mit Auftritten in Berlin, inzwischen ist die Show in der ganzen Republik unterwegs, zuletzt auch in Dresden, wo Pegida-Demonstranten gegen die angebliche »Islamisierung des Abendlandes« auf die Straße gehen.

Zweifellos hallen in dem, was bei der Hate PoetryShow vorgelesen wird, die Folgen des 11. September 2001 nach, Sarrazin und der Pegida-Populismus sorgen für Hass-Konjunkturen. Und alle noch so gut gemeinten öf öffentlichen Debatten scheinen die Beleidiger nur anzuspornen. »Der Diskurs, der in der Woche – angefangen bei Maischberger über Plasberg und Jauch, die Presseer Presseerklärung der CSU oder eine Intervention eines AfD-Vor AfD-Vorstandes – läuft, kulminiert am Ende der Woche in einem gepfefferten Leserbrief an Hate Poetry. Dort wird zusammengerührt, was nicht zusammengehört«, sagt Kiyak. »Aber die Leser haben das von uns Medien gelernt. Solange wir Medien uns angesichts von Terrorismus immer noch nicht mit der politischen und sozialen Dimension dieses Problems beschäftigen, sondern wie verrückt im Koran nach Erklärungen suchen, wird es auch der Leser tun.«

Erfunden wurde die Show vor drei Jahren von der freien Journalistin Ebru Taşdemir. »Der Ursprung der Idee war ein Hassbrief, den eine befreundete Schriftstellerin erhalten hatte. Der begann mit der Anrede: Sehr geehrte Frau Arschloch.« Die Kollegin habe ihr noch mehr unfassbare Beleidigungen vorgelesen, doch gemeinsam habe man sich darüber amüsieren können. »So kamen wir auf die Idee einer Lesung – und der erste Auftritt im taz-Café im Januar 2012 war dann ein solcher Erfolg, dass wir weitermachen mussten.« Beim ersten Mal waren neben Taşdemir auch die taz-Journalisten Deniz Yücel und Doris Akrap, der heutige ZEIT ZEIT-Kollege Yassin Musharbash sowie die Kolumnistin und Publizistin Mely Kiyak dabei. »An diesem Abend las Deniz seine Briefe noch aus dem Kar Karton vor, er hatte Stapel von Umzugskartons voller Briefe mitgebracht«, erinnert sich Kiyak. »Yassin » hatte seine Briefe damals schon gefaltet in der Brusttasche des Anzugs. Ich kam businessmäßig mit Leitz-Ordnern. Im Laufe der Jahre erweiterten wir den Revue-Charakter. Unser Markenzeichen: Wir fallen mit Aldi-Tüten über die Provinz her, verwüsten sie und ziehen wieder ab. Wie man es von Karstadt aus dem Winterschlussver Winterschlussverkauf kennt.« Das Konzept der Show beschreibt Kiyak so: »Sie schreiben, wir lesen. Der Scheiß muss in die Umlauf Umlaufbahn zurück.« Die Zitate, die die Zuschauer zu hören bekommen, sind derb. Das macht schon Kiyaks Kurzüberblick über das Beleidigungsspektrum deutlich: »Für türkische Nationalisten sind wir kurdische Faschisten. Für Deutsche sind wir Ziegenficker. Für Ossis sind wir die Bedrohung des Abendlandes, aber im Rahmen des Länderfinanzausgleichs. Man projiziert in uns rein, was man braucht. Eines aber sind wir nie: einfach nur Journalisten.«

Ein typischer Abend läuft so ab: Die Journalisten sitzen auf der Bühne an einem festlichen Tisch und trinken und essen beim Lesen auch mal was. Die Hassbriefe und -mails werden in fünf Kategorien eingeteilt, und das Publikum darf über die besten entscheiden. Dabei wird die Bühne mit kitschigen Requisiten dekoriert, und die Kollegen ver verkleiden sich. » »Wenn wir die türkische Fahne zeigen oder ein Hirschgeweih, wenn wir Kopftuch oder Fez tragen, dann spielen wir mit Klischees«, sagt Ebru Taşdemir. »Wir » Wir verweigern uns der Einordnung. Die Leserbrief Leserbrief-schreiber wollen ja gerne festlegen, was deutsch ist und was nicht deutsch ist, wer hierhergehört und wer nicht.« Die Show, sagt Taşdemir, sei allerdings alles andere als eine Opferveranstaltung: »Das ist das Wichtigste – Party statt Opferdiskurs!« Das kann Mely Kiyak nur unterstreichen. Hate Poetry sei weder Betroffenheitsrevue noch Analysecouch. »Es ist unsere Form des Aufbegehrens. Hate Poetry ist Widerstand, wir machen WiderstandsTingeltangel ohne Metaebene und Integrationsangebot.«

Und wie sieht es nach den Anschlägen von Paris aus? Was meint die Kolumnistin: Stehen manche positiven Ent Entwicklungen der letzten Jahre nun wieder auf der Kippe? »Meine Liebe im Herzen ist stärker als der Glaube eines Salafisten an seinen Gott und stärker als die Liebe eines Pegida-Anhängers zu Bernd Lucke«, sagt Kiyak. »Meine Liebe besiegt alles und steht über allem. In Zeiten wie diesen sollte ohnehin jeder nur für sich sprechen. Alles andere: Kismet.« Das ist Türkisch und bedeutet »Schicksal«. Hans-Hermann Kotte hat diesen Artikel für fluter, das Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung geschrieben. Mit freundlicher Genehmigung dürfen wir den Text drucken und verweisen auf diese großartige Seite: www.fluter.de


Lachen gegen den Hass. Die Journalisten von Hate Poetry amüsieren sich auf der Bühne der Roten Flora gemeinsam mit dem Publikum über Beleidigungen. Hasnain Kazim ist zweiter von rechts

SC/ SC/ac

Hasnain Kazim, Korrespondent von DER SPIEGEL/ SPIEGEL ONLINE in Istanbul hat der LOVED&FOUND ein paar Hassbriefe zur Verfügung gestellt. Wenn man diese Mails oder Briefe liest, braucht man viel Fantasie, um sich vorzustellen, was den Verfasser psychisch der derart deformiert hat und wenig Fantasie, wie belastend es ist, solche Drohungen zu kassieren. Auf der Facebook Seite www.facebook.com/HatePoetry kann man sich über die Veranstaltungen informieren, die nächste findet am 15.2.2015 im Berliner HAU statt und am 15.3. im Bielefelder Theaterlabor. Und das ist die »Poesie des Hasses« auf die man sich gefasst machen muss:

Kazim, du bepimmelter Kackmuslim, dir hätte man damals bei deiner Beschneidung am besten gleich den ganzen Pimmel abschneiden sollen! i Dann würden sich Leute wie dir nicht auch noch vermehren! Kazim, du Karzinom, du kannst deine Scheißmeinung, Deutschland müsse bunter werden und andere Kulturen zulassen, noch so oft ofti wiederholen, wahrer werden sie davon auch nicht. Vielmehr solltest du dich damit befassen, was deutsche Kultur ist. Aber das tust du bestimmt nicht, weil du ein intelligentes Kerlchen bist und spätestens dann erkennen würdest, dass du kein so hochwertiger Deutscher bist. Ausländer! Wenn das Fremde das Einheimische verdrängt und ebenso gewalttätig resistent gegenüber Anpassungen ist, ist die Angst der Deutschen nicht nur verständlich, sondern wohlbegründet. Wer sich anpasst, einfügt und loyal verhält, verbreitet auch in Deutschland keine Angst. Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin fassungslos über die Artikel von Herrn Kazim! Bei weiteren Beiträgen von ihm werde ich das Abonnement kündigen! Glauben Sie wirklich, es tut Ihrer Zeitschrift gut, wenn Menschen aus islamistischen Kulturkreisen in einem deutschen Medium schreiben dürfen? XXX Sehr geehrter Herr Kazim, für einen Gast in Deutschland sind Sie aber ganz schön unverschämt! Gruß xxx Deutsch sein beginnt mit dem Namen. Jemand, der Hasnain Kazim heißt, kann niemals Deutscher sein!!! Du lügst schneller, als ein Pferd scheißen kann!!! Sehr geehrter Hasnain Kazim, mit Interesse lese ich Ihre Artikel auf Spiegel Online, jeden einzelnen davon. Manche sind gar nicht so schlecht. Lassen Sie mich ganz klar sagen, ich habe nichts gegen Muslime. Aber man darf eines nicht vergessen: Muslime bringen nur Unheil über die Welt. Schalten Sie mal dem Fernseher ein, lesen Sie Zeitung, ja Ihre eigenen Artikel! Ihnen ist klar, dass Muslime und ihr Islam das Übel der Welt, das Krebsgeschwür der heutigen Zeit sind, oder? Ich glaube, man muss Sie auch so behandeln und radikal entfernen. Vielleicht kann ich Sie ja gewinnen, mal in dieser Richtung einen Artikel zu schreiben. Es würde mich freuen. Mit besten Grüßen XY Du Arschloch! Wir Deutschen sollten mit euch Muselmanen das Werk fortsetzen, das wir mit den Juden begonnen haben! Mit dir zuerst! Ich freue mich, dir mal zu begegnen, wenn du als Rauch aus dem Schornstein wehst!



Judith Stoletzky (text), Jan van Endert (photo)

12. Wage es, weise zu sein. In den letzten Wochen werden unermüdlich die Werte der Aufklärung beschworen, die es seit ihrer Geburtsstunde während der französischen Revolution zu verteidigen gilt: die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, der Kampf gegen Vorurteile, für religiöse Freiheit, Bürger- und Menschenrechte und für das Gemeinwohl – all das umhüllt vom wolkigen Begriff der Freiheit. Die man sich nehmen kann oder auch nicht – aus aufklärerischen Gründen. Ein Gedankenspiel. Es kann ein erhellendes Gedankenspiel sein, etwas Kleines auf einen größeren Maßstab zu übertragen. Die gar nicht gern gehörte, aber gar nicht so dumme Frage, mit der Individualverhalten oft kommentiert wird – »Wenn das jeder machen würde?« – hilft dabei, eine Vorstellung davon zu entwickeln, ob das, was man tut, wirklich schlimm ist oder bloß nervt, und ob es zu irgendetwas oder irgendjemandem nützlich ist. Weniger irgendetwas bekannt ist dieser Satz als kategorischer Imperativ: »Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.« So formulierte es Immanuel Kant (1724–1804) in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Jahr 1785. Dieser Mann gehört zur in diesen Tagen vielgepriesenen Aufklärung, deren Er Errungenschaften es zu schützen gilt. Jeden Tag, in ganz alltäglichen Situationen. Stellen Sie sich das mal vor: Wenn jeder sein Dreirad im Hausflur abstellen wür würde. Wenn jeder seinen Mops auf das Trottoir kacken ließe. Wenn jeder auf die Klobrille pinkelte, ohne danach abzuwischen. Wenn jeder nachts um halb vier, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, bei rot über die Ampel ginge. Wenn jeder so schnell beleidigt wäre. Wenn jeder seinen Beleidiger erschießen würde. Wenn jeder sich um seinen kranken Nachbarn kümmerte. Wenn jeder Deutsche einen Ausländer zum Freund hätte. Wenn jeder, der ein Gästezimmer hat, einen Flüchtling auf aufnähme. Wenn jeder nett zu jedem wäre … Funktioniert ganz gut, nicht wahr. Dieses Gedankenspiel funktioniert aber auch in die umgekehrte Richtung, vom Großen ins Kleine und erzeugt dort ebenso deutliche Ergebnisse und im vollen Bewusst Bewusstsein, sich damit auf hauchdünnes Eis zu begeben, wollen wir den Versuch wagen. Auf dem dünnen Eis befinden sich inzwischen besagte ca. zweihundert Jahre Aufklärung, Kant (s. o.), Descartes (»Ich denke also bin ich«) und Voltaire (»Ich verachte Ihre Meinung, doch ich würwür de mein Leben dafür geben, dass Sie sie sagen dürfen.«). Die europäische Demokratie ist da, die Freiheit an sich, die Freiheit zu etwas und die Freiheit von etwas anderem, die Pressefreiheit und die Religionsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Versammlung haben sich versammelt und sie fühlen sich vom Untergang bedroht. Sogar von so naiven Fragen wie dieser: Was wäre, wenn man sich um des lieben Friedens willen hin und wieder die Freiheit nähme, nicht alles zu machen, was man darf?

Eine Nummer größer: Wenn man sich vorstellte, Charlie Hebdo wäre nicht das neue Symbol der Presse-Freiheit, sondern ein französischer Citoyen namens Serge Leroc, und angenommen, der stets so drastisch karikierte, in seiner Religion mit Abbildungsverbot belegte Prophet Mohammed wäre nicht das Symbol für den Islam, sondern der ebenfalls französische Citoyen Djamal Reza, ein ehrenhafter Gemüsemann, und beide wohnten in demselben Haus. Jedes Mal, wenn sie einander im Treppenhaus begegneten, machte Serge obszöne Gesten. Anstatt »Bonsoir, cher ami«, zu sagen, »ça va an diesem weiteren herrlichen Tag, den Gott, der Allmächtige und Allah der Einzige und Jahwe uns da gemeinsam geschenkt haben?« würde Serge Djamal bös nachäffen. Er machte Andeutungen von meterlangem Bart und gewaltiger Hakennase, er zöge ihm vor anderen Nachbarn die Hose herunter, zeigte unter angedeuteten Kopulations beKopulationsbewegungen auf Djamals Hintern, imitierte einen Zungenkuss, mit Gestöhne und viel fließendem Speichel. Das machte Serge immer und immer wieder, denn die beiden

begegneten sich oft. Djamal würde stets versuchen, sich von diesem pubertären Schulhofhumor nicht gedemütigt zu fühlen und die Provokationen an sich abperlen zu lassen. Noch schwieriger würde er es finden, Respekt vor Serge zu haben. Serge würde sogar dann die allerkrassesten Scherze treiben, wenn Djamals desorientierte, aggressive aber auch ziemlich berechenbare Cousins zweiten Grades aus der Banlieu uneingeladen zu Besuch wären. Diese Jungs würden Dolche im Gewand tragen, wovon Serge wüsste, und im Treppenhaus rasselten sie vor ihm mit den Säbeln. Wären wir da nicht froh, zu erleben, dass Serges Frau ihn mit Engelszunge in die Wohnung zurückmanövrierte? »Serge, cheri. Ich bitte dich. Hör mal auf. Was hat Djamal dir denn getan? Warum musst du diese Herren immer so provozieren? Was willst du denn damit eigentlich bezwecken? Wem nutzt das was?« Wenn wir im 3. Stock wohnten, würden wir nicht selber dazwischen gehen? Oder würden wir über Serges derbe Witze ein die Säbelrassler entwaffnendes Lachen lachen, sodass das ganze Treppenhaus und am Ende sogar die Säbelrassler mitlachten? Wohl kaum.

Natürlich ist ein fiktives Treppenhaus nicht Paris, geschweige denn Europa. Aber die Übersetzung in eine kleinere Welt reizt zu dem Hinweis, dass das Recht auf Provokation via Pressefreiheit auch die Freiheit einschließt, sie sich nicht unbedingt immer auf Teufel komm raus zu nehmen. Allerdings hätte man mit einer defensiven, vielleicht feigen Haltung auch keine französische Revolution gewonnen und wäre nie im Zeitalter der Aufklärung angekommen. Die Frage kommt auf, wer eigentlich provoziert werden soll. Friedfertige Muslime? Die IS? Al Quaida? Terroristen, die eine Rechtfertigung für Mord und Totschlag im missbrauchten Namen Allahs ohnehin in allem finden. Sonst hätten sie keine unbewaffneten Zeichner er erschossen, keinen muslimischen Polizisten und keine jüdischen Bürger, die in einem Supermarkt fürs Abendessen einkaufen. These: Die Provokation gilt Madame Leroc. Sind nicht die Leser von Charlie Hebdo zu 99 % Franzosen? Die 50.000 Leser, die das Magazin vor den Attentaten hatte, waren Gleichgesinnte, die wohl kaum provoziert werden mussten. Charlie hat die Nichtleser erreicht. Ein paar Wochen nach dem PopkulturEvent #jesuischarlie, scheint es so, als seien die Provokationen der sehr erer wachsenen Zeichner von Charlie Hebdo, deren Cartoons man pubertär und platt, derbe, politisch unkorrekt, verletverlet zend und geschmacklos finden mag, dort angekommen, wo sie hingehören und wo sie etwas Positives bewirken: in der europäischen Gesellschaft. Noch nie haben so viele Menschen über gesellschaftspolitische Themen nachgedacht, über Toleranz, Extremismus und Gleichgültigkeit. Darüber, wo Rassismus und Ausgrenzung beginnen, und was die eigene Rolle dabei ist. Noch nie haben so viele Menschen über ihre Haltung gegenüber Flüchtlingen und Immigranten und über Integrationspolitik nachgedacht wie jetzt. Man versetzt sich in die Lage von jemandem, der hinter eine Bannmeile verbannt ist – denn das ist die Übersetzung für die Banlieu von Paris, und fragt sich, warum Flüchtlinge in Deutschland in Containern und auf Schiffen interniert werden, wenn Häuser zur Verfügung stünden und versteht wieder einen kleinen Teil mehr von der Wahrheit. Man weiß die Demokratie hoffentlich besser zu schätzen und zu nutzen. Man denkt darüber nach, auf welche Weise man, ganz im Sinn der Aufklärung, Verantwortung übernehmen kann. Für sein Tun – und für sein Unterlassen. Und das geschieht sogar an Orten, die sich in der Regel mit der Schönheit der Form und der Oberfläche befassen, wie Design-Agenturen und Corporate Publishing Redaktionen. Die Philosophen der Aufklärung sagten, dass dieses Zeitalter niemals abgeschlossen werden kann. Sie vertrauten darauf, dass eine vernunftorientierte Gesellschaft die Hauptprobleme menschlichen Zusammenlebens schritt schrittweise lösen werde. »Sapere aude – es wagen, weise zu sein.« schlug Kant als Wegweiser dahin vor. Wenn jeder nur halb so viel wagen würde wie Charlie Hebdo.

Es könnte ja beispielsweise mal ein Fußgänger, weil er den Himmel so schön findet, gedankenverloren auf den Radweg geraten und dann könnte ein vernunftbegabter Radfahrer darauf verzichten ihn mit Klingelgewalt, unbedingter Spurtreue, Affenzahn und Beleidigungen darauf hinzuweisen, dass er im Recht ist.

photographer: Jan van Endert www.van-endert.com


Die EcoFavela aka. der hölzerne Nachbau der Roten Flora.

Oben: Im Gemeinschaftsraum an der langen Tafel treffen sich einmal die Woche Künstler, Mitarbeiter von Kampnagel, Gäste und die Flüchtlinge, um gemeinsam zu essen und sich auszutauschen. Links: Mohamed ist seit anderthalb Jahren in Deutschland. In Afrika war er Automechaniker und würde auch hier in Hamburg gerne in einer Autowerkstatt arbeiten.

Kevin McElvaney (photos), Ava Carstens (text)

13. Mit Kunst die Radikalen stoppen. Februar 2013 er erhält eine Gruppe von etwa 300 afrikanischen Flüchtlingen auf der Insel Lampedusa von den italienischen Behör Behörden Reisepapiere sowie 500 Euro pro Kopf. Die meisten der Männer stammen aus Ghana, Mali und der Elfenbeinküste und hatten vor ihrer Flucht in Libyen gearbeitet. Nun sollen sie weiter nach Nordeuropa ziehen. Im März kommen sie in Hamburg an. Nach einer monatelangen Odyssee und öffentlichen Protesten widersetzt sich eine Gruppe der drohenden Abschiebung nach Italien und findet im Juni 2013 Obdach in der Kirchengemeinde St. Pauli. Sie erhalten große Unterstützung aus der Bevölkerung. Auch die Kirchen, Parteien und Gewerkschaften engagieren sich. Sie fordern, dass die gesamte Gruppe als politisch verfolgt anerkannt wird und damit in Deutschland bleiben darf. Die Lampedusa Gruppe und ihre Unterstützer kämpft einen Stellvertreterkampf um den Umgang mit den sogenannten Armutsflüchtlingen aus Afrika.

Was wünscht sich wohl ein solcher Flüchtling der auf einem überfüllten Schiff über Italien in Hamburg gelandet ist? Der monatelang in Kirchen, Hallen und Schiffen mit 40 bis 100 Menschen, die nicht seine Freunde sind, gelebt und übernachtet hat? Privatsphäre. Und genau diesem Wunsch ist die Künstlergruppe Baltic Raw mit Studenten der HafenCity Universität Hamburg (HCU) und den betroffenen Flüchtlingen nachgegangen. In dem Seminar »Fluchtlinien. Mobilitätspraktiken einer verstädterten Realität« beschäftigten sich die Studenten mit den Formen des Wohnens und Alltags in temporären Unterbringungen für Flüchtlinge. Unterstützt wurde die Melange aus Studenten, Künstlern und Flüchtlingen auch vom Studio Experimentelles Design von der Hochschule für bildende Künste (HfbK). Ergebnis der Kooperation war die EcoFavela, eine Art Rote Flora aus Holz, die zum Kampnagel Sommerfestival 2014 präsentiert wurde. Anstatt die Installation zum Ende des Festivals im August aber wieder zu demontieren, beantragten Móka Farkac und Berndt Jasper von Baltic Raw gemeinsam mit der Kampnagel Intendantin Amelie Deuflhard den Umbau der hölzernen Flora. Sie wollten die EcoFavela für wohnungslose Flüchtlinge der Lampedusa-Nord Gruppe als künstlerisch-sozialen Ort zur Verfügung stellen. Im Spätherbst wurde das Holzhaus winterfest gemacht und Wände und Türen eingezogen. Nun gibt es

fünf Ruheräume, eine provisorische Dusche und WC, eine Küche und einen Gemeinschaftsraum. Angst hatten die Ideengeber und temporären Bauherren eher vor der Baubehörde. Aber diese stimmte der Gestaltung der neuen Lebensräume zu. Der massive Gegenwind kam von einer gänzlich unerwarteten Seite. Die AfD, »Alternative für Deutschland« wirbt mit dem Slogan »Mut zur Wahrheit«. So ganz genau scheint sie es damit allerdings nicht zu nehmen. Die Partei stellte StrafStraf anzeige gegen Amelie Deuflhard. Der Vorwurf lautet: »Verdachts der Beihilfe zu Ausländerstraftaten sowie des Verdachts der Untreue«. Sie habe demnach Gelder der Stadt für die Unterbringung illegaler Flüchtlinge eingesetzt. Seitdem ist die mediale Aufmerksamkeit um die EcoFavela riesig. Wir treffen Amelie Deuflhard, Kampnagel Intendantin, Aktivistin und als Veranstalterin des Kampnagel Sommerfestivals Mit-Initiatorin der EcoFavela, zum Gespräch. Die Initiatoren bewegen sich mit ihrem Aktionsraum auf dünnem Eis. Das weiß auch Amelie: »Ich erhalte öffentliche Zuschüsse um Kunst zu produzieren. In diesem Fall eben aktivistische-politische Kunst. Baltic Raw macht seit zwanzig Jahren Soziale Skulpturen.


Links: Mohamed zeichnet politische Transparente: »WELCOME REFUGEES. Break The Silence Fast!« Und er ist engagierter Aktivist der Lampedusa Gruppe. Der Protestmarsch von Straßburg nach Brüssel im Mai/Juni 2014 war maßgeblich von ihm organisiert.

Rechts: Ali Mosess ist seit neun Monaten in Hamburg. Zuerst wurde er in den Häusern der Hafenstraße aufgenommen, seit Dezember ist er Teil des Aktionsraums der EcoFavela. Aktionsraums Ali Mosess näht – zum einen, weil er’s kann und es seine künstlerische kreative Tätigkeit ist und zum anderen, um eine sinnvolle Beschäftigung zu haben.

Als das Festival beendet war, hätte ich den Umbau der EcoFavela auch aus öffentlichen Geldern finanzieren können. Es spricht nichts dagegen. Habe ich aber nicht. Die weitere Verwendung und Umgestaltung der Räume wur wurde ausschließlich durch Crowdfunding, Sponsoren und Geldgeber realisiert.« Zur Zeit leben und »bespielen« vier Flüchtlinge die HolzFlora. Ob es unter den Flüchtlingen auch jemanden gäbe, der kein Italien-Asyl und somit auch kein Touristen Visa besitzt, weiß Amelie nicht. »Ich kontrolliere doch nicht ihre Papiere, das ist nicht meine Aufgabe.« Zu Beginn befürchtete Amelie, dass rechtsextreme Gruppen oder die Polizei plötzlich auftauchen könnten. Aber die Lage der EcoFavela, auf dem Hinterhof von Kampnagel, umringt von Gebäuden und einem ständigen Einund Ausgehen von Mitarbeitern, Performern und Besuchern auf dem Gelände, bietet Schutz. Ebenso die Neugierde und Solidarität der Nachbarschaft. Mit dem Gründen des Aktionsraums kamen aber auch Stimmen aus der Bürgerschaft auf, die behaupten: »Wenn die AfD bei den 5 % bekommt, bist nächsten Wahlen in Hamburg mehr als 5% du schuld.« Amelie kontert diesen Vorwurf: »Aber nicht ich habe der AfD diese Aufmerksamkeit gebracht, sondern der Rechtsdruck in ganz Deutschland.« »Ein Projekt mit

großer Strahlkraft.« sei die EcoFavela. Wie weit es strahlen würde konnte niemand voraussehen. »Man konnte spüren, dass etwas in der Luft liegt. Aber was genau es ist und wie es sich auswirkt, hätte ich im September 2014 nicht sagen können.« Jetzt kommen die Journalisten schon seit Wochen regelmäßig zu Besuch. Esther, eine der Lampedusa-Refugees hat die vielen Fototermine und Interviews satt und kommt heute nicht mehr aus ihrem Zimmer. Verständlich. Und doch muss eine »VorzeigeFlüchtlingsgruppe« wie diese eben für alle anderen herhalten. Zwei der Vier sprechen mit uns. Sie heißen Mohamed und Ali Mosess. Auf die Frage nach ihrem Berufswunsch in Deutschland schauen sie irritiert. »Ich möchte Arbeiten. Es spielt für mich keine große Rolle was, Hauptsache ich kann etwas machen, mit dem ich legal Geld verdiene.« Mohamed und Ali Mosess wünschen sich Normalität, eine Wohnung, einen Job und Freunde. Geld für die Flüchtlinge wird über die Soli-Partys und Spendenaufrufe während der Premierenfeiern eingenommen. Das ist unabdingbar, wenn ein Projekt wie die EcoFavela über Monate existieren soll. Mit den Spenden werden z. B. Flüge nach Italien finanziert, um dort das Asyl zu verlängern. Der Nachbau der Flora ist ein Ver Versuch, Flüchtlinge nicht an den Rand der Stadt unterzubringen, mit wenig Platz zum Leben, kreativem Handeln

und eingeschränkter Mobilität, sondern in die Stadt zu integrieren. Einen Raum der Begegnung und des Austausches zu schaffen – »Normalität als Gegenmodell zur Ausgrenzung.« Und was passiert mit Esther, Mohamed, Ali-Mosess und dem Vierten aus der Lampedusa Gruppe nach dem 30.4.2015? Denn bis zu diesem Termin ist das Projekt EcoFavela geplant und gestattet. Kunst hin oder her, es sind Menschen, zu denen Amelie, ihre Mitarbeiter, die Künstler und auch die Nachbarschaft von Kampnagel eine Bindung aufgebaut haben. Man überlege derzeit, wie und in welchem Umfang man dieses oder ein neues Projekt umsetzten kann. Amelie Deufelhard reagierte auf die Bitte der LOVED&FOUND um ein persönliches Gespräch schnell und zupackend: »Ja, das mache ich sehr gerne, irgendwie müssen wir ja gemeinsam die Radikalen stoppen.« Man darf davon ausgehen, dass diese Frau nicht so schnell klein beigeben wird.

photographer: Kevin McElvaney www.derkevin.com


Ilker Yilmazalp & Patrick Morda (text)

14. Seid lieb! »Da kommt Gott – tut so, als wärt ihr beschäftigt!« Das sind die ersten Worte, die man in John Nivens Roman Gott bewahre zu lesen bekommt. Kein neues Buch, zugegeben, aber immer aktuell. Gerade jetzt. Geht es doch darum aufzuräumen mit dem Mythos des einzig Wahren, des ultimativ Richtigen. Niven sagt, Gott interessiere es nicht, wie es auf seiner Erde abgeht. Er geht seit der Renaissance angeln. Weil er sich nämlich einfach nicht vorstellen kann, dass seine Idee der Schöpfung, einmal losgelassen, so schief gehen konnte. In John Nivens Himmel sind Gottes Mitarbeiter schwul (Gott liebt Schwule), in seiner Interpretation der Hölle, werden rechtsradikale Hassprediger – egal welcher Konfession – von schwarzen Aufsehern vergewaltigt. Und warum? Weil Gott die Religion wurscht ist. Es war Moses, der »arrogante Flachwichser«, der aus Gottes einzigem Gebot die Zehn gemacht hat. Eigentlich ging es dem Großen Meister nur darum: Seid lieb! Kann der Leser einem Mann vertrauen, der vor seiner Autorenkarriere als Musikmanager die seinerzeit noch unbekannte Band Coldplay mit dem Hinweis »billiger Radiohead-Verschnitt« hat abblitzen lassen? Kann man sich auf der Suche nach Orientierung und Halt an einen Mann wenden, der ansonsten in schonungsloser Manier und mehr als offenherzig über Sex, Gewalt und Drogen schreibt? Die Antwort ist leicht: Ja, unbedingt. John Niven kennt einfach keine moralischen Schranken und schreibt entsprechend völlig unbeschwert. In Gott bewahre packt Gott seinen Sohn Jesus auch mal am Ohr und liest im die gar nicht religiösen Leviten. Denn in seinem, also

Gottes, Briefing steht eindeutig nichts von Abholzung, Fremdenhass oder Überfischung der Ozeane. Ganz nebenbei nimmt Niven dann noch die neue Religion namens aufCasting-Shows aufs Korn. Dort muss Jesus nämlich auf treten, um das Wort zu verkünden. Beziehungsweise die zwei Worte: Seid lieb. Trotz allem ist Gott bewahre keine Blasphemie oder Häre Häre-sie. Kein Angriff auf das, was mancher Glauben nennt. Es ist nur ein etwas anderer Umgang damit. Es ist die Vision eines zu tiefst naiven Gottes, der so weit weg von einem moralisch-religiösen Kodex ist, wie man nur sein kann. »Ich unterstütze jeden in dem Recht, zu glauben, was er will. Aber ich unterstütze auch mein Recht, mich darüber lustig zu machen«, sagt Niven.

Das Buch Gott bewahre ist der Lesetipp unseres Kollegen Ilker »Ille« Yilmazalp, der in diesem Jahr trotz schon schütter werdenden Haares endlich seinen ersten deutschen Pass beantragt. Er ist kein Türke, sondern Billstedter und hat in der 3.Klasse beschlossen, keinem Glauben und keinem Gott anhängig zu werden. Den Worten Gottes, auf die Erde gebracht durch seinen Sohn Jesus, folgt er trotzdem. Gibt es Krach, fordert Ille: »Seid lieb!« Recht hat er. Als ehemaliger A&R-Manager ist Musik für John Niven immer noch wichtig. Hier finden Sie eine Spotify-Playlist mit den Songs zu Gott bewahre: https://play.spotify.com/user/lovedandfound

15. All you need is love. »Musik hat die einzigartige Kraft, Menschen zusammenzubringen. Musik ist farbenblind, interessiert sich nicht für das Geschlecht, wo du her kommst oder wen du liebst. Musik spricht ein Gefühl an, das jeder Mensch auf diesem Planeten in sich trägt. Es ist schwer zu erklären, warum es Künstler gibt, die von fast jedem auf der Welt gekannt werden, aber viel weniger Politiker, denen die gleiche Ehre zuteil wird. Musik hat die Macht zu begeistern, zu heilen und zu vereinen. Die Zeile von John Lennon »All you need is love« war selten so aktuell und auf den Punkt wie heute. Christen und Moslems, Anhänger aller Religionen tanzen und laufen am Ende zum gleichen Rhythmus, denn am Ende sind wir alle eins und Menschen sind einfach Menschen.« Der Hamburger Geschäftsmann und Musiker Ato C. Yankah Jr. ist der Neffe von Kofi Annan und hat als Kind durch Bob Geldorfs »Band Aid« und dem Nachfolgeprojekt »USA for Africa« verstanden, was Macht ist: Musik.


Tino Oac (text)

16. Frieden muss man vorleben. Als wir vor 20 Jahren 16 die »Söhne Mannheims« gegründet haben, war die Situation eigentlich auch nicht deutlich anders als heute. In der Stadt Mannheim leben Menschen aus 177 Nationen. Die UN hat 193 Mitglieder. Man kann also sagen: in Mannheim leben seit mehreren Generationen Menschen aus der ganzen Welt. Dementsprechend war unser Freundeskreis, aus dem später dann auch die Söhne Mannheims entstanden, ebenfalls sehr multikulturell gemischt und für uns sozusagen ein kleines Spiegelbild Mannheims. Unterschiedliche ethische Vorstellungen und Muster und die daraus entent stehenden Reibungen gehörten daher zu unserem Alltag. Da unsere Grundhaltung »fremden« und »unbekannten« Ansichten gegenüber nicht durch Angst und Gier geprägt war, fanden wir relativ schnell heraus, dass uns gerade diese Tatsache stärker macht und uns in vielerlei Hinsicht wachsen ließ.

und den Verstand wieder auf »HOFFNUNG« und »ZUKUNFT« auszurichten. Im zweiten oder dritten Schritt ist es sehr wichtig, besonders junge Menschen an ihre Stärken zu erinnern bzw. sie überhaupt darauf auf aufmerksam zu machen und ihnen die Möglichkeit zu geben das Gefühl von persönlichem Erfolg und Anerkennung zu erfahren. Denn eigentlich wollen diese Kids geliebt werden und Teil »unserer« Gesellschaft sein.

Die Politiker können sich nicht mehr so einfach hinter ihren Floskeln und ihrer Rhetorik verstecken und müssen zukünftig immer mehr Flagge zeigen und das mittlerweile ausgefranste Fähnchen im Wind endlich zur Seite legen um weiterhin Zugang zu den Menschen zu bekommen. Die Medienlandschaft betrachte ich mittlerweile als Segen und Fluch zugleich (immerhin, denn vor Jahren empfand ich unsere Leitmedien nur als Fluch). Das Internet bzw. die dadurch zugängigen alternativen Medien sorgen nun für eine gewisse Transparenz. So sind die Gleichschaltungen, Lügen und Intrigen wesentlich schneller und einfacher zu durchschauen als früher.

Wenn wir damals nach Lösungen und Ant Antworten suchten und über diesen außergewöhnlichen kulturellen Zustand in Mannheim durchaus auch kontrovers diskutierten hat uns eine Frage immer am meisten beschäftigt: Was kann man aktiv gegen Rassismus, Kriminalität, Armut und mangelnde Integration direkt vor unserer Haustür tun? Diskutieren im kleinen Rahmen war für uns persönlich spannend und lehrreich, aber wenig effektiv, um in unserer Gesellschaft was zu bewegen. Deshalb haben wir uns für ein Projekt entschieden, das unsere Stimme und Vision nach Außen trägt. Musik und Text, das war unser gemeinsamer Nenner und so »einfach« entstanden die Söhne Mannheims. Wir sind bewusst unkommerziell an die Sache rangegangen und haben geschaut, wo die Stärken der jeweiligen Freunde liegen. Dass die Söhne innerinner halb von zwei Jahren kommerziell dermaßen erfolgreich wurden, war nicht die Intention und auch nie die treibende Kraft. Wir wollten eine konkrete gesellschaftliche Alternative auf den Tisch legen, die die Menschen mit mitten ins Herz trifft. Klare, einfache Worte die jeder versteht bzw. fühlt. Emotionen als wir Brücke zum Miteinander, Worte die wirken und als Angstlöser dienen. Im Prinzip geht es immer darum, ein Vor Vorbild zu sein. Es geht darum, soziale Struk Strukturen zu schaffen, damit die Leute neue Wege und dadurch weitere Möglichkeit erkennen, wie man ein glückliches Leben ohne Neid, Angst und Hass führen kann. ABER! Man holt niemanden durch Musik von der Straße, damit schürt man falsche Hoffnungen. Talentförderung ist meiner Meinung nach für viele Menschen erst im zweiten Schritt möglich. Man muss die Leute mit aller Kraft und zugleich sehr sensibel durch verschiedene soziale Projekte, Vereine, gut geschulte Sozialarbeitern, etc. sprichwörtlich von der Straße holen und ihnen die Chance geben die Seele

Wenn unsere Polit-»Krieger« in unserer westlich orientierten demokratischen Welt die größte Kraft darstellen, dann kommen auch sie nicht mehr drumrum sich als VorVor bilder in der Öffentlichkeit zu qualifizieren. Wenn sie uns und unseren Kindern und deren Kindern eine friedliche Zukunft ermöglichen wollen, dann müssen sie endlich das vorleben, was sie lauthals von den »Kleinen« einforeinfor dern. Die kleinen Leute sind oft viel zu beschäftigt damit, das eigene Leben einigermaßen zu kontrollieren und die Familie und sich selbst über Wasser zu halten. Ihnen können wir keinen großen Vorwurf machen. Unsere Politiker und diejenigen, denen es durchschnittlich besser geht als den Meisten, diese Menschen müssen endlich verstehen warum es sich für uns alle lohnt, einen realistischen und effektiven Ansatz für eine friedliche Zukunft zu finden.

Uns, die Söhne Mannheims, gibt es mittler mittlerweile seit 20 Jahren. Anfangs waren wir 17, aktuell sind wir 13 Bandmitglieder. Wir haben bis dato 23 Singles, 5 Studio-Alben, ein MTV unplugged Album, ein Live-Album und eine Live-DVD veröffentlicht und natürlich viele große und kleine Touren gespielt. Wer glaubt, auf solch einer langen gemeinsamen Reise gab es keine Verluste, keine Sor Sorgen, keinen Streit, der hat das Prinzip einer funktionierenden Gemeinschaft immer noch nicht verstanden. Es geht nicht darum, Konflikte zu vermeiden. Es geht nur darum, immer wieder sich selbst ein Stück zurückzunehmen und gemeinsam einen friedlichen Konsens für die Zukunft zu finden!

Um Zukunft zu schaffen – und ich rede nicht von Mor Morgen oder in fünf Jahren – müssen wir echte Vorbilder sein. Das heißt nicht, dass wir keine Fehler machen dürfen oder andere Menschen von oben herab behandeln und belehren sollen. Im Gegenteil, es bedeutet, immer mal wieder in den Rückspiegel zu schauen und zu vermitteln, dass wir auf keinen Fall als Gemeinschaft zweimal die gleichen Fehler machen sollten. Wir müssen von den Erfahrungen der Mitmenschen oder der Geschichte lernen. Zukunft wird es NICHT durch Hass, Gier und Krieg geben sondern nur durch Menschlichkeit und Frieden!

Tino Oac ist Musiker, Produzent und Fashionfotograf und lebt in der Region Mannheim. Die Söhne Mannheims haben eine Initiative namens Auf Aufwind-Mannheim ge ge-gründet, um die Kinderarmut in Mannheim zu bekämpfen. Die Kinder von alleinerziehenden Müttern erhalten bei Aufwind eine einfache, greifbare Hilfe zur Grundsicherung, aber auch Halt und Unterstützung im täglichen Leben. Die Kinder sollen sich als Mitglied der Gemeinschaft fühlen, eine Auf Aufgabe übertragen bekommen, Neues kennenlernen. Gewohnte Strukturen einhalten, Verantwortung übernehmen, wachsen. Das Besondere bei Aufwind ist, dass ganz verschiedene Kulturen zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen, z. B. Deutsche, Türkische, Iranische, Afrikanische, Polnische Kinder lernen sich kennen und respektieren. Weitere Infos unter: www.aufwind-mannheim.de Und zu Tino Oac und den Söhnen Mannheims unter: www.oacproduction.com und www.soehne-mannheims.de

photographer: Jörg Steinmetz www.joergsteinmetz.com



Judith Stoletzky (illustration)

17. Der Gefahr ins Auge sehen. Angst vor Überfremdung hat Judith Stoletzky nicht, aber Angst vor Über Überdeutschung. Braune Tinte auf Papier.




Lasse Wandschneider (illustration), matthias Jahn (text)

18. Über Politik diskutieren in der Kneipe Facebook.ii

Freiheit und Selbstverwirklichung – das hatte sich so mancher vom Internet versprochen. Blogger machten den Magazinen Konkurrenz, lustige Videos auf YouTube liefen den Fernsehsendern den Rang ab, Instagram zeigte, was man mit den neuesten Filtern so alles aus Fotos machen kann, ohne Fotograf zu sein. Und in den Onlinemedien der Tageszeitungen und Magazine wuchsen die Foren und Kommentarspalten dermaßen an, dass die NSA neue Serverzentren bauen musste. Dort, unter einem ZEIT Online-Artikel, fiel mir auch erstmals auf, dass die Trolle plötzlich in der Überzahl waren. Während man früher die abstrusesten Kommentare noch einigermaßen ignorieren konnte, gibt es heute kaum noch andere. Zu welchem Thema auch immer: Nach wenigen Minuten taucht jemand auf, der alles besser weiß. Weil er natürlich nicht die gleichgeschalteten, staatsgelenkten Medien liest (warum kommentiert er dann da?), sondern »unabhängige Quellen« zur Verfügung hat.

Und dasselbe gilt natürlich für Social Media: Gerade Facebook ist zu einem Melting Pot der irren und wirren Meinungen geworden. Unter wirklich jeden Beitrag aus FAZ, taz, ZEIT, SZ, WELT, ARD, ZDF etc. ergießt sich ein Strom von Häme, Lügenpresse-Vorwürfen und Ver Verschwörungstheorien. Neulich hat mir jemand ein einzelnes Interview der PRAVDA als Beweis für die Unwahrheit des gesamten SPIEGEL-Dossiers zum Abschuß des malaysischen Flugzeugs MH17 entgegengehalten. Im August 2014 wehrte sich ein SPON-Moderator, indem er sich gleich selbst als »Zionisten-Bilderberger-CIAIlluminaten-Presseoffizier von SPIEGEL ONLINE« bezeichnete. Weil alle präsentierten Fakten der Gegenseite ohnehin egal waren. Derzeit macht der »WELT-Prakti» »WELT-Prakti kant« Furore, indem er schäumende Kommentare süffisant ins Leere laufen läßt. Dennoch fehlt mir da was. Wo sind denn eigentlich meine vernünftigen Freunde geblieben? Wieso haben die VerVer schwörungstheoretiker die Mehrheit? Warum bekomme ich für Fotos von schicken Oldtimern 48 Likes, für einen politischen Post aber gar keinen? Sind die, die ich auf Facebook so kenne, wirklich alle völlig apolitisch und desinteressiert? Haben sie Angst, ihre Meinung zu sagen? Wissen sie nicht, wie man die Privatsphäreeinstellungen bei Facebook regelt? Ich habe das neulich in einem Kommentar angesprochen. Eine der Antworten darauf fasst das Problem schön zusammen: »Bei Politik hört der Spaß oft auf. Das wird der Grund sein, warum es die allermeisten vermeiden, sich irgendwie dazu zu äußern.« Das verstehe ich. Schon ein amerikanischer Etikette-Ratgeber von 1879 mahnt: »Do not discuss politics or religion in general company«. Aber Achtung: Die Diskussion findet ja schon statt. Und wenn nur noch eine Seite ihre Meinung veröffentlicht, wird das schnell zur »Mehrheitsmeinung«. Und noch etwas fiel mir auf: Frauen posten, kommentieren und diskutieren sehr viel seltener politische Themen auf Facebook. Auch darauf kam eine interessante Antwort: »Facebook ist manchmal ein bisschen wie eine Kneipe, in der nur Männer stehen, die alle schon ein, zwei Bierchen intus haben. Und du musst dir dann als Frau überlegen, ob du dich dazwischen reinstellst und dir dumme Sprüche abholst.«

Der »raue Ton« schreckt ab, ja. Aber auf den muss man sich ja nicht einlassen. Tatsächlich entstehen manchmal durchaus längere Kommentarstrecken, in denen einiger einigermaßen ernsthaft diskutiert wird. Ich meine, Facebook ist nicht nur für Katzenfotos da. Schaut, was andere so schreiben. Und wenn’s abdriftet, gegenhalten: Mit Gradlinigkeit, Ernsthaftigkeit und demokratischem Grundverständnis. Denn ich will in einer Demokratie leben. Die, die wir haben, kann man sicher besser machen. Man kann sie aber auch abschaffen. Einige arbeiten genau daran – indem sie zum Beispiel die freie Presse zur Lügenpresse umdeuten. Im System der Gewaltenteilung in einer Demokratie ist die Presse als vierte Säule neben Legislative, Judikative und Exekutive unverzichtbar. Und soziale Medien wer werden von vielen als eine fünfte dieser Säulen betrachtet. Schön wäre es, wenn sie dieser Rolle gerecht werden könnten. Aber dafür müssen wir alle, die diese Medien täglich nutzen, etwas tun. Es ist ein bisschen wie mit Wahlen: Man denkt oft, es nutzt nichts – aber ohne wär’s auch nicht schön. Für mich eines von den Dingen, die wir tun können: Über Politik diskutieren in der Kneipe Facebook. Mathias Jahn ist Kommunikations-Experte und Medienberater in Hamburg. Seine Facebook Einträge sind politisch engagiert und seine Facebook Freunde benehmen sich in der Diskussion äußerst kultiviert. Die erhellende KommentarKommentar liste, die diesem Text voranging war ungefähr einen Kilometer lang und wurde von der Redaktion interessiert verfolgt.


Inga Detlow (illustration), David Fedele (text)

19. Mit Filmen die Welt verändern. Mein Name ist David Fedele und ich bin Dokumentarfilmer aus Australien.

Ich mache Filme vor allem wegen der Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die ich überall auf der Welt sehe. Ich habe ein angeborenes Schuldbewusstsein und stelle immer wieder meine eigene Beteiligung und Rolle in Frage. Und wenn ich ehrlich bin, verlange ich dies auch von anderen Menschen.

Die Themen meiner Filme sind dem klassischen Journalismus entlehnt. Aber ich bin nicht zufrieden damit, wie journalistische Themen in den Medien und den Nachrichten dargestellt werden. Ich will diese Geschichten auf eine viel geduldigere, filmische, menschliche Art, quasi von einem Beobachterstatus aus erzählen. Ich versuche mich nicht auf die Problematik selbst zu fokussieren, sondern die Menschen zu verstehen, die dabei eine Rolle spielen – den Geschichten ein menschliches Gesicht zu geben. Über das Thema der Einwanderung und speziell die Situation zwischen der spanischen und der marokkanischen Grenze wird nur berichtet, wenn es einen neuen Zwischenfall gibt, wenn wieder etwas »passiert« ist. Deswegen ist der Eindruck, den wir insgesamt von der Situation haben, sehr dramatisch und von einer gewissen Sensationslust geprägt. In diesem speziellen Beispiel sehen wir nur die Bilder von »Afrikanern«, die versuchen über einen Zaun zu springen, um nach Europa zu kommen und die Auswirkungen solcher Aktionen. Diese Bilder und Geschichten, die in den üblichen Medien gezeigt werden, füttern eine Angst, die in bestimmten Gesellschaftsschichten existiert: die Angst vor Einwanderung, vor Unterschieden, vor dem Fremden. Und wir bekommen kaum eine Chance, die Sichtweise der Einwanderer kennenzulernen. Mit The Land Between wollte ich erzählen, was passiert wenn nichts passiert. Ich nenne es »die Geschichte hinter der Geschichte«. Wenn die Journalisten nach Hause gehen, verlieren die Reporter das Interesse an der »Story«. DAS ist es, was mich interessiert. Ich will die Gemeinsamkeiten der Menschen zeigen, statt die Unterschiede. Nur wenn wir auf die Dinge schauen, die uns verbinden, können »die Anderen« für uns ein Spiegel sein. Nur so können wir anfangen, mitzufühlen mit der Situation und den Menschen, die darin involviert sind. Ich habe viel Zeit in Europa damit verbracht, mir die Geschichten der Einwanderer über ihre Reise anzuhören, besonders von denen aus Schwarzafrika. Ursprünglich hatte ich geplant, einen Film in Europa zu drehen, der sich auf diese Geschichten konzentriert. Ich stellte jedoch schnell fest, dass es viel kraftvoller sein würde, das Leben dieser Menschen und deren Reise zu zeigen, bevor diese in Europa ankommen, anstatt es mir im Nachhinein anzuhören. Ich begann damit, die Hauptrouten der Migration von Afrika nach Europa zu recherchieren und entdeckte die Situation in Marokko, insbesondere in den Bergen in Nordmarokko, wo Tausende von schwarzafrikanischen Migranten leben, die auf eine Gelegenheit warten, die spanischen Enklaven Melilla und Ceuta zu erreichen. Je länger ich recherchierte, desto mehr erfuhr ich von den krassen Menschenrechtsverletzungen, die sowohl von den spanischen als auch von den marokkanischen Behörden begangen wurden. Das Bild einer Grenze, die zwei Kontinente trennt, kontrolliert von Militär und Polizei auf beiden Seiten, halte ich für ein sehr kraftvolles Symbol und eine Metapher für die »Festung Europa«. Daher auch der Titel The Land Between. In meinem Film beleuchte ich die Rolle Europas bei der Finanzierung und Unterstützung von Gewalt, Misshandlung und illegalen Maßnahmen der spanischen und der marokkanischen Behörden in den Grenzregionen, sowie der illegalen Aktionen der Spanischen Guardia Civil beim »Push back« der Migranten zurück nach Marokko. Für mich ist The Land Between sowohl ein sehr spezieller Film über Marokko und Spanien, als auch eine univeruniver selle Geschichte über Migration. Mich treibt die Fragestellung, wie und warum Menschen bereit sind alles zu riskieren, einschließlich ihres Lebens. Warum sie ihre Heimat verlassen, ihre Familie und Freunde, auf der Suche nach einem neuen und besseren Leben. Natürlich handelt diese ganz spezielle Geschichte von der Verletzung der universellen Menschenrechte, gerade im Hinblick auf die Gewalt und die Misshandlung von Migranten durch die marokkanischen und spanischen Behör Behörden. Aber ich wollte den Fokus nicht nur darauf legen. Stattdessen war mein Anspruch, das tägliche Leben der Migranten zu zeigen, die in Würde unter diesen schrecklichen Bedingungen leben. Ich wollte den Migranten die Chance geben, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Tatsache ist, dass Migration nicht enden wird. Menschen werden sich weiterhin bewegen und dorthin migrieren, wo Gelegenheiten vorhanden sind – dies ist schon immer so gewesen und ist ein natürlicher Teil der menschlichen Natur. Deswegen glaube ich, dass wir als globale Gesellschaft dies anerkennen und verstehen müssen. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir diese Problematik in einer Art und Weise betrachten und angehen können, die die Grundrechte eines jeden Menschen respektiert.

Die vollständige Version des Films kann man ONLINE UMSONST auf www.thelandbetweenfilm.com anschauen. Die DVD kann man bestellen und sowohl für den Privatgebrauch/für Aktivistengruppen als auch für bildungs-/institutionelle Zwecke verwenden. Mehr über den Filmemacher, dessen Dokumentarfilme weltweit auf Festivals gezeigt und auch prämiert werden, findet man unter www.david-fedele.com



In den Seminarräumen der Medizinischen Fakultät in Mannheim stehen zahlreiche Modelle,. an denen die syrische Medizinstudntin Maiss Saad Aldine besonders anschaulich die. die anatomischen Strukturen und Zusammenhänge des menschlichen Körpers erkennen kann.. kann.


Signe Mähler (photos), Eva Bolhoefer (text)

20. Lernen fürs Leben. Im Seminarraum S28 der Me-

dizinischen Fakultät Mannheim steht ein 1,85 Meter großes menschliches Ganzkörperplastinat, um das sich eine Gruppe von Studenten versammelt hat. Es stammt aus dem Fundus des Präparators Dr. Gunther von Hagens, der mit der Ausstellung »Körperwelten« seit den 1990er Jahren für Faszination und Kontroversen sorgt. Ein großer Teil seiner Arbeit dient der medizinischen Lehre und ist Bestandteil der Universitätssammlung Heidelberg. Heute steht bei den Studenten unter anderem die Funktion des Musculus obliquus externus abdominis, des äußeren schrägen Bauchmuskels, auf dem Lehrplan. Dass Maiss Saad Aldine einmal hier stehen würde, um die Anatomie des menschlichen Körpers an einer deutschen Universität zu studieren, hätte sie vor eineinhalb Jahren nie für möglich gehalten. Damals lebt sie noch in Damaskus und die Universität gilt als ein gefährlicher Ort. Maiss sitzt gerade in einer ArAr chitektur-Vorlesung, chitektur chitektur--Vorlesung, Vorlesung, als mehrere Mörsergranaten in der Cafeteria auf dem Campus detonieren. Zwölf Studenten sterben, auch ein guter Freund von Maiss verliert bei dem Anschlag sein Leben. Sie schildert dieses traumatische Erlebnis in grammatikalisch einwandfreiem Deutsch, sachlich, mit leiser Stimme und wohl überlegten Worten. »Meine Eltern hatten große Angst, weil sie nicht wussten, ob es mir gut geht. Ich konnte sie nicht anrufen,

Auf dem Projektor liegen echte Plastinatscheiben, die im Querschnitt jeden einzelnen Muskel und jede Faser erkennen lassen.

da das Handynetz zusammengebrochen war«, erklärt die 20-Jährige. --Jährige. »Ich hatte großes Glück. Aus Sorge, dass meiner Schwester, meinem Bruder und mir bei einem weiteren Anschlag etwas zustoßen könnte, haben sich meine Eltern dazu entschlossen, Syrien zu verlassen.« Die Geschichte von Maiss’ Flucht ist keine von über überfüllten Auffanglagern, Schlepperbanden oder lebensgefährlichen Überfahrten auf maroden Booten. Es ist die Geschichte einer Familie mit viel Glück im Unglück. Ihr Weg führt sie zunächst in den Libanon, ein kleines Land mit vier Millionen Einwohnern, das seit Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien mehr als einer Millionen FlüchtFlücht lingen Asyl gewährt hat. »Anfangs wollte uns die deutdeut sche Botschaft in Beirut kein Einreisevisum ausstellen und wir mussten Widerspruch einlegen. Ohne die Hilfe meiner Cousine, die in Deutschland als Anwältin arbeitet, hätten wir das wohl nicht geschafft«, erklärt Maiss. Denn der Weg in ein sicheres Leben ist gepflastert mit bürokratischen Hürden, an denen viele scheitern. Wer sich einmal durch den Papierkrieg gekämpft hat und als Flüchtling anerkannt ist, hat auch das Recht seine Familie nachzuholen. Doch das Verfahren ist langwierig und kompliziert. Ein Fetzen Papier wie eine Heiratsurkunde, eine Urkunde über die Eintragung der Eheschließung im syrischen Zivilregister, oder eine Geburtsurkunde bei minderjährigen Kindern entscheiden über Krieg oder


Regelmäßig trifft sich Maiss mit ihren Kommillitionen in der Fakultät, wo sie sich austauschen und gemeinsam lernen.

Frieden. Auf der Flucht hat man diese Dokumente oft nicht zur Hand, zudem müssen sie »vorlegalisiert« wer werden, das syrische Außenministerium muss also ihre Echt Echtheit bestätigen. Inzwischen ist es als Syrer fast unmöglich, in den Libanon zu flüchten. Das kleine Land, das unter der großen Last menschlicher Schicksale zu kollabieren drohte, hat strenge Einreisevorkehrungen getroffen. »Als wir vor über einem Jahr im Libanon ankamen, gab es diedie se Bedingungen noch nicht«, erinnert sich Maiss. »Und mit dem Visum von der deutschen Botschaft konnten wir dann endlich in ein Flugzeug nach Frankfurt steigen.« In Deutschland angekommen, zieht die fünfköpfige Familie zunächst zu Verwandten nach Braunschweig, die bereits seit vielen Jahren hier leben. Maiss hat einen Status, der mit dem eines »Kontingent-Flüchtlings« »Kontingent-Flüchtlings« ver»Kontingent ver gleichbar ist. Das bedeutet, die Bundesrepublik erklärt sich bereit, aufgrund humanitärer Maßnahmen eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Sie erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis, ihnen stehen Deutsch-Integrationskurse zu, und sie bekommen Unterstützung bei der Wohnungssuche. Das klingt alles sehr positiv. Aber wenn man fern der Heimat, die man nie verlassen wollte, in einem unbekannten Land mit fremder Kultur und Sprache ein neues Leben anfangen soll, ist das keine einfache Situation. »Die ersten Monate waren schwer. Ich habe sehr viel gelernt, um so schnell wie möglich gut genug Deutsch zu sprechen, damit ich hier studieren kann,« erklärt Maiss. Bei der Bewerbung für die Universität hilft ihr der Jugendmigrationsdienst der Caritas in Braunschweig. Die Sozialpädagogin Ute Scupin berät dort junge Menschen wie Maiss in allen Fragen der Integration und hilft ihnen unter anderem bei der Wohnungssuche, Klärung des Aufenthaltsstatus oder der Vermittlung von Sprachkursen. Auch mit ihrer Unterstützung hat es Maiss geschafft, innerhalb weniger Monate die DSH, die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang aus-

ländischer Studienbewerber, auf höchstem Niveau zu bestehen. »Das war sehr schwierig für mich. Aber als ich schließlich den Studienplatz für Medizin in Mannheim erhalten habe, konnte ich mein Glück kaum fassen.« Auf die anfängliche Euphorie folgt schnell die Ernüchterung, als sie in ihrer ersten Vorlesung sitzt. »Ich hatte große Probleme dem Professor zu folgen, weil ich kein Latein konnte und dadurch viele Begriffe nicht verstanden habe. Am liebsten hätte ich alles wieder hingeschmissen, ich war wie gelähmt. Inzwischen hat sich das gebessert, aber dafür lerne ich von morgens bis abends Medizin, Deutsch und Latein«, erklärt Maiss. Und wenn sich trotz all der akademischen Ablenkung das Heimweh einschleicht, skypt sie mit ihrer besten Freundin Nada in Syrien. Auch das ist eine Herausforderung, da es in Damaskus immer wieder zu Stromausfällen kommt. Oft stehen der Bevölkerung nur zwei Stunden Elektrizität am Tag zur Verfügung. »Ich vermisse meine Familie und meine Freunde in Syrien sehr, aber ich bin auch froh, dass ich hier sein kann«, erklärt sie. »Ich habe viele Menschen in Deutschland kennengelernt, die mir von Anfang an sehr geholfen haben und dafür bin ich wirklich dankbar.«

photographer: Signe Mähler www.signemaehler.de


Thies Raetzke (photo), Nicoline Haas (text)

21. »Nie aufhören zu kämpfen.« »Sieben Jahre Gefängnis – ohne Bewährung«, so bezeichnet Susi Kentikian ihre Jugend in einem Asylbewerberheim in Hamburg-Langenhorn. Dort hausten Makruhi und Levon Kentikian, Tochter Sjusanna und der vier Jahre ältere Sohn Mikael in einem einzigen rund 20 Quadratmeter großen Zimmer einer ehemaligen Schule. Sanitärräume und Küche teilten sie sich mit etlichen anderen Asylbewerbern. »Es gab überhaupt keine Privatsphäre, keinen Rückzugsort«, sagt Susi Kentikian. Privatsphäre, »Aber mit das Schlimmste waren unsere ganzen winzigen Mitbewohner: Wenn ich nachts mal hoch musste, etwa weil ich Durst hatte, und das Licht einschaltete, sah ich sie überall – selbst auf dem Esstisch sitzen: Kakerlaken! Sie krabbelten dann auseinander und ver verschwanden irgendwo in den Ritzen unter der Fußleiste. Es gab auch Wanzen. Es war so eklig, ich konnte oft stundenlang nicht einschlafen aus Angst, die Tiere kriechen in meine Ohren, Nase, in den Mund.« Susi berichtete der Presse schon häufig von ihrer schwierigen Kindheit. Auch in ihrem Buch Mir wird nichts zen-geschenkt, das sie 2011 veröffentlichte, ist diese ein zen geschenkt trales Thema. Sie wollte damit einen Haken unter das Kapitel setzen. Doch jetzt, angesichts der vielen neuen Krisenherde in der Welt, die eine dramatische Flücht Flüchtlingswelle ausgelöst haben, will sie gern noch einmal an ihr Familienschicksal erinnern – stellvertretend für alle Einzelschicksale, die hinter den nackten Zahlen stehen. Susis Geschichte ist kinoreif – mit Happy End: Aus dem Mädchen aus Armenien, das mit Eltern und Bruder über zwölf Jahre nur geduldet und oft gedemütigt wurde, entpuppte sich ein Aushängeschild für gelungene Integration und ein Weltstar des Sports, mit dem sich Deutschland gern schmückt. Im Februar 2007, mit 19 Jahren, wurde Kentikian erst erstmals Boxweltmeisterin der World Boxing Association (WBA) im Fliegengewicht. Sie kämpfte damals schon in Schwarz-Rot-Gold, Schwarz-RotRot Gold, obwohl sie erst 2008 einen deutschen RotPass erhielt. Zwischenzeitlich hatte die Hamburger »Killer Queen« sogar drei WM-Titel --Titel verschiedener Boxverbände inne, zwischenzeitlich auch mal alle wieder verloren. Im Februar 2013 holte sie sich den WBA-WeltWBA-Welt -Welt-Welt Weltmeistergürtel zurück und verteidigte ihn viermal in Folge, zuletzt im November 2014 in Stuttgart, mit einem 10-Runden-Punktsieg über die Japanerin Naoko Fujioka. Ihr aktueller Boxstall ist die Kölner Sturm Box Promotion. Im Gym des Profiboxers Felix Sturm wird sie sich ab dem Frühjahr mit ihrem Trainer Magomed Schaburow auf die nächste Titelverteidigung vorbereiten. Jetzt, über die Winterzeit, hält sie sich fit mit Krafttraining und läuft durch einen Park ihres Wohnviertels Hamburg-Tonndorf. --Tonndorf. Das Fotoshooting könne sie doch beim Laufen zeigen, schlägt sie selbst vor. Sie rennt los, ihre Lockenmähne wippt, ihr Atem malt kleine Nebelschwaden in die feuchtkalte Januarluft. Sie boxt ins Nichts, links-rechts, links-rechts, legt Zwischenspurts ein, macht Sprünge. Kentikian ist eine Kraftmaschine von nur 1,53 Körpergröße. Ein TemperamentTemperament und EnerEner giebündel sei sie schon als kleines Kind gewesen, erzählt sie später in einem Tonndorfer Café. Doch das Asylbewerberdasein, die Armut, auch die häufig ertragenen Ausländer-Feindseligkeiten Ausländer Feindseligkeiten hätten ihre KämpferAusländerKämpfer natur geweckt. 1992 kehrten die Kentikians ihrer Heimatstadt Yerewan in Armenien den Rücken zu, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Mehrere Gründe bewegten den Vater laut Susi dazu, diese Entscheidung zu treffen: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung Armeniens 1991 blühte dem kleinen Land der wirtschaftliche Absturz. In Deutschland hoffte Vater Levon, seiner Familie bessere PerspekPerspek tiven bieten zu können – und seiner Frau eine sichere medizinische Versorgung. Makruhi Kentikian litt damals an den ersten Anzeichen einer tückischen KrankKrank heit. Dann eskalierte der Konflikt in der Region Berg-Karabach zwischen Armenien und Nachbarland

Aserbaidschan – und Levon sollte als Leutnant der Reserve eingezogen werden. Dies sei für ihn nicht in Frage gekommen, sagt Susi, er hatte schließlich eine Familie zu versorgen.

ablassen und trainierte wie besessen. Mein SelbstbewusstSelbstbewusst sein wuchs. Auf einmal hatte ich die coolsten Freunde. Und wenn mir mal jemand blöd kam, schmetterte ich einen frechen Spruch zurück!«

Levon ahnte damals nicht, dass er nie wieder in seinen er erlernten Berufen tätig sein würde. In Armenien arbeitete er als Tierarzt, später als Friseur. Seinen ursprünglichen Beruf des Lokführers konnte er wegen einer Sehschwäche nicht mehr ausüben. Die Kentikians landeten zunächst in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung (ZEA) für Flüchtlinge – auf einem Wohnschiff namens Bibby Altona. Mehrere auf Pontons errichtete Containerburgen gleicher Art schaukelten in den 1990ern auf der Elbe, die Bibby Altona noch bis 2006. Im Dezember 2014 richtete Hamburg erneut schwimmende Flüchtlingsunterkünfte ein – die Transit, Transit, ein ehemaliges Hotelschiff, liegt im HarburHarburger Binnenhafen.

Frank Rieth vom BSV 19 trainierte Susi während ihrer gesamten Amateurzeit, als sie sich binnen weniger Jahre von der Lokalheldin zur deutschen und schließlich zur Welt spitze vorkämpfte. »Frank war aber mehr als nur Weltspitze mein Trainer, er war ein echter Freund.« Im Sommer 2001 spitzte sich die Lage der Kentikians zu, offizielle Schreiben und Anrufe forderten sie zur Ausreise auf. Eines Morgens gegen 4.30 Uhr stand dann die Polizei vor der Tür: Abschiebung! Sie sollten packen, um 12 Uhr ginge der Flieger nach Yerewan. Susi schaffte es, unter einem Vorwand ihren Boxtrainer anzurufen, der sogleich alles in Bewegung setzte und Politiker, Lokaljournalisten und Anwälte zur Hilfe rief. Die Ausreise konnte in letzter Minute abgewendet werden. »Ich bin Frank so was von dankbar!« sagt sie lächelnd, »er sammelte zum Beispiel Unterschriften, um eine Eingabe an den Petitionsausschuss der Hamburger Bürgerschaft zu unterstützen.« In diesem Ausschuss saß damals zum Glück der CDU-PoliCDU PoliCDUtiker Wolfhard Ploog. Er ließ die Familie nicht hängen, besuchte Susi beim Boxtraining und setzte sich intensiv für die Kentikians ein. Doch noch vier Jahre mussten verver gehen, bis sie sich endlich in Sicherheit wiegen durften. Erst nachdem Susi 2005 einen Profivertrag beim Hamburger Boxstall Spotlight abschloss, erhielten die Kentikians von der Ausländerbehörde eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Doch Susi schätzt die Bedeutung ihrer Förderer und Fürsprecher höher ein: »Ohne das unermüdliche Engagement von Frank, Herrn Ploog und anderen, wären wir längst abgeschoben worden.«

»Nachdem wir in Yerewan eine Vier-Zimmer-Wohnung Vier-ZimmerVier Zimmer-Wohnung -Wohnung hatten, mussten wir nun mit einer Zwölf-Quadrat Zwölf-QuadratmeterZwölf meter meterBlechkiste auskommen, darin: zwei Doppelstockbetten, ein Spind, Tisch und Stühle.« Später zog die Familie in ein Harburger Asylbewerberheim um – mit vier Quadrat-

metern mehr. »Meine Eltern fühlten sich nicht wohl, besonders Mama machte die Situation psychisch zu schaf schaffen, sie hatte auch Heimweh«, berichtet Susi. Nach zwei Jahren hielten es die Erwachsenen wohl nicht mehr aus, entschieden sich für einen Umzug nach Chisinau in Moldawien, wieder näher an den alten Kulturkreis heran. Eine Rückkehr nach Armenien wagte der Vater nach Susis Angaben nicht. Er fürchtete, für seine Kriegsdienst Kriegsdienstverweigerung bestraft zu werden. »Moldawien erwies sich aber als Fehler, die Perspektivlosigkeit war noch schlimmer«, fasst Susi knapp zusammen. »Also starteten wir im Sommer 1996 einen zweiten Versuch in Hamburg – und kamen wieder auf die Bibby Altona für diesmal 18 Monate.« Die Boxerin hat nur nebulöse Erinnerungen an diese Zeit: »Es stank, es war laut, es wurde viel gestritten.« Die Ghetto-Schiffe standen ständig in der Kritik: Konflikte und Polizeirazzien waren an der Tagesordnung. Kein Wunder: So viele Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammengepfercht, Menschen, die in der Heimat Krieg und Elend erlebt hatten und nun wie die Kentikians in der Ungewissheit lebten, abgeschoben oder aufgenommen zu werden. Ein solches Umfeld nährt Gewalt, Drogenmissbrauch und Kriminalität. »Man bekam ohne Bleiberecht ja keine richtige Arbeitsgenehmigung«, sagt Susi. »Meine Eltern übernahmen mehrere Mini-Jobs, --Jobs, überwiegend als Putzkräfte, um dem Staat weniger auf der Tasche zu liegen. In späteren Jahren gingen auch mein Bruder und ich putzen.« Unterdessen musste ihre Aufenthaltsgenehmigung monatlich verlängert werden. Zittern, immer wieder zittern. Ihre Zukunft planen können Geduldete nicht. In Langenhorn waren die Zustände, wie eingangs beschrieben, nicht viel besser. Für das Nesthäkchen der Familie brach aber bald eine bessere Zeit an: Sie konnte mittlerweile gut Deutsch, kam in der Schule einigermaßen klar, und im Frühjahr 2000, sie war gerade zwölf Jahre und etwa 1,42 Meter klein, fing sie beim Bahrenfelder Sportverein BSV 19 mit dem Boxen an. »Mein Bruder Mikael schleppte mich mit zum Training. Ich merkte sofort, das ist mein Sport – Schwimmen, Gymnastik, selbst Karate hatte ich ausprobiert – doch Boxen passte am besten zu mir. Ich konnte alles rauslassen, Dampf

Besonders für die Eltern war die lange Wartezeit zermür zermürbend. Susi versucht, ihren Eltern viel zurückzugeben, sie habe gut vorgesorgt. »Früher durften sie nicht richtig ar arbeiten, heute müssen sie es nicht mehr«, sagt sie und fügt hinzu: »Ich habe weiterhin sehr intensiven Kontakt zu meiner Familie. Wir waren immer zusammen, wir sind immer zusammen.« Die Boxerin möchte sich gern sozial engagieren, überlegt aber genau, wem sie ihre Energie schenken will. Voriges Jahr setzte sich Susi Kentikian kurzfristig für eine andere Flüchtlingsfamilie aus Armenien ein, die bei Bad Segeberg lebte und abgeschoben werden sollte. Sie telefonierte mit der Familie und sprach sich in einem Artikel der Zeitung Hamburger Abendblatt für ein Bleiberecht aus. »Die Familie lebte seit über zwölf Jahren in Deutschland, die Kinder sind hier aufgewachsen, was sollen die denn jetzt in Armenien?« Susi empören solche Fälle – auch dieser ging gut aus, die Familie durfte bleiben. Susi selbst möchte jetzt auf der Sonnenseite des Lebens leben. Aber die vielen schlechten Nachrichten erinnern sie immer wieder an ihr eigenes Drama. Besonders die Flüchtlingskatastrophen vor der Insel Lampedusa hätten sie erschüttert. »Was soll ich dazu sagen?« Sie schüttelt den Kopf. »Es ist schrecklich, einfach nur schrecklich!« Sie wünscht sich unbedingt eine andere Flüchtlingspolitik in Deutschland. »Jeder Flüchtling oder Migrant, der ehrlich ist und nicht kriminell und der in Deutschland vernünftig arbeiten und sich anpassen will, sollte auch bleiben dürfen. Und bloß nicht jahrelang darauf warten! Man muss ja nicht gleich Boxweltmeisterin werden …, aber halt was für Deutschland tun, Deutschland tut schließlich auch etwas für einen.«

»Mir wird nichts geschenkt! Mein Leben, meine Träume«, Susi Kentikian, Verlag Herder, 2011


photographer: Thies Raetzke, www.raetzke.com


Joanna Catherine Schröder (illustration & text), Andrea Rukundo Lefort (illustration)

22. Drop words, not bombs. Der siebenjährige Andrea und die 26-jährige --jährige Joanna sind weit gereist. In ihrem Leben haben die beiden Cousins in mehr Ländern gelebt, als der durschnittliche Weltenbürger. Sie haben fremde Kulturen kennengelernt und sich überall zuhause gefühlt. Ein äthiopisches Sprichwort lautet: »Kein Zeuge ist besser als die eigenen Augen.« Menschen wie Andrea und Joanna sind diese Augenzeugen, die wir heute so dringend brauchen.

Andrea ist sieben Jahre alt, seine Mutter stammt aus ge Ruanda, sein Vater aus Frankreich. Er wurde in Italien geboren und heißt deswegen Andrea »à l’ italienne«!! Sein Spitzname ist Andi, oder auch »El pequeño Mono« (der kleine Affe), als Erinnerung an die Zeit, in der er noch in Barcelona wohnte. Er mag Spiderman, Robinson Crusoe ger und Titeuf (eine Schweizer Comic-Figur) und liest sehr gerne. Aber am meisten mag er das Zeichnen, wie man hier an dieser Zeichnung erkennen kann. Ach ja, und Fußball findet er auch toll. Wenn Andi groß ist, möchte er gerne Youtube-Filme machen, die ganz oft angeklickt werden. Momentan wohnt er im schweizerischen Lausanne.


Egal ob Spanien, Italien, Deutschland, Rwanda, Frankreich oder Burkina Faso: Joanna und ihr kleiner Cousin Andrea fühlen sich überall Zuhause.

Joanna ist 26 Jahre alt und vom Sternzeichen Widder (das sei wichtig, sagt sie). Ihr Vater ist Deutscher und kommt aus Meldorf an der Nordsee. Ihre Mutter stammt aus Ruhengeri, Rwanda, dort wo die letzten Gorillas leben. Heute heißt der Ort Musanze. Hier wurde sie auch geboren. Aufgewachsen ist sie wiederum in Burkina Faso und Freiburg. Studiert hat Joanna Politikwissenschaften in Paris, zurzeit lebt sie in Berlin. Hier arbeitet sie im Kommunikationsbereich, Kommunikationsbereich, in ihrer Freizeit fotografiert und tanzt sie gerne. Von Joanna stammt auch dieser Brief, der als Aufruf gilt, sich über die »Je » suis Charlie Charlie« « Posts auf Facebook hinaus zu engagieren.


Martina Behrens (text & photos)

Die Frauen gefallen mir besonders gut. Im Flugzeug schaue ich mir genau an, wie sie ihre Kopftücher tragen. Weil ich annehme, ich müsse meine Haare komplett ver verbergen, habe ich mir extra noch eine Bone gekauft, eine Art Haube, die man unter dem Kopftuch trägt und die bis auf die Stirn runtergezogen wird. Alles Quatsch. Viele Iranerinnen tragen ihre Tücher locker über dem Haar. Gerade die jüngeren Frauen reizen aus, was möglich ist. Die Haare sind hinten am Kopf hochgesteckt und der Schleier wird erst auf dem Knoten aufgesetzt. Vorne haben sie teilweise riesige ondulierte Tollen, blonde DauerDauer wellen, rote Strähnen, toupierte Nester. Die Mäntel sind gerne eng tailliert, die Münder rot, die Hacken hoch. Selbstbewusst sind diese Frauen. Sie lächeln mich häufig an, man blinzelt sich verschwörerisch zu. Auf einer Damentoilette begegnen mir einmal vier junge Frauen. Als ich am Waschbecken stehe und in den Spiegel schaue, nimmt die eine plötzlich ihr Kopftuch ab, grinst mich an und schüttelt ihre langen schwarzen Haare. Die unteren 40 Zentimeter sind wasserstoffblond gefärbt. Ich muss an das Buch »they would rock« von Helena Henneken denken, die 59 Tage mit dem Rucksack durch den Iran gereist ist – genau das ist es. Unter den schwarzen Mänteln und den Kopftüchern ist Rock ’n’ Roll.

Vielleicht werden die Frauen dieses Land ändern? Die »grüne Revolution« von 2009, erzählt mir ein Iraner, war weiblich. 60 Prozent der Studierenden im Iran sind Frauen. Sie sind damals sehr sichtbar mit auf die Straße gegangen, um gegen die Wiederwahl von Ahmadinedschad zu protestieren. Die Bilder, wie junge Frauen und Männer blutig niedergeschlagen worden sind haben sich mir eingeprägt Trotzdem haben am nächsten Tag weitere Demonstrationen stattgefunden. »Diese Menschen sind so mutig!«, habe ich damals gedacht. Auch fünf Jahre danach spürt man diese Stimmung auf den Straßen von Teheran oder Isfahan. Es fühlt sich an, wie ein Druck unter dem Deckel. Nicht aggressiv oder bedrohlich, sondern lebensbejahend, eine Sehnsucht nach Vor-Wende-Zeiten Freiheit, die mich an Vor Vor-Wende-Zeiten in der DDR den-Wende ken lässt. Der Vergleich zur DDR stimmt für mich auch deshalb, weil viele junge Iraner den Westen idealisieren, das merke ich schnell bei den zahlreichen kurzen Begeg Begegnungen. In den Gesprächen wird aber auch sehr differenziert argumentiert und es ist erstaunlich einfach, mit Iranern über Politik zu reden. Die Leute halten nicht hinter dem Berg mit ihrer Kritik am Regime. An einem Nachmittag spazieren wir durch Isfahan und suchen einen Teegarten. Dabei verlaufen wir uns. Mein Freund spricht drei junge Männer an und fragt nach dem Weg. Sie bieten selbstverständlich direkt an, uns persönlich dorthin zu bringen. Auf dem Weg plaudern wir, sie studieren Maschinenbau und oha, sie finden, Frauen sollten ein Kopftuch tragen, das wäre besser. Plötzlich biegen wir in eine kleine Straße ab und ich habe das Gefühl, dass wir von der Richtung nun gar nicht mehr richtig sind. Mit leicht angeschrillter Stimme frage ich, wo wir denn hier langgehen und ob DAS der richtige Weg sei …? Einer von den Dreien, ein großer fleischiger Typ mit Vollbart (!) dreht sich um und sagt: »I am not a terrorist. This is a shortcut, we’re just about to be there.« Und was soll ich sagen? 200 Meter weiter Hauptstraße, Teegarten, Ziel er erreicht.

Wie für viele andere auch, überwiegt für Satrapi irgendwann die Unerträglichkeit dieser Situation und so wählt sie 1994 voller Schmerz endgültig das Exil und geht nach Frankreich. In dem lesenswerten Interview von Susanne Meyer in der ZEIT sagt Satrapi auf die Frage, ob Humor eine Waffe sei: »Im Westen wird uns zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendessen der Mittlere Osten aufgetischt, als Gewalt, Gewalt, Gewalt. Ich erzähle keine einfache Story, aber ich will niemandem das Paket, das ich trage, einfach aufhalsen. Humor ist ein Mittel, es den Zuschauern ein wenig einfacher zu machen. Eine Geste der Höflichkeit.« Autorin Martina Behrens ist Projektleiterin der Strategischen Entwicklung und Kommunikation des Regional Regionalverband Ruhr in Essen. Sie hat eine ausgeprägte Reiseleidenschaft. Und fährt immer gern auch dahin, wo andere niemals hinwollen. Sie war mehrmals in Palästina (eine Freundin besuchen, die dort Lehrerin ist) und möchte als nächstes in den Libanon, vor allem nach Beirut. Martina Perspektive hat mehrfach erlebt, dass ein Besuch vor Ort die Perspektive radikal ändert und die heimischen Medien ein manchmal verdummendes und fast immer sehr einseitiges Bild liefern. Helena Henneken, www.theywouldrock.com Persepolis, by Marjane Satrapi, randomhouse.com oder knopfdoubleday.com Den Iran kann man z. B. mit dem Veranstalter Gebeco bereisen: www.gebeco.de/reisen/2310002-Iran-Erlebnisreise

Wir stecken voller Ängste und Vorurteile und ich stelle fest: Vertrauen bekommt man nur, wenn man es selbst gibt. Reisen bildet bekanntlich und öffnet Herz und Hirn. Wer keine Zeit hat, den Iran zu besuchen, sollte sich unbedingt das Comic oder den Film Persepolis der iranisch-französischen Zeichnerin Marjane Satrapi aus dem Jahr 2007 ansehen. In dem bemerkenswerten Animationsfilm erzählt sie Geschichte und Gegenwart des Iran anhand eigener biografischer Erlebnisse. Satrapi ist 10 Jahre alt, als der Schah 1979 durch die islamische Revolution gestürzt wird und Chomeini an die Macht kommt. Iran-Irak-Krieg Wenig später beginnt der Iran-IrakIrak Krieg und die kleine IrakMarjane wird von ihren Eltern auf ein Internat in Wien geschickt, damit sie in Sicherheit ist. Dort wird sie zerfressen von Heimweh und sehnt sich nach ihrer Oma – einer wunderbaren Figur, die für Heimat, Liebe und Gebor Geborgenheit steht und obendrein noch nach frischem Jasmin duftet. Nach vier Jahren kehrt Marjane in den Iran zurück und studiert dort visuelle Kommunikation. Im Iran hat jeder eine doppelte Identität, es gibt eine private und eine öffentliche Person. Diese Schizophrenie auszuhalten ist absurd, traurig und manchmal sehr komisch – auch davon erzählt dieser Film.

credits: l’associacion, www.theywouldrock.com

23. I’m not a terrorist. »Bist du irre? Und als nächstes fährst du nach Nord-Korea in den Urlaub, oder was?« Nicht nur meine Familie, mein ganzes Umfeld ist ungehalten, als ich meine Pläne, in den Iran zu reisen, im ver vergangenen Herbst vorstellte. Eine satte Welle der schönsten Vorurteile über dieses Land und seine Menschen überspült mich, eine Melange aus faktenbasierten Nachrichtenfetzen und islamophoben Ängsten: »Alles Terroristen!« »Die bauen schon an der Atombombe.« »Als Westler ist man nicht sicher dort, neulich wurde eine Engländerin im Fußballstadion verhaftet und eingekerkert!« »Hast du von den Säureattentaten auf Frauen in Isfahan gehört, du musst dich komplett verhüllen!« Der Iran hat ein diktatorisches Regime, es gibt die Todesstrafe und öffentliche Hinrichtungen, Frauen haben nicht dieselben Rechte wie Männer – ja, das ist alles richtig. Aber 78 Millionen Iraner können nicht alle Bombenleger und Fanatiker sein. Ich will mir ein eigenes Bild über ein Land machen, das wie kein zweites provoziert und fasziniert. Nach meiner Reise im Oktober 2014 kann ich sagen: Ich bin noch nie in einem Land gewesen, wo die Menschen derartig freundlich und offen sind. Als westlicher Tourist ist man ein Exot im Iran und wird freudig-neugierig auf der Straße angesprochen. Es ist leicht, in Kontakt zu kommen – die jungen Iraner in den Städten sprechen alle Englisch, es ist, wer hätte das gedacht, erste Fremdsprache in den Schulen. Viele Ältere sprechen aufgrund ihrer Exilgeschichten sogar Deutsch.


Kaugummis in Pistolenverpackung – Revolution, Iran-Irak-Krieg und Sanktionen schreiben sich auch bei profanen Dingen ins kollektive Gedächtnis ein.

Eingangstor in die antike Stadt Persepolis, die für Macht, Größe, Bildung und Toleranz steht. Ein identitätsstiftender Ort für die Iraner.

Die Propaganda zur islamischen Revolution oder dem Iran-Irak-Krieg, in dem auch Frauen gekämpft haben, ist allgegenwärtig – sie wird aber von den meisten Iranern ignoriert, für die jüngeren ist es schon fast sowas wie Pop-Kultur.


Michelle Kim, 35 Jahre, wurde in Seoul, Südkorea geboren und lebt in Toronto seit 1993. Sie ist Polizistin geworden, um Menschen zu helfen, die Opfer eines Verbrechens wurden und nicht Englisch sprechen.

Sabine Cole (text & interview), Anna Bauer (photos)

24. Helfen Sie Ihren Landsleuten und werden Sie Polizist! Verfestigte Meinungen zu »Ausländerkriminalität« versperrten oft den Blick auf andere Sichtweisen, mit der Folge, dass die Hinweise auf fremdenfeindliche Motive nicht ernst genug genommen und nicht überall weiterverfolgt wurden. Wie viele Polizisten mit Migrationshinter Migrationshintergrund bei der Polizei in Deutschland arbeiten, wird aus Gründen des Datenschutzes statistisch nicht erfasst. Nach Schätzungen haben gerade einmal ein Prozent der rund 244.000 Polizisten in Deutschland ausländische Wurzeln. Das spiegele nicht annähernd den Anteil dieser Bevölkerungsgruppen an den Einwohnerzahlen in Deutschland – etwa 20 Prozent – wider. Es gibt auch keine einheitliche Definition des Begriffs Migrationshintergrund. In Bayern etwa werden die Zahlen gar nicht erhoben. Mit ihrer Einstellung erhalten die Beamten den deutschen Pass. In Baden-Württemberg --Württemberg werden seit 2009 immerhin die Polizeianwärter nach ihrer Herkunft befragt. Bis 2011 gaben 330 oder 16,8 Prozent der Befragten einen Migrationshintergrund an. Bei der Brandenburger Landespolizei existieren nur Zahlen über die Polizeibeamten, die nicht in Deutschland geboren wurden. Es sind 56, das entspricht einem Personalanteil von knapp einem Prozent. Sowohl im Bund als auch in 12 von 16 Bundesländern wird bei der Polizei speziell um Nachwuchs und Personal mit Migrationshintergrund geworben. Allein Brandenburg, Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen und Thüringen sprechen Nachwuchs aus Einwandererfamilien nicht gezielt an. Von den neuen Bundesländern – Berlin ausgenommen – wirkt lediglich Sachsen-Anhalt in seiner Öffentlichkeitsarbeit gezielt darauf hin.

Die Lebensqualität einer Stadt wird nicht nur anhand von Kategorien wie Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen, Infrastruktur sondern auch anhand der Kriminalitätsrate bewertet. Oft wird multikulturell mit kriminell gleichgesetzt. Die kanadische Stadt Toronto ist nicht nur eine der lebenswertesten Städte, sondern hat außerdem eine so stark ausgeprägte multikulturelle Bevölkerung wie kaum eine andere Metropole weltweit. 47 Prozent seiner 2,79 Millionen Einwohner gehören nach eigenen Angaben einer ethnischen Minderheit an. Mehr als 140 Sprachen und Dialekte sind vertreten, und jeder zweite aktuell in Toronto lebende Bürger wurde außerhalb Kanadas geboren. Und trotzdem: Toronto gilt als die sicherste Großstadt Nordamerikas. Großen Anteil daran hat William Blair. Seit seiner Ernennung zum Polizeichef von Toronto im Jahre 2005 hat er maßgeblich an der Neustrukturierung der Polizei mitgewirkt. Ein Ziel beim Reformprozess war es, alle Stellen und Dienstgrade im Polizeidienst mit Angehörigen ethnischer Minderheiten proportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung zu besetzen. Keine ganz leichte Aufgabe in einer Stadt, in der Nichtweiße rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und der Frauenanteil ebenfalls bei rund 50 Prozent liegt. Mit derzeit fast 20 Prozent Polizistinnen und einem vergleichbaren Anteil an Minderheitsangehörigen ist man in Toronto auf einem guten Weg, denn vor gerade einmal 20 Jahren waren noch rund 94 Prozent der Beamten weiß und männlich. Ein kurzes Gespräch mit Chief Blair über seine Arbeit im Dienste der »City of Diversity«.


im Uhrzeigersinn: Joni Sousa-Guthrie, 49, ist in Honk Kong geboren und lebt seit 1975 in Toronto. Als sie fünf war, sah sie in Hong Kong einen Beamten mit einem Polizeihund und wollte seitdem unbedingt zur Polizei, weil jeder zu diesem Polizisten aufschaute. Faz Butt, 48, ist in Kashmir geboren und lebt seit 1976 in Toronto. Er wollte schon immer Polizist werden, weil er in dieser Funktion für Menschen eintreten kann, die dazu selbst nicht in der Lage sind. Viele Menschen sind allein hilflos, genau deshalb mag er seine Arbeit so sehr. Balasz Zanati, 36, ist gebürtig aus Ungarn und lebt seit 2006 in Toronto. Er wollte Polizist werden, weil er gerne Menschen helfen und sie bei ihren Problemen unterstützen möchte. Früher war er lange Zeit in der Armee, dieser Lebensstil gefiel ihm. Paul Brown, 49, ist in Jamaica geboren und lebt seit 1987 in Toronto. In dieser Stadt sind viele Kulturen aus den Westindischen Inseln und anderen Regionen vertreten. Er weiß nicht, ob es überhaupt eine Kultur gibt, die nicht Teil der Toronto Police ist. Michael Sharpe, 38, wurde in einem Fischerdorf in Neufundland geboren und lebt 1999 in Toronto. Seinen Dienst versieht er auf dem Rücken eines sehr großen Pferdes und genießt damit den Respekt der gesamten Nachbarschaft.

photos: Anna Bauer, Bauer www.annabauer.com

Mr. Blair, wer wandert nach Kanada ein und worin unterscheidet sich die kanadische Einwanderungspolitik von der in Europa? Wo immer es auf der Welt zu gewaltsamen Unruhen kommt, können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Menschen aus den betroffenen Gebieten zu uns kommen werden. So erlebt Toronto aktuell einen großen Zuwanderungsstrom aus Krisenregionen wie Afghanistan, dem Mittleren Osten und Ostafrika. Diese Menschen wollen hier ein neues Leben beginnen, und wir sind sehr froh darüber, dass sie sich so schnell in unsere Gesellschaft integrieren. Auch wir bemühen uns, sie tatkräftig zu unterstützen. Wer nach Deutschland auswandert, ist noch lange kein Deutscher, sobald er im Land ankommt. Gleiches gilt für Frankreich und England. Aber in Kanada sind Einwanderer – egal aus welchem Land – praktisch schon bei der Ankunft Kanadier. In unserem Land haben sie sofort Anspruch auf alle Rechte und Privilegien eines kanadischen Staatsbürgers. Toronto bezeichnet sich als »City of Diversity«. Welchen Beitrag leistet die Polizei der Stadt, um diesem Anspruch gerecht zu werden? Als ich vor 35 Jahren in den Polizeidienst eintrat, sahen dort alle aus wie ich: groß, weiß und fast ausnahmslos Männer. Wir stammten aus den gleichen Gegenden, gingen in die gleichen Schulen, lasen die gleichen Bücher, hatten die gleiche Kultur und teilten die gleichen Ansichten. So etwas kann sehr nützlich bei der Leitung einer Polizeiorganisation sein. Aber um einer multikulturellen Bevölkerung zu dienen, brauchen wir Mitarbeiter, für die Diskriminierung, Entbehrung und Angst keine Fremdwörter sind. Wir brauchen Mitarbeiter,

die die unterschiedlichen Perspektiven der Menschen unserer Stadt aus eigener Erfahrung kennen. Deshalb haben wir vor acht Jahren intensiv daran gearbeitet, Angehörige aus allen ethnischen Minderheiten, vor allem Frauen, für den Polizeidienst zu gewinnen. Uns war wichtig, dass sie den Einwohnern nicht einfach nur äußerlich entsprachen, sondern sie auch repräsentierten. Als ich in den Polizeidienst eintrat, war unsere Organisation relativ unflexibel; dagegen ist die Organisation, die ich jetzt leite, ungemein vielschichtig. Dadurch können wir unsere Aufgaben heute mit größerer Umsicht erfüllen. Muss man Kanadier sein, wenn man in Ihrem Land zur Polizei möchte? Nein, man muss hier lediglich einen festen Wohnsitz haben. Sie sind nun schon seit 30 Jahren bei der Polizei und haben vermutlich schon alles erlebt – Positives wie Negatives. Wie kann man die Menschen zum Guten motivieren? Indem man erreicht, dass sie stolz auf sich und ihre Arbeit sind und wissen, dass sie einen positiven Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Das sehe ich immer wieder an unseren Polizeibeamten. Sie sind stolz auf ihre Arbeit, und nicht zuletzt deshalb machen sie ihren Job so gut – sie geben einfach alles. Wer sich über die Bedeutung seiner Arbeit bewusst und stolz darauf ist, ist bereit, Heldenhaftes zu leisten. William Sterling »Bill« Blair ist der Polizeichef von Toronto, Ontario. Blair war selbst 30 Jahre Polizist in Toronto und hatte als solcher mit Drogendelikten, organisierter Kriminalität und der Verfolgung schwerer Straftaten zu tun.



Sandra Wittwer (illustrations), Judith Stoletzky (text)

25. Sich eine menschlichere Zukunft ausmalen. Menschen bezeichnen besonders unmenschliches Verhalten als bestialisch. Womit man der Bestie, dem Tier, furchtfurcht bar unrecht tut, denn so unmenschlich wie der Mensch könnten Tiere gar nicht sein. In dem Comic der Künstlerin Sandra Wittwer, der zwischen Hamburg Wilhelmsburg und Tokyo spielt, fühlt man mit Manni, dem Androiden, unter den Menschen, die sich für edel und gut halten, wie es sich anfühlt vollkommen fremd zu sein. Denn Gefühle, und die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen sind im Jahr 2079 bloß noch als Fehlprogrammierung erhalten geblieben.



Sabine Cole (text), Charlie Hebdo (images)


26. Was lehrt uns der Hebdo Hype? Wer in Paris am

14.1.2015, eine Woche nach dem Attentat, die Charlie Hebdo der überlebenden Zeichner erwerben wollte, musste früh aufstehen. Um 5.00 Uhr öffneten die Kioske, 5 Minuten später war der erste Teil der 7 Millionen Ausgabe verkauft. Jeder Käufer durfte nur eine Ausgabe er erwerben, Vorbestellungen wurden nur von Stammkunden angenommen.

Drei Tage später sah es immer noch nicht anders aus. Erst um den 20.1. herum war der Markt einigermaßen gesättigt. Auch in Zeitungsläden an deutschen Flughäfen und Bahnhöfen bildeten sich lange Schlangen schon vor Ladenöffnung. Die wenigen Exemplare waren sofort weg. Bei ebay liegen die Preise für die »100 % Original French survival Issue« zwischen 25 und 30 Euro. Kühlschrankmagneten, Baby Strampler,

Computertaschen und allerhand andere Devotionalien Computertaschen mit dem aktuellen Charlie Hebdo Cover oder »Je suis Charlie« Soli Headline wurden fix produziert und suchen ihre Käufer. Die Ausgabe vom Tag des Anschlags am 7. Januar ersteigerte ein Käufer für 811 Euro. Und für die allererste Ausgabe von Charlie Hebdo kursieren ebay Preise von 200.000 bis zu einer Million. Das Geld können Sie sich sparen, wir drucken hiermit die erste Ausgabe vom 23.11.1970 in Gänze für Sie ab. Ob der Hype pervers oder gerechtfertigt ist, lassen wir dahingestellt. Fest steht: Das Blatt, dessen Existenz seit Jahren bedroht ist, könnte durch den Verkauf der 7 Millionen Auflage einen Gewinn von 8 Millionen Euro erwirtschaften. Und wäre damit vorerst gerettet. Darüber freuen wir uns. In Zeiten, in denen weltweit die Zeitungen sterben. Ganz ohne Attentate.



Judith Stoletzky (text)

27. Interessieren Sie sich für Zeichner, solange sie nochi noch am Leben sind! Man darf auch mal ganz pauschal was

sagen: Engagierte Comiczeichner und Cartoonisten ver verdienen mehr Aufmerksamkeit und zwar schon vor ihrem Tod. Deshalb seien hier herausragende Zeichner aus dem Geburtsland der Aufklärung – und aus dem Geburtsland von Karikatur und Comic – vorgestellt, die mit ihren gezeichneten Darreichungsformen brennendster weltund gesellschaftspolitischer Themen sogar Menschen und Gehirnregionen erreichen, an die herkömmliche Nachrichtenmeldungen nicht herankommen. Die einen zeichnen aktuelle Cartoons für internationale Tageszeitungen, andere erzählen ganze Geschichten in ihren Büchern, von denen es zum Glück einiges auch auf Deutsch gibt, chers amis! Für weiterführende Studien zu gezeichneter und/oder satirischer Weltsicht lebender Cartoonisten sei die Website www.cartooningforpeace.org dringend empfohlen. Der Künstler Plantu, dessen Zeichnungen regelmäßig in Le Monde erscheinen, der aber auch mit Charlie Hebdo zusammengearbeitet hat, gründete sie im Jahr 2006 mit Kofi Anan. Hier kann man nach Namen oder Themen wie Menschenrechtsverletzung, Religion, Meinungsfreiheit oder Frauenrechte sortiert die frischesten Bissigkeiten aus aller Welt beschauen. Auch aus dem Nahen Osten. Sogar über Boko Haram. In einem Interview mit der Libération sagte Plantu, er wünsche sich, dass Redaktionen mutiger sind, dass sie junge Zeichner, engagieren und sie experimentieren lassen. Gerade jetzt sei es noch einfacher geworden, in vorauseilendem Gehorsam bequeme Bilder zu benutzen. vorauseilendem Plantu reist in diesen Tagen nach Pakistan, um befreundete muslimische Cartoonisten zu treffen und die Frage nach Bedrohung stellt er sich nicht. »Ich werde meine Freunde, muslimische Zeichner, wiedertreffen. Ich möchte mit ihnen sprechen. Sie wissen, dass wir Brücken bauen, wo andere spalten. Wie sie mich dazu gebracht haben nach Pakistan zu kommen? Sie müssen mit mir reden. Sie müssen mir mitteilen, was in ihnen vorgeht. Ich werde ihnen zuhören.«

Mana Neyestani Ein iranischer Albtraum. Mana Neyestani gilt als einer der wichtigsten politischen Karikaturisten des Iran – und er hat wegen einer satirischen Zeichnung Jahre im Gefängnis gesessen. Inzwischen lebt er mit seiner Frau in Paris. Er erzählt in seiner Graphic Novel die Geschichte zweier Albträume: die des Albtraums des menschenverachtenden Regimes in seinem Heimatland und die des Albtraums des europäischen Asylwesens. ISBN 978-3-03731-106-6 200 Seiten, schwarzweiss 17 x 24 cm, Klappenbroschur Emanuel Guilbert mit Alain Keler und Frédéric Lemercier Reisen zu den Roma Seit zehn Jahren hat der Fotograf Alain Keler sich ausführlich mit den Roma beschäftigt und sie in ihren armseligen Lagern und Ghettos im Kosovo, in Serbien, in Tschechien und der Slowakei, aber auch in Italien und in Frankreich besucht. Er hat dabei das Elend und die Diskriminierung mit seiner Kamera dokumentiert. Aber es gibt auch wunderbare Bilder voller Lebenslust und Hoffnung. Wie beim erfolgreichen Titel Der Fotograf hat Emmanuel Guibert die Fotos und den Text mit Zeichnungen ergänzt und der Gestalter Frédéric Lemercier alles zu einer eindrucksvollen Geschichte zusammengefügt. (Verlagstext) ISBN 978-3-03731-090-8 88 Seiten, farbig 20 x 27 cm, Hardcover

Baru Elende Helden Baru ist Träger des großen Preises von Angoulême und es gibt Menschen, die den Zeichner der tristesten Tristesse für die Opulenz seinen Geschichten vergöttern. Er stammt aus Lothringen, einem im Untergang begriffenen Industrierevier und dort spielt sich ab, was er zeichnet – im Bodensatz der Gesellschaft, unter entlassenen Sträflingen, Kleinkriminellen, Sans Papiers und selten kommen seine Figuren ohne Gewaltexzesse aus. Das Szenario stammt vom französischen Bestsellerautor Pierre Pelot, der die Vorlage für den Kinothriller »Der Pakt der Wölfe« geschrieben hat. Baru ist kein junges Talent. Er ist um die 60. Aber hierzulande immer noch eine echte Entdeckung und noch längst ist nicht alles ins Deutsche übersetzt. ISBN 978-3-93522-971-5 Edition 52, 96 Seiten farbig Klappenbroschur


Rouven Steinke & Judith Stoletzky (illustration), Sabine Cole (text)

28. Mit Essen zeichnen. Im le petit fer à cheval (das kleine Hufeisen), einem Pariser Bistro im jüdischen Viertel Marais, 30 rue Vieille du Temple, trafen sich gerne die Zeichner um den Charlie HebdoKollegen George Wolinski. Franzosen, Deutsche, Juden, Christen, Muslime und sie lachten, tranken, machten nette, böse und frivole Witze und zeichneten mit allem, was auf dem Tisch stand. Mit Rotwein und dem Kaffeesatz des starken französischen petit noir, sie zeichneten mit Löffeln und Fingern. Jetzt ist Wolinski tot. Und einige seiner Freunde. Wir nehmen uns vor, zu seinen Ehren im le petit fer à cheval eine angemessene Zahl von gut gefüllten Gläsern Rotwein zu kippen, dazu ein, zwei, drei kleine Cafés, und auf die Papierunterlagen zeichnen wir ein paar frivole Männlein und Weiblein. Vielleicht pfeifen wir dabei die Marseillaise.



Lasse Wandschneider (illustration), Anja Müller (text)

29. Promise less do more. An allen Fronten wird derzeit heftig diskutiert, welche Rolle Religionen für das Wohl und Wehe der Welt spielen. Ich möchte Gott, Allah, Jahwe, Shiva und Konsorten noch einen weiteren hinzufügen: Den Shufflegott. Er hat mir die Augen geöffnet, mich sensibilisiert für das Thema Nächstenliebe und somit sicherlich einen besseren Menschen aus mir gemacht. Aber der Reihe nach.

Vor ein paar Jahren schob ich musikversunken im SuperSuper markt den Wagen vor mir her und versuchte mich zwischen gefühlten 50 verschiedenen Müslisorten für die richtige zu entscheiden. Durch meine In-Ear-Kopfhörer In-EarEar Kopfhörer Earwar ich perfekt von der Außenwelt abgeschirmt und genoss die Klänge meiner »zuletzt hinzugefügt«-Playliste. Zwischen den Kühltruhen fiel mir da ein junger Typ auf, der leicht verloren wirkte und eindeutig Blickkontakt suchte. Hilfsbereit, wie ich mir einbildete zu sein, schob ich meinen Wagen Richtung Tiefkühlpizza, entstöpselte linksseitig und fragte ihn ob er etwas Bestimmtes suchte. Doch statt mich nach einer Wegbeschreibung zum Joghurt zu fragen, druckste er in höchst gebrochenem Deutsch hervor, sein Name sei Alain, und ob ich ihm vielleicht helfen könne. Ich erinnere mich heute kaum noch an den Wortlaut, doch nach all den Jahren ist mir immer noch sehr präsent, wie ich mich in dem Moment gefühlt habe: Leicht beklemmt, irgendwie unwohl und ziemlich überrumpelt von der Situation. Wer rechnet schon damit, zwischen Tiefkühlpizza und schockgefrorenem Blattspinat von einem wildfremden Menschen um Hilfe gebeten zu werden?! Ich entschuldigte mich also mit einer fadenscheinigen Begründung, stöpselte mir den linken Hörkanal wieder zu und ging meines Weges, in Richtung SchokoCrunchy. Ein Lied ging zu Ende, und es erklangen die er ersten Takte von Whitest Boy Alive und Erlend Øye sang: »Luck is a gift, but rarely only a random thing. It’s not enough to sit down and wait for a phone to ring«. Moment mal. Ich hielt inne, checkte das Display meines ipods und las den Songtitel. Promise less or do more.

Bäm! Ich ließ den Wagen stehen und fing Alain am Käseregal ab. Worum geht’s denn? Er erklärte mir, dass er erst seit zwei Wochen in Deutschland sei, ein Gastsemester am Krankenhaus mache und in einem Monat einen Aufsatz einreichen müsse, sich aber um die Note sorge – ein Sprachnachweis war zwar Bedingung dafür, dass er nach Deutschland kommen durfte, aber was dort vermerkt war stimme eher nur auf dem Papier und nun hätte er Angst dass er wieder gehen müsse. Ich gab ihm meine E-Mail-Adresse, investierte eine Stunde Arbeit in die Korrektur eines Aufsatzes über Venenerkrankungen und sehe seitdem nicht nur Supermärkte mit anderen Augen. Einige Wochen später in einem Club sprach mich ein Typ auf Englisch an, wo ich herkommen würde. Ich widerwider stand dem ersten Impuls, es als flache Anmache abzutun, antwortete und fragte zurück. Chinonye war aus Nigeria und seit einem halben Jahr in der Stadt, aber es gefiel ihm nicht sonderlich, er sei einsam und vermisse seine Heimat – vor allem das Essen! Mit einem Klick war Kontakt herher gestellt zu einem Nigerianer aus meinem Studiengang, der leidenschaftlich gern kochte. Es gibt so unendlich viele Menschen wie Alain und Chinonye, und endlos viele Chancen, Ihnen mit nur winzigem Aufwand eine Riesenlast von den Schultern zu nehmen! Wie viel schöner wäre unsere Gesellschaft, wenn jeder von uns mit offenen Augen durch den Alltag gehen würwür de, anstatt sich nur um sich selbst zu drehen? Warum fragt man sich nicht viel häufiger: Was sind das eigentlich für Menschen, die mich umgeben? Sehen sie glücklich aus? Und sucht vielleicht jemand von ihnen Hilfe? Den suchenden Blicken von »Fremden«, Menschen die neu sind in unserem Land, wird leider noch viel zu oft ausgewichen. Der könnte ja was wollen, denkt man, und das »was« ist in den Köpfen der »Einheimischen« leider immer noch viel zu oft mit Negativem belegt – der will mir Drogen verkaufen, der will sich an mich ranmachen, der will mir was wegnehmen. Oder auch: Lieber weggucken, sonst fühlt der sich noch angestarrt! Also guckt man gar nicht, noch weniger als man vielleicht gucken würde, wenn einem auf dem Bürgersteig der blonde, weiße Jens entgegenkommt. Dabei ist es so einfach, hinzuschauen, nachzufragen, und mit winzigen Gesten unheimlich viel zu bewirken. Diese Menschen brauchen eine Chance, in unserer Gesellschaft anzukommen! Sie leben hier, mit uns und so viele von ihih nen können unsere Hilfe gebrauchen! Keinem dieser Menschen ist damit geholfen, wenn man in sozialen Netzwerken das »Je »Je suis Charlie«-Statement Charlie«-Statement teilt, einen Zeitungsbericht über Flüchtlingshilfe liked oder in endend losen Gruppendiskussionen für mehr Toleranz argumenargumen tiert. Im Alltag eines jeden Menschen kann kaum etwas soviel bewirken und wird gleichzeitig so reich belohnt wie die Nächstenliebe – dies hat wohl keiner je so wunderbar formuliert wie Goethe, der einst schrieb: »Ich habe das Herz gefühlt, die große Seele in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte.«


Jenni Tietze (drawings), (drawings), (drawings drawings), Judith Stoletzky (text)

30. Warum immer wir. Neuerdings begegnet Jenni Gewer Tietze auf den sonst menschenleeren Straßen des Gewerbegebietes, in dem ihr Atelier liegt, hin und wieder syrischen Flüchtlingen. Sie leben in Containern, die die Stadt Hamburg an diesem Unort für sie aufgestellt hat. In der Woche nach den Pariser Attentaten hat sie sich aus den Tönen, die aus dem Lautsprecher ihres Radios sickerten, ein Bild gemacht – auf Papier mit Füller und mit Schere. »Warum » wir?« war der erste dieser Sätze immer wir?« und nach ihm ist die Serie ihrer Zeichnungen benannt. www.jennitietze.de




artist: Jenni Tietze www.jennitietze.de


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Judith Stoletzky (text)

31. Beim Barte des Propheten Vorurteilen ab-i abschwören. »Beim Barte des Propheten!« So schwört

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man heilige Schwüre. Wer einen Bart hat, greift sich zur Bestärkung beim Schwören ins Gewöll, so geht die muslimische Sitte, und das schickt sich auch für Heiden, Juden oder Christen. In der Türkei hüten rund 1.800 Moscheen einzelne Haare aus dem Bart des Propheten Mohammed als kostbarsten Schatz. Angesichts der Menge mag man Zweifel an der Echtheit der Reliqiuen haben, doch angesichts von ca. 10.000 Haaren pro Bart, und Mohammeds soll beneidenswert dicht gewesen sein, kommt das schon hin. Die Zeiten, in denen sich am Vollbart Eindeutiges über seinen Träger – und da haben wir es auch schon – oder seine Trägerin, ablesen lässt, sind vorbei. Man weiß nie, ob man einen Propheten vor sich hat, weiß nicht, welch Geistes Kind hinter dem Bart steckt, welches Alter, und welcher soziale Status. Herkunft, Religionszugehörigkeit, Intelligenzgrad, noch nicht einmal das Geschlecht, erst recht nicht die sexuelle Orientierung, die modische Informiertheit oder modisches Desinteresse lassen sich ablesen. Noch nicht einmal die Freude an Körperpflege, ob jemand künstkünst lerisches Talent besitzt, und ob er gute oder böse Absichten hegt, oder gar eine Neigung zu pseudoreligiös unterfüttertem Terrorismus kann man aus dem Bart ableiten. Wir tun es aber trotzdem dauernd. Deshalb ist dies ein Aufruf seine eigene Vorurteilsbereitschaft anhand dieses wirklich haarigen Bilderrätsels zu über überprüfen. Stets dabei im Hinterkopf, dass die Dinge ernster sind als sie manchmal scheinen.

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1. Markus ist Userinterfacedesigner und könnte damit für Hacker Attentate zuständig sein, ist er aber nicht 2. Jan ist Fotograf, Sammler von Militaria der US Armee und hat einen Messerfimmel, 3./4. Hendrik ist als Geschäftsführer eher ungefährlich und arbeitet mit dem albanischen Hirten Michael in einer Firma und der ist dort Vorstand von Beruf, 5. Raphael (aus dem hebräischen »Gott hat geheilt«) ist bürgerlich Creative Director, 6. Sebastian ist Texter, trägt schwarz und Bart und Djellaba nur nach einer OP, 7. Hannes verantwortet als Junior Account Manager höchstens Zeilenanschläge.


Plainpicture (photo), Maren Wiegmann (text)

Trip Advisor: Le Parc Buttes-Chaumont belegt Platz 22 unter 635 gelisteten Sehenswürdigkeiten in Paris.

32. Reclaim Buttes-Chaumont. Die Attentäter von Paris wohnten im 19. Arrondissement. Sie trafen sich regelmäßig im Park zum reden und joggen. Was man eben so macht in einem Park. Während andere die Enten im See fütterten, Eisvögel beobachteten, sangen, picknickten, sich auf der schwankenden Brücke kaputtlachten, sich in der Grotte vor dem Wasserfall, der im Sommer so viel Wasser verbraucht wie eine Kleinstadt, ihre Liebe gestanden, steigerten sie sich in ihren unendlichen Hass. Während andere sich über die Ruhe inmitten der hektischen Stadt freuten, eine Zeichnung anfertigten, am Tempel auf dem Berg einen Sonnengruß machten, sich über den schönen warmen Herbst und die wunderschönen Blätter des Japanischen Baumdenk Baumdenkmals freuten, machten sich Said und Chérif Kouachi fit für den Dschihad. Ihre Terror-Gruppe Terror-Gruppe benannten die Brüder Terror nach dem Park, den viele Pariser für den schönsten ihrer Stadt halten: Buttes-Chaumont. Wir lieben diesen Park. Und wir wollen den Namen zurück. Orte können nichts für die Dummheit der Menschen. Die Terroristen bezeichneten den Park als »ihren Park«. Wir sagen »nix da, das ist unser Park«. Le Parc Buttes-Chaumont ist für Pariser, Touristen, für Lover und Jogger, für Maler und Picknicker. Und kein Freiluft-Gym für Terroristen. Nous sommes Buttes-Chaumont.



Sabine Cole (text), Marvin Zilm (photos)

33. Zuhören, auch wenn es schwer fällt. Während der Arbeit zu dieser Ausgabe bekomme ich eine Mail von Marvin Zilm, einem Fotografen und Freund, mit dem ich seit vielen Jahren Geschichten aus und über die ehemalige DDR und die Zeit nach der WieWie dervereinigung mache. »Liebe Sabine, ich muss die ganze Zeit im Zusammenhang mit diesem Pegida Irrsinn an unsere Garagen Geschichte denken und es macht mich total wahnsinnig, dass wir uns dort solchen Schwachsinn anhören mussten und irgendwie gute Miene zum bösen Spiel gemacht haben. Genau diese Menschen würden auch in Dresden mitlaufen und »das muss man ja wohl noch mal sagen dürfen« von sich geben. Mir macht das richtige Angst.« Beim Googlen kommt als erster Treffer ein Reuters Foto, das Pegida Demonstranten einer Dresdner Kundgebung zeigt. Man sieht fünf Menschen und ein Plakat mit der Auf Aufschrift: »Gewaltfrei und vereint gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden: Pegida« tragen. In der Mitte der Gruppe ein älterer Mann mit einem türkisen Anorak, SchnurrSchnurr bart und einer Prinz Heinrich Schiebermütze. Ich weiß was Marvin meint.

Und ich will von der Garagen-Geschichte erzählen. Weil wir nicht nur die Flüchtlinge und Migranten verstehen müssen und deswegen mit ihnen statt über sie reden wollen, sondern wir müssen auch die Deutschen verstehen, die wir auch nicht kennen und mit ihnen statt über sie reden. Das haben Marvin und ich gemacht. Und dabei haben wir immer wieder die Menschen kennengelernt, die jetzt wohl einen erheblichen Teil der Dresdner und Leipziger Demonstranten ausmachen. Karlsburg liegt 20 Kilometer südlich von Greifswald, 50 Kilometer vor der polnischen Grenze. In dem 1300-Seelen Ort gibt es das Klinikum Karlsburg als einzigen stabilen Arbeitgeber in einer Gegend, die mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat. Die Landschaft ist topfeben, die Straßen sind schmal und schnurgerade. Einige der Nachbarorte haben einen alten Kern, eine renovierte Kirche oder ein Rathaus. Aber kein Café, keine Geschäfte, nur selten einen Bankautomaten oder eine Bäckerei.


Jeden Abend hat Herrn Bischoffs Garage in Karlsburg zwischen 17 und 19 Uhr geöffnet, am Wochenende ein bisschen länger. Einen Ruhetag gibt es nicht. Die Garage ist mit unzähligen Fundstücken eingerichtet und auch mit Mobiliar der vielen Kneipen, die im Umland dicht gemacht haben. Das Bier in den Kneipen war nach der Wende einfach zu teuer. 2 Euro. Das konnten sich die Leute hier nicht leisten. Also wurde der Trabi vor die Tür gesetzt und die Garage zur Kneipe. Jeder, der sich ein Getränk nimmt, legt Geld in eine Kasse. Getrunken wird das Billigste. Es geht nicht um Geschmack. Gerahmte Por Porträts an den Wänden ehren die Riege der Staatsratsvor Staatsratsvorsitzenden Ulbricht, Stoph, Honecker, wobei letzterer gleich mit mehreren Bildern vertreten ist. In trauter Eintracht hat sich zwischen die DDR-Größen auch Adolf Hitler gemogelt, in örtlicher Nähe zu einem Karl-Marx-Porträt mit besonders hochwertiger Rahmung. In »Bischis Kneipe« hat jeder seinen Stammplatz. Die Raucher sitzen am rechten Rand, der Chef links neben dem Ofen. Herr Bischoff ist nicht dazu aufgelegt, Fremden Einblick in die Garagengepflogenheiten zu gewähren. Seine Gesichtsfarbe verrät schon im Ruhezustand, dass er in der Lage ist, sich ohne Vor Vorwarnung heftig zu erzürnen. Seine Unterarme, die sich unter eng sitzendem Herrenpullover abzeichnen, er erzählen von der Kraft, die der pensionierte Metzger

immer noch hat. Seit vier Jahrzehnten treffen sich hier die immer gleichen Herrschaften. Zuwachs erhält die Runde nur durch Nachkommen, die ins garagenfähige Alter kommen. Fremde stören die gesellige Runde eigentlich nie. Ein Hotel hat Karlsburg nicht, nur die kleine Pension von Frau Holz, die unterm Dach ein Doppelzimmer anbietet. Aber selbst, wenn einmal ein Feriengast käme, hereinbitten würde man ihn in die Garage nicht. Warum? Stille. »Fremde haben es hier nicht leicht. Nee, ehrlich nicht«, antwortet Herr Bischoff. »Wir Mecklenburger sind nicht nachtragend, wir vergessen aber auch nix«, fügt ein Gast an. Gelächter. In dieser Atmosphäre nach Ausländern oder gar Flüchtlingen zu fragen mutet vollkommen absurd an. Hier ist schon ein Fotograf aus Berlin total exotisch. Und eine Frau kommt sonst auch nie in eine Garage. Journalistin aus der Stadt, um Himmels willen. Die Herren sind begeistert, dass wir Bier aus der Flasche trinken. Das ist hier schon ein Gesprächsthema. Im Jahre 2010.


Bei einer Reportage, die Marvin und ich 2009, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, über die Weiterver Weiterverwendung des alten Grenzzauns gemacht haben, waren die Erfahrungen ähnlich. Im Grenzgebiet der DDR wohnten nur Menschen, die sich unverdächtig ver verhielten. Sie waren zwar weggesperrt, genossen aber Privilegien, die das Leben an der Grenze annehmlich machten. Natürlich nur wenn man nicht rüber wollte. Als die Grenze abgerissen wurde, bauten die Bewohner aus dem qualitativ hochwertigen Natodraht Hühner Hühnerställe. Anhand des verbauten Zauns lässt sich die Grenze immer noch rekonstruieren. Wer hier wohnte, hatte nie etwas mit Fremden, »Politischen« oder »solchen Leuten« zu tun. Der Sozialismus generell sah jeden Besucher aus dem Ausland als potentielle Gefahrenquelle. Wer sich mit den Falschen unterhielt, wurde verpfiffen. Auch das prägt. Die ehemalige Zonengrenze, oder auch das Zonenrandgebiet, war wirtschaftlich eine Un-Zone. Als die Grenze weg war blieb nichts. Das Grenzmuseum in Schlagsdorf dokumentiert das Grauen an der deutsch-deutschen Grenzen. Aber ist auch ein Zuhause für diejenigen, die nach der Grenzöffnung, keinen Halt mehr fanden und sich nach der alten Zeit zurücksehnen. Noch eine Geschichte fällt mir ein. Der Onkel der Hamburger Fotografin Konstanze Habermann war der meist-tätowierteste Mann der DDR. Seine Haut war übersät mit unveränderlichen Kennzeichen der »politischen Gegnerschaft und der gesellschaftlichen Obstruktion«, wie sich die Stasi ausdrückte. Sein er erster Aufstand war ein Anruf beim Bürgermeister: »Hier ist der HJ Führer Himmler, alle abhauen, die Russen kommen.« Da war Klaus Dieter 15. Das Spiel war simpel. Nichts garantierte im Antifa-Staat mehr Aufmerksamkeit als Nazi Sprüche und Symbole. Auf seiner Schulter prangte das Schulterstück des SS-Ober SS-Obersturmbandführers, auf dem linken Augenlid die SS, auf dem Rechten das Hakenkreuz. Mit einer nationalsozialistischen Gesinnung hatte das nichts zu tun. Es war einfach die ultimative Provokation. Auf seinen Arschbacken hatte Klaus Dieter das geteilte Deutschland tätowiert. Eingezeichnet waren seine Haftstationen, darunter stand: »Über kahle Backen weht der Wind, weil wir arme Ostler sind.« Klaus Dieter Habermann wurde vor 20 Jahren, im Sommer 1995, von Jugendlichen erschlagen. Sie waren von dem besof besoffenen, tätowierten Assi genervt, der sie vor seiner Wohnung wegen Ruhestörung zurecht weisen wollte. All das fällt mir ein, wenn ich mir den Mann hinter dem Pegida-Schild in Dresden ansehe. Deutschland hat eine so unfassbar schwierige Geschichte. Wen man Deutschland verstehen will, muss man auch denen zuhören, deren Meinung man verabscheut. Man kann sich darüber lustig machen, dass die Leute in Sachsen, Mecklenburg, der Lausitz, Angst vor Überfremdung haben. Obwohl dort gemessen an den Prozentzahlen im Westen, überhaupt keine Fremden sind. Man kann aber auch versuchen zu begreifen, dass dort in großer Zahl Menschen leben, die nie in ihrem Leben mit einem positiven Bild von Internationalität und anderen Kulturen konfrontiert waren. Man kann nur hoffen, dass die nächsten Generationen bessere Erfahrungen machen. Und dass die Alten langsam weniger werden. Die Politik muss ein anderes Ver Verhalten vorleben und bewusst gegensteuern. Kein Bür Bürgermeister darf einknicken vor den Rechten, weil er Angst vor schlechter Presse hat. Probleme dürfen nicht verniedlicht werden. Aber wer überlegt, seinen nächsten Dresdenbesuch abzusagen, dem empfehle ich: Fahrt extra hin, ihr Menschen aller Farben und For Formen und Präferenzen. Überschwemmt sie mit Alternativen. Geht in ihre Kneipen, redet mit ihnen. Vielleicht gewöhnen sich die Leute endlich daran, wie die Welt heute ist. Was allerdings die anderen auf den Pegida Demonstrationen für Probleme haben, die junge Frau, der Schwar Schwarze mit Strickmütze, der Typ mit schütterem Haar, das müssen wir wohl erst mal herausfinden, Marvin. Marvin Zilm ist Fotograf, kommt aus Karlsburg und lebt seit vielen Jahren in Zürich. Seine große Schwester verliebte sich in den 1980er Jahren in einen Mann aus dem Westen. Ihr Ausreiseantrag führte zu Repressalien gegen die ganze Familie. Marvins Eltern gehören trotzdem zu den Menschen, die ihre innere Unabhängig Unabhängigkeit und Toleranz nie aufgegeben haben. Das prägt.



34. Woran wir glauben. Die Parole Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (französisch Liberté, Égalité, Fraternité) ist der Wahlspruch der heutigen Französischen Republik und der Republik Haiti. Er fußt auf den Losungen der Französischen Revolution 1789. Übersetzt in die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte«, der UN-Menschenrechtscharta vom 10. Dezember 1948 heißt das im Artikel 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.«


Niederlande: 1,9 %

Polen: 5,7 %

Russland: 2,8 %

Türkei: 25,4 %

Ukraine: 1,9 %

Carlo Zapponi (illustration), Peter Matz (text)

35. »Hinterfrage und informiere Dich objektiv, bevori bevor Du eine Meinung vertrittst.« Viel besprochen wird in

diesen Tagen, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht. Streng genommen ist beides richtig oder präzisiert gesagt, in totalen Zahlen gesprochen hat Deutschland einen hohen Anteil an Menschen mit Immigrationshintergrund, allerdings wird dabei folgende Definition gerne übersehen: »Als Mensch mit Migrationshintergrund zählt das Statistische Bundesamt alle, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland mit deutscher Staatsangehörigkeit Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.« Auf der Seite www.peoplemov.in kann man schön nachvollziehen, wie die Ströme der Immigranten und Emigranten verlaufen. Auch wenn Deutschland in absoluten Zahlen auf Platz 2 steht, ist vielmehr der prozentuale Anteil der wichtige Indikator und da rangieren Länder wie Saudi-Arabien, Kanada, Spanien und Kasachstan vor Deutschland.

So gesehen sind viele der Menschen mit Immigrationshintergrund bestens integriert und können keineswegs gemeint sein, wenn es um das Skandieren von rassistischen Äußerungen geht. Auch in Sachen Flüchtlingspolitik oder Asylbewerbern können Zahlen nicht dienen, um eine Bedrohung zu untermalen. Zwar ist Deutschland zahlenmäßig eines der Länder der westlichen Welt, die am meisten Flüchtlinge aufnimmt, auf die Einwohner Einwohnerzahl gesehen, liegt das schwerreiche und riesengroße Malta weit vor uns. Und zu dem viel zitierten Satz, dass Asylbewerber den deutschen Ureinwohnern die Arbeit wegnehmen, sei gesagt, dass diese die ersten 15 Monate von rechtswegen überhaupt gar keine Arbeit ausüben dürfen. Damit sei festgehalten, Deutschland, da geht noch was.

Spanien: 7,7 %

Schweiz: 5,8 %

Türkei: 8,7 %

Großbritannien: 8,5 %

USA: 18,5 %


Österreich: 2,6 %

Bosnien und Herzegowina: 2,3 %

Kroatien: 3,3 %

Griechenland: 4,4 %

Italien: 7,8 %

Deutschland Einwanderer: 13,21 %

Menschen weltweit auf der Flucht in 2013 in Millionen: 51 Zahl der Asylsuchenden 2014 in Deutschland: 202.834 Zahl der Asylsuchenden 2013 in Jordanien: 585.000 Brutto-Inlands-Produkt pro Kopf in Deutschland 2013 in Dollar: 45.087 Brutto-Inlands-Produkt pro Kopf in Jordanien 2013 in Dollar: 5.214 Militärausgaben der Bundesrepublik Deutschland 2013 in Euro: 42 Mrd. Ausgaben zur Erhaltung von Fernstraßen in Deutschland 2013 in Euro: 2,5 Mrd. Ausgaben für Asylbewerberleistungen der Bundesrepublik Deutschland 2013 in Euro: 1,5 Mrd. Durchschnittliche Kosten eines Asylbewerbers in Deutschland im Monat in Euro: 1.300 Betrag davon, der einem Asylbewerber durchschnittlich zur freien Verfügung steht in Euro: 40 Gesetzlich festgeschriebene Dauer des Aufenthalts in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Monaten: 3 Tatsächliche durchschnittliche Dauer des Aufenthalts in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Monaten: 7 Zustehender Platz für einen Schäferhund laut Tierschutz-Verordnung in Quadratmeter: 6 Zustehender Platz für einen Flüchtling in Baden-Württemberg in Quadratmeter: 7 Asylbewerber pro Einwohner in Schweden 2013: 5,7 Asylbewerber pro Einwohner in Malta 2013: 5,3 Asylbewerber pro Einwohner in Deutschland: 1,6 Abgelehnte Asylanträge 2014 in Deutschland in Prozent: 33,4 Anteil der Zuwanderer mit einem tertiären Bildungsabschluss (ISCED Level 5-6) 1995 in Prozent: 20 Anteil der Zuwanderer mit einem tertiären Bildungsabschluss (ISCED Level 5-6) 2011 in Prozent: 41 Anteil der Deutschen, die den Islam als bedrohlich empfinden in Prozent: 57 Anteil der Deutschen, die keinen Kontakt zu Muslimen haben in Prozent: 63 Anteil der in Deutschland lebenden Muslime, die keinen Kontakt zu einer christlichen Konfession haben in Prozent: 8 Anzahl der christlichen Kirchen in Deutschland: 45.600 Anzahl der Moscheen in Deutschland: 2.803 Anzahl der Synagogen in Deutschland: 95 Anzahl der Synagogen in Deutschland 1933: 2.980 Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung 1933 in Prozent: 0,9 Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung 2014 in Prozent: 5 Anteil der Muslime an der Bevölkerung Sachsens 2014 in Prozent: 0,1 Quellen: Statistisches Bundesamt, BAMF, UNHCR, Bundesarchiv Illustration: Carlo Zapponi www.peoplemov.in

Deutschland Auswanderer: 4,3 % Australien: 3,7 %

Österreich: 5,7 %

Kanada: 5,7 %

Frankreich: 4,8 %


Renée Mboya (text)

36. Don’t forget the girls. »Du bist nicht länger in Nigeria; du bist jetzt in einem islamischen Königreich. Hier werden Frauenrechte respektiert im Gegensatz zu Nigeria, wo Frauen dazu da sind zu arbeiten, die Felder zu bestellen, Wasser und Feuerholz zu holen und wo es jede Form der Diskriminierung gibt. Das ist der Grund warum wir christliche Frauen wie euch ret retten. In unserem Islamischen Königreich wird es keine Diskriminierung geben, weil alle Muslime sein werden.« Die Worte eines Kommandeurs von Boko Haram zu einer 19jährigen Mutter, die im Sambisa-Wald in Nord Nigeria im April 2014 für vier Tage festgehalten wurde. 8. Mai 2014, Lagos, Nigeria. Mit jedem Schritt entsteht ein neuer Fußabdruck im Sand, jeder Schritt wirbelt Staub auf. Dutzende von Demonstranten finden sich zusammen, um einhundertsechsundsiebzig Plakate auf frisch geschnittenem Holz zu befestigen. Unter der heißen Sonne von Lagos, durch ein Megaphon über die Köpfe einer angespannten Menschenmasse hinweg, rufen sie die Namen von einhundertsechsundsiebzig (176) Mädchen, die bereits seit einem Monat vermisst werden. Eine Mauer aus Namen wird errichtet um den Falomo Kreisverkehr, unter der Falomo Brücke im Ikovi Viertel von Lagos; ein Denkmal für die Massenentführung, bei der die Boko Haram Miliz vor fast einem Monat ein Mädchenwohnheim stürmte und mehr als dreihundert verängstigte Teenager mit Waffengewalt dazu brachte, ihre Trucks zu besteigen. Wir benennen jedes Mädchen einzeln – ihre Namen füllen die Leere mit Bedeutung, die die reißerischen Zeitungs-Schlagzeilen hinterlassen haben, die nach kurzer Lebensdauer im Papierkorb beim Blumenladen oder in der Fleischerei landeten. Die Mädchen sind schon ein alter Hut. Jinkai Yama. Mariama Abubakar. Talata Daniel. Awa Bitrus. Ihyi Abdu. Rahilla Yahanna. Halima Gamba. Das Weinen und Flehen Ihrer Mütter, Pflegemütter und Mutterfiguren gilt Nigerias ganz eigenem ‘oga at the top’ President Goodluck Jonathan: »Iya yi to – das Leiden ist Zuviel – President, koba wa la ra mu – Präsident, wir haben genug davon.« 14. Juni 2014, Lagos, Nigeria. Die Namen unter der Falomo Brücke sind weg. Zwei Monate nach dem Verschwinden der Mädchen, um 3 Uhr morgens in der stillen Inselluft, taucht eine Kolonne von Polizisten auf, um die Plakate abzunehmen – ein feiger Akt, ausgeführt im Dunkel der Nacht. 31. Januar 2015, ein neues Jahr im Aufruhr. Der Wahlkampf in Nigeria hat begonnen, im Schatten eines weiteren Massakers. Baga (eine Stadt im Nordosten Nigerias, Anm. d. Red.); Anzahl der Toten unbestätigt, fünfunddreißigtausend Haushalte umgesiedelt. Zweihundertzweiundneunzig (292) Tage sind vergangen seit dem Verschwinden der Mädchen. Insgesamt Zweihundertsechsundsiebzig (276) Mädchen wurden entführt. Zweihundertneunzehn (219) bleiben verschwunden. Hier gibt es keine Happy Ends. Boko Haram ist eine gewalttätige Sunnitische Dschihadistengruppierung, gegründet von dem Geistlichen Mohammed Yusuf. Yusuf war noch in den 1990er Jahren Anführer einer Salafistengruppe, die sich nach den Lehren des im 14. Jahrhundert lebenden fundamentalistischen Islamschülers Ibn Taymiyyah gegründet hat. Nach seiner

literarischen Interpretation des Korans tritt er dafür ein, dass die Aspekte westlicher Bildung, die er im Wider Widerspruch zu dieser heiligen Schrift betrachtet, wie die Evolution, die Urknalltheorie sowie Elemente der Chemie und Geographie, verboten werden. Das Hausa (neben englisch Schulsprache in Nigeria, Anm. d. Red.) Wort dafür ist Boko Haram.. Wie bei der Mehrheit der Salafistischen Or Organisationen spielt es auch bei Boko Haram die größte Rolle, was es bedeutet ein guter Muslim zu sein. Dies wird definiert nach der Einhaltung der Glaubensformel, insbesondere der kategorischen Unterscheidung zwischen dem was gesetzmäßig ist (halal), und dem was verboten ist (haram). Boko Haram plant die politische Gemeinde Nordnigerias, welche in ihren Augen durchsetzt ist mit korrupten und falschen Muslimen, zu vertreiben. Anschließend wollen sie eine fundamentalistische Interpretation des Scharia-Gesetzes in ganz Nigeria einführen. Im Jahre 2009 begann Boko Haram offiziell mit der Umsetzung militärischer Operationen zur Erschaffung eines islamischen Staates. Die Gruppe lehnt sämtliche westwest lichen Einflüsse in Afrika ab und hat sich mit einer Vielzahl militanter Organisationen zusammengeschlossen, um die Regierungstruppen in Mali und Nigeria zu bekämpfen. Wie eine zunehmende Zahl von Angriffen auf Bildungsziele belegt, versucht Boko Haram außerdem

Nigeria von westlicher Bildung »zu befreien« und insbesondere Bildung für Mädchen abzuschaffen, deren Pflicht es in ihren Augen ist, zu heiraten und Familien großzuziehen. Boko Haram’s offizieller Name ist Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad was bedeutet »Menschen die sich für die Verbreitung der Lehren des Prophets und für den Dschihad einsetzen.« Yusuf propagierte, dass ein Scharia-Staat »in Nigeria und wenn möglich auf der ganzen Welt eingeführt werden sollte durch das Predigen des Glaubens (dawa)«. Boko Haram hat zum wiederholten Male ihre Loyalität gegenüber Al Quaida versprochen, von denen Osama bin Laden zitiert wird mit den Worten: »Tatsächlich sind Muslime dazu verpflichtet das Land der Ungläubigen zu überfallen, sie zu besetzen, und ihr Regierungssystem auszutauschen gegen ein islamisches System, das keine Chance bietet, Bräuche und Gewohnheiten zuzulassen die verhindern könnten dass die Scharia öffentlich unter den Menschen zum Ausdruck gebracht wird, wie es der Fall war in der Morgendämmerung des Islam.« Meine Einführung in die Welt von Boko Haram ist eine vorsichtige, angelegt in der Wahrheit menschlichen Leidens, oft übersehen wenn Individuen zu zahllosen anonymen Körpern werden. Es passiert, als ich ein Bild des nigerianischen Fotografen Jide Adeniyi-Jones sehe, aufauf genommen in Kano (Stadt in der Sahelregion Nigerias, Anm. d. Red.) Anfang 2012, nachdem Boko Haram eine Serie von Morden durch strategische Bombardierungen und den Beschuss von Staatssicherheitsagenturen in Kano begonnen hatte, die auf muslimische Zivilsten abzielte. Ziel der Aktion war es, die Landesregierung von Kano

Rachel Daniel, hält ein Foto ihrer entführten Tochter Rose Daniel hoch. Neben ihr sitzt ihr Sohn.

dazu zu zwingen, das Verhaften von Boko-Haram-MitBoko-Haram-Mit gliedern zu beenden, die von Maiduguri nach Kano flüchteten. Jide Adeniyi-Jones richtet seine Kamera auf einen schüchternen jungen Soldaten in Militäruniform, Waffe im Anschlag, ein nervöser Finger schon am Abzug. Er sieht noch aus wie ein Teenager, und aus seinen Augen spricht nichts als Angst. An seiner Brust, hervorgezogen und auf seiner Uniform drapiert, hängt ein Kruzifix, welches allein dadurch Bedeutung erlangt, dass der Soldat vor einer Moschee steht. Dieser Junge ist einsam in den Straßen von Kano mitten in einem Aufstand, denn es ist Freitagnachmittag. Er war gekommen, um muslimische Gläubige zu beschützen während sie ihr jumu’ah Gebet sprechen. Diejenigen, die behaupten, dies sei ein Kampf zwischen den Religionen, scheinen sich getäuscht zu haben. Der Boko Haram Aufstand wurde auf fruchtbaren Boden gesät, ausgetragen auf den Rücken von Nigerias Ärmsten. Und das Bemühen des Nigerianischen Staates, den Bedrohungen von Boko Haram etwas entgegenzusetzen scheitert nicht aus Mangel an nationalen Ressourcen sondern aus Unfähigkeit, diese effizient einzusetzen. In den letzten zehn Jahren wurden ca. 1.5 Millionen Menschen von den Aufständischen vertrieben. Bis September 2014 wurden 25 Städte in den Bundesstaaten Yobe, Borno und Adamawa ausgelöscht und Boko Haram hat die Kontrolle über ein Gebiet von über 20.000 km2 im Nordosten Nigerias. Seit zwei Jahrzehnten schon fühlt sich der muslimische Norden Nigerias chronisch ausgegrenzt vom nigerianischen politischen und wirtschaftlichen System, von dem Reichtum aus der Ölproduktion im Südosten und der Industrialisierung in den südwestlichen Regionen. Der Norden Nigerias ist im Durchschnitt dreimal ärmer als der hauptsächlich christliche Süden. Und der Nordosten, das Machtzentrum von Boko Haram, ist das ärmste Gebiet des Nordens. Solche Ungleichheiten haben sich im letzten Jahrzehnt noch verstärkt, das schnelle Wachstum des Staates, die Umweltveränderungen inklusive Wüstenbildung mit dem nahezu komplett verschwundenem Tschad See hatten verheerende Auswirkungen auf die Bundesstaaten Borno und Yobe. Wirtschaftliche Ausgrenzung wurde noch verschärft von der Wahrnehmung christlicher Dominanz in der Politik der letzten drei Amtszeiten. Im Kern geht es in dem Kampf um politische Vorherrschaft und die sich daraus ergebende Kontrolle über Nigerias reich vorhandenen natürlichen Ressourcen. In einem System, das auf Ölproduktion und dem Diebstahl des sich daraus ergebenden Erlöses basiert, wurde sehr wenig in den Norden oder in irgendeine produktive Industrie oder Landwirtschaft investiert, mit der man ErEr nährung und Arbeit für die Bevölkerung hätte sichern können. Konsequenterweise herrscht im Norden die höchste Arbeitslosenquote – eine Tatsache, von der Boko Harams Rekrutierungskampagne stark profitiert hat. Boko Haram’s Gewalt stellt eine ernsthafte Bedrohung dar für die Wahlen, die 2015 in Nigeria stattfinden sollen. Wahlbeobachter haben sich bereits besorgt zur Situation geäußert – im Nordosten, insbesondere in den Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe, in denen Präsident Goodluck Jonathan seit 2013 den Notstand ausgerufen hat, könnte es komplett unmöglich sein, Wahlen abzuhalten. Dies hat den Verdacht geschürt, dass die regierende PDP und Präsident Jonathan, der eine weitere Amtszeit anstrebt, gemeinsam versuchen, Wahlen in den


betreffenden Gebieten zu unterdrücken – Wahlen, die zu einem großen Teil zugunsten der neu gegründeten Oppositionspartei All Progressives Congress (APC) ausfallen könnten. Es wird außerdem befürchtet, dass die Angriffe von Boko Haram eskalieren könnten, um so Wahlen zu verhindern in einem konstitutionellen Staat, in dem ein Kandidat nur erfolgreich gewählt werden kann, wenn ihm „nicht weniger als ein Viertel aller Stimmen aus mindestens zwei Dritteln aller Staaten des Bundes“ zukommen. Die APC hat wiederholt betont, dass sie ein Ergebnis nicht akzeptieren wird, in dem „breite Streifen des Landes und der Bevölkerung entrechtet sind“. Präsident Jonathan hat über die komplizierte Aufgabe, die Nigerianer davon zu überzeugen dass er eine weitere Chance verdient, nach einer Präsidentschaft die dem Boko-Haram-Konflikt mit einer verwirrenden Gleichgültigkeit begegnete.

Martha Mark, die Mutter der entführten Monica Mark, weint als sie das Foto ihrer Tochter hochhält.

Während die Feierlichkeiten zur Wahlkampagne an Geschwindigkeit zunehmen, eskaliert das humanitäre Desaster im Nordosten Nigerias. Die Vertriebenen warten auf die Verteilung von Hilfsmitteln und haben keine Möglichkeit, ihre Ländereien zu bestellen. Eine Hungersnot zeich-

Der Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden, dem der Afrikanischen Sahel-Wüste ist ein Historischer. Es ist ein traditioneller Konflikt quer durch Afrika, wo Bevölkerungsgruppen um die Vorherrschaft kämpfen über fruchtbares Land südlich der alles verschlingenden Sahara. Boko Haram’s Erfolg und eskalierender Einfluss ist in dieser Hinsicht nicht sehr überraschend. Nördliche muslimische, politische Eliten haben seit langem schwelende Schlachten gekämpft mit mehrheitlich christlichen wür Viehhaltern, und es hat sich lange so angefühlt, als würvorden ihre Interessen nur gewahrt in einem Nigeria das vor sichtig zoniert wurde, um die Aufteilung von Staatsmacht er zwischen verschiedensten Ethnien und Regionen zu erlauben, in der fehlerhaften Annahme so ein politisches Realistischer Gleichgewicht aufrechterhalten zu können. Realistischerweise muss jede weitere militärische Eskalation gegen Boko Haram gesichert werden durch die Verpflichtung zu größeren Investitionen in den Norden und Reformen in der Politik, die der Korruption entgegenwirken und darauf abzielen, die Landesregierung und den Sicherheitssektor umzugestalten. Für die Mädchen von Chibok (Stadt im Süden des Bundeslandes Borno, Anm. d. Red.) – und hunderte weitere Frauen und Mädchen, die im letzten Jahrzehnt von Boko Haram verschleppt wurden – war ein weltberühmter #bringbackourgirls) und einige Monate in den #bringbackourgirls Hashtag (#bringbackourgirls) Schlagzeilen alles gewesen sein, was sie vorzeigen können. Das sind die Bilder, die sie zeigen können, wenn es darum geht was ihr Leben so durcheinander gebracht und in vielen Fällen auch beendet hat. Auf lange Sicht wird die Krise in Nigerias Nordosten jedoch höchstwahrscheinlich nicht gelöst ohne einen intensiven Dialog über Reformen in politischen und sicherheitsrelevanten Einrichtungen, über die Beziehung zwischen der Staatsreligion und der Identität und Inklusion der nördlichen Gemeinschaften in Nigerias rasanten Wirtschaftswachstum. Bis dahin wird Nigerias jüngstes Image als Afrikas Musterschüler und die Geschichte der aufstrebenden afrikanischen Supermacht angeschlagen sein – Boko Haram bleibt eine beständige Erinnerung an die Fehlbarkeit des nigerianischen Staates. Die Herausforderungen, die sich aus Boko Haram ergeben, sind auf eine rührende Weise symbolisch für ein aufkommendes Sicherheitsparadigma im heutigen Afrika, wo lokale Missstände sich mit internationalen Ideologien, dem neusten Stand der Technik und erheblichen finanziellen Mitteln vermischen. Für die Mädchen von Chibok und alle anderen, die in den letzten fünfzehn Jahren unter Boko Haram’s Terrorregime

leben mussten, könnte die Lage sich noch deutlich ver verschlimmern, bevor Dinge sich zum Besseren wenden. Und die glitzernden, städtischen Vorbilder Lagos und Abuja könnten bleiben was sie immer gewesen sind für den Nor Norden Nigerias – Illusionen an einem fernen Horizont. Nigeria ist weit weg. Aber der Boko Haram Aufstand ist von so unfassbarer Brutalität, dass wir uns unbedingt damit beschäftigen wollten. Um irgendwie zu verstehen, was da im Nordosten von Nigeria passiert. Diesen Text hat uns die kenianische Autorin Renée Mboya für diese LOVED&FOUND verfasst. Sie wohnte zu der Zeit als die Mädchen von Chibok entführt wurden in Lagos und arbeitete mit an dem Projekt invisible-borders.com. Wir haben in dieser Ausgabe nur einen Text, nämlich diesen hier, der nicht mit einer konkreten Idee verbunden ist, was man tun kann. Die politische Situation ist so kompliziert, Nigeria so korrupt, dass Renée Mboya keine Empfehlung aussprechen mag. Die Nigerian red cross society leistet übermenschliches. Wer helfen will, ist hier an der richtigen Adresse. Renée Mboya lebt und arbeitet in Nairobi, schreibt fiktionale und journalistische Texte und interessiert sich besonders dafür wie physische Räume Erinnerungen bewahren.

Sean »Diddy«Combs (oben) und Jessica Biel (unten) halten diese Schilder hoch, um die Familien der verschleppten Mädchen zu unterstützen

photos: Joe PennyReuters/Corbis, picture alliance/AP Photo, face to face (2), Benedicte Kurzen/NOOR (2)

über net sich bedrohlich ab und die Flüchtlingslager sind überfüllt, bewohnt mit zehnmal so vielen Menschen wie Kapazitäten, und jeden Tag kommen mehr, in einer Region, die alles hat, aber in sich selbst zusammengebrochen ist. Der Einfluss der Krise bleibt nicht unbemerkt im entfernten Lagos, wo als Resultat der Krise in der Kornkammer des Landes die Preise für Obst und Gemüse zunehmend teurer werden. Was in einer Nation, die aus dem Gleichgewicht geraten ist, schnell an die Substanz geht.


Fritzi Van Endert (illustration), Sabine Cole (text), Sara Rybakow (webresearch)

Dinge, die wir alle für Flüchtlinge tun können (und für uns selbst):

37. Sich einen Überblick verschaffen.

Statt vor dem Schlafen noch mal alle Fashionportale nach Sale Produkten zu durchwühlen, kann man auch aus lauter Experimentierlust ganz unverbindlich den eigenen Wohnort oder Stadtteil bei Google reinwerfen und mit den Begriffen »Flüchtlinge helfen« oder »Integration fördern« oder »interkultureller Dialog« oder »Hausauf »Hausaufgabenhilfe« kombinieren. Und los geht’s. Meist hilft es auch schon, die Heimatstadt mit .de zu versehen und bei der Suche-Funktion das Stichwort einzugeben, dem man sich zuwenden möchte. Nach einem Stündchen Gewühle hat man schon eine Idee, was in der Umgebung los ist.

38. Das eigene Rathaus besuchen.

Waren Sie da schon mal? Außer zum Pass abholen? Im Rathaus gibt es Bürger- und Fragestunden zu allen Themen, es gibt Ausschüsse, Pinnwände, Infostände, Infobroschüren, lauter so verrückte Sachen. Was dort gemacht wird nennt sich Kommunalpolitik. Die Politiker hier sind ganz normale Leute. Es schadet nicht, sich das mal anzusehen. Die Autorin dieser Zeilen bekam von dem Fraktionsvorsitzenden einer Partei in einem kleinen Bürgerparlament den Tipp: »Kommen Sie doch mal im Ausschuss vorbei. Da lernen Sie was fürs Leben.« Sie ist dem Aufruf gefolgt und kann nur sagen: Das war nicht übertrieben.

39. Regelmäßig Tageszeitungen lesen.

Große Nachrichtenportale sind prima, aber was in der Nachbarschaft los ist, erfährt man dort nicht. Zeitungen sterben auch ohne Attentate. Man kann also zweifach Gutes tun: Arbeitsplätze retten UND sich umfassend informieren.

40. Sich einfach für ein Hilfsangebot entscheiden.

Es gibt den weisen Spruch: »If you don’t know where to start, start anywhere.« Man kann in der Kleiderkammer aushelfen. Mit Flüchtlingskindern Halma spielen. Die Notunterkünfte vorbereiten. Sachen organisieren.

Spaziergänge anbieten. Wer richtig Zeit hat, kann Patenschaften für Familien übernehmen und ihnen bei den er ersten wichtigen Gängen helfen. Die Kinder in der Schule, im Kindergarten anmelden, einen Arzt suchen, eine Brille organisieren. Wenn man mehr leisten kann, als anfangs gedacht, steigert man sich. Wenn einen der Umgang mit manchmal schwierigen menschlichen Belangen überfor überfordert, sammelt man eben Spenden.

41. Das eigene Netzwerk aktivieren.

Ehrenamtlichen gelingen oft Dinge, die Behörden nicht leisten können. Weil dafür weder Geld noch Zeit da ist und der eherne Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit auch manchem im Weg steht. Z. B. fehlen vielen Flücht Flüchtlingen Zähne. Eine Dame in der Nachbarschaft der Autorin kümmert sich um eine Familie aus Afghanistan. Dem Mann wurden von den Taliban die Zähne ausgeschlagen. Er traute sich nicht mehr zu lachen. Ein Flüchtling hat aber nur Anrecht auf Notfallbehandlung, d. h. der Zahnarzt bekommt Geld dafür, die Zähne, die krumm und schief im Kiefer hängen, zu ziehen. Die Dame hat also ihren Zahnarzt gebeten, dem Mann wenigstens vorne das Gebiss zu richten. Das hat der Zahnarzt natürlich gemacht. Deswegen sind Ärzte Ärzte geworden: Um zu helfen. Das kann der Arzt nicht offiziell und nicht bei jedem machen. Klar. Das Beispiel zeigt aber: Sie können helfen, in dem Sie Sachen möglich machen, die der Staat nicht kann.

42. Mit Facebook Hilfe organisieren.

Facebook eignet sich wunderbar, um sich untereinander abzustimmen, ohne dafür eine Organisationsstelle schaf schaffen zu müssen. Ein tolles Beispiel ist die FB–Gruppe »Die Insel hilft« in Hamburg. Dort organisieren sich Hauptamtliche, Ehrenamtliche und Menschen, die ab Hauptamtliche, und zu mal Zeit zum Helfen haben. Man kann einfach im Newsfeed gucken was gebraucht wird und dann einspringen. Es werden Helfer zum Sortieren bei der Kleiderkammer gesucht oder jemand der schnell mal 5 Kleiderkammer Kinder zum Sportplatz fahren kann. Kindergärten bieten Spielenach mittage an und Informationen, z. B. über Spielenachmittage freie Museumseintritte, oder andere Aktionen werden

ventiliert. Ähnliches tut die »Bürgerinitiative Respekt: Menschen« in Ludwigshafen. Das sind nur zwei von unzähligen Beispielen.

43. »What’s App«-Gruppen sind auch super. 44. Kleidung spenden.

»Du machst doch was mit Flüchtlingen. Ich hab noch Klamotten.« Das ist ein Anfang, aber auch wirklich nur das. Seine abgetragenen Sachen nicht im Keller verrotten zu lassen, versteht sich von selbst. Auch hier hilft die Krake Google. Kleiderkammer + Wohnort und die Sache ist geritzt. Was gerade gebraucht wird, kann man sich denken. Im Winter Warmes, im Sommer die leichten Sachen. Und wenn man schon mal da ist: Die Sachen nicht einfach abgeben, sondern fragen, ob man mal beim Sortieren helfen kann. Und Tüten mitbringen. Tüten, Tüten, Tüten. Die werden wirklich gebraucht.

45. Möbel und Sachen Spenden.

Das gilt vor allem für Orte, in denen Flüchtlinge nicht in zentralen Unterkünften untergebracht werden, sondern über den Ort verteilt in sogenannten »Notunter»Notunter künften«. Das sind Wohnungen in Blocks, Containern, was gerade so leer steht. Schön ist es da nicht. Möbel zum Einrichten gibt es in Einrichtungen wie Sozial Sozialkaufhaus kaufhaus oder Möbelhalle, beim DRK oder der Caritas. Da dürfen Flüchtlinge aber nur einmal »Einkaufen«. Wenn sie dann etwas vergessen haben, Pech gehabt. Meistens fällt erst später auf, was noch fehlt. Und das können Sie orgaWassernisieren. Bieten Sie an, Dinge zu beschaffen. Wasser kocher, Töpfe, Mülleimer, Duschvorhänge, Teppiche. Leute aus dem nahen Osten trauen sich keine Gäste zu empfangen, wenn sie keine Teppiche haben. Mit dem alten Orientteppich von Oma, der bei Mutti noch im Keller liegt, machen Sie Menschen glücklich. Auch hier gilt: Selbst hinbringen.


46. Schulzeug für die Kinder organisieren.

Wie und wann und wieviel Asylbewerber bekommen, hängt vom Bundesland ab. In Schleswig Holstein beispielsweise gibt es nur zwei mal im Jahr einen Gutschein für Schulsachen wie Stifte, Hefte, etc. … Wenn dieser miese Bürgerkrieg sich nicht an die festgelegten Termine hält, hat das Kind Pech gehabt und muss ohne Schreibzeug durchhalten. Beschaffen Sie die Ware, vor allem die Kinder müssen deutsch lernen. In der Schule. Mit Schulranzen und allem Pipapo.

47. Was Sie nicht haben, hat Ebay.

Wenn es an irgendwas mangelt und alle Freunde und Bekannte nichts Entsprechendes haben: Bei Ebay gibt es alles für kleines Geld. Einfach kaufen und spenden. Fertig.

48. Tausche Gurkensalat gegen Tabuleh.

Gehen Sie in ein Flüchtlingsheim. Oder zu der fremden Familie, die nebenan eingezogen ist. Laden Sie eine Familie zum Essen ein. Zu sich nach Hause. Dieses Erlebnis werden Sie nie wieder vergessen. Zusammen essen ist die einfachste Form der Kommunikation. Man hat etwas zu tun, es schmeckt, und alle können einen Beitrag leisten, egal ob gebildet oder Analphabet. Kochen und essen kann (fast) jeder. Hier können Sie außerdem was lernen. Die Gastfreundschaft der Deutschen nimmt sich beschämend mickrig aus gegen das, was Menschen aus dem Orient, dem nahen Osten oder dem Balkan darunter ver verstehen. Sie werden immer großzügig empfangen. Keiner wird Sie während eines kurzen Gesprächs in der halboffenen Tür stehen lassen, wie das Deutsche so gerne tun.

49. Backen Sie einen Kuchen und bringen Sie ihni ihn vorbei.

Wer Angst vor der Sprachbarriere hat: Eine schöne Geste hilft auch.

50. Deutsch vermitteln. Ohne Spracherwerb keine

Integration. Das versteht jeder. Versuchen Sie z. B. mal ein paar Worte Arabisch zu lernen. Dann wissen Sie, welche Monsteraufgabe die Flüchtlinge haben. Leider kann nicht jeder von uns Deutschunterricht geben. Aber eine sehr hilfreiche Unterstützung sind auch Sprachlernmaterialien: - Miteinander: Arabische Ausgabe. Selbstlernkurs Deutsch für Anfänger: 24,95 €. ISBN 978-3-19-209509-2: www.shop.hueber.de/de/ - deutsch rapid. Paket-Deutsch-Arabisch: 19,95 €. ISBN 978-3-19-007494-5: https://shop.hueber.de/de/. - Erste Schritte – Vorkurs: 8,99 €. ISBN 978-3-19-001686-0: https://shop.hueber.de/de/ Ab jetzt wird in den DeutschDeutschkursen mit diesem Lehrbuch gearbeitet. - Visuelles Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache: 9,95 €. ISBN 978-3-8310-9116-4: Ein allgemeines, visuelles Wör Wörterbuch, welches für jeden Flüchtling zu Beginn eine große Hilfe ist.

51. Um den Sprachkurs abzuspielen, braucht mani man einen CD-Spieler. Spenden! 52. Fernsehen schauen.

Auch kein Geheimnis: Sprache lernt man auch durchs zuhören. Wer keine deutschen Freunde hat, muss deutsches Fernsehen gucken. In der wunderbaren Logik der Behör Behörden gibt es in vielen Notunterkünften keine Hausantenne oder Kabelanschlüsse. »Die bleiben ja nicht lang.« DVBT-Antenne und TV-Gerät spenden.

53. Wohnraum zur Verfügung stellen.

In dieser Ausgabe finden sich zwei Geschichten zu diesem sehr wichtigen Thema. Wohnen ist vielleicht das größte Problem im Spannungsfeld Integration. Wer inmitten der Mehrheitsgesellschaft wohnt, lernt seine Gesellschaft schnell kennen. Wer am Rand einer Stadt in einem Industriegebiet in Containern haust wird vielleicht über Monate keine Deutschen sehen, geschweige denn kennenler kennenlernen. Viele Asylbewerber haben selbst dann kaum eine Chance eine Wohnung zu finden, wenn Sie eine Aufent Aufenthaltserlaubnis haben. Vermieter fürchten die Sprachbarriere und haben die diffuse Angst, eine Familie aus Afghanistan (nur so zum Beispiel) würde eine Wohnung schneller »verwohnen« als eine deutsche Familie. Warum? Weil sie beim Kochen andere Gewürze benutzen? Dieser Aufruf geht an die zahlreichen Vermieter, Immobilienbesitzer und Wohnungsverwalter, die wir zu unserer begeisterten Leserschaft zählen. Machen Sie einen Anfang!

54. Holen Sie die Menschen in ihre Vereine.

Sport ist auch deshalb so großartig, weil man wenige Sprachkenntnisse braucht, um zu verstehen, was der Trainer will. Holen Sie mindestens die Kinder UND auch die Erwachsenen in ihre Mannschaften. Kein Verein wird einen Beitrag verlangen. Wenn doch, verlassen Sie diesen Haufen von Geizkrägen. Sportvereine wissen um ihre

gesellschaftliche Verantwortung und freuen sich um jeden Neuzugang. Eine Ausrüstung ist schnell organisiert. Und Sie werden stolz wie Bolle sein, wenn Ihr Schützling das erste Tor schießt. Wenn er oder sie besser ist, dann wird es erst richtig lustig.

55. Hobbys verbinden.

Diskussionskreise sind schwierig, aber sobald es um Tätigkeiten geht, für die man Hände und Füße braucht: Wo ist das Problem? Heutzutage sind doch Handarbeiten das Mega-Ding. Diese Frauen mit den Kopftüchern und den goldenen Zähnen: Vielleicht können die Ihnen noch was beibringen. Das sind oft sehr lebenslustige, starke und tolle Frauen. Sie werden sich wundern.

56. Mobilität ermöglichen.

Ein Fahrrad gehört nicht zur Grundausstattung eines Asylbewerbers. Aber mit einem Fahrrad ist man mobil. Nicht nur um von A nach B zu kommen, sondern auch, um die Umgebung kennenzulernen, rumzustreunern, zum Training zu fahren, zur Schule, Freunde zu besuchen. Lassen Sie ihre alten Räder nicht einfach im Keller stehen oder gar an der Straße verrosten. Für Flüchtlinge sind Räder DIE absolute Kostbarkeit. Bringen Sie die Räder zu den Menschen, für Kinder den Helm nicht ver vergessen, und immer daran denken, dass das Zweirad auch ein Schloss braucht. Ein Asylbewerber bekommt so um die 40 Euro pro Monat. Davon kann man sich kein Fahr Fahrrad und auch kein Schloss kaufen.

20 Adressen zum Helfen und Mitmachen:

57. Sprachbrücke Hamburg

www.sprachbruecke-hamburg.de

58. Deutschkurse für Asylbewerber

www.bamf.de

59. FLUCHTort Hamburg Plus

www.fluchtort-hamburg.de Die Bundesregierung unterstützt mit dem Programm er erwachsene und jugendliche Flüchtlinge, die geduldet sind oder unter das Bleiberecht fallen.

60. Ausbildung statt Abschiebung

www.asa-bonn.org AsA setzt sich dafür ein, dass junge Flüchtlinge eine Ar Arbeitserlaubnis für die Zeit einer Berufsausbildung in Deutschland erhalten.

61. Brot und Rosen – Leben mit Gästen

www.brot-und-rosen.de Im »Haus der Gastfreundschaft« werden Menschen unabhängig von ihrem sozialrechtlichen Status und ohne bürokratische Hürden aufgenommen.

62. Helfen in München

www.refugio-muenchen.de Hier werden ehrenamtlicher Mentoren für Flüchtlinge vermittelt, um das Chaos nach dem Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung zu lindern.

63. Yoga für Flüchtlinge

www.projektyoga.com www.sandhiyoga.com

64. Freudentanz – das grenzenlose Tanzprojekt

www.freudentanz.net Freudentanz fördert das Miteinander zwischen deutschen, ausländischen und behinderten Kindern.

65. Cuisine Sans Frontières

www.cuisinesansfrontieres.ch/de/home Cuisine sans frontières realisiert international Projekte der Esskultur wie beispielsweise Gemeinschaftsküchen, Gaststätten oder interkulturelle Zentren.

66. Ein Hotel für Asylbewerber und Touristen

www.grandhotel-cosmopolis.org/de Das Grandhotel Cosmopolis ist ein gesellschaftliches Gesamtkunstwerk im Augsburger Domviertel und setzt Akzente für ein friedliches Zusammenleben in der modernen Stadtgesellschaft.

67. XENION

www.xenion.org/de Ein psychotherapeutisches Beratungs- und Behandlungszentrum in Berlin für traumarisierte Flüchtlinge und Überlebende von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.

68. Kinder Fluchtpunkt

www.kinderfluchtpunkt.de Fluchtpunkt hat sich zum Ziel gesetzt für die Verfolgten eine Anerkennung als politische Flüchtlinge zu erreichen, für »geduldete« Familien eine würdige Lebensperspek Lebensperspektive durch einen festen Aufenthaltstitel zu erlangen und für Menschen ohne Papiere Möglichkeiten einer Legalisierung zu prüfen und Hilfsmöglichkeiten zu suchen.

69. Refugio Stuttgart

www.refugio-stuttgart.de Ein gemeinnütziger Verein, der sich die Beratung und Behandlung von Folterüberlebenden zur Aufgabe macht.

70. Do it!

www.do-it-transfer.de Ehrenamtliche Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

71. Wie kann ich helfen?

www.wie-kann-ich-helfen.info Das bundesweit erste Infoportal für Hilfsprojekte und -initiativen für Flüchtlinge in Deutschland.

72. Zentrum für Flüchtlingshilfe und Migrationsdienste

www.migrationsdienste.org Das Zentrum für Flüchtlingshilfen und Migrationsdienste (zfm) arbeitet seit vielen Jahren in der psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten in Berlin.

73. Willkommen in Deutschland

www.bamf.de/DE/Willkommen/willkommen-node.html Eine Auflistung an Informationen und Tipps sowie Telefonnummern und Kontaktadressen. Das Angebot soll helfen sich schnell in Deutschland zu Hause zu fühlen.

74. Düsseldorf stellt sich quer

www.stay-duesseldorf.de Im »Café united« werden Kinder und Jugendliche mit unsicherem Aufenthaltsstatus zu unterstützt, um ihnen eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen.

75. Freezone

www.freezone-mannheim.de Obdachlosigkeit ist immer auch ein Immigranten Problem. Die Mannheimer Freezone ist eine Anlaufstelle für Jugendliche und junge Erwachsene, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben.

76. Verein für kulturelle Förderung von Kindern und Jugendlichen durch HipHop

www.deluxekidz.de Gründer des Vereins ist Samy Deluxe, erfolgreicher deutscher Hip-Hop Künstler, der sich seit Jahren in ver verschiedenen sozialen Projekten für Kinder und Jugendliche einsetzt.

77. Friedensdorf International

www.friedensdorf.de Der Verein Friedensdorf International fährt in die Krisengebiete der Welt und bringt Kinder nach Deutschland, die dringend medizinische Hilfe benötigen. Die Armut in ihrer Heimat kann für sie den Tod bedeuten, die Zeit in Deutschland heißt für sie Leben. Mit Ihrer Hilfe.

Zum Schluss noch drei sehr wichtige Spendenadressen:

78. Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge

www.drk.de/angebote/hilfen-in-der-not/traumatisiertefluechtlinge.html Vermittlung von Therapieangeboten für Opfer von Folter, Krieg und Gewalt

79. Träger des Friedensnobelpreis

www.aerzte-ohne-grenzen.de Ärzte ohne Grenzen leistet medizinische Hilfe für Menschen in Not, wenn durch Krisen die lokalen Gesundheitsstrukturen nicht mehr greifen.

80. Kinder retten, die nicht fliehen können

www.sos-kinderdoerfer.de Zur Zeit gibt es in Syrien zwei SOS-Kinderdörfer, zwei SOS-Jugendeinrichtungen, ein SOS-Sozialzentrum und ein SOS-Nothilfeprogramm.


no 1 Sie haben die Pflicht, Ihren Horizont zu erweitern! / no 2 Hinter Zahlen stehen Schicksale. no 3 »Fremde sind Freunde, die wir nicht kennen.« / no 4 Engagieren Sie sich in Hamburg-Bahrenfeld. no 5 Flüchtlinge brauchen Wohnungen statt Unterkünfte. / no 6 Das wollen wir nie wieder hören. no 7 Die Anderen, das sind wir. / no 8 Zieh mit Gott, Allah und Jahwe in ein Haus. no 9 Vermiete dein WG Zimmer an einen Flüchtling. / no 10 Lachen Sie! Das sind Sie „Charlie Hebdo“ schuldig. no 11 Über Rassismus lachen. / no 12 Wage es, weise zu sein. / no 13 Mit Kunst die Radikalen stoppen. / no 14 Seid lieb! no 15 All you need is love. / no 16 Frieden muss man leben. / no 17 Der Gefahr ins Auge sehen. no 18 Über Politik diskutieren in der Kneipe Facebook. / no 19 Mit Filmen die Welt verändern. / no 20 Lernen fürs Leben. no 21 »Nie aufhören zu kämpfen.« / no 22 Drop words not bombs. / no 23 Be a tourist not a terrorist. no 24 Helfen Sie Ihren Landsleuten und werden Sie Polizist! / no 25 Sich eine menschlichere Zukunft ausmalen. no 26 Was lehrt uns der Hebdo Hype? / no27 Interessieren Sie sich für Zeichner, solange sie noch am Leben sind! no 28 Mit Essen zeichnen. / no 29 Promise less do more. / no 30 Warum immer wir. no 31 Beim Barte des Propheten Vorurteilen abschwören. / no 32 Reclaim Buttes-Chaumont. no 33 Zuhören, auch wenn es schwer fällt. / no 34 Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit. no 35 »Hinterfrage und informiere Dich objektiv, bevor Du eine Meinung vertrittst.« / no 36 Don’t forget the girls. no 37 Sich einen Überblick verschaffen. / no38 Das eigene Rathaus besuchen. / no 39 Regelmäßig Tageszeitung lesen. no 40 Sich einfach für ein Hilfsangebot entscheiden. / no 41 Das eigene Netzwerk aktivieren. no 42 Mit Facebook Hilfe organisieren. / no 43 »What’s App«-Gruppen sind auch super. / no 44 Kleidung spenden. no 45 Möbel und Sachen spenden. / no 46 Schulzeug für Kinder organisieren. / no 47 Was Sie nicht haben, hat Ebay. no 48 Tausche Gurkensalat gegen Tabuleh. / no 49 Backen Sie einen Kuchen und bringen Sie ihn vorbei. no 50 Deutsch vermitteln. / no 51 Um den Sprachkurs abzuspielen, braucht man einen CD-Player. Spenden! no 52 Fernsehen schauen. / no 53 Wohnraum zur Verfügung stellen. / no 54 Holen Sie die Menschen in Ihre Vereine. no 55 Hobbys verbinden. / no 56 Mobilität ermöglichen. / no 57 Sprachbrücke Hamburg / no 58 Deutschkurse für Asylbewerber no 59 FLUCHTort HamburgPlus no 60 Ausbildung statt Abschiebung / no 61 Brot und Rosen – Leben mit Gästen no 62 Helfen in München / no 63 Yoga für Flüchtlinge / no 64 Freudentanz – das grenzenlose Tanzprojekt no 65 Cuisine Sans Frontières / no 66 Ein Hotel für Asylbewerber und Touristen / no 67 XENION / no 68 Kinder Fluchtpunkt no 69 Refugio Stuttgart / no 70 Do it! / no 71 Wie kann ich helfen? / no 72 Zentrum für Flüchtlingshilfe und Migrationsdienste no 73 Willkommen in Deutschland / no 74 Düsseldorf stellt sich quer / no 75 Freezone no 76 Verein für kulturelle Förderung von Kindern und Jugendlichen durch HipHop / no 77 Friedensdorf International no 78 Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge / no79 Träger des Friedensnobelpreis no 80 Kinder retten, die nicht fliehen können

&FOUND_DINGE, &FOUND_ DINGE, DIE WIR TUN KÖNNEN.


Publisher loved gmbh, ein Unternehmen der thjnk Agenturgruppe, tel. +49-40- 800 04 86 -0, Brandstwiete 46, fax. +49-40- 800 04 86 -99, 20457 Hamburg, info@loved.de info@loved.de, www.loved.de, www.lovedandfound.de Managing Director Mieke Haase (MH), Michael Jacobs (MJ), Peter Matz (PM) Editors-in-Chief Sabine Cole, Judith Stoletzky (JUS, Dep.) Creative Director Mieke Haase (MH) Art Direction Imke Jurok, Ruben Scupin (RUS, Dep.) Project Manager Ava Carstens (AC) Writers Martina Behrens, Eva Bolhoefer, Sabine Cole, Ava Carstens, David Fedele, Nicoline Haas, Mathias Jahn, Mosch Khanedani, Hans-Hermann Kotte, Peter Matz, Renée Mboya, Patrick Morda, Anja Müller, Tino Oac, Sara Rybakow, Sandrine Siregar, Judith Stoletzky, Penélope Toro, Klaus Peter Wehde, Maren Wiegmann, Ilker Yilmazalp Photo Editor Anja Kneller (AK), ak@loved.de Photographer Anna Bauer, Konstanze Habermann, Signe Mähler, Kevin McElvaney, Thies Rätzke, Jan van Endert, Marvin Zilm Illustrator / Cartoonist / Artist Kim Arendt, Inga Detlow, Kai Flemming, Julia-Christin Holtz, Imke Jurok, Julia Kerschbaum, Andrea Rukundo Lefort, Joanna Catherine Schröder, Sandrine Siregar, Rouven Steinke, Judith Stoletzky, Jenni Tietze, Fritzi van Endert, Lasse Wandschneider, Sandra Wittwer, Carlo Zapponi Layout Kim Arendt (KA), Dominique Brodel (DB), Inga Detlow (ID), Patricia Hoffmeister (PAH), Mareike Holst (MAH), Julia-Christin Holtz (JCH), Julia Kerschbaum (JUK), Alexandra Michels (AM), Sandrine Siregar loved gmbh, tel. +49-40- 800 04 86 -0, Brandstwiete 46, fax. +49-40- 800 04 86 -99 20457 Hamburg, www.loved.de Responsible for the contents of this issue Sabine Cole, Peter Matz Contributors Mustafa Ali, Lija Darjes, Mathias Döpfner, Karl Epple, Sylvie Fozzani, Hendrik Heine, Karen Heumann, Hüseyin Inak, Michael Jacobs, Haznain Kazim, Melanie Keledjian, Diether Kerner, Hannes Krümmel, Kete Link, Kuehn Malvezzi, Ingeborg Manecke, Naht.m.guel.management (Management Susi Kentikian), Markus Ölhafen, Hannes Petersen, Finn Reddig, Raphael Schills, Henrik Schmidt, Ute Scupin, Philipp Stamer, Sebastian Storck, Jan Strahl, Jörg Steinmetz, Michael Trautmann, Ilker Yilmazalp Helping hands Elisabeth Einhaus, Natascha Elter, Angela Kehr, Jasmin Röse Production Hilko Wiegmann, Manuel Caliebe (Dep.) Yeah! Print-Production Schulz + Co Professional Production Services GmbH, Mühlenkamp 6c, tel. +49-40-271 505-5.22303 Hamburg, fax. +49-40-271 505-333, www.schulz-und-co.de Print & Processing Kurierverlags GmbH & Co.KG, Friedrich-Engels-Ring 29, 17033 Neubrandenburg, Tel. 0395/4575-0, gf@nordkurier.de Distribution Ava Carstens, Brandstwiete 46, tel. +49-40- 800 04 86 -44, 20457 Hamburg © für alle Beiträge bei loved gmbh. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung. Für verloren gegangene und unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und andere Arbeiten wird keine Haftung übernommen. Die Meinung, die in den Texten wiedergegeben wird, ist die der Autoren und nicht zwingend die des Verlags.





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