Bernard Lietaer - Mysterium Geld PDF Buch Download

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N VERLAG ONE EARTH SPIRIT


eld, so betont Bernard A. Lietaer, ist keine fixe Größe, sondern eine

Übereinkunft. Es sind die kollektiven Emotionen einer Gesellschaft, die das Geldsystem formen. Damit bricht er ein Tabu, denn die westliche Welt, und allen voran ihre Finanzleute, halten Geld für eine gleichsam naturgegebene Selbstver¬ ständlichkeit. ufbauend auf Carl Gustav Jungs Konzept der Archetypen legt Lie¬ taer den emotionalen Ursprung unseres Geldsystems frei. Der Archetyp der Großen Mutter, das Symbol für Natur, Fruchtbarkeit und Überfluß, wurde in den letzten 500 Jahren gewaltsam unter¬ drückt. Als Schattenwesen dieser Großen Mutter tauchen die Phänomene Gier und Angst vor Knappheit auf. Die Angst vor Knappheit erzeugt Gier, und die Gier wiederum bewirkt, daß die Angst vor Knappheit wohl begründet ist. Es handelt sich somit um eine sich selbst erfüllende

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Prophezeiung. ietaers Buch

gewährt nicht nur

erhellende Einblicke in die Wir¬ kungsweise von Geldsystemen. Es ist viel¬ mehr eine spannende und aufregende Reise zu den großen Mythen der Mensch¬ heitsgeschichte. Dieser unkonventionelle Ansatz, der die emotionale Dimension des Geldes ins Bewußtsein ruft, läßt un¬ sere Finanzsysteme in einem völlig neuen

Licht erscheinen: Die Heiligkeit des Geldes ist nicht unantastbar. Es liegt an uns, eine Entscheidung zu treffen und die Natur unseres Geldes zu verändern. Bildnachweis: Oliver Schmauch

Umschlaggestaltung: Network! München

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ernard A. Lietaer hatte über 25 Jahre verschiedene Positionen im Geld- und Finanzwesen inne, die sich üblicherweise eher ausschließen: Er war Zentralbankier und professioneller Währungsspekulant, Berater von multi¬ nationalen Konzernen wie von Regie¬ rungen in Entwicklungsländern, er war Universitätsprofessor für internationales Finanzwesen und Präsident eines elektro¬ nischen Zahlungssystems. n führender Stelle in der Bel¬ gischen Zentralbank zeichnete er verantwortlich für die Einführung des ECU, des Konvergenzmechanismus, der zur europäischen Einheitswährung führ¬ te. In seiner Funktion als Geschäfts¬ führer und Währungshändler eines der

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erfolgreichsten Offshore-Währungsfonds (1989- 92) kürte ihn „Business Week" zum Top-Welt-Währungshändler. eine Bücher „Das Geld der Zu¬ kunft" (Riemann Verlag, Oktober 1999) sowie „Mysterium Geld" entstan¬ den während eines Forschungsauftrags am Institute for Sustainable Resources an der Universität Berkeley und einer Gast¬

professur für archetypische Psychologie an der Sonoma State University in Kali¬ fornien.


A.

Mysterium Geld Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus

Aus dem Amerikanischen von Heike Schlauerer, VerlagsService Mihr

Riemann


BERNARD A. LIETAER

Mysterium Geld Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus

Aus dem Amerikanischen von Heike Schlauerer, VerlagsService Mihr

Riemann


BERNARD A. LIETAER

Mysterium Geld Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus

Aus dem Amerikanischen von Heike Schlauerer, VerlagsService Mihr

Riemann


Inhalt

ii

Vorwort

Teil I

Archetypen und Geld

15

Zentrale Ideen von Teil I

17

Kapitel 1 Die Sprache der Archetypen

20

Konzepte der kollektiven Psychologie

21

Archetypen

22

Schatten

25

Yin, Yang und Jung

28

Der Schatten ist nicht der Feind

30

Eine Karte der menschlichen Psyche

32

Kapitel 2 Der Fall des verschwundenen Archetyps

38

Die Große Mutter

40

Der Archetyp der Großen Mutter und frühe Währungssysteme

45

Eine Defmition des Geldes

46

Vieh - das erste Betriebsmittel

47

Die allgegenwärtige Kauri-Muschel

....

53

5


Andere »primitive« Währungen

55

Frühe Münzen

57

Die Unterdrückung der Großen Mutter

..

61

Indogermanische Invasionen

63

Die mesopotamische Kultur

66

Die griechische Kultur

67

Das Judentum

68

Das Christentum

70

Männliche Helden und die Unterdrückung des Weiblichen

79

Ausnahmen: Historische Nischen des Kultes um die Große Mutter

83

Die unterdrückte Große Mutter

und das Währungssystem

86

Kapitel 3 Der archetypische Mensch

89

Geschlechts- und Yin-Yang-Energien

90

Der archetypische Mensch und die materielle Welt

92

Die archetypische Fünf

94

6

Die Schatten des archetypischen Menschen

96

Schatten-Resonanz

99

Fazit

99


Teil II Währungssysteme und Archetypen

103

Zentrale Ideen von Teil II

105

Kapitel 4 Die Untersuchung von Spekulationsphasen mit Hilfe des Magiers

111

Das Boom-Bust-Phänomen

113

Die Reaktion des Staates

117

Die Reaktion der Wirtschaftsexperten

119

Der Homo oeconomicus

120

Leugnung

121

Erklärungen der

Wirtschaftswissenschaft

Ein archetypischer Ansatz

122 128

Die Bedeutung von Mythen

128

Das Apollo-Dionysos-Paar

129

Die Bedeutung des Apollo-Dionysos-Mythos heute

142

Kapitel 5 Ein Fallbeispiel aus dem Hochmittelalter

146

Eine Verbindung zwischen den Währungen

149

Demurrage im Mittelalter

149

Demurrage in Ägypten

153

Ja und?

155

Die Spur der Schwarzen Madonna

156

Welche Bedeutung hat sie für uns Heutige?

157

Esoterik versus Exoterik

159

Warum ist sie schwarz?

162 7


Die Verbindung nach Ägypten

Wirtschaftliche Auswirkungen im mittelalterlichen Europa - die »erste europäische Renaissance«

171

172

Liegegebühren - der unsichtbare Motor?

173

Wirtschaftswachstum Eine Renaissance für das Volk durch das Volk? . . . Eine »halbe Renaissance« für Frauen

175

181

Die Zeit der Kathedralen

195

Expansives

Wie alles ein Ende fand

184

201

Der Rückschlag im fahr 1300

201

Die Auswirkungen auf die Bevölkerung

204

Wie es zur Geldknappheit kam

212

Schlußfolgerung aus einem Finanzexperiment

215

unbewußten

Kapitel 6 Ein Fallbeispiel aus dem alten Ägypten

216

Die ägyptische Wirtschaft

216

Der Isis-Kult

222

Die ägyptische Frau

225

Eheverträge

226

Rechtliche Stellung

229

Herrscherinnen

230

Frauenberufe

231

Ein griechisch-römisches Ende

237

Die Suche nach Gemeinsamkeiten ....

240

8

Die Bedeutung für heute

241

Ein Programm fiir die Forschung

244


Teil III Warum jetzt?

247

Die wichtigsten Thesen aus dem Geld der Zukunft

248

Kapitel 7 Das heutige Geld und die Große Mutter

252

»Yang«-Währungen

252

Die Entwicklung des Geldes im archetypischen Schema

256

Der archetypische Mensch und das System der Iÿndeswährungen

259

Geld als Informationsreplikator

261

Einige positive Folgen

262

Negative Folgen

263

Psychologische Folgen

264

Die Stärkung des »dominatorischen Prinzips«,

Konsumdenken und Fundamentalismus

265

Fazit

268

Kapitel 8 Wo stehen wir heute?

270

Die Entwicklung des Bewußtseins

271

....

271

Die Integration Gebsers in die archetypische Entwicklung ....

274

Das Werk von Jean Gebser

Eine Lektion über 30000 Jahre

archetypischer Geschichte Und heute?

....

277 283 9


Die Traditionalisten

284

Die Modemisten

285

Die kulturell Kreativen

286

Ein archetypisches Schema der drei Subkulturen

293

Zurück zum Geld

298

Die Bedeutung unserer Krise

303

Kapitel 9 Unsere Zukunft, unser Geld

305

Die Stimme des Herrschers: Eine Magna Charta für die Zukunft

306

Die Stimme des Magiers:

Eine Aktualisierung des archetypischen Vokabulars

309

....

314

Die Stimme des Liebhabers: Eine Einladung Die Stimme des Kriegers: 2020VISA

316

Die Stimme der Großen Mutter: Ein Märchen aus der Zukunft

321

Epilog

331

Anhang A: Ein kurzes Glossar

335

Anhang B: Anmerkungen

340

10


Vorwort

Warum hat Geld einen so großen Einfluß in der heutigen Welt? Warum löst es bei den meisten Menschen so starke und wider¬ sprüchliche Gefühle aus? Und warum werden unsere angeblich so rationalen Finanzmärkte regelmäßig von außergewöhnlich irra¬ tionalen und destruktiven Hysterien und Krisen geschüttelt? Während ich an einem Manuskript für denselben Verlag arbeite¬ te - Das Geld der Zukunft1 - wurde mir bewußt, daß diese wichti¬ gen Fragen zum Thema Geld selten aufgegriffen werden und ein eigenes Buch verdienen. Hier möchte ich Sie zu einer Reise einladen, bei der Sie den Schlüssel zum Verständnis der wichtigsten Emotionen kennenlernen, die unserem Währungssystem zugrun¬ de liegen und es zu einem so mächtigen Druckmittel in unserer Gesellschaft machen. Die Lektüre dieses Buches ist eine Reise in unsere Köpfe, bei der uns eines der letzten Tabus der westlichen Gesellschaft vor Augen geführt wird: unser Geld. Es ist gefährlich, ein Tabu anzutasten. Wer die Schattenseiten einer Gesellschaft aufzeigt, riskiert damit, viele Menschen zu verärgern. Eine Arbeit über Geld, die Gefühle und Archetypen behandelt, ist ziemlich un¬ gewöhnlich. Warum also ein Buch, das sich mit dem Tabu des Gel¬ des befaßt und die damit verbundenen kollektiven Gefühle unter¬ sucht? Um wirklich zu verstehen, wie Geld die Gesellschaft »von außen« formt, müssen wir noch weiter gehen und untersuchen, welche Verbindungen dazu »in uns« entstehen, in unserer eigenen Psyche. Denn dort verbirgt sich schließlich der Motor, der uns vor¬ antreibt. Im Buch Das Geld der Zukunft sagte ich, daß das Informations¬ zeitalter nicht nur die Form des Geldes (d. h. E-Cash, Smart Cards 11


usw.) und seine geographische Verbreitung (Euro) grundlegend

verändert hat und noch weiter verändern wird, sondern auch das eigentliche Konzept des Geldes (wer es emittiert, zu welchem Zweck, welche Gefühle es auslöst und welche sozialen Verhaltens¬ weisen es fördert). Diese Entwicklung ist bereits in Gang, denn et¬ wa 2500 Gemeinschaften verwenden inzwischen ihre eigenen lo¬ kalen Währungssysteme. Dabei handelt es sich keineswegs um ei¬ nen Ersatz für die konventionellen Landeswährungen, sondern sie ergänzen diese. Man kann damit Probleme angehen, bei deren Lö¬ sung sich das herkömmliche Geld bis dato als nutzlos erwies. Mit den lokalen Währungssystemen wird im Idealfall das Gemein¬ schaftsgefühl gestärkt, sinnvolle Arbeit geschaffen, die ökologi¬ sche Nachhaltigkeit gefördert und die Altenpflege in einer zuneh¬ mend älter werdenden Gesellschaft verbessert werden. Ich kam zu dem Schluß, daß - wenn die besten Modelle syste¬ matisch angewandt werden - solche Währungsinnovationen ei¬ nen »nachhaltigen Wohlstand« innerhalb einer Generation er¬ möglichen. Der nachhaltige Wohlstand wurde als Prozeß defi¬ niert, bei dem die Menschheit die Gelegenheit zu einer materiel¬ len, emotionalen und spirituellen Weiterentwicklung und Blüte erhält, ohne die Ressourcen der Zukunft zu vergeuden. Allerdings blieb eine zentrale Frage unbeantwortet: Sollten die derzeitigen Währungsinnovationen als kurzlebige Mode abgetan werden, oder sind sie die ersten Anzeichen für einen grundlegen¬ den Wandel in der Natur des Geldes? Warum sollte der Wandel ge¬ rade jetzt eintreten? Wenn wir abschätzen wollen, ob ein grundlegender Wandel un¬ seres Währungssystems überhaupt denkbar ist, müssen wir uns zunächst mit den folgenden Fragen auseinandersetzen: •Woher stammt das Verlangen oder Bedürfnis nach einem derar¬ tigen Währungssystem? •Sind Gier und Knappheit ein fester Bestandteil der menschli¬ chen Natur und der materiellen Realität, wie es die Wirtschafts¬ wissenschaft und unser Schulwissen behaupten? Oder könnte es sein, daß unser derzeitiges Währungssystem genau diese kollck12


tiven Empfindungen der Gier und der Furcht vor Knappheit schafft und verstärkt? •Warum ist Geld ein Tabuthema? •Kurz gesagt: Wo liegt der Ursprung der emotionalen Dimension des Geldes, und wie sieht ihr Mechanismus aus?

Nur wenn wir uns bewußt werden, wie Geld unsere kollektiven Empfindungen formt - bzw. wie kollektive Empfindungen die Wahl unserer Währungssysteme beeinflussen können wir mei¬ ner Meinung nach eine bewußte Wahl bei den Währungssystemen für die Zukunft treffen. In einer Zeit, in der Europa sich auf ein neues Währungssystem (den Euro) einläßt, in der Finanzkrisen die Volkswirtschaften ganzer Kontinente ins Wanken bringen und in der unsere Fixierung auf kurzfristige finanzielle Erfolge das Über¬ leben der Menschheit bedrohen kann, hängt von der bewußten Wahl unserer Währungssysteme so viel ab wie noch nie zuvor. Die Untersuchung von Währungssystemen aus der Perspektive des kollektiven Unbewußten ist neu. Daher ist das Material, das hier vorgestellt wird, noch im Entstehen begriffen, eine erste vor¬ sichtige Sondierung des Prozesses. Ich möchte betonen, daß dieses Buch mehr als ein Erkundungsgang und nicht als schlüssiger Be¬ weis meiner Thesen betrachtet werden sollte. Die Arbeit bietet die bisher entdeckten Belege an und lädt dazu ein, Methoden zu defi¬ nieren, mit denen wir die Hypothese bestätigen oder widerlegen können. Bernard A. Lietaer Steyerberg, im Juli 1999

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Teil I

Archetypen und Geld

»Es ist wesentlich schwieriger, seinen Weg in der Welt zu finden als darüber hinaus.« Wallace Stevens

»Das Königreich liegt in euch und vor euch. Thomas-Evangelium Aber ihr seht es nicht.«2

Teil I bietet Ihnen alle notwendigen Werkzeuge für dieses Buch. Zuerst müssen wir uns auf die Sprache einigen, mit der wir unsere kollektiven Gefühle beschreiben können: die Sprache der Ar¬ chetypen. Dann wollen wir anhand einer historischen Detektiv¬ geschichte herausfinden, was mit dem Archetyp geschah, mit dem unser Geld am engsten verbunden ist. Schließlich legen wir ein ar¬ chetypisches Schema an, das auf möglichst einfache Art das weite Feld der menschlichen Gefühle darstellt. Der hier vorgestellte Ansatz wird auch erklären, wie die drei großen Tabus der westlichen Gesellschaft - Sex, Tod und Geld - Zu¬ sammenhängen und warum wir nicht überrascht sein sollten, daß sie sich gemeinsam in der modernen Welt entwickelten. Aus dem¬ selben Grund werden alle drei jetzt innerhalb einer Generation in Frage gestellt. Das Schema des archetypischen Menschen wird später in Teil II anhand von historischen Belegen -aus dem europäischen Mittelalter und dem Ägypten der Pharaonen - überprüft. Die Währungs¬ systeme beider Kulturen stammen aus einer Zeit, in welcher der Archetyp der Großen Mutter geehrt wurde. Sie weisen einige un¬ gewöhnliche Gemeinsamkeiten auf, die unserem System diame¬ tral entgegengesetzt sind. 15


In Teil III schließlich wird die Gültigkeit des Schemas vom arche¬ typischen Menschen anhand einiger aktueller Fragen in Zusam¬ menhang mit unserer gegenwärtigen Währungssituation hinter¬ fragt. Wir untersuchen, welche Auswirkungen es hat, daß der Schatten der Großen Mutter in unser bestehendes Währungssy¬ stem integriert ist. Außerdem befassen wir uns mit der Frage, ob es tatsächlich Trends gibt, die auf eine grundlegende Änderung in unserem Wertesystem hindeuten.

Kästen und Abbildungen Kästen wie dieser bieten zusätzliche Einblicke oder bemerkenswerte Anekdoten als Ergänzung zum Haupttext. Gelegentlich finden Sie hier auch Resümees bzw. Übersichten. Das Buch bietet außerdem zahlreiche Abbildungen, die einen Kom¬ mentar parallel zum Text enthalten. Der Grund dafür liegt darin, daß die Sprache, die zur Beschreibung der kollektiven Empfindungen ver¬ wendet wird, die der Archetypen ist, und Archetypen sind in erster Li¬ nie Bilder. Die Assoziation von Text und Bildern wendet zudem das an, was im Buch vorgeschlagen wird: die Informationen der rechten und linken Gehirnhälfte, unserer beiden komplementären Informationssy¬ steme, zu integrieren.

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Zentrale Ideen von Teil I

»Geld ist einzigartig. Neben der Liebe ist es die größte Freude des Menschen. Und zusammen mit dem Tod macht es ihm am meisten angst.«

John Kenneth Galbraith »Der Geist erfindet die Welt, Und leugnet dann alles.«

David Bohrn

Die westliche Gesellschaft ist von drei wesentlichen Tabus geprägt: Sex, Tod und Geld. Jahrhundertelang wurden diese Themen in »besserer Gesellschaft« nicht angesprochen. Die sexuelle Revoluti¬ on in den 60er Jahren machte das erste Thema gesellschaftsfähig. in den 80er Jahren wurden wir durch Aids gezwungen, uns mit dem l'od in Zusammenhang mit Sex auseinanderzusetzen und dar¬ über sogar mit unseren Kindern zu sprechen. Dieses Buch will nun das letzte Tabu angehen: das Geld. Das Tabu des Geldes existiert sowohl auf der persönlichen als auch auf der kollektiven Ebene. Es gilt als »unanständig«, jeman¬ den zu fragen, wieviel Geld er besitzt oder woher er es hat. Darüber hinaus besteht eine bemerkenswert weit verbreitete Unkenntnis darüber, wie unser Geld aus dem Nichts geschaffen wird. Auch daß die Währungsform, die wir zur Zeit verwenden, eine bestimmte kollektive und individuelle Programmierung bewirkt oder daß Ge¬ fühle und Verhalten überhaupt durch Geld programmiert werden, ist nur wenigen bekannt. Was kann ein Fisch über die Natur des Wassers wissen? Er kann es nicht begreifen, weil er darin schwimmt, darin lebt, weil ihn das Wasser ganz und gar umgibt. Er muß herausspringen, um es zu 17


sehen. Ähnlich wie in dieser Metapher verhält es sich mit unserer Einstellung gegenüber dem Geld. Geld ist nicht greifbar, es ist eine Übereinkunft in einer Gemein¬ schaft, etwas als Tauschmittel zu verwenden. Verschiedene Kultu¬ ren benutzten eine unglaubliche Vielfalt an Gegenständen oder Konventionen als Geld. Dennoch hielt jeder sein eigenes Wäh¬ rungssystem stets für selbstverständlich. Wir haben es übernom¬ men und hinterfragten es nie. Das ist auch heute noch der Fall, selbst bei den meisten Wirtschaftswissenschaftlern und Finanz¬ experten. Anders ausgedrückt handelt es sich bei Geld um eine un¬ bewußte Vereinbarung. Wir »schwimmen« darin. Daher müssen wir uns auf der Suche nach dem Ursprung der mit Geld verbun¬ denen Gefühle mit dem kollektiven Unbewußten einer Gesell¬ schaft befassen. Die Arbeit von C. G. Jung und seinen Schülern auf dem Gebiet der Archetypenpsychologie bietet uns ein fundiertes und aner¬ kanntes konzeptuelles Rahmenwerk zur Untersuchung des kollek¬ tiven Unbewußten. Mit dieser Methode werden wir erkennen, daß ein Währungssystem ein wichtiges Spiegelbild der Art und Weise ist, wie eine Gesellschaft die materielle1 Welt wahrnimmt und vor allem mit dem Weiblichen umgeht. In Gesellschaften, in denen das Weibliche nicht unterdrückt wurde, unterlagen Sex, Tod und Geld auch keinem Tabu, wie es in der modernen Welt der Fall ist. Wurde das Weibliche dagegen nie¬ dergehalten, verschwanden diese Themen aus dem Blickfeld. Wie Jung es ausdrückte, erscheint in unserem Leben als Schicksal, was wir nicht ins Bewußtsein rufen können. Daher sind wir in unserer Welt »vom Schicksal dazu verdammt«, daß unser Dasein von Emo¬ tionen gesteuert wird, die um diese drei Themen kreisen. Bezeich¬ nenderweise handelt es sich bei Sex, Tod und Geld um die drei Hauptattribute eines einzigen Archetyps: der »Großen Mutter«. Sie wurde in der westlichen Geschichte jahrtausendelang unter¬ drückt. Ich behaupte, daß wir diese abgetrennten Energien in unser Be¬ wußtsein reintegrieren müssen, um wieder »ganz« zu sein, also 18


persönlich und kollektiv gesund zu werden. Bei dem Versuch, Licht in unser Verhältnis zum Geld zu bringen, verfolgt dieses Buch denn auch letztlich das Ziel, Geld dadurch zu unserem »Die¬ ner« zu machen, anstatt es weiterhin als unseren »Herrn« zu er¬ dulden.

Zu Anfang müssen wir uns jedoch mit den Mitteln unserer Un¬ tersuchungsmethode vertraut machen - mit der Sprache der Ar¬ chetypen und ihrer Bedeutung für das Geld.

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Kapitel 1

Die Sprache der Archetypen

»Der Traum, den man alleine träumt, ist nur ein Traum. Doch der Traum, den wir gemeinsam Yoko Ono träumen, ist Realität.« »Das gefährlichste Tier der Welt.« Schild unter einem Spiegel in einem Zoo

Wir gehen davon aus, daß die in einer Gesellschaft verwendete Währungsform ein Spiegelbild des kollektiven Unbewußten dieser Gesellschaft ist. Die Untersuchung der unbewußten Dimension des Geldes ist kein müßiger Zeitvertreib. Selbst erfahrene Psycho¬ logen scheinen dieses Problem für sich selbst nicht immer gelöst zu haben (s. Kasten). Wenn wir diese emotionalen Mechanismen offenlegen, trägt das hoffentlich dazu bei, uns von dem »Schicksal« zu befreien, das Jung für alles prophezeit, was wir im Unbewußten vergraben ha¬ ben. Daher müssen wir herausfinden, wie und warum unser Währungssystem uns an der Nase hemmführt und an Orte bringt, an die niemand bewußt hinwill. Kapitel 1 bietet eine Synthese des Vokabulars, das wir für die Un¬ tersuchung dieser Dimension des Geldes brauchen. Die beste Me¬ thode zur Erforschung des kollektiven Unbewußten bietet bisher die archetypische Psychologie. Wir werden zwei Konzepte ken¬ nenlernen: Archetypen und Schatten. Sie erklären, wie Menschen dazu neigen, sich auf bestimmte vorhersehbare Art zu fühlen und zu verhalten. Mit den Archetypen und Schatten als Bausteinen können wir ein Schema erstellen, das zeigt, wie sich Menschen nor¬ malerweise zueinander und gegenüber ihrer Umwelt verhalten. 20


Konzepte der kollektiven Psychologie Pionier auf dem Feld der archetypischen Psychologie war C.G. Jung. Weiterentwickelt wurde diese Disziplin von Wissenschaft¬ lern wie Erich Neumann, Joseph Campbell, Jolande Jacobi, Edward Edinger, Christine Downing und Jean Shinoda Bohlen. James Hill¬ man begründete schließlich offiziell eine Schule der ArchetypenPsychologie.6 Zu den bekannteren Anwendungen der Jungschen kollektiven Psychologie gehören die Vorhersage des Faschismus in Europa, den Jung in den 20er Jahren kommen sah, oder die pro¬ phetische Beschreibung der Dynamik, die dem kalten Krieg zu¬ grunde lag. Für unsere Zwecke müssen wir jedoch nur zwei Schlüs¬ selkonzepte begreifen: »Archetypen« und »Schatten«, die im fol¬ genden definiert werden.

Psychologen und Geld Freud setzte Geld mit Exkrementen gleich. Allerdings »ist es nicht so klar, daß die Gebühr für die Psychoanalyse, diese Säule der Freudschen Analyse, klinisch so selbstverständlich war, wie es der Begründer vor¬ gab«.4 Bei einer Umfrage unter amerikanischen Psychiatern wurde nach dem größten beruflichen Tabu in der Beziehung zu den Patienten gefragt. Es war nicht »die Preisgabe von vertraulichen Patienteninformationen« und auch nicht »die sexuelle Beziehung zu Patienten«. Das größte Ta¬ bu war, »Patienten Geld zu leihen«. »Geld ist so tief und weit wie der Ozean, das ursprüngliche Unbe¬ wußte ... Wenn Sie Vorstellungskraft bei sich oder einem Patienten fin¬ den wollen, müssen Sie sich nur mit Verhaltensweisen und Phantasien rund um das Geld befassen. Sie werden sich beide schnell in der Un¬ terwelt wiederfinden (zu deren Eintritt man Charon Geld bezahlen muß) ... Daß wir die Geldfrage in der Analyse nicht klären können, weist Geld als einen Weg aus, mit dem die Vorstellungskraft unsere Seelen phantasieren läßt. Wer die Seele des modernen Mannes und der modernen Frau finden will, muß bei den unauslöschlich peinlichen Fakten des Geldkomplexes nachforschen, jener verrückten Krabbe, die am Boden stiller Ozeane entlangtrippelt.«5

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Archetypen Meine Arbeitsdefinition von Archetypen ist einfach: Ein Archetyp ist ein wiederkehrendes Bild, das die Gefühle und das Verhalten des Menschen strukturiert. Ein Archetyp läßt sich unabhängig von Zeit und Kultur beobachten. Wichtig ist in dem Zusammenhang, daß wir mit dieser Defini¬ tion nicht alle Lehrsätze des Jungschen psychologischen Systems akzeptieren müssen (der Kasten enthält einige klassische Defini¬ tionen im Sinne Jungs).7 Dennoch ist der archetypische Wort¬ schatz nützlich zur Beschreibung von Verhaltensmustern. Auch das Verhältnis der Menschen untereinander sowie zwischen Mensch und Umwelt läßt sich so besser ausdrücken.

Klassische Definitionen des Archetyps Archetypen »sind eher Metaphern als Dinge ... Alle Beschreibungen für Archetypen sind Metaphern, die mit anderen Metaphern übersetzt werden ... Ein Aspekt ist allerdings für den Begriff des Archetyps un¬ verzichtbar: ihr emotional besitzergreifender Effekt, die Blendung des Bewußtseins.«8 Einige eigene Metaphern Jungs in diesem Bereich verdeutlichen das: •»Archetypen sind eben wie Flußbetten, die das Wasser verlassen hat, die es aber nach unbestimmt langer Zeit wieder auffinden kann. Ein Archetypus ist etwas wie ein alter Stromlauf, in welchem die Wasser des Lebens lange flössen und sich tief eingegraben haben. Und je län¬ ger sie diese Richtung behielten, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie früher oder später wieder dorthin zurückkehren.«9 •»Archetypen sind Erlebniskomplexe, die schicksalsmäßig eintreten, und zwar beginnt ihr Wirken in unserem persönlichen Leben. Die Anima tritt uns nicht mehr als Göttin entgegen, sondern unter Um¬ ständen als unser allerpersönlichstes Mißverständnis, oder unser be¬ stes Wagnis. Wenn zum Beispiel ein alter, hochverdienter Gelehrter noch mit siebzig Jahren seine Familie stehenläßt und eine zwanzig¬ jährige, rothaarige Schauspielerin heiratet, dann -wissen wir- haben sich die Götter wieder ein Opfer geholt.«10 •»Archetypen sind für die Seele das, was die Instinkte für den Körper sind.« 11

22


Ich betrachte den Prozeß, durch den Archetypen eine Rolle in der Entwicklung des Menschen spielen, ähnlich wie der Historiker Ar¬ nold Toynbee: als Teil einer kulturellen Strategie, auf kollektive hi¬ storische Herausforderungen reagieren zu können, indem man die emotionale Dimension des Lebens organisiert. Es gibt Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Archetypen. Jede mythologische Figur beschreibt beispielsweise einen Ar¬ chetyp. Alle unsere überlieferten Geschichten enthalten derartige Urbilder. So erkannte etwa Joseph Campbell den »Heros in tausend Gestalten«12 als eine universale und grundlegende Geschichte. Dieser Held findet sich bei den Sumerern (Gilgamesch) und Grie¬ chen (Herakles), im Mittelalter (Galahad, Gawain oder jeder an¬ dere »Ritter in schimmernder Rüstung«), als »Superman« bei den Amerikanern oder als eine Figur, die nur Amazonasindianer ken¬ nen. »Die Heldenmythen variieren im Detail außerordentlich, aber ihre Strukturen sind einander sehr ähnlich. Das heißt, sie ha¬ ben ein universelles Muster, obgleich sie von Gruppen oder Indi¬ viduen entwickelt wurden, die keinen direkten kulturellen Kon¬ takt miteinander hatten - zum Beispiel von afrikanischen Neger¬ oder nordamerikanischen Indianerstämmen, von den Griechen oder den peruanischen Inkas. Man hört immer wieder Geschich¬ ten, die die wunderbare, wenn auch armselige Geburt eines Hel¬ den beschreiben, die frühen Anzeichen seiner übermenschlichen Stärke, seinen raschen Aufstieg zu Ansehen oder Macht, seinen siegreichen Kampf mit den Mächten des Bösen, seine Anfälligkeit für die Sünde des Stolzes (Hybris) und seinen Sturz durch Verrat oder durch ein >heldenhaftes< Opfer, das mit seinem Tod endet.«13 Andere Archetypen sind genauso universal. Die biblischen Figu¬ ren des Königs Salomo und der Königin von Saba (s. Abb.) verkör¬ pern beispielsweise den Archetyp des weisen Herrschers. Romeo und Julia oder das Leben Marilyn Monroes stehen für die tragisch Liebenden. ln unseren Träumen besuchen wir alle regelmäßig das Reich der Archetypen. In der Reklame, im Wahlkampf und in Hollywoodfil¬ men benutzt man sie, um bei den Rezipienten bestimmte Gefüh23


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König Salomo und die Königin von Saba. Beide repräsentieren den Archetyp des Herrschers. (Buntglasfenster aus der Canterbury Cathedral, 13. Jahrhundert; Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

Si le zu wecken oder Verhaltensweisen auszulösen. Jede Geschichte in den Medien, die »die Phantasie der Massen beflügelt«, enthält unweigerlich zahlreiche Archetypen. Die Tatsache, daß über eine Milliarde Menschen auf der ganzen Welt unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit das Begräbnis von Prinzessin Diana am Bildschirm verfolgten, zeigt die archetypische Natur des Märchens von der tragischen Prinzessin. Geschichten, die die Aufmerksam¬ keit einer ganzen Nation fesseln, deuten auf Aspekte des kollekti¬ ven Unbewußten der entsprechenden Kultur hin - beispielsweise weist die Faszination, mit der die amerikanische Öffentlichkeit den Prozeß von O.J. Simpson verfolgte, auf eine Wunde in der amerikanischen Geschichte hin: auf den Rassenkonflikt. Die Me¬ dienhysterie angesichts der sexuellen Eskapaden des amerikani¬ schen Präsidenten wirft ein Licht auf den Schatten der Unter¬ drückung des Sexuellen in einer puritanischen Kultur. C. G. Jung erklärte: »Alle stärksten Ideen und Vorstellungen der Menschheit gehen auf Archetypen zurück. Besonders deutlich ist dies bei religiösen Vorstellungen der Fall. Aber auch wissenschaft¬ liche, philosophische und moralische Zentralbegriffe machen da¬ von keine Ausnahme. Sie sind in ihrer gegenwärtigen Form durch bewußte Anwendung und Anpassung entstandene Varianten der Urvorstellungen, denn es ist die Funktion des Bewußtseins, nicht 24


nur die Welt des Äußeren durch die Sinnespforten aufzunehmen und zu erkennen, sondern auch die Welt des Inneren schöpferisch in das Außen zu übersetzen.«14 Dieses Buch will zeigen, daß das Währungssystem jeder Gesell¬ schaft - auch unserer eigenen - ebenfalls eine Methode ist, »die Welt des inneren in das Außen zu übersetzen«, d. h. größtenteils unbewußte archetypische Kräfte auf die sichtbare Realität zu pro¬ jizieren bzw. ihr aufzuzwingen.

Schatten Neben den Archetypen brauchen wir zur Erkundung des kollekti¬ ven Unbewußten des Geldes noch ein weiteres Konzept, nämlich den Begriff des »Schattens«. Dieses Konzept hat seinen Ursprung in einem Traum, den Jung in seiner Autobiographie beschreibt (s. Kasten).

Jungs »Schattentraum«15 »Es war Nacht an einem unbekannten Ort, und ich kam nur mühsam voran gegen einen mächtigen Sturmwind. Zudem herrschte dichter Nebel. Ich hielt und schützte mit beiden Händen ein kleines Licht, das jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Es hing aber alles davon ab, daß ich dieses Lichtlein am Leben erhielt. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß etwas mir nachfolgte. Ich schaute zurück und sah eine riesengroße schwarze Gestalt, die hinter mir herkam ... Als ich erwachte, war es mir sofort klar: Es ist mein eigener Schatten auf den wirbelnden Nebel¬ schwaden, verursacht durch das kleine Licht, das ich vor mir trug. Ich wußte auch, daß das Lichtlein mein Bewußtsein war; es ist das einzige Licht, das ich habe.«

Ich definiere einen Schatten als die Art, in der sich ein Archetyp manifestiert, wenn er unterdrückt wird.16 Archetypen und Schat¬ ten ist gemeinsam, daß sie Menschen dazu veranlassen, sich auf bestimmte, vorhersehbare Weise zu verhalten. Am einfachsten versteht man die Verbindung zwischen einem Archetyp und seinen Schatten anhand eines Beispiels: Der Ar25


chetyp, der das Höhere Selbst verkörpert, ist der Herrscher, darge¬ stellt durch den König für Männer oder die Königin für Frauen. Wenn jemand aus irgendeinem Grund sein Höheres Selbst - also den Herrscher im Inneren - unterdrückt, neigt er zum Verhalten eines Tyrannen oder eines Schwächlings, den beiden Schatten des Herrschers.17 Der Tyrann besitzt ein Übermaß der Gefühls- und Verhaltensattribute eines normalen Herrschers, der Schwächling dagegen weist ein Defizit dieser Eigenschaften auf. Es gibt immer eine direkte Beziehung der Angst zwischen den beiden Schatten ei¬ nes Archetyps. Ein Tyrann fürchtet sich, Schwäche zu zeigen, und ein Schwächling fürchtet sich, tyrannisch zu wirken. Darüber hinaus ist bekannt, daß man nur ein wenig an der Ober¬ fläche eines Tyrannen kratzen muß, um einen Schwächling zu fin¬ den. Ungekehrt wird ein schwacher Mensch, wenn er Macht über jemand anderen hat, oft zum Tyrannen. Abb. 1 verdeutlicht diese Beziehung graphisch. Angst

Tyrann Schatten

4-

>

Schwächling Schatten

7

Herrscher (König/Königin)

Abb. 1: Der Archetyp des Herrschers und seine beiden Schatten18

Das Schaubild zeigt für den Fall des Herrschers das »Aufspalten« ei¬ ner archetypischen Energie, das eintritt, wenn eine Angst verin¬ nerlicht wird. Graphisch ist dargestellt, daß sich ein Archetyp, der in einer Einzelperson oder in einer Gesellschaft unterdrückt wird, 26


in Form seiner Schatten manifestiert. Die Aufspaltung in polare Schatten kann bei jedem Archetyp stattfinden. Der Krieger bei¬ spielsweise hat den Sadisten und den Masochisten als Schatten.

Der unterdrückte Liebhaber wird abhängig oder impotent. In allen Fällen sind die beiden Schatten die zwei Seiten ein und derselben Münze, die eine Seite exzessiv, die andere ohne die notwendige Energie des Archetyps selbst. Alle Schatten haben die Angst vor der anderen Polarität gemeinsam. So ist beispielsweise die Angst vor Impotenz die treibende Kraft, die jemanden abhängig von Sex macht. C.G. Jung weist darauf hin, daß der moderne, rational denken¬ de Mensch dazu neigt, die Macht archaischer Symbole und Ar¬ chetypen zu verneinen. »... es ist töricht, sie einfach abzutun, nur weil sie, rational betrachtet, bedeutungslos erscheinen. Sie sind wichtige Bestandteile unserer geistigen Struktur und lebenswichti¬ ge Kräfte im Aufbau der menschlichen Gesellschaft, sie können nicht ohne ernsten Schaden ausgerottet werden. Wo man sie un¬ terdrückt oder vernachlässigt, da verschwindet ihre spezifische Energie mit unberechenbaren Folgen ins Unbewußte. Die psychi¬ sche Energie, die auf diese Weise verlorengegangen zu sein scheint, dient in Wirklichkeit dazu, das, was im Unbewußten zuoberst liegt, wieder zu beleben und zu intensivieren - Tendenzen viel¬ leicht, die bis dahin keine Gelegenheit gehabt hatten, sich auszu¬ drücken, oder denen wenigstens eine unbehinderte Existenz in unserem Bewußtsein nicht gestattet war. Solche Tendenzen bilden einen immer gegenwärtigen und potentiell zerstörerischen >Schatten< unseres Bewußtseins. Selbst Tendenzen, die unter Umständen einen positiven Einfluß ausüben könnten, werden in Dämonen verwandelt, wenn man sie unterdrückt. Deshalb haben viele Leu¬ te verständlicherweise Angst vor dem Unbewußten und gleichzei¬ tig vor der Psychologie.«19 Auf diese Weise hat uns die Hypothese eines hyperrationalen Wirtschaftsmenschen, die all unseren Wirtschaftstheorien zu¬ grunde liegt, blind gemacht gegenüber dem Prozeß, mit dem Geld unsere kollektiven Gefühle programmiert. Das Geheimnis der »ir27


rationalen« Spekulationsphasen, die regelmäßig auch die fundier¬ testen Finanzmärkte erschüttern, wird später mit diesem über¬ mäßigen Vertrauen in die totale Rationalität erklärt.

Yin, Yang und Jung Das Schema der beiden polaren Schatten wird von mir mit dem jahrhundertealten Konzept von Yin-Yang verknüpft. In diesem Kontext bezieht sich Yin-Yang u.a. auf die Polaritäten Zusam¬ menarbeit-Rivalität, egalitär-hierarchisch, intuitiv-logisch, weib¬ lich-männlich usw. Der Nutzen dieses Konzepts zeigt sich deutli¬ cher, wenn das archetypische Schema verallgemeinert wird (Kapi¬ tel 3), wenn es zur Unterscheidung verschiedener Währungssyste¬ me in der Geschichte benutzt wird (Kapitel 6 und 7) oder im Zusammenhang mit anderen Währungssystemen, die derzeit wie¬ der entstehen (Kapitel 8). Hier soll zunächst das Yin-Yang-Konzept ausdrücklich20 in das Schema der Jungschen Theorie der Schatten integriert werden, wie es in Abb.2 dargestellt wird. Es zeigt, daß die zwei Schatten eine Polarität bilden, wobei der Tyrann unter taoistischen Gesichts¬ punkten eine »übermäßige Yang-Abweichung« vom Archetyp ist, wohingegen der Schwächling ein »übermäßiges Yin-Ungleichgewicht« aufweist. Psychologen beziehen sich auf denselben Prozeß, wenn sie sagen, daß die archetypische Energie im ersten Fall das Ich »aufbläht« und im zweiten Fall das Ich »schwächt«. Das Bewußtsein kann als ein persönliches Theater gesehen wer¬ den, in dem das Ich (d. h. die bewußte Wahrnehmung des Selbst), das persönliche Unbewußte und die kollektiven Archetypen ihre entsprechenden Rollen spielen. Da sich das Ich der anderen Dar¬ steller nicht bewußt ist, lebt es normalerweise mit der Illusion, daß es allein verantwortlich ist und nach seinem eigenen »freien Wil¬ len« handelt. Solange jemand allerdings Angst vor einem Schatten hat, verharrt das Ich im allgemeinen auf der angstdiktierten Ach¬ se zwischen den beiden Schatten und lebt unweigerlich einen da¬ von aus. Kurz gesagt, ein Ich, das nicht gelernt hat, wie man rich¬ tig mit dem Schatten eines Archetyps umgeht und sich ihm 28


nähert, wird von diesem Schatten besessen. In Abb.2 wird dies anhand des Archetyps des Herrschers und seiner Schatten darge¬ stellt. Angst Tyrann

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(Yang-Schatten)

Schwächling (Yin-Schatten)

O Ich

Herrscher (König/Königin)

Abb. 2: Das Ich mit dem Archetyp des Herrschers und seiner Yin-Yang-Schatten

Wer bei einem Schatten verharrt, zieht normalerweise automatisch Menschen an, die den entgegengesetzten Schatten verkörpern. Ein Tyrann ist meist von Schwächlingen umgeben und umgekehrt. All das illustriert das bekannte psychologische Dilemma, daß wir alles, was wir nicht in uns akzeptieren (d.h. unsere Schatten), im allge¬ meinen auf andere und unsere Umgebung projizieren. Die einzige Möglichkeit, der Kontrolle der Schatten zu entkom¬ men, liegt darin, sie anzunehmen, sie also nicht mehr länger zu fürchten. König Salomo beispielsweise - der biblische Archetypus, der für einen vollendeten Herrscher steht - hatte keine Angst da¬ vor, in einer Situation zu hart oder zu nachsichtig aufzutreten. Die Geschichte, in der er droht, ein Kind in zwei Teile zu schneiden, um herauszufinden, welche der beiden streitenden Frauen die wirkliche Mutter ist, verdeutlicht diese Fähigkeit. Abb. 3 zeigt, was geschieht, wenn jemand die beiden Schatten an nehmen kann: Das Ich ist frei, kann sich in Richtung auf eine 29


Angst

Tyrann

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(Yang-Schatten)

Schwächling (Yin-Schatten)

Ich

O Integration

Herrscher (König/Königin)

Abb. 3: Integration des Herrscherarchetyps

Integration des Archetyps entwickeln und diese fortsetzen, bis es sich mit dem Archetyp deckt. Inwiefern ist diese Yin-Yang-Polarität der Schatten nun für das Währungssystem von Bedeutung? Die beiden Schlüsselemotio¬ nen, die alle modernen Finanzmärkte an den Tag legen - Gier und Angst vor Knappheit -, sind eindeutig durch Angst miteinander verbunden. Darüber hinaus ist die Gier - das Bedürfnis, unaufhör¬ lich Reichtum anzuhäufen - definitiv eine Yang- Energie, Knapp¬ heit dagegen wird von Yin bestimmt. Diese Gefühle weisen daher alle Eigenschaften der Schatten auf. Sie sind in der heutigen Welt so allgegenwärtig, daß wir sie als selbstverständlich hinnehmen. Das nächste Kapitel erklärt die Gründe dafür.

Der Schatten ist nicht der Feind Es liegt nahe, den Schatten als »den Feind« zu betrachten. Er ist de¬ finitionsgemäß das Problem, von dem wir uns am liebsten befrei¬ en würden, das Gesicht, das wir nicht anerkennen wollen, der Aspekt von uns, der in unserer Kultur, unserer Familie und uns selbst auf das größte Mißfallen stößt. Zu den paradoxen Eigen¬ schaften des »Bewußtseinswachstums« zählt es jedoch, daß der 30


Schatten auch unser strenger Lehrmeister ist, der uns rücksichtslos piesackt, damit wir das nächsthöhere Entwicklungsstadium errei¬ chen (s. Kasten). Wenn das Ich die Bandbreite unserer Gefühle auf ein »akzeptables Maß« verringert hat, auf das, was richtig und an¬ gemessen ist, wenn unsere gesamte persönliche Energie dafür auf¬ gewandt wird, dieses Bild zu erhalten oder vorzuspiegeln, dann fangen die Schatten an, uns zu verfolgen. Sie bringen uns an Orte, die wir lieber nicht kennenlernen möchten. Doch sie verbinden uns auch wieder mit unser Verwundbarkeit, eröffnen uns neue Tie¬ fen, deren Existenz wir vergessen haben. Daher ist der Schatten nicht unser Feind. Vielleicht ist der Feind paradoxerweise unser Zögern, uns dem Schatten zu stellen und ihn anzunehmen. James Hillman weist darauf hin, daß Schattenarbeit Seelenarbeit ist. Die dabei entstehenden Leiden bilden den Auftakt für das Wie¬ dererwachen des Heiligen im Alltag, in unseren Beziehungen und unserer Arbeit. Diese Idee ist nicht neu, sie wurde schon von vie¬ len weisen Menschen in der Vergangenheit ausgesprochen (s. Ka¬ sten »Schattenarbeit aus Sicht der >Laien<«). Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir mit Geld und sei¬ nen Schatten umgehen, ist daher eine seelenvolle Aufgabe. Das »Darth Vader« aus George Lukas' Filmreihe »Krieg der Sterne« verkör¬ pert in neuer Aufmachung einen der Schatten des Herrscherarchetyps: den Tyrannen. Selbst Vaders Name ist ein Wortspiel, das auf das Thema verweist (»die dunkle Seite der Macht«). Wenn die Maske schlie߬ lich entfernt wird, kommt eine leere menschliche Hülle zum Vorschein, die keine Verbindung zum Höheren Selbst hat. Jeder unterdrückte Ar¬ chetyp manifestiert sich in Form ei¬ nes seiner beiden polaren Schatten: ein Übermaß oder Mangel an der Energie des Archetyps.

31


Der Herr, der Diener und die Handlanger21 Der Herr eines großen Hauses muß für unbestimmte Zeit verreisen. Er beschließt, seinem getreuen und fähigen Diener die Verantwortung für seine Geschäfte zu übertragen. Nach vielen Jahren kehrt der Herr zurück und muß feststellen, daß ihn der Diener nicht mehr erkennt; der Diener glaubt, er selbst sei der Herr des Hauses. Er hat sogar ver¬ gessen, wie er zu seiner Aufgabe kam, und setzt alles daran, um seine Position zu behalten. Daher muß der Herr nach seinen Handlangern schicken. Dem Diener erscheinen sie als Behinderung bei der Arbeit, als Ängste aller Art. Schließlich ist der Diener nach langen und schmerzhaften Kämpfen gedemütigt und muß sich der größeren Macht des Herrn beugen - der Stimme der Seele, des Höheren Selbst. Das falsche Ich (der Diener) kann nicht mehr länger unangefochten über den Haushalt herrschen. Die Schatten (Handlanger) zwingen ihn, sich zu ergeben. Daher sind die Schatten trotz der Zusammenbrüche und Leiden, die sie mit sich bringen, nicht unsere Feinde. »Die Erfahrung des Höheren Selbst ist stets eine Niederlage des Ich.« C. G. jung

Wachstum unseres kollektiven und persönlichen Bewußtseins läßt sich durch diese Auseinandersetzung genauso erreichen, wie wenn wir daran arbeiten, die Schatten unserer Beziehungen, unserer Ge¬ meinschaft und uns selbst anzunehmen. Was wir aus der Beschäf¬ tigung mit diesen anderen Schatten lernen, können wir darauf ver¬ wenden, im Umgang mit dem Tabu des Geldes Klarheit und Weis¬ heit zu finden.

Eine Karte der menschlichen Psyche Eine Karte ist ein vereinfachtes Abbild der Realität. Sie hebt be¬ stimmte Aspekte hervor und vernachlässigt Überflüssiges. So liegt etwa der Schwerpunkt einer Straßenkarte auf wichtigen Informa¬ tionen für Autofahrer und läßt die Geologie, das Pflanzenleben

32


und viele andere Merkmale der Umgebung, die für diesen Zweck keine wesentliche Bedeutung haben, außer acht. Von der mensch¬ lichen Psyche, dem komplexesten aller Gebiete, wurden schon vie¬ le Karten angefertigt. Jean Shinoda Bolen beispielsweise legte gleich zwei umfassende Pläne vor, die auf der griechischen My¬ thologie basieren, die eine für Frauen und die andere für Männer.22 Ich will versuchen, eine Karte des archetypischen Menschen zu zeichnen, also ein einziges Schema, das die wesentlichen Aspekte der männlichen und der weiblichen Energie ausgeglichen wieder¬ gibt. Bei der Auswahl der »Urbilder« für dieses Schema wurde ver¬ sucht, ein möglichst breites Spektrum der derzeitigen menschli¬ chen Gefühle mit einem Minimum an Archetypen zu erfassen. Als Grundlage verwende ich ein Schema der menschlichen Psy¬ che, das von den beiden jungianischen Psychoanalytikern Robert

Schattenarbeit aus Sicht der »Nichtpsychologen«

»Wer das hervorbringt, was in ihm ist, wird von dem gerettet, was er hervorbringt. Wer nicht hervorbringt, was in ihm ist, wird von dem zerstört, was er nicht hervorbringt.« Jesus (Thomas-Evangelium)

»Letzte Nacht träumte ich, O wunderbare Täuschung, Daß Honigbienen in meinem Herzen waren, Die Honig aus meinen alten Fehlern machten.«

»Jeder Schatten in seiner Seele erkennt das Licht.«

Antonio Machado Christian Tzara

»Wenn doch alles nur so einfach wäre! Wenn doch nur die bösen Men¬ schen heimtückisch alle Untaten begehen würden und man sie nur von uns anderen trennen und vernichten müßte. Doch die Trennlinie zwi¬ schen Gut und Böse verläuft durch das Herz jedes Menschen. Und wer ist bereit, ein Stück seines eigenen Herzens zu zerstören?« Alexander Solschenizyn

33


Moore und Douglas Gillette entwickelt wurde.21 Sie basiert auf Jungs Quaternio-Struktur, einem Muster der vier wesentlichen Ar¬ chetypen. In diesem Fall handelt es sich um den/die Ilerrscher(in), den/die Krieger(in), den/die Liebhaber(in) und den/die Magier(in). (Auch wenn im folgenden das grammatische Geschlecht der Ar¬ chetypen männlich ist, ist immer ebenso der weibliche Pol ge¬ meint.) Das hat den Vorteil, daß die Struktur einfach bleibt und nur einige der bekanntesten Archetypen enthält, die in allen Kul¬ turen Vorkommen. Trotz dieser Einfachheit umfaßt das Schema zahlreiche menschliche Erfahrungen. Das Quaternio ist mit seinen korrespondierenden Schatten in Abb. 4 wiedergegeben (Yin-Schatten sind kursiv). Über jeden dieser Archetypen wurde ein ganzes Buch verfaßt. Doch hier genügt eine kurze Zusammenfassung ih¬ rer wichtigsten Eigenschaften. Schwächling

Tyrann

Herrscher (König + Königin) Sadist

abhängig Liebhaber

Krieger

Masochist

impotent

Magier

hyperrational (apollinisch)

willkürlich (dionysisch)

Abb. 4: Jungs Quaternio der grundlegenden Archetypen (nach Moores und Gillettes Interpretation)

Der Herrscher ist die integrierende Kraft im Zentrum der Psyche. Wie bereits angesprochen wurde, repräsentiert dieser Archetyp das Höhere Selbst, das (normalerweise) die Kräfte aller anderen Ar34


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i 11 Der Archetyp des Herrschers (in die¬ sem Falle des Königs), der alle Pola¬ ritäten auf sich vereint. Richard I. prä¬ sentiert sich auf seinem Siegel, in der rechten Hand hält er das Schwert des Todes und in seiner linken den Baum des Lebens. Ihn umgeben Sonne und Mond als kosmische Symbole der ein¬ ander ergänzenden männlichen und weiblichen Energien. (Originalzeich¬ nung des zweiten großen Siegels Richards I. von Moreno Tomasetig.)

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Ein etruskischer Krieger aus Terra¬ cotta (Metropolitan Museum of Art, New York) bringt ruhige Zu¬ versicht zum Ausdruck, er symboli¬ siert den Herrn der Disziplin und Kraft.

chetypen mobilisiert, akzeptiert und integriert. Im Gegenzug bringt der Herrscher die nötigen Opfer zum Besten des Ganzen. Der Herrscher ist androgyn (männlich und weiblich zugleich, er integriert die Kräfte des Königs und der Königin). Seine beiden Schatten sind bekanntermaßen der Tyrann und der Schwächling. Der Krieger zeigt Disziplin, Askese und Kraft. In seiner idealisier¬ ten Form bietet er Schutz, macht Eroberungen zum Allgemein¬ wohl und zerstört, was vernichtet werden muß, um neues Leben und neue Formen zu fördern. Sein ursprünglicher Nutzen lag in der Jagd und/oder dem Schutz vor Raubtieren.24 Seine beiden Schatten sind der Sadist (Yang-Schatten) und der Masochist (YinSchatten). Von den Assyrern, die Menschen bei lebendigem Leibe häuteten und aufspießten, bis zu den amerikanischen Soldaten, 35


welche die Penisse der Vietcong als Trophäen sammelten, hält sich der Schatten des Sadisten seit erschreckend langer Zeit unter uns. Der Liebhaber beherrscht das Spiel und die Schau, sinnliche Freu¬ den ohne Schuldgefühle. Er verkörpert die Macht des Einfüh¬ lungsvermögens und der Verbundenheit zu anderen Menschen. Der Liebhaber ist besonders empfänglich für Kunst und Schönheit. Seine beiden Schatten sind der süchtige (Yang-Schatten) und der impotente Liebhaber (Yin-Schatten). Die Sucht ist zu einer der uni¬ versellsten Eigenschaften der modernen Gesellschaft geworden. Einige Suchtmittel sind illegal, z. B. Crack oder Heroin, andere sind erlaubt, etwa Alkohol, Tabak und Kaffee, wieder andere werden so¬ gar gefördert, beispielsweise die Arbeitssucht, die Co-Abhängigkeit25 und die Kontroll sucht.26 Der Magier beherrscht das Wissen und die Technologie der ma¬ teriellen Welt (durch Geschick, Wissenschaft, Technologie) und der immatriellen Welt (Schamane, Heiler, Priester oder Priesterin) oder die Verbindungen zwischen den beiden (Alchemist, Magus). Seine beiden Schatten sind der hyperrationale apollinische Alles¬ wisser auf der Yang-Seite und die unüberlegte dionysische Energie auf der Yin-Seite. Anne Wilson Schaef27 beschrieb die vier YangMythen, unter denen der hyperrationale apollinische Schatten auftritt. Sie bezeichnet deren Verbindung als das »technokratisch materialistische mechanistische« Modell oder auch kurz als das »männliche System«. Dieser Schatten glaubt, daß: •es nur ihn gibt, •er von Natur aus überlegen ist, weil er alles weiß und versteht, •es möglich ist, völlig logisch, rational und objektiv zu sein.

In Kapitel 4 wird deutlich, warum ich in diesem Zusammenhang den »apollinisch-dionysischen« mythologischen Bezug verwende.

Jeder der vorgestellten Archetypen

ist auf der persönlichen und

kollektiven Ebene wirksam. Auf der kollektiven Ebene gibt es Or¬ ganisationen, welche die archetypischen Energien verkörpern. Beispielsweise hat die Regierung die Rolle des Herrschers inne; die 36


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::IK Liebende in Auguste Rodins Mar¬ morskulptur »Der Kuß« (Musee Rodin, Paris): Der Archetyp des Liebhabers bricht und überwindet die Grenzen, die der Krieger schafft und schützt.

Der Magier verändert sich selbst und die Welt, weil er die Gesetze aller Rei¬ che versteht. Jede Generation hat ihren eigenen Magier, der in Gestalt von Merlin, Faust oder Einstein auftreten kann.

Streitkräfte und die Wirtschaftsunternehmen tragen einen Gro߬ teil der Energie des Kriegers in sich; Universitäten, Wissenschaft, Technologie und Religion übernehmen die Aufgaben des Magiers. Der Liebhaber drückt sich in der Kunst aus, doch ansonsten ist er in unserer Gesellschaft größtenteils auf das Privatleben be¬ schränkt. Das oben gezeigte Quaternio war die grundlegende Übersichts¬ karte (Abb. 4). Mit ihrer Hilfe begann ich den Versuch, die Gefüh¬ le zu verstehen, die in unser Währungssystem eingebaut sind. Dennoch mußte ich nach einiger Zeit aufgeben: Die Karte konnte einfach nicht die Gefühle erklären, die in unserem kollektiven Geldspiel auftreten. Was war falsch? Durch diese Frage wurde ich in eine faszinierende archetypische Detektivgeschichte hineinge¬

zogen. 37


Kapitel 2

Der Fall des verschwundenen Archetyps

»Tao wird die Große Mutter genannt: Leer, doch unerschöpflich Gebiert sie unendliche Welten.«28 Laotse

»Für eine Zivilisation ist Geschichte das Unbewußte.«29 Richard Tamas

Frage: Wie würde Inspektor Hercule Poirot, der »belgische Sherlock Holmes«, feststellen, daß auf der archetypischen Karte von Abb. 4 ein wichtiger Archetyp fehlt? Hinweis: Wenn ein Archetyp in ei¬ ner Gesellschaft stark unterdrückt wird, taucht er in ihren domi¬ nierenden Mythologien gar nicht auf. Daher, mein lieber Watson, lautet die Antwort folgendermaßen: 1 . Ein unterdrückter Archetyp würde sich durch den starken »Fin¬ gerabdruck« seiner Schatten, der in einer Gesellschaft feststell¬ bar ist, verraten. 2. Daß zwei Schatten zum selben Archetyp gehören, erkennt man daran, daß sie in einer Yin-Yang-Polarität zueinander stehen und miteinander durch Angst verbunden sind. 3. Außerdem würden diese Schatten als »normales« menschliches Verhalten und Empfinden gelten.

Nach diesen Überlegungen fiel mir auf, daß es einen sehr wichti¬ gen Archetyp gibt, der in unserer westlichen Kultur systematisch unterdrückt wird: die Große Mutter. Darüber hinaus passen ihre Schatten genau zu den Gefühlen, die unser Verhältnis zum Geld charakterisieren. Abb. 5 verdeutlicht dies. 38


Diese beiden Schatten passen zu allen drei Kriterien unseres De¬ tektivs: 1. Gier und die Angst vor Knappheit sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet - und das schon seit langer Zeit. 2. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnt wurde, bilden die beiden Schatten eine Yin-Yang-Polarität und sind durch Furcht miteinander verbunden. 3. Sie gelten als »normal«, tatsächlich sogar als so normal, daß Adam Smith eine ganze Wissenschaft daraus entwickelte, die Volkswirtschaft. Deren Zweck ist es, knappe Ressourcen über das Verlangen des einzelnen, Reichtum anzuhäufen, zu vertei¬ len. Ich werde später noch einmal auf Adam Smith' Theorie zu sprechen kommen. Der Detektiv würde nach Beweisen für diesen intuitiven Gedan¬ kensprung suchen, um die nachstehend aufgeführten drei Punkte zu belegen: 1. Der Archetyp der Großen Mutter war bei der Erfindung des Gel¬ des aktiv beteiligt. 2. Es gibt Beweise für eine wichtige direkte Verbindung zwischen Währungssystemen und dem Archetyp der Großen Mutter. Große Mutter (Ernährerin)

Mentalität der 4. Gier

(Yang-Schatten)

Mentalität der Knappheit Angst

(Yin-Schatten)

Abb.5: Der Archetyp der Großen Mutter (Ernährer[inl) und ihrer Schatten

39


Diese Verbindung geht über eine zufällige zeitliche Überein¬

stimmung hinaus. 3. Der Archetyp der Großen Mutter wurde später unterdrückt, was Auswirkungen auf das Währungssystem hatte.

Im folgenden werden die bisher entdeckten Beweise im einzelnen vorgestellt. Zunächst müssen wir jedoch herausfinden, was es mit dem Archetyp der Großen Mutter auf sich hat.

Die Große Mutter »Das Mysterium ist immer der Körper. Das Mysterium ist immer der Körper einer Frau.« Helene Cixous

Ich werde mich bei meinen Ausführungen auf die Entwicklung des Archetyps der Großen Mutter in Europa konzentrieren. Es handelt sich hierbei zwar nicht um ein rein europäisches Phänomen (tatsächlich ist es universell), doch die Gestaltung des westlichen Unbewußten bestimmte die Eigenschaften der modernen Wäh¬ rungsinstitutionen, die heute weltweit zu finden sind. Man sollte sich aber bewußt sein, daß meine Darstellung ange¬ sichts der begrenzten materiellen Beweise eine plausible Interpre¬ tation der archäologischen Funde, dennoch eben nur eine von vie¬ len Möglichkeiten ist. Unser Modell muß für Bestätigungen, Ver¬ änderungen oder Widerlegungen durch neue Funde oder Analysen offenbleiben (s. Kasten zur Kontroverse um den Göttinnenkult). Eine der am häufigsten in ganz Europa gefundenen Figuren zeigt eine plumpe, oft schwangere weibliche Gestalt, die man als Dar¬ stellung der Großen Mutter oder Fruchtbarkeitsgöttin identifizier¬ te. Sie wurde in einem eigenen Kult verehrt. »Die Göttin in all ihren Erscheinungen war ein Symbol der Einheit allen Lebens in der Natur. Ihre Macht lag im Wasser und im Stein, im Grab und in der Höhle, in Tieren und Vögeln, Schlangen und Fischen, Bergen, Bäumen und Blumen. Von dort stammt die ganzheitliche und my40


thopoetische Wahrnehmung der Heiligkeit und des Mysteriums von allem, was auf der Erde existiert.«31 Die Große Göttin verkör¬ perte das gesamte archetypische Schema. Sie war Königin, Kriege¬ rin, Liebhaberin, Magierin lind Große Mutter. Marija Gimbutas er¬ stellte eine Eiste mit etwa 30000 prähistorischen Artefakten, die die Göttin in all diesen Erscheinungsformen zeigen und ihre Ver¬ ehrung belegen. Ich beziehe mich bei der Göttin nur auf einen Aspekt der Großen Mutter, den Archetyp der Fruchtbarkeit, der die älteste Eigenschaft der großen Göttin darstellt. Es ist wohl für jedermann nachvoll¬ ziehbar, daß die erste Form religiöser Verehrung im Bild einer schwangeren Frau oder einer Mutter zum Ausdruck kommt, die ihr Kind stillt. Die moderne Psychoanalyse hat die kritische Bedeu¬ tung des frühen Bandes zwischen Mutter und Kind bestätigt, wenn das Überleben des Babys völlig von der allmächtigen Mutterfigur abhängt. Gleichgültigkeit oder Vernachlässigung ihrerseits bedeu¬ teten den sicheren Tod für den Säugling. Die Große Mutter war ganz wörtlich Herrscherin über Leben und Tod ihrer Kinder.

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Venus von Willendorf (30000-25 000 v. Chr.). Diese Statuette steht symbo¬ lisch für die Fruchtbarkeit, sie stellt kei¬ ne bestimmte Frau dar. Ihr Gesicht wird von sieben Ringen aus »Haarlocken« bedeckt. Die Vulva ist deutlich gekennzeichnet. Brüste und Hüften sind hervorgehoben und im Vergleich zu den Händen überpropor¬ tional groß dargestellt. (Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

41


Die Kontroverse um den Göttinnenkult In den letzten Jahrzehnten verschärfte sich die Kontroverse um zwei

diametral entgegengesetzte Interpretationen der archäologischen Fundstücke. Jede Seite wirft der anderen vor, einen unwissenschaftli¬ chen Ansatz zu verfolgen: Auf der einen steht die traditionelle Schule, die beschuldigt wird, die Belege für eine weibliche Macht in der Vor¬ geschichte absichtlich zu ignorieren. Auf der anderen haben wir die »Göttinnenbewegung«, die kritisiert wird, weil sie die Vergangenheit aufgrund dürftiger Beweise neu zu erfinden versuche. Doch betrach¬ ten wir die Fakten: •Jede historische und erst recht prähistorische Quelle ist von vornher¬ ein dürftiger, als wünschenswert wäre. •Jeder Mensch ist zwangsläufig ein Geschöpf seiner Zeit, der vorherr¬ schenden Prioritäten und Werte. Er nimmt daher die Realität durch den Filter seiner eigenen Erfahrungen wahr. Selbst in den Naturwis¬ senschaften wie beispielsweise in der Physik mußten wir akzeptieren, daß ein »völlig objektiver« Beobachter- der die Dinge so sehen kann, wie sie wirklich sind - nicht existiert. Dieses erkenntnistheoretische Problem verstärkt sich natürlich noch, wenn wir uns mit Geisteswis¬ senschaften befassen, um so mehr, sofern es um die Interpretation sehr alter und stark fragmentarischer Funde und Überreste geht. Warum ist das von Bedeutung? Gegenwärtige »Emanzipationsfragen« wie die theologischen Auseinandersetzungen um die Ordination von Frauen in der Kirche oder die gerechtere Verteilung gesellschaftlicher Positionen stehen in direktem Bezug zu der Behauptung, daß sie sol¬ che Rollen in der Vergangenheit schon einmal eingenommen haben. Das erklärt die starken Emotionen, die die Debatte auf beiden Seiten auslöst. Wer einen patriarchalischen Status quo bevorzugt, behauptet natürlich, daß es schon immer eine Ungleichheit der Geschlechter ge¬ geben habe und daß Frauen das »zweite Geschlecht« bleiben sollten, weil es seit jeher so gewesen sei. Wer für die Emanzipation der Frau und die Gleichberechtigung der Geschlechter ist, wird ebenso selbstver¬ ständlich seine Wünsche auf die ferne Vergangenheit projizieren. Allerdings geht es in der Geschichte um Überreste, besonders um noch vorhandene Relikte. Es gibt zahlreiche Belege, daß das Weibli¬ che in den letzten fünf Jahrtausenden unterdrückt wurde. Außerdem besteht kaum Zweifel - schließlich existieren dafür auch in zeitgenössi-

42


sehen Fällen ausreichend Belege -, daß »die Geschichte normalerwei¬ se von den Siegern geschrieben wird« und daß sich die Tendenzen da¬ her wahrscheinlich mehr nach den Ansichten des »Leitwolfs« ausrichten werden. Obwohl ich bei der Kontroverse die Argumente beider Sei¬ ten berücksichtige, versuche ich, die wahrscheinlich programmierte Tendenz zu kompensieren, indem ich die Seite der historisch Benach¬ teiligten stärker gewichte. Das Thema unserer Untersuchung ist die Geschichte der Archetypen. Aus der Sicht von Historikern oder Archäologen mögen Überlegungen von Bedeutung sein, ob es eine einzige »Große Göttin« oder »Große Mutter« gab, wie die Anhänger einer »Göttinnenbewegung« behaup¬ ten, ob zahlreiche verschiedene Göttinnen mit unterschiedlichen Na¬ men und komplexen, einander überlappenden Attributen existierten oder ob es sich in einigen Fällen sogar lediglich um »normal sterbliche« Frauen handelte, die verherrlichend dargestellt wurden, wie einige Kri¬ tiker meinen.30 Für unsere Zwecke spielt der Unterschied jedoch keine große Rolle, da jede Interpretation auf eine ähnliche Aktivierung des kollektiven Unbewußten hinweist. Aus Gründen der sprachlichen Ver¬ einfachung wird der Begriff einer einzigen »Großen Mutter« in dem Sinne gebraucht, daß der Archetyp der Großen Mutter verehrt wurde und aktiv war. Das soll nicht heißen, es habe eine identische, einheitli¬ che Gestalt gegeben, die über Zehntausende von Jahren und weite Ge¬ biete hinweg verehrt wurde.

Die Große Mutter verbindet den menschlichen Körper und die Er¬ de zum Mysterium des Heiligen. »Sie ist vor allen Dingen Erde, die dunkle, nährende Mutter, die alles Leben schafft. Sie ist die Macht

der Fruchtbarkeit und der Erzeugung, der Mutterleib, aber auch das empfangende Grab, die Herrin des Todes. Alles kommt von Ihr, alles kehrt zu Ihr zurück. Als Erde ist Sie in Pflanzen, Bäumen, Kräutern und im Korn, das Leben erhält. Sie ist der Körper, und der Körper ist heilig.« 33 Bildnisse der Großen Mutter wurden im Jungpaläolithikum (ca. 30000 bis 9000 v. Chr.) aus Mammutelfenbein, Rentiergeweih und Stein gefertigt oder am Eingang von heiligen Höhlen, die ihren Mutterleib symbolisierten, direkt in die Felswand geritzt.34 Mit 43


Die Macht der Brust »Am Anfang war die Brust. Fast die ganze Menschheitsgeschichte über gab es für Muttermilch keinen Ersatz. Bis Ende des 1 9. Jahrhunderts die Pasteurisierung Tiermilch keimfrei machte, bedeutete die Mutterbrust für jedes Neugeborene Leben oder Tod. Es mag daher nicht verwun¬ dern, daß unsere prähistorischen Vorfahren ihre weiblichen Idole mit

ehrfurchtgebietenden Brüsten ausstatteten ... Man kann sich leicht vorstellen, wie eine verzweifelte Mutter in der Steinzeit vor einem die¬ ser fülligen Idole um ausreichend Milch für ihr Kind fleht.«32

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Göttinnen aus gebranntem Lehm, Dolnf Vestonice, Tschechien (20000 v.Chr.). Auch hier sind die Gesichtszüge nebensächlich, während Brüste und Hüften betont werden. (Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

dem Aufkommen der Töpferkunst wurde eine Fülle von Abbildern geschaffen. Kurzum: Ihre Gegenwart wurde von den frühesten Zeiten menschlichen Bewußtseins bis etwa 3000 v.Chr. ununter¬ brochen dokumentiert. Ihr uneingeschränkter Einfluß währte et¬ wa zehnmal so lange wie der des männlichen Schöpfer- und Him¬ melsgottes, der die heutige Weitsicht dominiert. John Maynard Keynes, der bekannteste Wirtschaftstheoretiker des 20.Jahrhunderts, kam zu folgendem Schluß: »Das Geld ist, wie 44


Tonstatue einer Göttin aus £atal Hüyük, Anatolien (6000 v. Chr.). Sie sitzt auf ei¬ nem stattlichen Thron, dessen Seiten zwei Löwinnen darstellen. Die imposan¬ te Erscheinung kündet von der Großen Mutter in all ihrer Macht. (Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

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einige andere wesentliche Bestandteile der Zivilisation, eine Ein¬ richtung von erheblich höherem Alter, als uns noch vor wenigen Jahren gelehrt wurde. Seine Ursprünge verlieren sich in die Nebel¬ zeiten des schmelzenden Eises; sie mögen sich wohl zurücker¬ strecken bis in jene paradiesischen Perioden zwischen den Eiszei¬ ten ,..«36 Das ist natürlich die Zeit, in der die Kulte der Großen Mutter in voller Blüte standen. Doch wir brauchen mehr als eine bloße zeitliche Übereinstim¬ mung, um eine eindeutige Verbindung zwischen dem Archetyp der Großen Mutter und den Währungssystemen herzustellen. Gibt es einen Hinweis auf eine direkte Verbindung zwischen dem Ar¬ chetyp der Großen Mutter und den frühesten Währungssyste¬ men? Diese Frage wollen wir nun genau untersuchen.

Der Archetyp der Großen Mutter und frühe Währungssysteme Die beste Arbeit über primitives Geld stammt von Paul Einzig.37 Doch selbst dessen Pionierarbeit ist angesichts der »Terra incogni¬ ta der Währungssysteme in den 650 primitiven Gesellschaften«, die er katalogisierte,38 nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. 45


Eine Definition des Geldes Geld ist kein Gegenstand, obwohl es in einer unendlichen Vielfalt von Gegenständen existiert. Kür unsere Zwecke wird Geld als Ver¬ einbarung in einer Gemeinschaft definiert, etwas als Zahlungs¬ mittel zu verwenden. Jonathan Williams, Kurator der Abteilung für Münzen und Medaillen im British Museum, London, betont den Begriff »Zahlungsmittel« anstelle der traditionelleren, aber auch enger gefaßten Bezeichnung »Tauschmittel«. Der Grund liegt darin, daß die meisten Kulturen ihr Geld neben den rein kom¬ merziellen Geschäften auch bei Transaktionen rituellen Charak¬ ters oder bestimmten Sitten und Gebräuchen verwendeten. Schließlich besitzen die kommerziellen Transaktionen nur in der westlichen Kultur absolute Priorität, und nur hier werden andere Zahlungszwecke vernachlässigt Jonathan Williams ist der Ansicht, man könne durchaus be¬ haupten, »daß die westliche Kultur mit ihren Währungssystemen alles andere als >normal< ist, tatsächlich ist sie in ihrer Fixierung auf das Kommerzielle eine Anomalie. Trifft das zu, würde man im We¬ sten sogar einen noch größeren Fehler machen, wenn man ande¬ re Währungssysteme als eine primitivere Version des eigenen be¬ trachtete.«39 Williams führt als Beispiel die Verwendung einer Stoffwährung unter den Leie im Kongo an, die bis weit ins 20.Jahrhundert ver¬ breitet war. Zahlungen in bestimmten Stoffen, die aus Raffiabast gewebt waren, sollten vermutlich die sozialen Bindungen unter den Leie verstärken oder verbessern. So waren sie beispielsweise bei der Bezahlung von Initionsgebührcn für den Zugang zu reli¬ giösen Gruppen unverzichtbar, auch beim Brautgcld oder bei Zah¬ lungen, mit denen man eine Frau für das Kinderkriegen belohnte, als Entschädigungen bei Auseinandersetzungen oder Wunden, die man anderen zugefügt hatte, oder als Tribut an die Häuptlinge. Zu¬ sätzlich konnte die gleiche Stoffwährung für die Bezahlung von Waren verwendet werden, doch diese Funktion als Tauschmittel betrachtete man im Vergleich zu den anderen sozialen Funktionen als nebensächlich.40 46


Da Geld bereits in der Vorgeschichte erfunden wurde, verfügen wir über keine schriftlichen Quellen. Wir können nur die ältesten und am häufigsten gebrauchten Währungen auswählen, die so lange verwendet wurden, daß wir ihre symbolischen Assoziatio¬ nen noch erkennen und verstehen können. Zwei der ältesten Währungsformen blieben zumindest in einigen Teilen der Welt bis ins 20.Jahrhundert in Gebrauch. Sie eignen sich daher hervorra¬ gend für unsere Zwecke. Es handelt sich um Vieh und Kauri-Mu¬

scheln.

Vieh - das erste Betriebsmittel41 Vieh spielte als Tausch-, Zahlungsmittel und Recheneinheit in der Geschichte des primitiven Geldes in weiten Teilen der antiken Welt eine große Rolle. So drückt etwa Homer (8. Jahrhundert v.Chr.) Reichtum unweigerlich in Stück Vieh aus (»Diomedes1 Waffen waren neun Rinder wert«42). Das deutsche Fremdwort »pe¬ kuniär« geht auf das lateinische pccas (= »Vieh«) zurück. Auch der Begriff »Kapital« leitet sich von diesem Ansatz ab (lat. capus, capi¬ tis = »Kopf«).43 ln Texas und anderen Viehzüchtergesellschaften werden Köpfe immer noch als Maßeinheit verwendet, und einen reichen Mann definiert man dort wie eh und je über die Anzahl der Rinder, die er besitzt. Bei afrikanischen Hirtenvölkern wie den Wakamba oder den Watussi war das schon immer so (s. Kasten). Für unsere Zwecke ist vor allem wichtig, welche Symbole und Archetypen man mit Vieh assoziiert. Das Symbol der Kuh verkör-

Kein Problem mit der Stückzahl Ein Nebeneffekt der Verwendung von Vieh zu Währungszwecken liegt darin, daß die Zahl der Rinder zählt und weniger die Qualität oder Ge¬ sundheit des Tieres. Ein Agrarberater versuchte einmal, die WakambaHäuptlinge davon zu überzeugen, kein altes oder krankes Vieh zu hal¬ ten. Er erhielt die Antwort: »Hören Sie, hier sind zwei Pfundnoten. Die eine ist alt und zerknittert und fällt fast auseinander, die andere ist neu. Aber beide sind ein Pfund wert. Mit den Rindern ist das nicht anders.«44

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Inanna-lschtar, Göttin der Fruchtbar¬ keit, des Lebens und des Todes in Su¬ mer und Babylon (Terrakottafigur, 4. Jahrhundert v. Chr.). Ursprünglich war sie die Göttin der Lagerhäuser in Uruk und wurde später auf einer der ersten sumerischen »Münzen« (Sche¬ kel) abgebildet. Sie bietet typischer¬ weise ihre Brüste an, die Quelle der nährenden Milch. Inanna verkörpert die Verbindung zwischen Weiblichkeit, Fruchtbarkeit, Wohlstand, Geld im all¬ gemeinen und den frühen Vieh¬ währungen im besonderen.

Inanna in einer ihrer anderen großen Rollen. Hier steht sie in vollem königlichem Ornat, sie trägt die hohe Krone mit den vie¬ len Hörnern und hat ein löwenköpfiges Zepter als Zeichen ihres königlichen Amtes. Damit zeigt sie ihre Macht als Quelle des Königtums. Ihr gerüschtes Ge¬ wand und ihre mehrstöckige Kro¬ ne kennzeichnen ihre Göttlichkeit. (Mesopotamien, 2000 v. Chr., Ton¬ plakette im Louvre, Paris; Zeich¬ nung von Moreno Tomasetig.)

perte in allen alten Mythen die Große Schöpferin und die Große Mutter. Als nahrungspendende, entschlossene Beschützerin ihrer Jungen war die weiße Kuh das Symbol der großen Mondgöttin, ähnlich der Weißen Büffelfrau der nordamerikanischen Indianer¬ tradition. Inanna tritt zum ersten Mal Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. als Schutzgöttin des zentralen Lagerhauses von Uruk auf, für eine Agrargesellschaft eine sehr deutliche Verbindung zu 48


Reichtum!45 Zu der Zeit ist sie noch diejenige, die das oberste Kö¬ nigtum in Uruk gewährt. Die gleiche Inanna wurde tausend Jahre später auf den ältesten sumerischen Münzen dargestellt, auf deren anderer Seite ein Scheffel Weizen zu sehen ist. Interessanterweise verkündet Inanna: »Der Himmel ist mein, die Erde ist mein ... Ich bin eine herrliche weiße Kuh!«46 In der irischen Mythologie war die Kuh »Glas Galven«, die Göt¬ tin des Himmels.47 In Indien ist sie Kali, und Kühe sind dort heu¬ te noch heilig. In Ägypten hieß sie Hathor, Göttin der Schönheit und des Überflusses, deren Euter so voll war, daß daraus die Milch¬ straße entstand (auch heute noch bezeichnen wir unser eigenes Sternsystem als Milchstraße). Sie läßt sich stets anhand ihrer »Kuh¬ ohren« identifizieren. Hathor gebar jeden lag die Sonne, ihr »gol¬ denes Kalb«. Ihr Horn war das heilige »Füllhorn«, aus dem sich alle

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Viehherden auf Felsmalereien aus der Zeit 3500 v.Chr. im Tassili-Massiv in der heutigen Saha¬ ra. Abgebildet sind zwei Vieh¬ rassen, die sich in den Hörner¬ formen unterscheiden. Der be¬ merkenswerte Realismus der Tiere ist wohl die größte Lei¬ stung der Felsmaler. Von dem engen Verhältnis mit den Vieh¬ herden in der späteren Sahara stammt vielleicht die Verbin¬ dung zwischen Leben und Was¬ ser, Kühen und dem weiblichen Archetyp. (Nach Henri Lhote.)

Früchte der Welt ergossen. Fekri Hassan erläutert: »Die Bilder der Göttin und ihre Ikonographie waren tief in den frühen Phasen der Viehhaltung verwurzelt (bis 7000 v.Chr.), als das Weibliche wie später in Nubien als Lebens- und Nahrungsquell dargestellt wur¬ de. Das Männliche dagegen wird im Jäger verkörpert.«48 Vieh kann bekanntlich nicht überleben, ohne regelmäßig zu trinken. Das Wasser verschwand jedoch mit der allmählichen Versteppung der Sahara aus den Wüstenseen; daher mußten die frühen ägyptischen Viehzüchter immer tiefere Brunnen graben, um die Tiere ausrei¬ chend zu versorgen. »Während die Männer auszogen und wilde Tiere jagten, schützten die Frauen die Kühe und versorgten sie mit Futter und Wasser. Kühe und Frauen gaben Milch. Beide waren Quell der Erzeugung und des Lebens. Wasser, Vieh, Milch und Frauen waren Quell der Fortpflanzung und der Ernährung ... Die¬ se mentalen Assoziationen waren von großer psychologischer Be¬ deutung. Gemeinsam bildeten sie die Grundlage für die Wesens¬ züge der ägyptischen Religion: Geburt, Tod und Auferstehung ... Die schweren Dürren zwischen 6000 und 5000 v. Chr. zwangen die Viehbesitzer, sich entlang des Nils anzusiedeln. Die tiefen religiö¬ sen Glaubensgrundsätze, die in der Sahara entwickelt worden wa¬ ren, wurden jedoch nicht vergessen.«49 Die Darstellung einer Kuh50


gottheit tritt in Ägypten von der allerersten Dynastie an auf, wie Narmers berühmte Prunkpalette zeigt, und ihre Verehrung wurde noch weit bis in die römische Besatzungszeit beibehalten. Marija Gimbutas ist der Ansicht, daß sogar der Stier in Verbin¬ dung zur Großen Mutter gesehen wurde, denn seine Hörner erin¬ nern an die Form der Mondsichel. In £atal Hüyük, der ersten ge¬ schichtlich nachweisbaren »Pueblo-Stadt«,50 werden Statuen der gehörnten Göttin mit Bildern von gebärenden Frauen in Schrei¬ nen in Verbindung gebracht, neben denen echte Stierhörner aus der Wand ragen und sich zu einer harmonischen Partnerschaft des kommenden neuen Lebens von Mann und Frau verbinden.51 Gimbutas zufolge brachte man den Stier erst nach der indoger¬ manischen Invasion mit dem Donnergott, männlicher Macht, Stärke und Kraft in Verbindung.52 Neben anderen Quellen, die für diese archetypische Verbindung sprechen, gibt es einen Fund aus

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Der Stierhorntempel in £atal Hüyük. Die Assoziation von Stiersymbol und Zwillingsgöttinnen deutet auf eine direkte Verbindung zwischen dem Stier und dem weiblichen Archetyp hin. (Rekonstruktion der westlichen und südli¬ chen Mauern des Schreins VII.1, £atal Hüyük, ca. 5800 v. Chr.)

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Ausschnitt aus Narmers Prunkpalette aus der 1 . Dynastie. In beiden oberen Ecken dieser berühmten Skulptur sind Darstellungen einer Kuhgöttin zu sehen, vermutlich die erste Darstellung von Hathor. Das zeigt, daß die Kuhgöttin mit dem frühesten Königtum in Ägypten in Verbindung gebracht wird. (Original im Ägyptischen Museum in Kairo; Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

Laugerie Basse (Dordogne, Frankreich) aus dem Mittleren Magdalenien (12000 v. Chr.). Es handelt sich um eine Schnitzerei auf einem Rentierknochen, die einen Bisonbullen zeigt, der über einer hochschwangeren, nackten Frau kurz vor der Geburt steht.53 Alex¬ ander Marshack deutete die Abbildung als »realistisch und my¬ stisch zugleich ... geschnitzt als Teil eines Rituals zur Sicherstel¬ lung der menschlichen Fruchtbarkeit, der Fruchtbarkeit der Erde oder der Vermehrung der Tiere für die Jagd«.54 Schließlich ist in der astrologischen Überlieferung, die bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht, der Stier auch zugleich ein Tierkreiszeichen, das er¬ ste der Erdzeichen, und es steht in symbolischem Zusammenhang zu materiellem Besitz. Insgesamt gesehen scheint Vieh seit Menschengedenken oder seit Artifakte es beweisen können, eng mit den weiblichen Ar¬ chetypen der Fruchtbarkeit und des Überflusses verbunden gewe¬ sen zu sein. 52


Die allgegenwärtige Kauri-Muschel »Die Kauri-Muschel war von allen Währungsformen, darunter auch den wertvollsten Metallen, weiter verbreitet und länger in Gebrauch als jede andere Währung ... Kauris sind haltbar, leicht zu reinigen und zu zählen, und sie trotzen Imitationen und Fäl¬ schungen ... Vielen Menschen erschienen sie in großen Teilen der Welt irgendwann einmal als ideale Währung ... Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sie in Westafrika noch zur Bezahlung von Steuern offiziell akzeptiert.«55 Die Chinesen bieten die längste autonome Währungsentwick¬ lung in Folge, die zudem noch gut dokumentiert ist. Die Kauri spielte als Geld eine so wichtige Rolle im alten China (vor 2100 v. Chr.), daß ihr Piktogramm das Schriftzeichen für Geld wurde.56 In China hatte die erste Währung aus Bronze und Kupfer die Form der Kauri-Muschel. Die Herstellung dieser Währung setzte bereits Ende der Steinzeit ein. Die Nachahmungen der echten Muschel müssen zumindest bei ihrer Einführung für sehr hohe Werte gestanden haben. Von einigen Numismatikern werden sie als die frühesten Beispiele für Münzen betrachtet. Später wurden die Kauri-Münzen noch durch andere Formen wie bronzene Spa¬ ten, Hacken, Dechseln und Messer (allesamt Varianten der ge¬ bräuchlichsten landwirtschaftlichen Werkzeuge der damaligen Zeit) ergänzt. Zusammen führte das zur »Erfindung« der Münzen ... Doch welche Archetypen verbinden sich mit der Kauri-Muschel an sich?

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Die Reihe zeigt die Entwicklung der Zeichnung von einer Kauri-Muschel zum Symbol für Geld in den chinesischen Schriftzeichen. Die Begriffe »Verlangen«, »Schatz«, »wertlos« und »leihen« haben alle ihre Wurzel im Symbol der Kau¬ ri-Muschel.57

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Während der Shang-Dynastie (1 766-1 1 22 v. Chr.) wur¬ den Bronzenachbildungen von Kauri-Muscheln zur Standardwährung. Die hier gezeigte (links) stammt aus

Chu. Ebenso waren Kauri-Mu¬ scheln als Währung in

Afrika weit verbreitet. Die abgebildete Münze (rechts) ist eine zeitgenössische 20-Cedis-Münze aus Ghana (1991), die an die lange Ge¬ schichte der Kauri-Muschel-Währung in diesem Gebiet erinnert.

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Die Kauri-Muschel mit ihrer vulvaartigen Form wird mit dem Was¬ ser in Verbindung gebracht, in dem sie entsteht, und der Frucht¬ barkeit, die dem Element Wasser innewohnt. Traditionell wird sie mit sexueller Erfüllung, Wohlstand, Glück und Fruchtbarkeit as¬ soziiert. In Spanien kürzt man den gebräuchlichen weiblichen Vornamen »Concepciön« (wörtlich »Empfängnis«) immer noch mit »Conchita« ab (wörtlich »kleine Muschel«, aber auch um¬ gangssprachlich für das weibliche Sexualorgan). Bei den Azteken hat der Mondgott Tecaciztecatl, dessen Name wörtlich übersetzt »der aus der Muschel« bedeutet, als Hauptattribute den Geburts¬ und Zeugungsvorgang und wird durch eine Vulva repräsentiert.58 Interessanterweise wird die Kauri-Muschel auch mit dem Tod in Verbindung gebracht, weil ihr »nützliches Leben« als Währung nach dem Tod des ursprünglichen Bewohners beginnt. So tritt die Kauri beispielsweise bereits in Begräbnisornamenten aus paläolithischer Zeit auf. Abbe Breuil erklärte ihr Vorkommen in Grab¬ stätten wie folgt: »Sie verbindet den Tod mit den kosmologischen Prinzipien des Wassers, Mondes, Weiblichen und der Wiederge¬

burt in der neuen Welt.«59 Wir können auch eine etymologische Verbindung zwischen der Kauri-Muschel und dem Archetyp der weiblichen Fruchtbarkeit herstellen, indem wir einfach zu unserem bereits erwähnten »Kuh¬ beispiel« zurückkehren: Das englische Wort für »Kuh«, cow, 54


stammt von dem Sanskritwort gau und dem ägyptischen kau. Die¬ se stehen auch am Anfang der Worte gaurie oder kaurie, aus denen im Englischen cowrie wird ...

Andere »primitive« Währungen Die ersten Metallmünzen stammen aus der Bronzezeit in China und hatten Löcher, damit man sie für den Transport und den Han¬ del in Bündeln zu je 50 Stück zusammenbinden konnte. Von Be¬ deutung ist dabei, daß die frühen Versionen viereckige statt runde Löcher hatten. Die Beschreibung huan fa (»runde Münzen«) war im 11.Jahrhundert v. Chr. als »eckig im Innern und außen rund« verbreitet.60 Die Tradition der viereckigen Löcher in chinesischen

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Chinesische Münzen aus verschiedenen Epochen, von der (a) Ch'in-Dynastie (Münze datiert auf 221 v.Chr.), (b) Han-Dynastie (118 v.Chr.), (c) Tang-Dy¬ nastie (621 n. Chr.) und (d) Song-Dynastie (1 101-1125 n. Chr.). Ihnen allen ist das Symbol »Quadrat im Innern und außen rund« gemeinsam. Ähnliche Mün¬ zen wurden in China bis ins 20. jahrhundert geprägt, was eine Kontinuität die¬ ser Symbolik über 22 Jahrhunderte zeigt. Das Viereck symbolisiert die Frucht¬ barkeit der Erde, die Präsenz des Yin wortwörtlich im Zentrum des Geldes oder, wie es im Taoteking heißt: die Große Mutter, leer, doch unerschöpflich, un¬ endliche Welten gebärend ... (s.a. das Motto am Anfang von Kapitel 2).

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Münzen hielt sich bis ins 20. Jahrhundert. Warum machten sich die Chinesen die Mühe und stellten Münzen mit viereckigen Löchern her, obwohl solche mit runden doch einfacher zu fertigen und zusammenzubinden waren? Die Antwort liegt in der Symbo¬ lik: Der Kreis steht in der taoistischen Tradition als Yang-Sinnbild für den Himmel, das Quadrat steht dagegen für das Yin-Element Erde. Hier zeigt sich erneut der Bezug zur Fruchtbarkeit von Mut¬ ter Erde im Zentrum des Geldes.

Chinas kosmische Göttin Allgemein wird angenommen, daß die chinesische Kultur schon immer stark patriarchalisch geprägt war. Allerdings besaß auch China einst in Nu Kua einen Archetyp der allmächtigen Großen Mutter. In Texten aus der Chou-Periode (1 000 v. Chr.) tritt Nu Kua als Göttin in Gestalt einer Schlange auf, die alle Menschen aus Ton geschaffen hat. Sie gestalte¬ te ebenso die Ordnung des Universums, indem sie die vier Himmels¬ richtungen markierte, die Jahreszeiten einrichtete und die Sterne sowie die Planeten auf ihre richtigen Bahnen brachte.61

Wir könnten noch zahlreiche Beispiele anführen, doch das wäre er¬ müdend und sinnlos, weil die Symbolik vieler frühen Währungen während der patriarchalisch mythopoetischen Umprogrammie¬ rung der letzten fünf Jahrtausende bis zur Unkenntlichkeit verän¬ dert wurde. Ein Beispiel für diesen Vorgang ist Bernstein, der im Seefernhandel der frühen Antike als eine wichtige Warenwährung galt, ln Ägypten beispielsweise war Bernstein wertvoller als Gold. Rohbernstein wurde damals wie heute als fossiles Harz an den Kü¬

sten der Nord- und Ostsee gefunden. Bernsteinstücke galten als »Tränen der Großen Mutter« und wurden mit dem Urozean in Ver¬ bindung gebracht. Doch in der griechischen Mythologie machte man daraus die »Tränen Apollos«, die er nach seiner Verbannung aus dem Olymp vergoß, als er im Land der Hyperboreer Zuflucht suchte. Apollo erbte verschiedene Schlüsselattribute von der Großen Mutter, darunter auch »den Schönheitssinn, sei es nun für 56


Frühes griechisches Geld und die Göttin »Der berühmteste Fund von Elektronmünzen (die natürliche Legierung von Silber und Gold, aus dem die Lyder ihre ersten Edelmetallmünzen prägten) wurde bei Ausgrabungen am Artemistempel von Ephesus gemacht. Unter dem Tempel wurden 93 Elektronmünzen und sieben ungeprägte Nuggets gefunden. Der Fundort deutet darauf hin, daß sie dort als religiöse Gabe vergraben wurden.«63 Das Äquivalent einer »Staatsbank« war im alten Athen der offizielle »Tempelschatz«, der direkt dem Schutz Athenes unterstellt war und ihr auch gehörte. Es gibt mehrere Beispiele in der Geschichte, in denen die Athener zusätzliches Geld zur Finanzierung von Kriegen brauchten und das Geld von Athene mit dem Versprechen »borgten«, es so bald wie möglich zurückzuzahlen. Der berühmte athenische Staatsmann Perikies erklärte in seiner Rede am Vorabend des Peloponnesischen Krieges gegen Sparta (431-404 v. Chr.): »... und wenn sie in äußerster Not wären, könnten sie auch das Gold verwenden, womit die Göttin selbst bekleidet war ... Hätten sie das zu ihrer Rettung verwendet, so müßten sie ihr später, so sagte er, mindestens gleiches Ersatzgewicht darwägen.«64

Kunst, Musik, Lyrik oder Jugend, Gesundheit und Mäßigung - alle summieren sich in Apollo«.62 Nachdem Apollo das Bernsteinsym¬ bol für sich beansprucht, findet man den einzigen Hinweis auf die alte Fruchtbarkeitsgöttin in einem Aberglauben, der sich in den Mittelmeerländern hartnäckig behauptet - nämlich daß ein Mann nie seine Männlichkeit verliere, wenn er stets ein Stück Bernstein bei sich trage. Dieses Denken hielt sich lange, obwohl die christli¬ che Kirche diesen Aberglauben als »sündhaftes Überbleibsel aus heidnischer Zeit« brandmarkte (Codex Einsidlensis, ca. 750).

Frühe Münzen Eine der ältesten bekannten »richtigen« Bronzemünzen, der su¬ merische Schekel aus dem Jahr 3200 v.Chr., wurde bereits im Zu¬ sammenhang mit der Schlüsselrolle der Inanna (Ischtar in Baby¬ lon) erwähnt, der Göttin des Lebens und des Todes, der Frucht57


barkeit und des Wohlstandes. Ursprünglich diente die Münze als Beleg dafür, daß der Besitzer die Weizensteuer für den Göttinnen¬ tempel entrichtet hatte. Während der Fruchtbarkeitsrituale wurde sie dem Tempel im Austausch für Geschlechtsverkehr mit einer Vertreterin der Göttin persönlich zurückgegeben, welche die Bibel 2000 Jahre später als »Tempelhure« bezeichnete. Damals war der Geschlechtsverkehr mit einer Priesterin jedoch nicht das, was wir heute als Prostitution bezeichnen, auch nicht aus weiblicher Sicht. Nancy Qualls-Corbet erklärt in ihrem Buch The Sacred Prostitute: Eternal Aspects of the Feminine,65 daß die Sexualität der Frau Teil der Mythologie über die Erschaffung des Universums und der Frucht¬ barkeit der Erde war. Der Geschlechtsakt mit einer »Tempelhure« entsprach daher dem Verkehr mit der Göttin persönlich, eine le¬ benswichtige Angelegenheit und eine Form der Verehrung der Gottheit. Die Priesterinnen waren die Pforte; sie begründeten ur¬ sprünglich das System. Erst später, im Patriarchat, führten diese Rituale zur Ausbeutung der Frauen. Wieder einmal begegnen wir hier der archetypischen Schlüsselkonstellation von Fruchtbarkeit, Weiblichkeit, Sexualität, Leben und Tod. Selbst in so eindeutig patriarchalischen Kulturen wie der Grie¬ chenlands waren die frühen Währungen mit den Kulten der Göt¬ tin verknüpft. Es gibt auch eindeutige Belege aus verschiedenen

Münzen und Verhütung Eine andere Verbindung zwischen den frühen Formen des Geldes und der Fruchtbarkeit der Göttin läßt sich über die Kontrolle der Frucht¬ barkeit, also die Verhütung, herstellen. Auf einer antiken Münze des Stadtstaates Kyrene (im heutigen Libyen) deutet eine Frau auf eine Pflanze namens Silphium, die vor 2500 Jahren in dieser Gegend wuchs. Nach Aussage von John Riddle von der University of North Carolina war Silphium ein starkes Verhütungsmittel, das ins ganze Mittelmeer¬ gebiet exportiert wurde, bis die Pflanze schließlich ausstarb. Eine schwächere Art namens Asafetida existiert noch heute und verhinder¬ te im Versuch mit Ratten die Empfängnis mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 40 Prozent.

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Die Venus von Laussei. Sie verbindet

symbolisch Fruchtbarkeit mit dem Kosmos.

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anderen Gesellschaften, die zeigen, daß die Archetypen des Weib¬ lichen ursprünglich mit der Goldwährung in Zusammenhang standen. Die ägyptische Kuhgottheit Hathor beispielsweise wurde die »Goldene« genannt, ebenso bezeichnet man Lakshmi, die Hin¬ du-Gottheit des Reichtums und des Wohlstandes, noch heute als die »Göttin des Goldes«. Die alten Sagen der Edda beschreiben Gullveid als »goldene Göttin«, deren Goldschatz einen Krieg zwi¬ schen zwei feindlichen Stämmen auslöste. Das englische Wort für Geld, money, geht ebenso wie unser um¬ gangssprachliches »Moneten« auf den Namen des römischen Tem¬ pels der Juno Moneta zurück, in dessen höhlenartigen Kellerge¬ wölben ursprünglich die römische Münze arbeitete. Der Standort der römischen Münze ist eine deutliche Verbindung zum essentiell Weiblichen (s. Kasten »Juno Moneta ...«). Die Kontinuität der archetypischen Attribute Junos seit den Ta¬ gen der steinzeitlichen Großen Mutter ist wirklich erstaunlich. Die berühmte Venus von Laussei wurde etwa 25000 v.Chr. am Ein¬ gang einer Initiationshöhle im Tal der Dordogne in Frankreich in den Fels geritzt. Mit der einen Hand hält sie ihren schwangeren Bauch, der durch den natürlich hervortretenden Fels betont wird. In der anderen Hand hält sie ein Büffelhorn (ein entfernter Vor¬ läufer der »Cornucopia«, der Kuhgottheit 20000 Jahre später?) mit 59


13 Markierungen (der Zahl der Vollmonde und Menstruationsblu¬ tungen in einem Jahr sowie der Anzahl der Tage von Neumond bis Vollmond). Sie wurde als der älteste bekannte Kalender bezeich¬ net, der den Lebensrhythmus mit dem des Himmels in Einklang bringt. Die Höhle, die sie bewacht, symbolisiert den Leib der Mut¬ ter Erde und ist tief im Inneren mit den Bildern eines Paares beim Geschlechtsakt geschmückt, was uns deutlich macht, daß die In¬ itiationsriten mit Sexualität zu tun hatten. Als die Römer ihre er¬ ste Münze in der höhlenartigen Krypta des Tempels der Juno Moneta einrichteten, hielten sie damit eine Verbindung aufrecht, die schon Jahrtausende vor der Gründung Roms existierte. Natürlich geschah das alles, bevor Worte zur Beschreibung weib¬ licher Eigenschaften ihre abwertende Bedeutung erhielten. Worte

Juno Moneta und der Ursprung des Wortes money Juno ist eine sehr alte italische Gottheit. Ursprünglich unterschied sie sich von der griechischen Göttin Hera, verschmolz jedoch mit ihr in ei¬ ner Zeit der kulturellen Assimilation, als das Römische Reich seine grö߬ te Ausdehnung erreicht hatte. Juno und Hera galten aber beide im we¬ sentlichen als Göttinnen der Frauen. Juno war Teil der kapitolinischen Trias, des Dreigestirns, das Rom be¬ schützte (mit Minerva, der Göttin der Weisheit, und Jupiter, dem Gott des Himmels). Bei den Römern besaß so, wie jeder Mann seinen »Ge¬ nius« hatte, jede Frau ihre »Juno«, die Essenz wie auch jugendhafte Kraft der Weiblichkeit. Als Tochter des Saturn war Juno die Gottheit des weiblichen Men¬ struationszyklus und wurde von den römischen Frauen jeden Monat an den Kalenden, dem Neumondtag, verehrt. Juno war in allen weibli¬ chen Schlüsselsituationen maßgeblich, wie sich anhand ihrer Attribu¬ te erkennen läßt. Sie war die Pronuba, die eine Ehe mit Fruchtbarkeit segnete, Populonia, die Göttin der Empfängnis, Ossipago, die die Kno¬ chen des Fötus stärkt, Sospita, die Göttin der Wehen, und vor allem Lucina, die Geburtsgöttin, die den Neugeborenen ans Licht der Welt hilft. Ein Überbleibsel dieser Tradition findet sich noch heute, denn nach wie vor wählen viele Bräute den Monat Juni für ihre Hochzeit und si¬ chern sich so das Wohlwollen der Göttin, nach welcher dieser Monat benannt ist.66

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wie silly (engl, für »dumm, blöd«) bedeuteten »gesegnet von der Mondgöttin Selene«, »Hysterie« bezog sich auf die Gebärmutter,

nicht auf eine psychische Störung, und »Chaos« bedeutete »unbe¬ grenztes Werden« und war noch kein Synonym für »Unordnung«.

Die Unterdrückung der Großen Mutter »Wichtig ist, das auszusuchen, was man vergessen soll.« Roger Marlin du Gard

Selbstverständlich herrschten auch in matriarchalischen Gesell¬ schaften - aus unserer Sicht - keine paradiesischen Zustände.67 So deuten beispielsweise die Mythologie und Fundstücke darauf hin, daß in einigen Gebieten im Rahmen der Fruchtbarkeitsrituale Menschenopfer dargebracht wurden. In Nordeuropa geht aus den Ritualen in Zusammenhang mit den »Eichenkönigen« hervor, daß sich die oberste Priesterin jedes Jahr einen Partner wählte, der als Sonneneichenkönig verehrt wurde, aber während des Mittsom¬ merfestes »in der Blüte seines Lebens vor seinem Niedergang ge¬ opfert wurde«.68 Ähnlich verhielt es sich in Griechenland: »In alter Zeit regierte in Theben die >Eichen<-Göttin. Es heißt, daß ihre Priesterinnen je¬ des Jahr im Juli ihren Königsgemahl opferten, ihn in Stücke schnitten und verzehrten.«69 Wir wissen, daß in Theben bei Mitt¬ sommerfesten noch bis ins 6.Jahrhundert v. Chr. lebende Tier¬ opfer dargebracht wurden, die den »Eichenkönig« symbolisierten, und daß das Fleisch bei dem Ritual roh gegessen wurde. Waren die früheren Opfer ebenfalls nur symbolisch, oder wurden sie wirklich durchgeführt? Man weiß es nicht. Gab es eine Reaktion auf diese »matriarchalischen Exzesse«? Immerhin wissen wir, daß nach Jahrtausenden unangefochtener Führung die Unterdrückung des Archetyps der Großen Mutter einsetzte. Wir wollen auch hier wieder nur den wichtigsten kulturhistori¬ schen Entwicklungslinien folgen, die das moderne westliche Den¬ ken formten. Im einzelnen handelt es sich dabei um die indoger61


manischen Invasionen, die mesopotamischen Kulturen, die gei¬ stige Blütezeit Griechenlands, das Judentum, das Christentum und schließlich die Reformation. Abb.6 zeigt, wie diese Kulturen ge¬ meinsam die westliche Geisteshaltung schufen. Während der anschließenden Besprechung soll uns diese Darstellung helfen, den Überblick dabei zu behalten, wie die verschiedenen kulturel¬ len Schichten miteinander Zusammenhängen. Richard Tarnas ge¬ lang es, die einzelnen Teile des Puzzles in weniger als einer Seite Text zusammenzufassen (s. Kasten »Das westliche Denken ...«). Wir werden nun untersuchen, wie jede dieser Kulturen ihren Bei¬ trag zur kollektiven Unterdrückung des Weiblichen im allgemei¬ nen und des Archetyps der Großen Mutter im besonderen leistete. Dazu müssen wir das störende Paradoxon einer näheren Betrach¬ tung unterziehen, daß fast alles, was wir als »Zivilisationsprozeß« betrachten, unseren kollektiven Schatten genährt hat. Um nur ei¬ nige zu nennen: Die bemerkenswerte Fähigkeit zur Abstraktion in der hebräischen Tradition, zur Vernunft in der griechischen oder zur Mystik in der christlichen Überlieferung sollten jede für sich genommen als großer Beitrag zur Entwicklung der Menschheit an¬ gesehen werden. Allerdings unterdrückten diese Errungenschaf¬ ten, mit denen sich eine Kultur besonders hervortat, offensichtlich auch immer den weiblichen Archtyp. Beim Umgang mit unserem kollektiven Schatten müssen wir zunächst seine Existenz eingestehen und den Mut aufbringen, ihm ins Angesicht zu blicken, damit das ungeheure Leiden un¬ zähliger Millionen über Jahrtausende hinweg nicht vergeblich ge¬ wesen ist.

Indogermanische Invasionen Die ersten Anzeichen für eine Unterdrückung des Archetyps der Großen Mutter lassen sich in Europa auf das 3. Jahrtausend v. Chr. zurückverfolgen, als die Indogermanen in mehreren aufeinander¬ folgenden Wellen einfielen. Auf die Gefahr hin, zu stark zu ver¬ einfachen, setzt Gimbutas die Zivilisation des »alten Europa« in Kontrast zu den späteren Neuankömmlingen. Das alte Europa (vor 62


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Abb. 6: Diese Ent¬ wicklungslinien präg¬ ten die westliche Geisteshaltung, aus der das gegenwärtig in aller Welt vorherr¬ schende moderne Geldsystem hervor¬ gegangen ist.70 Eine charakteristische Figur repräsentiert hier jede Zivilisation. Die matrifokalen Gesellschaften werden durch die quadratischen Bildaus¬ schnitte angezeigt (was dem Yin-Aspekt entspricht), die patri¬ archalischen Gesell¬ schaften durch die Kreise (was auf den Yang-Aspekt hinweisen soll).


Das westliche Denken: eine Synthese »Die Entwicklung des westlichen Denkens wurde von dem heroischen Puls vorangetrieben, einen autonomen, rationalen Menschen zu schaf¬ fen. Das sollte durch die Zerstörung der ursprünglichen Einheit des Menschen mit der Natur geschehen. Diese Maskulinität wirkte sich auf die grundlegenden religiösen, naturwissenschaftlichen und philoso¬ phischen Perspektiven der westlichen Kultur entscheidend aus. Das be¬ gann mit den patriarchalischen Nomadenvölkern, die vor über 4000 Jahren die uralten matrifokalen Kulturen in Griechenland und der Le¬ vante eroberten, und zeigt sich immer noch in den patriarchalischen Religionen des Westens, die vom Judentum stammen, der rationalen Philosophie der Griechen, in den objektiven Naturwissenschaften des modernen Europa. Sie alle dienten zur Entwicklung eines autonomen menschlichen Willens und Intellekts: das transzendente Selbst, das un¬ abhängige Ich, der selbstbestimmte Mensch in seiner Einzigartigkeit, Losgelöstheit und Freiheit. Doch um das zu erreichen, unterdrückte der männliche Geist den weiblichen. Ob man das nun an der Unterjo¬ chung der prähellenischen matrifokalen Mythologie im alten Grie¬ chenland erkennt, an der jüdisch-christlichen Ablehnung der Großen Muttergöttin oder an der Begeisterung der Aufklärung für das kühle, rationale, seiner selbst bewußte Ich, das radikal von der entzauberten äußeren Natur losgelöst ist, fest steht, daß die Entwicklung des westli¬ chen Denkens auf der Unterdrückung des Weiblichen gründet - die Unterdrückung des undifferenzierten einheitlichen Bewußtseins, der participation mystique mit der Natur: ein progressives Verleugnen der anima mundi, der Seele der Welt, der Gemeinschaft der Lebewesen, des Allumspannenden, des Geheimnisses und der Vieldeutigkeit, der Vorstellungskraft, Gefühle, Instinkte, des Körpers, der Natur, der Frau, ein Verleugnen all dessen, was das Männliche projizierend als >anders< identifiziert.«71

ca. 40 ()()() bis 5000 Jahren) war in erster Linie »matrifokal, seßhaft, friedlich, kunstliebend, erd- und seegebunden«. Diese Zivilisation wurde etwa 3500 v. Chr. von einer »patrifokalen, mobilen, kriege¬ rischen, ideologisch zum Himmel orientierten Gesellschaft« er¬ obert, die wenig für Kunst übrig hatte.72 Gimbutas führt als Argu¬ ment für ihre These u. a. an, daß in £atal Hüyük keine Verteidi64


gungsmauern und keine Angriffswaffen gefunden wurden. Falls das typisch für matrifokale Kulturen war, wären sie für eine Zivili¬ sation mit einer ausschließlich männlichen Kaste spezialisierter Krieger, die durch die Domestizierung des Pferdes sehr mobil war, eine leichte Beute gewesen.73 Unabhängig von Gimbutas gilt es als gesichert, daß die Indogermanen eine spezialisierte Kriegerkaste hatten und patriarchalische Himmelsgötter verehrten.74 Wir wis¬ sen auch, daß zu der Zeit durch die Bronzemetallurgie eine fort¬ schrittlichere Waffentechnik möglich wurde, so daß eine militäri¬ sche Eroberung vergleichsweise friedlicher matrifokaler Kulturen durchaus plausibel klingt. Nach der Eroberung war es üblich, die männlichen Erwachsenen der Besiegten zu töten und dann die Frauen zu vergewaltigen und zu versklaven.75 Darin haben die unseligen »ethnischen Säube¬ rungen« unserer Tage gewissermaßen einen Vorläufer. In nur we¬ nigen Generationen veränderte sich das genetische und kulturelle Erscheinungsbild einer Region. Danach wurde die Mythologie der besiegten Völker allmählich dem patriarchalischen System ange¬ paßt; die allmächtige Göttin spaltete man in viele separate Funk¬ tionen auf, die zu Attributen oder Partnerinnen der dominanten männlichen Götter wurden. Unterdrückung, Kontrolle und Un-

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Der Mythos von Wotan, dem germanischen Kriegsgott, um¬ faßt auch die frühen Reiterhor¬ den, eine spezialisierte Krieger¬ kaste bei den Indogermanen (Wotan, Stele von Hornhausen, Museum in Halle).

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terwerfung des Weiblichen und vor allem der Aspekte der Sexua¬ lität und Fruchtbarkeit der Großen Mutter waren seitdem die prak¬ tische Folge. Die mesopotamische Kultur Gerda Ferner leistete mit ihrem Buch Die Entstehung des Patriar¬ chats einen wertvollen Beitrag zur Forschung. Sie untersuchte me¬ sopotamische Gesetze und Traditionen, die darauf abzielten, die weibliche Sexualität und Fruchtbarkeit im Interesse der Krieger zu kontrollieren. Ferner bietet für die folgenden Thesen überzeugen¬ des Quellenmaterial: •»Die Periode der Durchsetzung des Patriarchats< war nicht >ein Ereignis«, sondern ein Prozeß, der sich in einem Zeitraum von etwa 2500 Jahren, ungefähr von 3100 bis 600 v. Chr., vollzogen hat. Selbst im Bereich des alten Vorderen Orients ging dieser Pro¬ zeß in einigen unterscheidbaren Gesellschaften in unterschied¬ licher Geschwindigkeit und zu verschiedenen Zeiten vor sich.«76 •»Die Aneignung der sexuellen und reproduktiven Kapazität der Frauen durch die Männer geschah vor der Entstehung des Pri¬ vateigentums und der Klassengesellschaft. Zweifellos ist die Ver¬ wandlung dieser Fähigkeiten in Waren eine der Voraussetzun¬ gen für die Entstehung des Privateigentums.« •»Die archaischen Staaten waren patriarchalisch organisiert, da¬ her hatte der Staat von Anfang an großes Interesse an der Erhal¬ tung der patriarchalischen Familie ... So wurde die Unterord¬ nung der Frau schon in den frühesten Gesetzen institutionali¬ siert und mit aller staatlicher Macht durchgesetzt ... Die Entthro¬ nung der mächtigen Göttinnen und ihr Ersatz durch einen dominanten männlichen Gott erfolgte in den meisten Kulturen des Nahen Ostens nach der Etablierung eines starken und impe¬ rialistischen Königtums.« So stehen uns beispielsweise Texte zur Verfügung, die die Verdrängung der Göttin Inan na aus ihrer Schlüsselposition belegen, dem Ursprung aller Macht in Uruk. In den frühesten Inschriften ist sie noch die Quelle des König¬ tums von Sumer, und die königliche Macht leitet sich von der 66


Liebe zu ihr ab; später wird sie jedoch aus dieser Funktion durch Enlil von Nippur verdrängt.77 •Eine interessante Beobachtung beleuchtet die enge Verbindung zwischen staatlichen hierarchischen Systemen und der privaten Unterwerfung der Frau. »Von Beginn an war der archaische Staat so organisiert, daß die Abhängigkeit des männlichen Familien¬ oberhauptes vom König und der staatlichen Verwaltung durch seine beherrschende Stellung innerhalb der Familie kompen¬ siert wurde. Die männlichen Familienvorstände verteilten die materiellen Mittel der Gesellschaft auf ihre Familienmitglieder so, wie der Staat diese Mittel ihnen zuteilte. Die Kontrolle der Fa¬ milienoberhäupter über die weiblichen Familienmitglieder und minderjährigen Söhne war für das Bestehen des Staates ebenso wichtig wie die Kontrolle des Königs über seine Soldaten ... Un¬ geachtet des politischen und ökonomischen Systems wird in der patriarchalen Familie die besondere Art von Persönlichkeitsstruktur hervorgebracht und bestätigt; die in einem hierarchischen System an¬ gemessen funktionieren kann ... Die Familie spiegelt nicht nur die Ordnung im Staat und erzieht die Kinder dazu, sich nach deren Regeln zu richten, sie erschafft darüber hinaus diese Ordnung immer wieder neu und verstärkt ihre Wirkung.«78

Die griechische Kultur Wie alle Indogermanen formten die Griechen die archaische My¬ thologie bis zur Unkenntlichkeit in patriarchalische Mythen um.79 Für die Griechen symbolisierte sich bereits der Gründungsakt für eine zivilisierte Gemeinschaft im »Zerschneiden des Weiblichen« (s. Kasten). Darüber hinaus bot das Erwachen des rationalen Gei¬ stes in Griechenland neue Argumente für die Unterdrückung des Weiblichen, Argumente, die zu Eckpfeilern des westlichen Den¬ kens der nächsten 25 Jahrhunderte wurden. Dazu gehört Par¬ menides' Erklärung, Unabhängigkeit, Autonomie und die Überle¬ genheit der Vernunft seien die einzigen legitimen Richter der Rea¬ lität. Für ihn führten alle Sinne in die Irre, nur der intellektuelle Verstand nimmt die Wirklichkeit wahr. Sokrates und Plato bauten 67


Das »Zerschneiden des Weiblichen« als Metapher für die Zivilisation Joseph Campbell beschreibt, wie griechische Oberpriester bei der Gründung einer neuen Stadt vorgingen: Sie nahmen eine große Kuh¬ haut und schnitten sie mit einem Messer in ein langes, dünnes Seil. Die¬ ses Seil wurde ausgelegt und markierte den Umriß der neuen Stadt. Das Ritual ist als Metapher zu sehen, aus der weiblichen Natur (sym¬ bolisiert in der Kuhhaut) einen geordneten, »zivilisierten« Raum zu

schneiden. Die Gründung römischer Städte hatte den gleichen symbolischen Hintergrund. In Rom und allen anderen römischen Städten wurde bei der Gründung die Erde rituell mit einem Pflug umgepflügt, der von Ochsen gezogen wurde. Damit wurde der Umriß der Stadt markiert.

darauf auf: Der Verstand wird mit dem Transzendentalen, dem spi¬ rituellen Verlangen und dem Absoluten assoziiert. Alles andere wird zum »Irrationalen«, das mit der Unvollkommenheit der Ma¬ terie, instinktivem Verlangen und dem Relativen in Zusammen¬ hang gebracht wird. Schließlich hieß es in der aristotelischen Phi¬ losophie, daß Frauen unvollständige und mißgebildete Menschen einer ganz anderen Ordnung als die Männer seien. 23 Jahrhun¬ derte später bezog sich Freud als Beweis für die »natürliche Min¬ derwertigkeit« der Frau immer noch auf diese »Unvollständigkeit« in ihrer Natur.

Das Judentum Die alten Hebräer waren ursprünglich semitische Nomaden und Hirten aus der Wüste. Vermutlich hatten sie ebenfalls einen Him¬ melsgott. Seßhafte Kulturen verehren eher »erdgebundene« Gott¬ heiten, die bestimmten Bergen, Quellen oder anderen herausra¬ genden geographischen Merkmalen zugeordnet werden. Noma¬ den dagegen, die durch die Wüste ziehen, beten meist zu Gotthei¬ ten mit Sitz im Himmel. Joseph Campbell weist daraufhin, daß »Jahwe, der Stammesgott der Hebräer, auch der erste Gott war, der je den Anspruch erhob, 68


der einzige Gott zu sein«.80 Als das erste »Volk des Buches« war cs den Hebräern allerdings durch die Erfindung der Schrift auch mög¬ lich, zum erstenmal den Schöpfungsakt von der Frau loszulösen. Genauso wie ein Text unabhängig von seinem Verfasser Inhalte vermittelt, kann das Wort »ein eigenständiges Leben führen«. Das machte es vorstellbar, daß ein einzelner männlicher Gott die Welt ohne die Mitwirkung des weiblichen Prinzips nur durch »die Macht des Wortes« schuf. Die Religion der alten Hebräer wurde als »männlicher Fruchtbarkeitskult« beschrieben, »in dem das Ritual der Beschneidung, das symbolische Opfer81 des männlichen Ge¬ schlechtsorgans, das Zeichen für den Bund darstellt, den jeder männliche Hebräer mit Gott eingeht«.82 Durch diese Handlung sind alle Frauen schon aufgrund der Anatomie davon ausge¬ schlossen, das Zeichen des Bundes zu tragen. »Monotheismus, also der Glaube, daß es nur eine Gottheit gibt, erwies sich für die Religion der Göttin sogar als ein noch stärkerer Gegner als der Polytheismus der Himmelsgötter ... Obwohl die Bi¬ bel daraus eine einfache Entscheidung zwischen dem jahwistischen Monotheismus und dem kanaanitischen Polytheismus machte, war die Situation in Wirklichkeit viel komplizierter.«81 Diese Verzerrung bekämpften die Gründer der israelitischen Religion heftig. Ein Beispiel dafür ist etwa die Geschichte von der Verehrung des Goldenen Kalbs, die Mose dazu veranlaßte, die Tafeln mit den Geboten zu zerbrechen, die er auf dem Berg Sinai erhalten hatte (2. Mose 32). Die heftige Reaktion Moses gegen diesen Rückfall in die ägyptische Götzen Verehrung ist erst erklär¬ bar, wenn man die Bedeutung des Goldenen Kalbs in Ägypten kennt. Es ist nämlich der »Sohn« Hathors, einer Variante der Gro¬ ßen Mutter. Trotz dieser heftigen Ablehnung der Großen Mutter in den An¬ fangszeiten führte König Salomo, der Erbauer des Tempels in Jeru¬ salem (ca. 950 v. Chr.), auf Bitte seiner sidonischen Frau die Ver¬ ehrung der Aschera wieder ein, der kanaanitischen Großen Mut¬ ter, »die Gott geboren hatte«. Salomos Sohn Rehabeam brachte so¬ gar direkt im Tempel ein Bildnis der Aschera an (1. Könige 15,13). 69


Während der folgenden drei Jahrzehnte »kam und ging die Ver¬ ehrung der Aschera im Tempel von Jerusalem mit den Macht¬ wechseln in der Politik«84 (s. Kasten). Aber während der Regie¬ rungszeit von König Josia (638-608 v. Chr.) gewann die Jerusale¬ mer Priesterschaft die Oberhand, und das geistliche Leben wurde anhand eines alten, im Tempel gefundenen Gesetzbuches umge¬ staltet. Jegliche »Götzendienste« wurden gewaltsam unterdrückt, was bis zur Zerstörung und Schändung aller nicht jüdischen Hei¬ ligtümer ging. »Er ließ das Bild der Aschera aus dem Tempel brin¬ gen und im Tal des Kidron verbrennen und zu Staub mahlen und den Staub auf die Gräber derer werfen, die sie verehrt hatten ... schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit von der Stadt auf das Land, zerstörte überall die Aschera-Bilder und füllte ihre Stätte mit Menschenknochen. In ähnlicher Weise verfuhr er mit den ande¬ ren >Höhen< und den dortigen Götzenbildern, die ursprünglich von Salomo aufgestellt worden waren.«85

Das Christentum Der neutestamentliche Bibelkanon wurde im 4. Jahrhundert ein¬ heitlich von der christlichen Kirche anerkannt. Die hebräische To¬ ra (das »Gesetz«), die »Propheten« und die »Schriften« sind bis heute Bestandteile des »Alten Testaments«. Mit der Bibel kam der monotheistische männliche Gott als absoluter Monarch, dem nur männliche Priester dienen konnten. Bei der Reaktivierung des ar¬ chetypischen Dreigestirns (wie in Brahma-Vishnu-Shiva, Isis-Osiris-Horus oder Juno-Jupiter-Minerva usw.) war die christliche Dreifaltigkeit die einzige, in der alle Beteiligten männlich sind (Va¬ ter, Sohn und Heiliger Geist). Mit dem Alten Testament wurde die Genesis die Schöpfungsge¬ schichte für die westliche Kultur. Von entscheidender Bedeutung ist die Geschichte von Adam und Eva, in der letztere (»die Mutter allen Lebens«) durch die Verführung der Schlange (eines der älte¬ sten Symbole für die Große Göttin) verantwortlich für den Sün¬ denfall ist. Später wird die Abkehr der christlichen Jungfrau von den Fruchtbarkeitsriten der Großen Mutter noch deutlicher, wenn 70


»Jahwe und seine Aschera« Die Veröffentlichung des Buches The Hebrew Goddess von Raphael Patai86 im Jahre 1967 sorgte wie erwartet für Unruhe, schließlich ging es um eine Religion, in der es traditionell nur Platz für einen männlichen Gott gibt. Allerdings wird selbst in der offiziellen Tora ausdrücklich ei¬ ne Himmelskönigin erwähnt: »... und die Frauen kneten den Teig, daß sie der Himmelskönigin Kuchen backen« (Jeremia 7, 1 8), die Identität dieser mysteriösen »Königin« wird jedoch nie geklärt. Faszinierenderweise haben seit 1 967 neue archäologische Funde ein¬ deutige Belege erbracht, die die These von der historischen Rolle einer weiblichen Gottheit im frühen Judentum stützen. Inschriften an einem jüdischen Grab aus der Eisenzeit in Khirbet el-Qöm, einer judäischen befestigten Stadt, und verschiedene andere Inschriften aus der Zeit zwischen 800 bis 750 v.Chr., die in Kuntillet 'Ajrud von dem israeli¬ schen Archäologen Ze'ev Meshel gefunden wurden, nennen wieder¬ holt »Jahwe und seine Aschera«.87 Wissenschaftler kamen zu dem Schluß, daß »wir aufgrund der Häufigkeit der Formel »Gesegnet von Jahwe und seiner Aschera« annehmen müssen, daß Jahwe zumindest in bestimmten Kreisen üblicherweise mit Aschera in Verbindung ge¬

bracht wurde«.88 Danach war der monotheistische männliche Gott des Judentums fest und für immer etabliert. Auf die kanaanitische Gottheit bezog man sich nur noch mit den Worten »die Abscheulichkeit«. Die einzigen bedeu¬ tenden Spuren, die der Kult um die »jüdische Göttin« hinterließ, sind ihre drei großen jahreszeitlichen Feste: Passah (ungesäuertes Brot, wenn der Frühling die Wnterregen beendet), das Erntefest im Früh¬ sommer (wenn die ersten Früchte reif werden) und das Laubhüttenfest im Herbst (wenn die Ernte eingebracht ist).89

Maria in der Ikonographie auf einer Mondsichel steht und die Schlange mit ihren Füßen zertritt.90 Im Christentum wurde die Sünde Evas durch die Jungfrau Maria überwunden, in deren unbeflecktem Leib der Erlöser empfangen wurde. Ursprünglich bedeutete virgo soviel wie »nicht von einem Mann kontrolliert« (also »unabhängig« oder »eins mit sich selbst« - im Unterschied zum Begriff virgo intacta, der eine Frau bezeich¬ net, die keine sexuellen Beziehungen gehabt hat). Alle Liebesgöt71


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Christus Pantocrator, der Allmächtige. Dieses gigantische Mosaik bedeckt die gesamte Kuppel der Kathedrale von Monreale. Die Figurenreihe darunter zeigt Vermittler zu Christus wie Engel und Heilige, in ihrem Zentrum (am unteren Bildrand) Maria, die Mutter Gottes (1 1 74-11 82).

tinnen der alten Welt waren Jungfrauen in diesem ursprünglichen Sinne. Inanna, Ischtar, Astarte, Anath und Venus konnten Liebha¬

ber nach Belieben akzeptieren oder verschmähen. Nur zwei griechi¬ sche Göttinnen, Artemis und Athene, lehnten Männer gänzlich ab. »Das Ungewöhnliche an der christlichen Religion war, daß sie die Idee der Jungfrauengeburt dazu benützte, den hohen Wert der As¬ kese auf immer zu besiegeln.«91 Gelegentlich wird behauptet, die¬ ser Beitrag gehe auf einen Übersetzungsfehler bei der Übertragung der hebräischen Bibel ins Griechische zurück. Das Wort almah be¬ zeichnet den sozialen Status eines unverheirateten Mädchens, wurde aber ins Griechische mit dem Begriff parthenos (= »Jung¬ frau«) übersetzt, der sich auf den körperlichen Zustand bezieht.92 Die einzigartigen Eigenschaften der Jungfrau Maria machten es normalen sterblichen Frauen unmöglich, sich wirklich mit dieser 72


übernatürlichen Himmelskönigin zu identifizieren. Sie war die einzige ihres Geschlechts, die nicht durch ihr Frausein »befleckt« war (Maria Immaculata, die »Unbefleckte«). Sterbliche Frauen blie¬ ben die Töchter Evas. »Eva, zum Kindergebären verdammt und nicht mit der Mutterschaft gesegnet, wurde mit der Natur identi¬ fiziert, eine Form niedriger Materie, die die Seele des Mannes die geistige Leiter hinunterzerrt. In Fäkalien und Urin der Geburt - so Augustinus' Ausspruch - zeigt sich die Nähe der Frau zu allem, was niedrig, gemein, verderbt und körperlich ist, in konzentrierter Form; der >Fluch< der Menstruation machte sie den Tieren ähnlich; die Verlockungen ihrer Schönheit waren nichts als ein Aspekt des Todes, den ihre Verführung Adams mit sich gebracht hatte.«93 Der heilige Hieronymus ging sogar noch weiter und betrachtete jede Frau als »das Tor des Teufels, Patronin des Bösen, Stachel der Schlange«. Aus dieser Perspektive sind alle Attribute der Großen Mutter zu negativen, diabolischen Eigenschaften geworden.94 Der Grund für die heftige Attacke der frühen Kirche auf die Über¬ reste der Kultur der Großen Mutter läßt sich aus dem historischen

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Adam dazu bringt, den Apfel zu es¬ sen, der beide »in Sünde« stürzen und aus dem Paradies vertreiben wird. Die Schlange hat einen Frauen¬ kopf und wurde so zum Symbol der sündigen Natur der Frau. In früheren Zeiten war die Schlange ein Sinnbild der Großen Mutter und bezog sich auf ihre Weisheit, Macht und Sexua¬ lität. Die Wandlung zur Personifikati¬ on des Bösen begann mit der hebräi¬ schen Schöpfungsgeschichte.

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Kontext heraus erklären. Das Christentum verbreitete sich ur¬ sprünglich vor allem in den Städten des Römischen Reiches. Nach dessen Zusammenbruch widersetzten sich die Heiden (lat. paganus = »Heide«, ursprünglich »Mensch vom Land«) der Christianisie¬ rung und hielten oft hartnäckig an ihren Fruchtbarkeitsriten fest. Die beliebtesten Rituale für die Göttin fanden bei uralten Menhi¬ ren, Quellen und heiligen Hainen statt. Außerdem gab es auch neuere »Importe« (vor allem die Kulte der Isis, Artemis, Kybele und Demeter) aus der Zeit des Römischen Reichs. Die Kirche verfolgte drei Strategien beim Umgang mit diesen heidnischen Kulten der Großen Mutter: 1. Wenn möglich, ging die Kirche wie die alten Hebräer bei den Ascheras vor: Sie löschte den Kult aus. St. Patrick und St. Mar¬ tin wurden neben anderen heiliggesprochen, weil sie im kelti¬ schen Europa heilige Haine gerodet und Menhire zu Hunder¬ ten zerstört hatten. 2. Wenn sich die Vernichtung nicht durchführen ließ, christiani¬ sierte die Kirche den lokalen Kult und ließ ein Gotteshaus an der heiligen Stelle bauen. Oft findet man in den Fundamenten von Kirchen und Kathedralen (u.a. Chartres und St-Guidon) noch Menhire eingebettet. Eine andere Möglichkeit war, die At¬ tribute der Göttin eines lokalen Kultes der Jungfrau Maria oder einem anderen Heiligen zuzusprechen. Jacques de Voragines (ca. 1228-1298) Legendes Dorees (Legenda aurea) bieten ein be¬ merkenswertes Kompendium solcher christianisierter Legen¬ den. 3. Schließlich sublimierte die Kirche auch die Energie des Weibli¬ chen auf andere originelle Weise, indem sie die Institution Kir¬ che als »Mutter« präsentierte, in deren Leib alle, die ihren An¬ weisungen Folge leisten, Trost und Erlösung finden. Die offizielle christliche Theologie und das Neue Testament spiel¬ ten die Rolle von Maria herunter. Ihre Geburt und ihr Tod werden nicht einmal in der Bibel erwähnt. Den Schriften zufolge ist sie eindeutig von sekundärer Bedeutung: Sie gilt als das reine Gefäß 74


Die mythopoetische Umdeutung der Schlange als Sinnbild der sexuell aktiven Großen Mutter wurde durch das Symbol der Jungfrau Maria ver¬ vollständigt, die eine Schlange mit den Füßen zertritt - oder manchmal auch den Mond, ein anderes Sym¬

bol für die urzeitliche Große Mutter. Gemälde »Die Unbefleckte Emp¬ fängnis« von G. B. Tiepolo (16961 770). Madrid, Museo del Prado.

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für Gottes heiliges »Wort«. Sie gebiert Christus, ist aber mit Si¬ cherheit keine Göttin, sondern nur eine sterbliche Frau, die »Gna¬ de bei Gott fand« (Lukas 1,30). Dennoch sehen wir sie, 2000 Jah¬ re nachdem die Evangelien verfaßt wurden, im katholischen Dog¬ ma als »Mutter Gottes, ewige Jungfrau, unbefleckt empfangen, aufgefahren in den Himmel mit Leib und Seele, wo sie regiert als Königin in Ewigkeit«. Was ist passiert? Ein ganzer populärer Literaturzweig, die Apokryphen, ent¬ wickelte sich ab dem 1. bzw. 5. Jahrhundert n.Chr. und gestaltete viele Episoden aus Marias Leben detailreich und weit über das hin¬ aus aus, was in der Bibel steht. Der Marienkult erreichte seinen Höhepunkt im Mittelalter, und Maria zog weiterhin fast alle Attri¬ bute der urzeitlichen Großen Mutter auf sich (s. Kasten). Allein in Frankreich erbaute man ihr zu Ehren in nur einem Jahrhundert (von 1170 bis 1270) Hunderte Kirchen und 80 Kathedralen! Im Ge¬ gensatz dazu wurde Christus keine einzige geweiht, was erstaun¬ lich ist für eine Religion, in der es eigentlich nur um ihn gehen soll. 75


Die mittelalterliche Maria als die Große Mutter Der Name »Maria« (er läßt an das lat. mare = »Meer« denken) bezieht sich auf das Urmeer, aus dem alle »Großen Mütter« stammen: Die su¬ merische Göttin Nammu wurde mit dem Ideogramm des Meeres dar¬ gestellt, die ägyptische Isis war »geboren aus der völligen Nässe«, Aphrodite war »geboren aus dem Schaum des Meeres«. Die Muschel, an der sich die Eingeweihten der Eleusis (Demeter-Kult) erkannten, wurde zum Wahrzeichen der Pilger, die unterwegs nach dem berühm¬ ten Santiago de Compostela viele heilige Stätten der Madonna pas¬ sierten. Von Isis erbte Maria ihren Titel »Stella Maris« (= »Stern des Meeres«) sowie die Rolle als Schutzheilige der Schiffe, Seefahrer und Seerettung in einer Zeit, in der sich die Navigation bei Nacht an den Sternen orientierte. »Das Steinboot der Isis, welches an das rituelle Boot erinnert, das bei einer Prozession in Rom getragen wurde, als die Mysterienkulte florierten, wird heute noch bei der Kirche Santa Maria della Navicella (>Unsere liebe Frau des Bootes<) aufbewahrt.«9S In katholischen Klöstern wird Maria beim Abendgebet zum Sonnen¬ untergang als Himmelskönigin gegrüßt, eine rituelle Anrede, die früher für Inanna, Ischtar und Isis verwendet wurde. Auf vielen Gemälden ist das »Kornwunder« dargestellt, das die Le¬ gende illustriert, wie durch die Gegenwart der Jungfrau auf einem Feld beim Säen die neue Saat sofort keimte und zu ihrer vollen Größe ern¬ tereif heranwuchs. Wie ihre Vorgängerinnen, die alten Fruchtbarkeits¬ göttinnen von Inanna bis zu Demeter, sorgt Maria für eine reiche Ern¬ te, die die Menschheit ernährt. In Italien und Deutschland war Maria als »Kornmädchen« bekannt, ein Titel, der früher Demeter zugespro¬ chen worden war. Das populäre Bild von Maria am Spinnrad, das gelegentlich in Fres¬ ken oder auf Gemälden zu sehen ist, geht auf eine der Apokryphen zurück, nach der Maria den Vorhang im Tempel spann und webte.96 Damit bewahrt sie das griechisch«;, germanische und mayanische ar¬ chetypische Bild der Großen Mutter, die die Schicksalsfäden spinnt, oder das der alten griechischen Göttin der Geburt, Eileithyia. Die einzige Eigenschaft der urzeitlichen Großen Mütter, die Maria nie übernahm, ist deren Sexualität. Dieser Aspekt wurde auf Maria Mag¬ dalena übertragen, die »Sünderin«, die nicht die Füße Jesu salbte, son¬ dern seinen Kopf, genau wie in den sumerischen Zeremonien, bei denen die oberste Priesterin den Kopf des Königs vor seinem rituellen

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Opfer salbte. Jesus bemerkte zu dieser Geste, die seine jünger schockierte: »... hat sie getan, daß sie mich fürs Grab bereite« (Matt. 26,1 1-12; Markus 14,3-8). Für den mittelalterlichen Menschen gab es keinen Zweifel, was Maria Magdalena symbolisierte; ein Haus, in dem ehemalige Prostituierte lebten, bezeichnete man als eine »Magda¬ lene«.97

Gleichzeitig wurden jedoch erhebliche Vorsichtsmaßnahmen ge¬ troffen, um die weibliche Versuchung für Mönche im wahren Le¬ ben zu vermeiden. So verboten beispielsweise »die Regeln des Klo¬ sters Cluny jeder Frau, den Klosterbezirk - egal, aus welchem Grund - zu betreten. Die Regeln der Zisterzienser waren noch strenger, dort durften Frauen nicht einmal an der Klosterpforte er¬ scheinen. Wenn eine Frau die Kirche betritt, wird der Gottesdienst eingestellt, der Abt abgesetzt, und die Mönche werden zu Fasten bei Wasser und Brot verurteilt.«98 Heute würde man diese Reaktio¬ nen als paranoid bezeichnen. Eine derartige Paranoia kam einige Jahrhunderte später während der Inquisition zum Ausdruck. Der Wahn währte mehrere Jahr¬ hunderte, während deren Millionen von Frauen verdächtigt, ver¬ folgt, gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden oder auf andere Weise als Hexen den Tod fanden (s. Kasten »Hexenver¬ brennungen«). Auch der Protestantismus trug keineswegs dazu bei, dem Urbild der Großen Mutter einen angemessenen Platz einzuräumen, hatte er doch selbst die letzten Reste eines Einflusses des weiblichen Ar¬ chetyps eliminiert, die sich wieder in den Katholizismus einzu¬ schleichen begannen. »Die Reformation war mit ihrer eindeutigen Ablehnung der Marienverehrung und Heiligenbilder durch den ra¬ dikalen Bruch mit dem Althergebrachten so erfolgreich, weil die psychologische und emotionale Verbindung zum Bild von weibli¬ cher Heiligkeit völlig durchtrennt wurde ... Das Aufkommen des protestantischen Glaubens im 15. Jahrhundert war zwar nicht die 77


Hexenverbrennungen Die Zahl der Opfer bei der Hexenverfolgung variiert zwischen 40000 (wobei nur die gezählt werden, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden und deren Gerichtsakten heute noch vorhanden sind) und neun Millionen (darunter auch diejenigen, die unter der Folter und im Gefängnis umkamen oder nach der Anklage Selbstmord begingen). Die wenigen noch vorhandenen Dokumente geben einen Einblick da¬ von." Im Jahr 1468 erklärte der Papst die Hexerei zum crimen exceptum und hob damit alle gesetzlichen Beschränkungen für die Folter auf. Papst Innozenz VIII. rief im Jahr 1 488 offiziell einen »heiligen Krieg« ge¬ gen die Hexen aus. Die Dominikaner, deren Orden ursprünglich zur Bekämpfung der »Ketzerbewegung« der Katharer gegründet worden war, wurden angewiesen, gegen die Hexen zu predigen. 1523 wurden in der Diözese Como in Norditalien in einem einzigen Jahr 1000 He¬ xen verbrannt. 1585 blieb nach Hexenverbrennungen in zwei Dörfern in jedem der Orte nur eine einzige Frau am Leben. 1 609 wurde die ganze Bevölkerung von Navarra in Spanien zu Hexen erklärt. Der Fürst¬ bischof Johann Georg II. von Bamberg ließ von 1622 bis 1623 ein ei¬ genes Gerichtshaus für die Hexenprozesse errichten und 600 Frauen verbrennen. 1628 standen in Würzburg 158 »Hexen« in Flammen, darunter auch Kinder unter zehn Jahren. Die Jagd auf Hexen war darüber hinaus ein lukratives Geschäft. Es gab Prämien, wenn man sie fing, vor Gericht brachte, sie im Gefängnis be¬ wachte, gegen sie aussagte oder sie folterte. Das Geld dafür stammte aus dem Vermögen des jeweiligen Opfers. Wir sollten hier nicht außer acht lassen, daß auch Männer als »Hexer« verurteilt wurden, beim Großteil der Opfer handelte es sich jedoch um gewöhnliche Frauen, die allein in bescheidenen Verhältnissen lebten und von keinem Mann, vor allem keinem einflußreichen, geschützt wurden. Zur »Ehrenrettung« der katholischen Kirche muß man sagen, daß sie kürzlich ihre Rolle in den Jahrhunderten der Hexenverfolgung anlä߬ lich des »heiligen Jahres« 2000 einräumte ...

Ursache für die Hexen Verfolgungen, doch das zeitgleiche Auftre¬ ten versetzte den Werten der Göttinnen, der Freiheit, einen Glau¬ ben zu praktizieren, der die Spiritualität in der Natur und den ei¬ genen Körper ehrte, den Todesstoß.«100 78


Der Druck zeigt »drei berüchtig¬ te Hexen« verschiedenen Alters, die 1 589 in Chelmsford, Essex, ihr Ende am Galgen fanden. Die monsterartigen Tiere, darunter ein kopulierendes Paar im Vor¬ dergrund, sind ein Hinweis auf die »Teufelspraktiken«, derent¬ wegen die Frauen verurteilt wor¬ den waren.

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Männliche Helden und die Unterdrückung des Weiblichen Joseph Campbell erklärte, daß es einen dominanten Mythos gibt, der die Entwicklung der männlichen Identität in allen Kulturen formte: den Heros in tausend Gestalten. Jede Kultur betont be¬ stimmte archetypische Kräfte, doch allen ist gemeinsam, daß der Held ein Gott oder ein Sterblicher ist, jung oder alt, arm oder reich, König oder Bürgerlicher, doch stets männlich (s. Kasten). Bei die¬ sen Helden der Mythen handelt es sich oft um Krieger: den Samu¬ rai in Japan, den Kreuzritter, Don Quixote, den unabhängigen Siedler im Wilden Westen oder Superman. In anderen Kulturen steht der Magier als Held im Vordergrund, vom hebräischen Pro¬ pheten bis zu Dante, vom Missionar bis zum Wissenschaftler. Die Artussage oder die göttliche Abstammung aller frühen Könige ak¬ tivieren dagegen den Archetyp des Königs. Diese Vorliebe für eine heroische, maskuline archetypische Ener¬ gie ist gleichzeitig Ursache und Folge der Unterdrückung des Weib¬ lichen im allgemeinen und der Großen Mutter im besonderen. Daraus resultiert, daß es in unseren westlichen Kulturen heute of¬ fiziell keinen Göttinnenmythos und keine weibliche Dimension im Kollektivbild des Göttlichen mehr gibt, was etwa auch die fol¬ gende Bemerkung von Adrienne Rich bestätigt: »Ich kenne keine 79


Frau - Jungfrau, Mutter, Lesbierin, Verheiratete, im Zölibat Leben¬ de, ob sie nun ihren Lebensunterhalt als Hausfrau verdient, als Bar¬ frau oder als Enzephalogramm-Leserin -, für die ihr Körper nicht ein fundamentales Problem ist.«101 Dabei handelt es sich um einen wichtigen Aspekt, denn wenn man bei einer Gesellschaft die Vorstellung vom Göttlichen kennt, findet man auch heraus, welche Probleme sie hier auf Erden hat. In den alt- und jungsteinzeitlichen sowie den kretischen Mythen galt alles als lebendig, als belebt, heilig, mit einer Seele und einem Sinn versehen. Diese Vorstellung können wir in den von uns als »primitiv« bezeichneten Gesellschaften noch heute beobachten, sie ist sogar der Grund dafür, daß wir solche Völker »primitiv« nen¬ nen. Fünftausend Jahre patriarchalischer Herrschaft formten das moderne Denken, das die Trennung zwischen Verstand und Natur, Geist und Materie oder Körper und Seele bis zum äußersten ver¬ folgt (s. Kasten).

Das Problem Nr. 1 mit Helden: Das Problem für die anderen Helden jeglicher Art brauchen ein Opfer, das sie retten können, und da¬ mit auch einen Unterdrücker, vor dem man das Opfer retten muß. Die¬ se Dreiecksbeziehung liegt im Zentrum der Menschheitsgeschichte und besonders des prometheischen westlichen Denkens. Heroische Ritter brauchen schutzlose jungfrauen, die vor Drachen gerettet wer¬ den müssen. Heldenhafte hebräische Propheten schützten Israel vor dem Zorn Jahwes, und christliche Missionare entrissen heidnische See¬ len den Klauen des Teufels. Wissenschaftler kämpfen gegen die Auf¬ klärungsfeindlichkeit, und Bergsteiger bezwingen Berge, eben »weil es sie gibt«. Das hat zu den besten Leistungen des Menschen geführt. Allerdings besteht ein Problem für die anderen, denn wenn sich der Held mani¬ festiert, sind die verbleibenden Rollen nicht besonders attraktiv ... Könnte das Bedürfnis nach einem heroischen Ernährer in jeder Fami¬ lie seinen Ursprung in einem auf Knappheit basierenden, wettbe¬ werbsfördernden Währungssystem haben?

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Der Held im Kampf gegen einen wilden Drachen, aus der Deckung beobach¬ tet eine Jungfrau rechts im Hintergrund die Szene (Holzschnitt »Der Heilige Georg tötet den Drachen« von Albrecht Altdorfer, 1511).

Bei den Meilensteinen dieses Weges denken wir vermutlich auto¬ matisch an Aristoteles oder Descartes, doch der Prozeß setzte we¬ sentlich früher ein. Bereits in der Bronzezeit wurde in Mesopota¬ mien die Muttergöttin Tiamat durch den überlegenen Marduk aus¬ gelöscht, den unsichtbaren Himmelsgott über Wind, Donner und

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Das Problem Nr. 2 mit Helden: Das Problem für sie selbst Die männliche Identität des Helden verlangt, daß Schmerzen schwei¬ gend ertragen oder sogar gänzlich geleugnet werden. »Die gefürchte¬ te Wahrheit für den Mann liegt darin, daß er in seinem Versuch, über den Schmerzen des Lebens zu stehen, gar nichts mehr empfindet -we¬ der die schmerzlichen Seiten des Lebens noch die wahren Freuden. Das Schreckliche an diesem Zustand wird jedoch nicht einmal richtig erfaßt, denn er hat sogar den Schmerz verdrängt, völlig abgeschnitten zu sein. Dadurch befindet er sich in einem Teufelskreis, in einer emo¬ tionalen Sackgasse, der er nicht entkommen kann.«102 Auf diese Weise bleibt der Körper, nachdem er einmal abgetrennt wurde, von der Seele getrennt, das Kosmische vom Individuellen, der Geist von der Materie. Der erste, der dabei etwas Wichtiges verliert, ist der Held selbst. Er hat das Gespür für das Leben verloren.

Feuer. Aus ihrem toten Körper schuf Marduk Himmel und Erde. Die sichtbare Welt besteht von da an aus inaktiver »Materie«, die nur durch einen überlegenen »Geist« gestaltet werden kann. Diese Sichtweise führte zu der Zivilisationskrankheit des Materialismus, der möglicherweise einmal uns und unseren Planeten zerstören wird. Paradox ist in diesem Fall wieder, daß das Wort selbst auf die tief verborgene Wunde hindeutet: Die Begriffe »Materie« und »Ma¬ terialismus« gehen wie gesagt direkt auf das lateinische Wort ma¬ ter zurück, was »Mutter« bedeutet. Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, daß sich durch eine derart lange und systematische Unterdrückung des Archetyps der Großen Mutter ihre Schatten tief in das kollektive Unbewußte un¬ serer Gesellschaft eingegraben haben. Doch trotz der programma¬ tischen und immer stärker gewordenen Repression gibt es Aus¬ nahmen: Ciebiete, in denen Fragmente des Kultes um die Große Mutter länger erhalten blieben als im übrigen Europa. Diese Aus¬ nahmen sind besonders interessant, weil sie uns zumindest einen eingeschränkten Zugang zu den Kennzeichen des Kultes bieten, bevor er völlig ausgelöscht wurde. 82


Ausnahmen: Historische Nischen des Kultes um die Große Mutter Die indogermanischen Invasoren kamen über den Landweg, daher blieben auf den Inseln einige Nischen erhalten, in denen sich die alte Verehrung der Großen Göttin einige tausend Jahre länger hielt. Auf Malta, Kreta und den Britischen Inseln trafen die Inva¬ soren in großer Zahl erst sehr viel später ein. Das riesige prähisto¬ rische Monument Silbury Hill, ein gigantischer Erdhügel in Wilt¬ shire in England, hat ein Volumen, das viermal so groß ist wie das der Cheopspyramide in Giseh. Der Hügel konnte mittlerweile ein¬ deutig dem Kult der Großen Mutter zugeordnet werden, was die

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Marduk wird hier als gutaussehender Himmelsgott in königlicher Aufmachung dargestellt. Mit Blitz und Donner in der Hand vernichtet er die sumerische Große Mutter Tiamat. Sie trägt immer noch Kuhhörner, ist aber ansonsten in ein monströses Untier verwandelt. Nachdem Marduk sie getötet hat, formt er aus ihrem toten Körper, ihrer »Leiche«, Himmel und Erde. Damit ist der Grund¬ stein für eine wichtige Metapher der westlichen Weltanschauung gelegt: die notwendige Trennung von Geist und Materie und die Dominanz des Geistes über die Materie. (Assyrisches Relief aus dem 9. jahrhundert v.Chr., British Mu¬ seum in London. Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

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Die Göttin mit der Doppelaxt wird von einer Gruppe junger Männer verehrt. Die Doppelaxt ist ein sehr altes Symbol und geht bis in die Steinzeit zurück (z. B. steinzeitliche Kunst in Niaux in Südwestfrankreich). Sie bezieht sich auf den Kreislauf des Todes und der Wiedergeburt. Auf Kreta wird sie stets von ei¬ ner weiblichen Göttin oder Priesterin gehalten. (Göttin der Doppelaxt, Palast des Minos, Knossos, Kreta, 2. Jahrtausend v. Chr.; Zeichnung von Moreno To-

masetig.)

Macht dieser Religion zur Bauzeit (ca. 2240-2050 v. Chr.) deutlich macht.103 Auf Kreta blühte der Göttinnenkult in den mykenischen und minoischen Kulturen noch in der Zeit von 1500 bis 1200 v. Chr. »In der kretischen Kunst wurde die erschreckende Distanz zwischen dem Menschen und dem Transzendenten ignoriert ... Hier und nur hier (im Gegensatz zu Ägypten und dem Nahen Osten) wurde das menschliche Gebot nach Zeitlosigkeit mißachtet und statt dessen die Gnade des Lebens in einer noch nie dagewesenen Vollendung anerkannt.«104 Die meisten Gelehrten sind sich darüber einig: »An¬ hand der überwiegend weiblichen Figuren mit ihren nackten Brü¬ sten, ausdrucksstarken Gesichtern und exquisiter Kleidung kön¬ nen wir mit Sicherheit sagen, daß Frauen in der kretischen Kultur 84


Macht und Prestige besaßen.«105 Selbst auf dem griechischen Fest¬ land drehte sich bei dem wichtigsten Tnitiationsritus, den Eleusinischen Mysterien, alles um die weibliche Fruchtbarkeit (d.h. die

Sage von Demeter und Persephone) und blieb bis ins 4. Jahrhun¬ dert n. Chr. lebendig.106 Auch in Ägypten hielt sich der Isiskult -bei dem die Erlöserin weiblich ist - bis ins 2Jahrhundert n. Chr. Schließlich kam auch noch der Kult um die Schwarze Madonna auf, der sich zwischen dem 10. und 13.Jahrhundert im ganzen christlichen Europa zur großen Verlegenheit Roms mit enormer Geschwindigkeit verbreitete. Erst seit kurzem werden Ausmaß und Bedeutung dieses Phänomens untersucht und verstanden. Eine Be¬ standsaufnahme des Jungianers Ean Begg107 erfaßte über 500 Bil¬ der, auf denen die rätselhafte Madonna mit pechschwarzem Ge¬ sicht und Händen dargestellt ist. Viele Kathedralen, die in ganz Frankreich erbaut wurden, waren der Schwarzen Madonna geweiht, darunter Chartres, Reims, Rocamadour, MontSt-Michel, Dijon, Or-

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Die Schlangengöttin zeigt die direk¬

te Verbindung zwischen dem ural¬ ten Symbol der Großen Mutter und der Macht des Weiblichen in Knossos (aus dem Tempel der Hüterin¬ nen, Palast in Knossos, mittelminoisch, ca. 1 600 v. Chr., Herakleion, Archäologisches Museum).

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aval, Vichy, Poitiers, Le Puy und Beaune, insgesamt allein in Frank¬ reich 302 Heiligtümer! Sie waren zweifellos die am meisten ver¬ ehrten Bildnisse des Mittelalters. Die wichtigsten Pilgerfahrten pas¬ sierten Heiligtümer, die der Schwarzen Madonna geweiht waren. Am auffälligsten daran ist jedoch, daß sich ihre Verehrung gegen den manchmal sogar militanten Widerstand Roms durchsetzte! Der Kult um diese unorthodoxe Jungfrau breitete sich später noch weiter aus und wurde in ganz unterschiedlichen Ländern zum wichtigsten nationalen Kult. Dazu gehören: •Polen (die Madonna von Tschenstochau), •Katalonien in Spanien (Madonna von Montserrat), •Mexiko (national die »Nuestra Senora de Guadelupe«, regional die »Virgen Negra de Zapopan« in Guadalajara), •Bolivien (»Virgen de Copacabana«, im Jahr 1576 von Francisco Yupanqui geschnitzt, nachdem ein Inka-Fischer von der Ma¬ donna auf dem Titicacasee gerettet wurde), •Ecuador (»Nuestra Senora del Quinche«), •Kuba (»Nuestra Senora de Regia de Cuba«, immer noch das am meisten verehrte Bildnis Kubas) und

•Brasilien

(»Nossa Senhora de Aparecida«, früher »de Concei-

£äo«).

Ich werde später auch untersuchen, wie sich die Marienverehrung während der sogenannten »ersten Renaissance Europas« (ca. 10. bis 13.Jahrhundert) auf das kollektive Unbewußte auswirkte.

Die unterdrückte Große Mutter und das Währungssystem Wir wissen es nur zu gut: Wenn ein Archetyp unterdrückt wird, löst

er sich keineswegs in nichts auf. Der abgelchnte Inhalt manifestiert sich in einem zerstörerischen Schatten und verfolgt uns um so heftiger. C. G. Jung wies darauf hin, daß wir keine heiligen Bezirke der Götter und Göttinnen mehr besitzen, die diese archetypische 86


Energie bannen. Unser kollektives Unbewußtes projiziert sie auf die Außenwelt und formt diese so, daß sie zur inneren paßt. Die systematische Unterdrückung des Archetyps der Großen Mutter während der letzten fünf Jahrtausende hatte vor allem in westlichen Gesellschaften Auswirkungen auf die Natur des Geldes. Der Höhepunkt der Repression war vermutlich gegen Ende der Jahrhunderte währenden Hexenverfolgungen und mit dem An¬ bruch des Viktorianischen Zeitalters erreicht. Damals hatten sich die Schatten der Großen Mutter (Gier und die Angst vor Knapp¬ heit) so tief eingegraben, daß sie zur Norm wurden. Das geschah etwa zu der Zeit, als Adam Smith seine Werke Theory of Moral Sen¬ timents ( Theorie der ethischen Gefiihle, 1759) und Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen, 1776) verfaßte. Er stellte fest, daß der systematische Wunsch des einzelnen nach Reichtum in allen »mo¬ dernen« Gesellschaften fast universal war. Daher kam er zu dem Schluß, daß Gier und Knappheit in einer »zivilisierten« Gesell¬ schaft »normal« waren. Moralisch konnte er die Gier nicht gut¬ heißen, doch er dachte, daß man ein »normales« Verhalten nicht ablehnen könne. »Normal« unterscheidet sich von »natürlich«,

Adam Smith (1 723-1 790) gilt allge¬ mein als Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre. Sein Haupt¬ werk erschien etwa zu der Zeit, als Jahrhunderte der Hexenverfolgung ein Ende fanden, vermutlich auch zu einem Zeitpunkt, als die Unter¬ drückung des Weiblichen in den westlichen Gesellschaften ihren Höhepunkt erreichte. Die unbewu߬ ten Schatten dieser Unterdrückung Knappheit und das Bedürfnis nach Reichtum - sind als grundlegende Annahmen fester Bestandteil seiner Theorie (Radierung von James Kay, veröffentlicht in Smith' Todesjahr).

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doch Adam Smith machte einen solchen Unterschied nicht.108 Auf der Grundlage dieser Überlegungen entwickelte er eine Theorie, aus der später die Volkswirtschaftslehre hervorging. Sie hatte zum Ziel, knappe Ressourcen durch individuelle private Ansammlung von Reichtum zu verteilen. Smith räumte ein, daß beim Währungssy¬ stem über nichts häufiger geklagt werde »als über den Mangel an Geld. Geld fehlt einem, ähnlich wie Wein, immer dann, wenn man nicht die nötigen Mittel hat, um es zu kaufen, oder keinen Kredit, um es zu borgen«.109 Er stellte damit zwar nur eine aner¬ kannte Tatsache fest. Aber schließlich wurde das Unbewußte erst über ein Jahrhundert später »offiziell« entdeckt. Mit unseren heutigen Kenntnissen der Archetypen-Psychologie läßt sich Vorhersagen, daß ein Währungssystem, das aus einem kollektiven Unbewußten heraus entsteht, in dem der Archetyp der Großen Mutter unterdrückt wird, von den Schatten dieses Arche¬ typs geprägt ist. Das »moderne« Währungssystem bietet denen, die bereit sind, Geld anzusammeln, eine spezielle Belohnung (Ver¬ dienste durch Zinsen), und bestraft rücksichtslos diejenigen (durch Bankrott, Armut), die das Spiel nicht mitmachen. Wir spie¬ len dieses Spiel heute noch.

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Kapitel 3

Der archetypische Mensch

»Die Fünf ist das Symbol des Menschen.«110 Hildegard von Bingen »Mit Zirkeln und Fünfwinkelzeichen Wollt er Unendliches erreichen.«111 Johann Wolfgang von Goethe

Wir können nun die Erkenntnisse aus den beiden vorherigen Ka¬ piteln in einer Karte zusammenfassen. Vor allem werde ich den fehlenden Archetyp der Großen Mutter (des Ernährers) in Jungs Quaternio in der Auslegung von Moore und Gillette einfügen (Abb. 4). Das Ergebnis sehen Sie in Abb. 7. (Wie gesagt ist bei jedem

Archetyp trotz des männlichen grammatischen Geschlechts im¬ mer auch der weibliche Pol gemeint.) Herrscher (König/Königin)

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Abb. 7: Der (erweiterte) komplette archetypische Mensch

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Um die archetypische Karte so »geschlechtsneutral« wie möglich zu gestalten, wird der Archetyp des Ernährers als Synonym für die Große Mutter verwendet. Dadurch sollen sich Männer und Frau¬ en leichter mit den männlichen und weiblichen Aspekten ihres Selbst identifizieren können. Das ist auch ein weiterer Grund für die Verwendung des Yin-Yang-Konzepts.

Geschlechts- und Yin-Yang-Energien »Wenn sich Männlich und Weiblich verbinden, ist alles in Harmonie.«113 Laotse

Asiatische Philosophen entwickelten unendlich viele Methoden zur Beschreibung des Verhältnisses von Yin-Yang sowie ihrer Po¬ larität. Abb. 8 zeigt diejenigen, die sich am besten für unsere Zwecke eignen.

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Abb. 8: Yin-Yang-Zusammenhänge

Ein Vorteil der Verwendung der Yin-Yang-Terminologie liegt dar¬ in, daß Taoisten Polaritäten nie trennen. Sie betonen die Verbin¬ dung dazwischen - ihre Komplementarität. Im Gegensatz dazu set90


zen westliche Sprachen und Denkprozesse Polaritäten einander entgegen und trennen sie. Der integrierende Yin-Yang-Ansatz wird in Abb. 9 deutlicher. /

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(Priester, Wissenschaftler)

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Abb. 9: Yin-, Yang- und Integrationsfunktionen im archetypischen Menschen

Die mittlerweile bekannten Archetypen des Kriegers und des Ma¬ giers repräsentieren die beiden Yang-Energien. Die Archetypen des Liebhabers und Ernährers bzw. der Großen Mutter verkörpern die Yin-F.nergien auf der anderen Seite. Der Herrscher (König/Königin) ist in seiner Natur androgyn und integriert beide Yin-Yang-Energien, also die Energie aller anderen vier Archetypen. In seiner Rolle als Höheres Selbst ist er für die Entwicklung des Ganzen zur

nächsthöheren Evolutionsstufe zuständig. Beachten Sie bitte, daß in meiner Terminologie Yang zwar »männlich« ist, was aber nicht synonym mit »dem Mann« ver¬ wendet werden kann, ebenso bezieht sich Yin auf »das Weibliche«, ist aber nicht mit »der Frau« gleichzusetzen. Natürlich überwiegt beim Mann typischerweise die männliche Energie und bei der Frau die weibliche, doch wenn diese Vorherrschaft zu stark wird, kann 91


es zu Problemen kommen. Die Archetypen-Psychologie zeigt, daß sich ein Mann ohne Zugang zu seiner weiblichen Dimension nicht zu einem ausgereiften Mann entwickeln kann, ebensowenig kann sich eine Frau zur vollen Frau entwickeln, wenn sie nicht auf das Männliche in sich selbst zurückgreift.114 So wird beispielsweise ein Krieger ohne die Ergebenheit und Liebe zu einem höheren Ideal zu einem gefährlichen Element in der Gesellschaft, eine »tickende Zeitbombe«. Er ist kein »wahrer« Krieger. Moore und Gillette be¬ zeichnen ihn als »einen nichtinitiierten oder unreifen Krieger«. Aus diesem Grund ergänzen die Energien des Kriegers und des Liebhabers einander zwangsläufig wie alle Yin-Yang-Phänomene. Der Krieger schafft Grenzen und verteidigt sie, der Liebhaber da¬ gegen hebt Grenzen auf. Beide brauchen den Ausgleich durch den anderen. Selbst in der klassischen Mythologie wird diese Polarität/ Komplementarität betont, etwa im Falle von Aphrodite, der Göt¬ tin der Liebe (Venus bei den Römern), und ihrem Langzeitpartner, dem Kriegsgott Ares (Mars). Die Stärke ihrer Verbindung und die Risiken bei dieser Polarität drücken sich schon in den Namen ihrer drei Kinder aus: einer Tochter Harmonia (= »Harmonie«) und den beiden Söhnen Deimos (= »Gewalt«) und Phobos (= »Angst«).115

Der archetypische Mensch und die materielle Welt Die Karte des archetypischen Menschen läßt sich noch auf eine an¬ dere Art lesen: Die beiden »Arme« des »fünfzackigen Sterns« zei¬ gen, welches Verhältnis wir zu anderen Menschen haben; darüber sprachen wir gerade. Die beiden »Beine« dagegen beschreiben, wie wir im Universum »stehen«; d. h. wie wir es interpretieren und wie unsere Beziehung zur materiellen Welt aussieht. Das ist in Abb. 10 dargestellt. Auf der archetypischen Karte sind für das Thema Geld vor allem die »Beine« der Figur interessant, d. h. unsere Beziehung zur mate¬ riellen Welt. Aus diesem Grund sind auch mehrere Kapitel (4 bis 7) 92


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Abb. 10: Der archetypische Mensch und seine Beziehung zu anderen und zum Universum

der Wirkung gewidmet, welche die Energien der Großen Mutter und des Magiers auf das Geld haben. Die gesamte Karte ist jedoch auch von Bedeutung, weil sie den Zusammenhang der archetypi¬ schen Systeme verdeutlicht und einen Einblick in deren Dynamik gewährt. Was wir von der Dynamik lernen, ist all diesen Urbildern gemein. Unser Wissen läßt sich daher direkt auf deren Beziehun¬ gen übertragen. Das Modell des archetypischen Menschen zielt darauf, drei Schlüsselthemen unserer Zeit zu beleuchten: 1. Es wendet sich formal an die Frage der psychischen Ganzheit. 2. Es verdeutlicht den Wert eines Gleichgewichts zwischen Yin-Yang, männlichen und weiblichen Energien. 3. Und es identifiziert ßnfsoziokultiirelle Schlüsselrollen, die sich in der Vergangenheit als notwendig für eine gesunde und nach¬ haltig wirtschaftende Gesellschaft erwiesen. 93


Die archetypische Fünf »Denn Gawain ist tugendsam ganz Und in der fünffachen Tugenden Kranz 1st in jeder er fünffach besonders berühmt: Er ist gut und rein, wie geläutertes Gold, an Tugenden reich, jeder Bosheit abhold In seinem kristallnen Gemüte. Deshalb auch trägt er das Pentagramm Auf seinem Waffenrock und Schilde. Das ist das reine Pentagramm ... So nennen es stets die Gelehrten!«112 Anonymus, 14. Jahrhundert

Man könnte leicht komplexere Karten der menschlichen Psyche erstellen, doch ich wollte sie so einfach wie möglich halten. Geht man davon aus, daß das Quaternio mindestens einen wichtigen Archetyp ausließ, beträgt die Mindestzahl der Archetypen auf un¬ serer Karte fünf. Darüber hinaus zeigt sich, daß die Zahl Fünf an sich bereits ein Archetyp ist, der zu unserer These paßt. Wir haben fünf Sinne, mit denen wir die Welt wahrnehmen, und fünf Finger an jeder Hand, über die wir mit der Umgebung inter¬ agieren können. Im Altertum wurde der Mensch als Mikrokosmos bezeichnet, denn er paßt perfekt in das symbolische Stern-Penta¬ gramm mit dem Geschlechtsorgan in der Mitte (s. die Abb. unten). Zahlreiche verschiedene Traditionen aus der ganzen Welt belegen Cr>

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Der Mensch, eingepaßt in das Pen¬ tagramm, nach Agrippa von Nettes¬ heim. Für Agrippa ging daraus her¬ vor, daß der Mensch als ein Mikro¬ kosmos des Universums geschaffen war. Die astrologischen Symbole beziehen sich auf den Makrokos¬ mos.


Die Fünf als Archetyp in verschiedenen Kulturen Sowohl Hesiod als auch den Azteken zufolge ist die derzeitige Mensch¬ heit die fünfte. Von den Mayas zu den Asiaten, von Plato, Plutarch und Paracelsus bis hin zur mittelalterlichen Überlieferung steht die Zahl Fünf für das Leben und besonders für den Mikrokosmos, den Men¬ schen.116 Im Islam gibt es fünf Gebete am Tag, fünf Gründe für die Bezahlung des Zehnten, fünf Ursachen für das rituelle Waschen, fünf takbir(= »Ge¬ betsformeln«) und fünf Schlüssel für die Mysterien des Koran. Die Fünf ist auch in der chinesischen Tradition eine der wichtigsten Zahlen.117 Sie wird mit den fünf Richtungen in Verbindung gebracht (den vier Himmelsrichtungen sowie der Mitte). Die »Fünf Klassiker« sind die wichtigsten Nachschlagewerke für die chinesische Tradition. Eines von ihnen, das Buch der Riten, handelt von den fünf Beziehungen zwischen den Menschen. Die chinesische Medizin ordnet alle mensch¬ lichen Energien in Fünfergruppen an, ebenso verfährt man in der chi¬ nesischen Astrologie und der Geomantik. Autoren aus alter Zeit er¬ klären zudem: »Unter dem Himmel ist die Zahl der universellen Geset¬ ze fünf.« Sie sprechen außerdem von »fünf moralischen Qualitäten«, »fünf Glücksgütern des Lebens«, »fünf Wandelzuständen des Seins«

usw. Die Begriffe »Star« und »Stern« beziehen sich

auf hervorragende Leistungen, z. B. bei »Film¬ star«, »Sportstar« oder »Fünf-Sterne-General«. Zahlreiche Länder, von denen jedes vermut¬ lich versucht, ein eigenes Symbol auf der Flag¬ ge zu haben, verwenden dabei den gleichen fünfzackigen Stern. Dazu gehören u. a. die USamerikanische, die europäische und die chine¬ sische Flagge. Der fünfzackige Stern war ein magisches Symbol, das in Babylon, Ägypten, Griechen¬ land, Indien, China, Afrika, Westeuropa und dem präkolumbischen Amerika vor Unheil schützte. Vier Flaggen von Ländern, zu deren nationalem Sym¬ bol ein fünfzackiger Stern gehört.

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Das Pentagon ist oft in wichtigen Kunstwerken verborgen. So wurde beispielsweise die berühmte Gold¬

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maske des Tutanchamun als Symbol für die Erneuerung des Lebens nach dem Tod auf dem Pentagon aufge¬ baut.

die urbildliche Natur der Zahl Fünf als Verbindung zum archety¬ pischen Menschen (s. Kasten). Iamblichos, die wohl informativste Quelle über das Leben des Pythagoras, berichtet: »Die Zahl Fünf beschreibt umfassend die natürlichen Phänomene des Universums.«,18 Eine Reihe von Ab¬ bildungen illustriert diese Aussage (s.die Abb. auf S. 98). Zusammenfassend kann man also aus archetypischer Sicht sa¬ gen, daß es sinnvoll ist, unseren Menschen symbolisch im fünf¬ zackigen Stern anzu legen.

Die Schatten des archetypischen Menschen

Jeder Archetyp hat seine eigenen Schatten. Abb. 11 zeigt das voll¬ ständige Schema des archetypischen Menschen. Alle Yin-Schatten sind kursiv geschrieben und von einer Ellipse umgeben, die YangSchatten dagegen weisen eine gerade Schrift auf und stehen in ei¬ nem Rechteck. Beachten Sie, wie jeder Yang-Schatten ein Übermaß an Energie des Archtyps aufweist, jeder Yin-Schatten dagegen ist ein Defizit dieser Energie. Es ist wichtig, daß man diese Archtypen und Schatten als emo¬ tionale Bereiche und nicht nur als mentale Bilder erfährt. Eine Möglichkeit, einmal kennenzulernen, wie sich die verschiedenen Archetypen und Schatten »anfühlen«, bieten die archetypischen Spiele (s. Kasten mit Beispielen). 96


Archetypische Spiele Hier werden einige Spiele vorgestellt, die dazu beitragen, mit dem ar¬ chetypischen Menschen vertraut zu werden. Zögern Sie nicht, auf Abb. 10 zurückzugreifen. Wenn Sie wollen, können Sie sich auch eige¬ ne Spiele ausdenken. Warum reichte Eva Adam im Paradies einen Apfel vom »Baum der Er¬ kenntnis«? Nehmen Sie einen Apfel, und schneiden Sie ihn nicht wie üblich entlang des Stiels, sondern quer dazu durch. Guten Appetit! (Wenn Sie keinen Apfel haben, betrachten Sie das Bild auf S. 98.)

Das nächste Spiel können Sie allein oder zusammen mit anderen spie¬ len. Es geht darum, für jeden dieser Archetypen und Schatten einen Menschen als Beispiel zu finden, der sie verkörpert, den Menschen beim Namen zu nennen und zu beschreiben. Es kann sich dabei um Leute handeln, die Sie persönlich kennen oder von denen Sie gehört haben. Beschreiben Sie sie anschaulich. Bedenken Sie, Archetypen sind in erster Linie Bilder, die Gefühls- und Verhaltensweisen aktivieren. Für den Fall, daß Sie bei diesem Spiel einen Gewinner küren wollen: Gewonnen hat, wer die meisten bemerkenswerten Beispiele für alle fünf Archetypen und/oder alle zehn Schatten nennen kann.

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Abb. 11: Der archetypische Mensch und seine zehn Schatten

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Archetypische Spiele (Fortsetzung)

Falls Sie Kontakt zu einer Kindergruppe haben, lassen Sie sie mit Zeich¬ nungen, Collagen, Bewegungen, Mimik, Pantomime oder Musik einen Archetypen oder Schatten nach ihrer Wahl darstellen. Die anderen müssen raten, welcher Archetyp oder Schatten gemeint ist. Als Variante könnte man sie den Archetypen porträtieren lassen, den sie entweder am meisten oder am wenigsten mögen. Rechnen Sie beim letztgenannten mit heftigen Emotionen: Die Mitspieler werden Kontakt zu ihrem Schatten haben.

Ein anderes Spiel eignet sich für eine größere Gruppe (20 oder mehr Personen). Stellen Sie fünf Schilder mit den Namen der fünf Archety¬ pen an verschiedenen Stellen auf. Fordern Sie die Mitspieler auf, sich der Gruppe anzuschließen, mit der sie sich am stärksten identifizieren. Lassen Sie sie anschließend die Gründe für ihre Wahl nennen. Wenn (aber nur dann) genügend Vertrauen innerhalb der Gruppe besteht, diskutieren Sie darüber, welche Erlebnisse sie mit den Schatten dieser Archetypen gehabt haben.

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Ein Apfel, der quer zum Stiel durchgeschnit¬ ten wurde, zeigt den fünfzackigen Stern in seiner Mitte. Die Symmetrie des Penta¬ gramms tritt häufig in der Tier- und Pflan¬ zenwelt auf. Das erklärt vielleicht, warum so viele Kulturen diese Figur als Symbol für das

universelle Leben verwendeten.

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Schatten-Resonanz Ich bin der Ansicht, daß zwischen den Yang-Schatten auf der ei¬ nen und den Yin-Schatten auf der anderen Seite eine Verbindung existiert. In der Physik bezeichnet man dieses Phänomen als »Re¬ sonanz«. Wenn man z. B. auf dem Klavier einen Ton anschlägt, schwingen alle Saiten der Oktave dieser Note mit, obwohl kein di¬ rekter Kontakt besteht. Ein Sopran, der ein Kristallglas zerschmet¬ tert, indem er eine entsprechende Frequenz trifft, zeigt die Stärke dieses Phänomens. Ähnlich aktiviert ein starker Yang-Schatten oft alle anderen Yang-Schatten. Ein Tyrann beispielsweise neigt eher zum Sadismus als zum Masochismus, ist eher abhängig als impotent, hyperratio¬ nal statt unüberlegt, eher gierig, anstatt eine Mentalität der Knapp¬ heit zu verfolgen. Beginnt man mit einem anderen Schatten, ergeben sich ebenfalls wieder Verbindungen zu weiteren Yang-Schatten. Die Hyperratio¬ nalität beispielsweise läßt sich als Abhängigkeit und Tyrannei des Verstandes beschreiben. Anders ausgedrückt, gibt es wohl tatsäch¬ lich eine »Yang-Kohärenz« zwischen den Yang-Schatten. Es scheint fast, als ob sie einander kontaminieren und bestärken würden. Wer in einer derartigen Yang-Kohärenz festsitzt, neigt dazu, alles »andere« im Yin-Zusammenhang zu sehen. Er wird dieses »ande¬ re« - etwa die Natur, Frauen oder sog. »primitive« Völker - daher automatisch in die Rolle der Yin-Schatten setzen. Das würde die lange Geschichte erklären, in der die westlichen Werte dieses »an¬ dere« als schwach, impotent, irrational und masochistisch dar¬ stellten und abwerteten, als etwas, das es verdiente, in Knappheit zu leben.

Fazit Der gemeinsame Nenner aller Schatten ist die Angst. An sich ist Angst ein normales, gesundes Gefühl. Wenn Sie von einem wilden Fier angegriffen werden oder wenn ein Auto vor Ihnen außer Kon¬ trolle gerät, löst die Angst einen Adrenalinstoß aus, mit dessen Hil¬ fe Sie schneller reagieren können als sonst. Jeder Archetyp besitzt 99


Raum für Ängste und die entsprechenden Wünsche - z. ß. Hunger bei einem Ernährer, Sehnsucht nach Liebe beim Liebhaber, Über¬ leben für den Krieger. Doch Ängste können sich zu Schatten entwickeln, wenn sie starr und ständig verinnerlicht werden. Wenn die Angst zu einer per¬ manenten statt einer vorübergehenden Erscheinung wird, ist ein pathologischer Schatten beteiligt. So gesehen ist die Unterdrükkung der Großen Mutter im Westen ein progressives gesellschaft¬ liches Erstarren in einer bestimmten Angst, die mittlerweile auch zu einem festen Bestandteil unseres Währungssystems geworden ist.

»Der Fall des verschwundenen Archetyps« hat gezeigt, daß Währungssysteme seit ihren prähistorischen Anfängen unweiger¬ lich ein Attribut des Archetyps der Großen Mutter sind. Da die westliche Gesellschaft diesen systematisch unterdrückte, ent¬ wickelte sie Währungssysteme, die dessen Schatten verinnerli¬ chen. Die Schatten sind nichts anderes als die kollektiven Emp¬ findungen Gier und die Angst vor Knappheit. Alle professionellen Unternehmer, Börsenmakler, Investmentfonds-Manager und Fi¬ nanzexperten werden bestätigen, daß die Geldmärkte hauptsäch¬ lich von diesen beiden kollektiven Empfindungen angetrieben werden. Gier und Knappheit sind daher keine unauslöschlichen Spiegelbilder der menschlichen Natur, wie das in den Wirtschafts¬ wissenschaften und auch sonst allgemein angenommen wird. Statt dessen schafft das gegenwärtige Währungssystem diese bei¬ den Gefühle des Schattens ständig neu und verstärkt sie, indem es einen systematischen Anreiz zum Sparen in Form von Geld schafft. Das eigentliche Problem ist das Monopol, das diese Währungsformen haben. Es läßt uns keine Wahl, das Tauschmit¬ tel unabhängig vom Zweck der Transaktion und der entsprechen¬ den Beziehungen zu verwenden. Wir werden noch auf Gesell¬ schaften zu sprechen kommen, die - auch wenn sie in anderer Hinsicht durchaus nicht perfekt waren - bei der Verwendung der Währungssysteme eine Wahl hatten und so aktiv die Ansammlung von Geld verhinderten. Sie waren dabei sogar sehr erfolgreich, 100


denn sie schufen eine soziale Dynamik, die sich stark von der un¬ seren unterscheidet (s. Kapitel 5 und 6). Die zweite Schlußfolgerung lautet, daß wir jetzt erkennen kön¬ nen, warum die drei Tabus, die sich so lange in der westlichen Ge¬ sellschaft hielten - Sex, Tod und Geld -, häufig gemeinsam auftreten. Wie wir bei verschiedenen Kulturen wiederholt gesehen ha¬ ben, sind sie die Attribute eines einzelnen Archetyps: der Großen Mutter. Nach Jahrtausenden der Unterdrückung der Großen Mut¬ ter ist zu erwarten, daß ihre Haupteigenschaften wichtige Tabus wurden. Karten können nur getestet werden, wenn man sie ausprobiert. Die Karte des archetypischen Menschen wird von uns geprüft, in¬ dem wir sie auf verschiedene Themen anwenden, die bis dahin mit herkömmlichen Mitteln nicht ausreichend angegangen wurden. Die folgenden Kapitel enthalten mehrere Beispiele für diese An¬ wendungen.

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A.

Mysterium Geld Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus

Aus dem Amerikanischen von Heike Schlauerer, VerlagsService Mihr

Riemann


Teil II

Währungssysteme und Archetypen

»Geschichte ist anhand von Beispielen ge¬ lehrte Philosophie.« Henry St. John Bolingbroke »Ehemalige Ikonen sind die Kodierungen der Zukunft. Und die Zukunft verspricht die Wiederentdeckung vergessener Weis¬ heit.« lean Houston

In Teil II werden die Auswirkungen untersucht, die durch eine Un¬ terdrückung oder Ehrung des Archetyps der Großen Mutter bei Währungssystemen entstehen. Historische Quellen sind die Grundlage für unser gesamtes soziales, wirtschaftliches und fi¬ nanztechnisches Wissen. Allerdings berücksichtigt das konventio¬ nelle Wirtschaftsdenken meist nur relativ aktuelle Daten, weil man davon ausgeht, daß Erfahrungen aus ferner Vergangenheit keinerlei Erkenntnisse für unsere derzeitige ökonomische Struktur erbringen. Diese Vermutung trifft häufig zu, und auch ich hätte lieber aktuellere Beispiele angeführt. Dann wären nämlich die not¬ wendigen Belege leichter zu finden gewesen. Allerdings besteht diese Möglichkeit im Fall der Währungssyste¬ me nicht. Tatsächlich hat sich das offizielle Währungsparadigma seit der industriellen Revolution nicht wesentlich verändert, daher wären wir bei einem solchen Ansatz auf dieses bestimmte Währungssystem festgelegt. Außerdem werde ich später (in Teil III) noch untersuchen, ob unsere Weitsicht, unser Wirtschaftssy¬ stem und unser Währungssystem derzeit einem fundamentalen 103


Wandel unterworfen sind, durch den das Industriezeitalter als Be¬ zugspunkt weit zurückgelassen wird. Dabei könnte gerade eine »ferne Vergangenheit« überraschend einige interessante Erkennt¬ nisse für unsere nicht so weit entfernte Zukunft bieten ... Zuerst untersuchen wir eine Folge der Unterdrückung des Ar¬ chetyps der Großen Mutter auf das moderne Währungssystem. Daß unser Verständnis der materiellen Realität exklusiv über den Magier-Archetyp erfolgt, erklärt, warum wir eine der wichtigsten »Anomalien« unserer Finanz- und Währungswelt nicht verstehen - die »irrationalen« Schwankungen im Finanzmarkt, die im We¬ sten seit mindestens 300 Jahren periodisch auftreten. Das Modell vom archetypischen Menschen dagegen bietet grundlegende Er¬ kenntnisse, die bei der Beantwortung dieser Frage helfen können. Das ist vor allem in einer Zeit potentieller Währungszusammen¬ brüche von besonderer Bedeutung. Was wäre, wenn der Archetyp der Großen Mutter nicht unter¬ drückt würde? Was könnte das für die Währungssysteme, die Wirt¬ schaft und die Gesellschaft bedeuten? Wir haben bereits festge¬ stellt, daß es in der Geschichte nur wenige Beispiele gibt, auf die wir zurückgreifen können. Zwei Fallstudien - die Zeit der Gotik im Mittelalter und das Ägypten der Pharaonen - enthüllen sich als be¬ sonders interessant. Sie werden feststellen, daß die Währungssy¬ steme beider Kulturen in der Zeit, in welcher der Große-Mutter-Archetyp geehrt wurde, einige ungewöhnliche Gemeinsamkeiten aufwiesen, die unserem System diametral entgegengesetzt sind. Ei¬ ne faszinierende Folge davon war, daß der Lebensstandard der »kleinen« Leute dramatisch anstieg, außerdem schienen die Men¬ schen über die langfristigen Auswirkungen ihres Handelns nachzu¬ denken. Beide Eigenschaften würden sich hervorragend für die derzeitige Übergangsphase vom Industrie- zum Informationszeit¬ alter eignen.

104


Zentrale Ideen von Teil II

Meiner Ansicht nach kann man anhand verschiedener Währungs¬ systeme ablesen, ob das Weibliche in einer Gesellschaft unter¬ drückt wird oder nicht. •Wenn der weibliche Archetyp unterdrückt wird, entstehen Währungen, die als Tauschmittel und zur Wertaufbewahrung dienen. Ursprünglich bestanden diese Währungen aus seltenen und kostbaren Gütern aller Art. ln der westlichen Kultur ent¬ wickelten sich daraus Gold- und Silbermünzen und schließlich unsere zentral kontrollierten Landeswährungen. Die Gemein¬ samkeit dieser Währungssysteme besteht darin, daß sie die An¬ häufung von Geld durch eine relativ kleine Elite fördern. Dies hat den Effekt, daß das verfügbare Tauschmittel für einen be¬ deutenden Teil der Gesellschaft begrenzt bleibt. Wie erwartet gibt es viele historische Beispiele für dieses Schema, da derartige »Hochkulturen« fast immer synonym mit patriarchalischen Ge¬ sellschaften zu sehen sind, die definitionsgemäß das Weibliche unterdrücken. Numismatiker kennen vor allem die Währungen dieser Kulturen, da das Geld vorzugsweise aus beständigen Ma¬ terialien gefertigt wurde und bei der Prägung oft auf Ästhetik und auf Symbole Wert gelegt wurde, die einen König, eine Stadt, ein Land oder ein Reich glorifizierten. Man könnte auch von patriarchalischen Währungen sprechen. Ich bezeichne diese Währungen als »Yang«- Währungen, weil sie mit von den Taoi¬ sten als Yang-Eigenschaften beschriebenen Kennzeichen ver¬ bunden sind: Hierarchie, Konzentration, Kontrolle und Wettbe¬ werb. • Im Gegensatz dazu entstanden in den wenigen Fällen, in denen das Weibliche von einer »fortschrittlichen« Gesellschaft geehrt 105


In diesem Buch wird zwischen zwei Formen der Zahlungsmittel unterschieden, die ich nach dem Vorbild der asiatischen Philosophie y/ä als »Yin«- und »Yang«-Währungen £3$ bezeichne. Letztere sind heute die . F\T bei weitem bekanntesten. Es han¬ delt sich dabei um Währungen, U die gleichzeitig als Tauschmittel £-3 und zur Wertaufbewahrung die¬ nen. In patriarchalischen Gesell¬ schaften haben sie als offizielles Zahlungsmittel oft das Monopol. m* Dieser Wikingerschatz ist ein Bei¬ spiel für das »Horten« von YangWA Währungen. Er wurde im Jahr 905 l in Cuerdale (Lancashire, Großbri¬ ko, tannien) vergraben und umfaßt n Silberbarren, Ringe, Juwelen und 7000 Münzen. Mit insgesamt 40 Kilogramm Silber zählt der Fund zum grö߬ ten Wikingerschatz, der außerhalb Rußlands entdeckt wurde. Vermutlich war er Teil einer Lösegeldzahlung, welche die Wikinger bei der örtlichen Bevölke¬ rung eintrieben. v

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wurde, zwei komplementäre Währungssysteme: eine »Fern-« und eine »lokale« Währung. Die lokale Währung hatte die un¬ gewöhnliche Eigenschaft, daß sie - obwohl sie nicht infla¬ tionären Tendenzen unterworfen war - ein Attribut aufwies, das ihr Horten verhinderte. Kurz gesagt fungierte sie als reines Zahlungs- und Tauschmittel, sie war kein Mittel zur Wertaufbewah¬ rung. Dadurch zirkulierte das Tauschmittel ungehindert auf al¬ len Gesellschaftsebenen und war selbst für die Angehörigen der untersten Schichten verfügbar. So konnten sie Geschäfte täti¬ gen, die ihren Lebensstandard deutlich verbesserten. Wer über¬ wiegend diese Währungen verwendete, konnte dennoch sein Geld anlegen, doch investierte er nicht in Zahlungsmittel selbst, sondern in produktives Vermögen. Fast noch wichtiger ist für uns heute, daß ein Muster der langfristigen Investitionen zur

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Norm wurde und keine Ausnahme mehr war. Diese besonderen Währungen werden als »Yin«-Währungen definiert. Allerdings sollten wir nicht vergessen, daß in diesen Kulturen wie gesagt - zusätzlich zu den lokal gebräuchlichen YinWährungen parallel auch eine Fernhandelswährung mit YangEigenschaften verwendet wurde. • Der Hauptunterschied zwischen den beiden Gesellschaftsarten ist, daß in patriarchalischen Systemen die Yang-Währungen de facto über ein Monopol verfügten oder sogar für jede Transakti¬ on vorgeschrieben waren. Das ist bekanntermaßen auch bei un¬ serem derzeitigen Geld der Fall, denn die Monopolstellung un-

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Zu den Beispielen für die weniger bekannten »Yin«-Währungen zählen diese beiden »Brakteaten« aus Norddeutschland, die aus der Zeit des Hochmittelal¬ ters stammen. Die linke Münze wurde um 1150 unter Heinrich dem Löwen, Herzog von Bayern und Sachsen, geprägt. Sie zeigt den Herzog mit Zepter und Schwert, umgeben von zwei Türmen und zwei Löwen. Die rechte Münze zeigt Abt Johann I. von Hersfeld (1 201-1 21 3) mit dem für sein Amt charakte¬ ristischen Krummstab. Der Verbreitungsgrad derartiger Münzen war meist lokal begrenzt. Sie waren so dünn, daß sie durchscheuern (wie die Münze rechts) oder für Teilbeträge auch einfach gebrochen werden konnten (wie im Fall der Münze Heinrichs). Bei jeder Währungseinheit blieb der Silbergehalt im Lauf der Zeit konstant (d.h., bei diesen Münzen gab es keine Inflation). Allerdings nahm man die Brakteaten jährlich aus dem Umlauf und ersetzte sie durch neue, wobei eine Steuer verlangt wurde. Daher hortete man diese Münzen im allgemeinen nicht, sondern verwendete sie nur als Tauschmittel. 107


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Das ist ein »Ostrakon«, eine Tonscherbe aus dem Ägypten des 1 3. Jahrhunderts v. Chr. mit einer Hieroglyphenaufschrift. Aus ihr geht hervor, daß es sich um eine Quittung für mehrere Krüge Wein handelt, die an einem bestimmten Ort für eine begrenzte Zeit eingelagert wurden. Derartige Quittungen für Getrei¬ de, Wein oder andere haltbare Lebensmittel verwendete man in Ägypten min¬ destens 1600 Jahre lang als allgemeine lokale Währung. Der Wert bei Einlö¬ sung der Quittungen »alterte«, d. h., er verlor im Lauf der Zeit allmählich an Wert, weil die Lagerkosten für die Lebensmittel abgezogen wurden. Aus die¬ sem Grund horteten die Menschen in Ägypten ähnlich wie im Falle der Brakteaten im Mittelalter die Währung nicht, sondern verwendeten sie als reines Tauschmittel.

serer konventionellen Landeswährungen (einschließlich des Eu¬ ro) ist gesetzlich garantiert. Fortschrittliche Gesellschaften, die das Weibliche ehren, sind re¬ lativ selten. Bisher verfügen wir nur in zwei Fällen über ausrei¬ chende Informationen zu deren Währungssystemen und Inve¬ stitionsschemata, um unsere Hypothese zu belegen. Ironischer¬ weise wissen wir selbst bei diesen Kulturen oft mehr über ihre Yang-Währungen, da Schatzfunde aus der betreffenden Zeit fast immer aus den Zahlungsmitteln bestehen, die gehortet wurden, der Definition nach also Yang-Währungen sind. Außerdem wa108


ren die lokalen Yin-Währungen oft aus verderblichem Material und sahen profaner aus, daher wurden sie von Sammlern als we¬ niger interessant eingestuft. Mittlerweile sind wir alle so an das Monopol der Yang-Währungen gewöhnt, daß viele Menschen diese begreiflicherweise als 'feil un¬ serer Natur betrachten. Tatsächlich basiert der gesamte Bereich der Wirtschaftswissenschaften auf dieser Annahme. Das erklärt die Be¬ deutung der beiden bisher bekannten Ausnahmen, bei denen YinWährungen eine wichtige Rolle im Alltag spielten. Es geht hier jedoch um wesentlich mehr als die reine Betrachtung obskurer Währungspraktiken in untergegangenen Kulturen. Falls sich unsere Hypothese bestätigen läßt, sind die Auswirkungen sol¬ cher Systeme nämlich auch für uns heute noch von großer Bedeu¬ tung: Die Menschheit steht in den kommenden Jahrzehnten vor der wahrscheinlich größten Herausforderung aller Zeiten. Zum er¬ sten Mal in unserer Geschichte bedroht unsere kurzfristige Denk¬ weise die gesamte Biosphäre (s. Kasten »Wissenschaftliche Fakten über den Verlust der Artenvielfalt«). Daher könnte das Wissen über Vorgänge, die unsere kollektive Einstellung in Richtung auf ein langfristiges Denken verändern, für uns alle lebenswichtig sein.

Vier Auswirkungen von Yin-Währungen Eine der grundlegenden Thesen dieses Buchs lautet, daß, wenn lokale Yin-Währungen die dominante Yang-Währung ergänzten, es bisher zu den folgenden vier Auswirkungen kam: •Sie bewirkten einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Wohlstand für die breite Bevölkerung. •Sie förderten Investitionsschemata mit ungewöhnlich langfristigen Perspektiven. •Sie entstanden typischerweise nur in Gesellschaften, in denen das Weibliche geehrt wurde, in der westlichen Geschichte ein zugege¬ benermaßen seltener Fall. •Sie waren die Vorläufer der heutigen Bewegung für lokale Währun¬ gen.

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Wissenschaftliche Fakten über den Verlust der Artenvielfalt •1 500 Wissenschaftler, darunter zahlreiche Nobelpreisträger aus dem naturwissenschaftlichen Bereich, warnten: »Wenn unserem derzeiti¬ gen Vorgehen nicht Einhalt geboten wird, stellt es eine ernste Be¬ drohung für die Zukunft dar, die wir der menschlichen Gesellschaft, der Tier- und Pflanzenwelt wünschen. Der Raubbau durch den Men¬ schen könnte die Erde so verändern, daß es uns unmöglich sein wird, das Leben so zu erhalten, wie wir es kennen. Grundlegende Verän¬ derungen sind dringend notwendig, wenn wir den Zusammenstoß vermeiden wollen, den unser derzeitiger Kurs mit sich bringt.«119 •Das amerikanische Museum für Naturkunde führte 1998 eine Um¬ frage unter Biologen durch. Davon kamen 69 Prozent zu dem Schluß, daß wir durch unsere ausschließliche Konzentration auf das Naheliegende allein in den nächsten 20 bis 30 Jahren 30 bis 70 Pro¬ zent der Artenvielfalt unseres Planeten verlieren werden.

Lassen wir unsere Erkundung nun damit beginnen, daß wir die Gründe für die Instabilität unseres Währungssystems erforschen und untersuchen, wie dies zusammenhängt mit dem »Monopol«, die materielle Welt mit den Augen des Magiers zu sehen.

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Kapitel 4

Die Untersuchung von Spekulations¬

phasen mit Hilfe des Magiers

»Die Götter prägen emotionale Intensität oder Distanz, die Neigung zu geistiger Auseinanderset¬

zung ... die Sehnsucht nach ekstatischem Ver¬ schmelzen oder ganzheitlichem Verstehen, den Sinn für Zeit und vieles andere. Es gibt Götter in jedem Mann.« Jean Shinoda Bolen'20

Finanzhysterien, auch Spekulationsphasen oder »Boom-und-BustZyklen« genannt, bezeichnen die episodenhaft auftretenden »An¬ fälle von Kaufrausch«, bei denen ein Markt einem wahnwitzigen Spekulationsfieber verfällt, nur um irgendwann zusammenzubre¬ chen. Sie treten relativ selten auf - im Durchschnitt gibt es etwa alle 15 bis 20 Jahre irgendwo auf der Welt einen spektakulären Crash. Doch ihre Auswirkungen auf die betroffenen Menschen und Länder sind verheerend. Trotz Jahrhunderte währender Bemühungen um feinabgestimmte Regulierungen und Kontrollen erwiesen sich die Finanzkräche als »bemerkenswert hartnäckig«, wie Charles Kindleberger es ausdrückte.121 Sie scheinen die Märk¬ te unweigerlich ausgerechnet dann zu treffen, wenn alle Beteilig¬ ten glauben, sie seien gegen solche »primitiven«, irrationalen Pro¬ bleme immun. Außerdem sind sie unter dem Blickwinkel eines »rationalen Marktes«, der eigentlich vom hyperrationalen »Homo oeconomicus« gelenkt werden sollte, ein rätselhafter, unerklärli¬ cher Vorgang. Viele Experten geben offen zu, daß sie dieses Phänomen nicht verstehen und auch nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen (s. Kasten). 111


Ratlose Experten Die regelmäßig auftretenden Spekulationsphasen und die Unfähigkeit der mächtigen Finanzbehörden, etwas dagegen zu unternehmen, wie¬ derholen sich in jeder Generation. Einige Zitate verdeutlichen dies:

»In regelmäßigen Abständen sucht Geld aus unerfindlichen Gründen ... jemanden zu verschlingen, und es kommt zur >Plethora<; findet es jemanden, kommt es zur >Spekulation<; wird es verschlungen, kommt es zur >Panik<.« ( Walter BagehoP22) »Ich kann sie spüren, Börsenaufsicht hin oder her, eine neue Runde ruinöser Spekulationen, mit all ihren bekannten Phasen, eine nach der anderen: Ein Boom bei den Spitzenaktien, dann der Run auf die Ne¬ benwerte, dann im over-the-counter market, dann die Hysterie bei den Neuemissionen und schließlich der unvermeidliche Crash. Ich weiß nicht, wann es dazu kommen wird, aber ich spüre, daß er kommt, und verdammt, ich weiß nicht, was ich dagegen unternehmen soll.« (Ber¬ nard }. Lasker, Leiter der New Yorker Börse im Jahr 1970123) »Die Finanzmärkte werden heute von einem irrationalen Überschwang angetrieben.« (Alan Greenspan, Vorsitzender der amerikanischen Zen¬ tralbank, im Dezember 1996)

Finanzhysterien sind für unsere Untersuchung in dreierlei Hin¬ sicht von Bedeutung: 1. Alle spekulativen Aufblähungen, ob es sich bei dem Objekt nun um Tulpen, Immobilien, Aktien, Internet-High-Tech oder son¬ stiges handelt, sind unweigerlich eine Währungskrankheit. Der gemeinsame Nenner ist bei allen Zyklen immer das Geld. Der Preis, der in Geld ausgedrückt wird, steigt zunächst ins uner¬ meßliche und bricht dann völlig zusammen. 2. Devisenmärkte, also die Märkte, auf denen die verschiedenen Landeswährungen täglich gehandelt werden, sind berüchtigt für ihre starken Schwankungen, die trotz der Interventionen währungspolitischer Institutionen immer wieder auftreten. Wenn es bei unserem globalen Währungssystem zu Turbulen112


zen kommt, wird sich das in einem Spekulationsfieber bei den Währungen niedersch lagen. 3. Schließlich werden wir feststellen, daß sich das Geheimnis des Spekulationsfiebers durch die Untersuchung der Schatten des Magiers etwas aufhellen läßt, d. h. des »rechten Beines« unse¬ res archetypischen Menschen (s.Abb. 10).

Das Boom-Bust-Phänomen »Jede Zeit hat ihre eigene Narretei; einen Plan, ein Unternehmen oder ein Hirngespenst, auf das sich jeder stürzt, entweder aus Ge¬ winnsucht, auf der Suche nach Zerstreuung oder aus bloßer Nach¬ ahmerei. Fehlt die Narretei, gibt es gewiß eine Wahnidee, der die Menschen aus politischen oder religiösen Gründen oder beiden zusammen verfallen.«124 Dieses Zitat stammt aus Charles Mackays Klassiker Zeichen und Wunder: Aus den Annalen des Wahns, der 1841 erstmals erschien und seitdem wiederholt neu aufgelegt wurde. Mackay zeigt, daß es von den Kreuzzügen bis zu den Mississippi Aktien in jedem Zeitalter »Massenhysterien« gegeben hat. Es ist in¬ teressant, daß es sich bei allen Hysterien der letzten etwa drei bis vier Jahrhunderte, über die Mackay berichtet (abgesehen von der Unterdrückung des Weiblichen während der Hexenverfolgung), stets um finanzielle handelt. Rohstoffe, Fertigwaren, Land, Gebäu¬ de, Aktien und Währungen waren alle irgendwann einmal Objek¬ te des Spekulationsfiebers. Nach jeder »Spekulationsmanie« versu¬ chen Experten und der Staat zu verstehen, was passierte. Dann führen sie Regeln ein, die zukünftige Zusammenbrüche verhin¬ dern sollen, normalerweise, indem sie die letzte finanzielle Inno¬ vation der Zeit regulieren, wie z. B. den Terminkontraktmarkt 1637 oder den Computerhandel 1987. Der Vorgang wiederholt sich dennoch weiterhin selbst in besonders abgesicherten Märkten. Man könnte sogar die scheinbar paradoxe Behauptung aufstel¬ len, daß Anfälle von Spekulationsfieber gerade bei den am höchsten entwickelten Märkten auftreten. Holland war im 17. Jahrhundert 113


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Einer der bekanntesten finanziellen Zusammenbrüche der Geschichte. Panik und Verzweiflung griffen an der New Yorker Börse am 24./2S. 10.1929 um sich, geschockt liefen die Menschen in der Wall Street zusammen. Der Bör¬ senkrach von 1 929 zog weltweit Kreise. Er löste die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre aus, die erst mit dem Zweiten Weltkrieg endete.

bei weitem der wichtigste Finanzmarkt der damaligen Zeit: Das Land hielt und schlug so viel Kapital um wie das übrige Europa zu¬ sammen, als es im Jahr 1637 von der »Tulpomanie« ergriffen wur¬ de. Ähnlich erlebten England im 18. Jahrhundert (der Südsee¬ schwindel von 1720), New York, Wien und Berlin (alle zugleich von der internationalen Panik 1873 betroffen), der amerikanische Aktienmarkt 1929 oder Japan 1990 einen Finanzkrach, wenn das jeweilige Land und sein Markt nahezu auf dem Höhepunkt ihrer fi¬ nanziellen Entwicklung und ihres Ruhms standen. Sollte diese Be¬ obachtung zutreffen, wäre als nächstes der amerikanische Aktien¬ markt, und dabei vor allem die Aktien der Internet- und HighTech-Unternehmen, betroffen. Jedenfalls bieten finanzielle Booms und Zusammenbrüche, auch wenn wir nur von der bisherigen Ge¬ schichte ausgehen, die seltenen »perfekten« Beispiele der doku¬ mentierten psychologischen Geschichte der Menschheit. 114


Angesichts ihres relativ seltenen Auftretens untersucht man die Spekulationsphasen am besten, indem man einen historischen Vergleich durchführt und nach einem gemeinsamen Muster sucht. Nachdem ich alle gut dokumentierten Fälle von Spekulationsfie¬ ber der letzten 300 Jahre125 durchgearbeitet habe, läßt sich tatsäch¬ lich ein gemeinsames Muster ausmachen. Zur Auswahl in Abb. 12 gehören: der holländische Tulpenschwindel von 1637 (mit der Preisentwicklung der Sorte »Witte Croonen« als typisches Beispiel einer Tulpe), der Südseeschwindel in Großbritannien von 1720 (Anteile an der Südseekompanie), der Börsenkrach von 1929 und der Immobilienkrach in Japan von 1990. 1000

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»Tulpomanie« von 1631

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Südseeschwindel von 1729

- Sorte »Witte Croonen« -• (Gulden/Zwiebel)

Südseeaktien (Kassakurs, Prozent des Nennwertes)

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Dow Jones (1929 = 1 00)

1990

1995 1998

Index für gewerbliche Immobilien in japan

Börsenkrach von 1929

an der New Yorker Börse

1985

japanischer Immobilien¬

index (Quelle: New York Times, 27. 6. 1998)

Abb. 12: Beispiele für Spekulationshysterien von 1637 bis 1990

115


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Am 19. Oktober 1987 fiel der Dow-]ones-lndex um rund 23 Prozent. Als Ur¬ sachen für den Börsenkrach wurden ungehemmte Spekulationen, der welt¬ weite Zinsauftrieb, ein extrem hohes Kursniveau und die Angst vor einem Um¬ schlagen des jahrelangen Booms genannt. Viele Broker stürzten an diesem »Schwarzen Montag« an der New Yorker Börse völlig unvorbereitet in Ver¬ zweiflung und Ruin.

Anhand der Schaubilder kann man erkennen, daß es bei jeder Spekulationsmanie vier Phasen gibt. Bei diesen vier Phasen handelt es sich um folgende: 1 . Aufbau: Auf einem bestimmten Markt steigen langsam, aber si¬ cher die Preise. Branchenkenner bemerken das und kaufen. Nach einer Weile sprechen Marktexperten über ein großes Ge¬ winnpotential. Dieser Prozeß kann mehrere Jahre dauern, be¬ vor die nächste Stufe erreicht wird. 2. »Feeding Frenzy«: Der Markt heizt sich auf. Zuerst beteiligen sich in wachsender Zahl Lxperten, dann Laien und schließlich Ausländer. Für die meisten Branchenkenner ist das »ein siche¬ res Ding«. Die Preise erreichen »verrückte« Höhen. Jeder Un¬ beteiligte fühlt sich übergangen und stürzt sich ebenfalls ins Getümmel. Gerade noch rechtzeitig vor ... 116


3. Die Panik: Ohne Übergang passiert »etwas«, und die Stimmung schlägt um: ein echtes oder falsches Gerücht, eine neue Infor¬ mation. Diese Nachricht kann, muß aber nicht mit dem betei¬ ligten Produkt Zusammenhängen, doch zu dem Zeitpunkt gilt sie als relevant. Die »Seifenblase«, die über Monate oder Jahre gewachsen ist, zerplatzt in einer Verkaufshysterie von wenigen Stunden oder Tagen. Die Preise stürzen in den Keller. 4. Das Aufsammeln der Scherben: Bankrotte, Konkurse, finanziel¬ ler Ruin und Verzweiflung für viele Menschen. Die Preise pen¬ deln sich im Laufe der nächsten Jahre wieder beim »Normalni¬ veau« ein. Staatliche Stellen beklagen die »Exzesse« und versu¬ chen herauszufinden, »was schieflief«. Eine neue »Erklärung« wird gefunden, und Regulierungen werden eingeführt, die si¬ cherstellen sollen, daß es nie wieder soweit kommt. Dann be¬ ginnt der Zyklus hartnäckig aufs neue - in einem anderen Markt auf etwas andere Weise. Für jede Spekulationsphase gibt es in der populären Erzähltradi¬ tion typische Anekdoten, die den Wahnsinn der Zeit illustrieren (s. Kasten).

Die Reaktion des Staates »Ich erlaube mir, in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zu wiederholen, die eine hochgestellte Persönlichkeit der Republik mir gegenüber äußerte: >Ich kenne mein Land. Es kann alles in Ru¬ he überstehen - nur keine Finanzkrise.««127 Staatliche Behörden haben allen Grund, das Zerplatzen der fi¬ nanziellen »Seifenblasen« zu fürchten. Sie werden zuerst beschul¬ digt, daß sie »es soweit haben kommen lassen«. Von der britischen Regierung im Jahr 1720 bis zu Suhartos Regierung in Indonesien im Jahr 1998 haben viele Regimes einen hohen Preis dafür bezahlt, daß sie bei einem Zusammenbruch gerade an der Macht waren. Daher hat es schon Tradition, daß die Regierung sofort nach einem 117


Anekdoten über das Spekulationsfieber •Im Jahr 1636 besucht ein Seemann einen Kaufmann in Amsterdam und bekommt dort einen Räucherhering zu essen. Der Seemann be¬ schließt, sein Essen durch eine »Zwiebel« aufzuwerten, die er auf dem Tisch findet. Die »Zwiebel« entpuppt sich als Tulpenzwiebel der Sorte »Semper Augustus« und ist über 2000 Gulden wert, was dem Lohn des Seemanns von 20 Jahren entspricht! (Ein anderer Ver¬ gleichswert: Rembrandt erhielt auf dem Höhepunkt seines Ruhms 1 600 Gulden für sein berühmtes Gemälde »Nachtwache«.) •Im Frühjahr 1 720 erklärte Isaac Newton: »Ich kann die Bewegung von Himmelskörpern berechnen, jedoch nicht die Verrücktheit der Menschen.« Daher verkaufte er am 20. April seine Anteile an der South Sea Company und machte einen hundertprozentigen Gewinn (7000 Pfund). Im Sommer desselben Jahres hatte die Hysterie ein sol¬ ches Ausmaß erreicht, daß er nicht widerstehen konnte und erneut in das Geschäft einstieg. Er kaufte seine Anteile zu Höchstpreisen und verlor schließlich 20000 Pfund. Seitdem war »Südsee« für den Rest seines Lebens ein Tabuwort.126 •Während der Hysterie um die Aktien der Mississippi Company in Pa¬ ris war der Andrang der Kaufwilligen in der kleinen Straße, in der die Anteile verkauft wurden, so groß, daß ein Buckliger ein Vermögen machte, weil er seinen Buckel als Tisch für die Makler vermietete. Der »Bucklige aus der Rue Quinquempois« konnte leider selbst nicht wi¬ derstehen und investierte seinen Verdienst ebenfalls in die Aktien ... •Einige Bankiers stürzten sich beim Börsenkrach 1 929 tatsächlich von den Wolkenkratzern New Yorks in die Tiefe, doch es regnete nie Ban¬ kiers, wie es im Wall-Street-Mythos heißt. •Während des Immobilienbooms in den Jahren 1 989 und 1 990 in Ja¬ pan war das Grundstück, auf dem der Kaiserpalast steht, mehr wert als ganz Kalifornien. Das Gelände im Umkreis des Palastes war teurer als alle Immobilien in den USA.

Crash einen »Expertenausschuß« einberuft, der die Angelegenheit gründlich untersuchen und den Grund für das Unheil finden soll. Die Brady Commission, die den Börsenkrach von 1987 in den USA untersuchte, ist ein aktuelles Beispiel für dieses Verfahren. »Die Reformer konzentrieren sich bei einem Markt oder Markt¬ mechanismus meist auf einen Fehler, der angeblich den Boom aus118


löste und den Zusammenbmch einleitete. Die häufigsten Kandi¬ daten sind unweigerlich Neuheiten, deren Auftreten in Zusam¬ menhang mit dem Boom verdächtig wirkt. Nach dem Zusammen¬ bruch der Tulpenpreise gingen die Behörden in den Niederlanden gegen die kurz zuvor entstandenen Termin kontraktmärkte vor und machten sie für die >Tulpomanie< verantwortlich. Aus heutiger Sicht mag das dumm erscheinen, doch der Terminkontraktmarkt bei Tulpen war neu, und sein Aufkommen traf mit dem spekta¬ kulären Anstieg der Tulpenpreise zusammen. Beim Börsenkrach 1 929 war es für den amerikanischen Kongreß ein leichtes, die Übel¬ täter unter den Investment-Trusts zu finden. Die vor nicht allzu langer Zeit entwickelten Praktiken des Programmhandels und der Portefeuille-Absicherung wurden für den Crash von 1987 verant¬ wortlich gemacht. Diese >Fehler< werden vielleicht eingeschränkt oder verboten, dennoch stehen sie nur für einen kleinen Teil des Marktes. Ihre Todsünde scheint ihre Neuheit gewesen zu sein.«128 Diese Analyse nach dem Motto »Den letzten beißen die Hunde« läßt die Vorhersage zu, daß der nächste Crash den Computeran¬ wendungen oder den Internet Day Stocktraders zugeschrieben wird. Meiner Ansicht nach ist der gemeinsame Nenner bei alle¬ dem, daß die Schuld bei den Mitteln anstatt bei der Ursache für das Spekulationsfieber gesucht wird. Selbst wenn heute jemand die Be¬ nutzung von Computern und Telefonen verböte, käme es meiner Meinung nach zum Crash, er würde dann eben durch Brieftauben übermittelt werden. Die »Panik« dauerte vielleicht einige Tage und nicht nur ein paar Stunden, doch zum Zusammenbruch käme es dennoch.

Die Reaktion der Wirtschaftsexperten Es ist sehr aufschlußreich, daß die wichtigsten Bücher über die Psy¬ chologie des Geldes unweigerlich das Thema »Spekulationswahn« behandeln. Erwartungsgemäß sind Wirtschaftsexperten auch seit langem von dem Auf und Ab der Spekulationsphasen fasziniert. 119


Der Grund für dieses Interesse liegt darin, daß die Beständigkeit der Booms und Zusammenbrüche sich der heiligsten Hypothese widersetzt, auf der die Wirtschaftswissenschaften seit ihren An¬ fängen basiert: Märkte sind rational, sie werden vom völlig ratio¬ nalen Homo oeconomicus gesteuert. Der Homo oeconomicus Das Konzept des »Homo oeconomicus« ist der psychologische Eck¬ pfeiler der Wirtschaftswissenschaften. Eine klassische Definition definiert ihn als: »rational handelndes Individuum. Das bedeutet, daß das Individuum eine bestimmte Vorstellung davon hat, wie die Ökonomie funktioniert, und daß es keine systematischen Feh¬ ler bei der Verarbeitung von Informationen begeht.«129 Die der Definition zugrundeliegenden Prinzipien wurden seit der Zeit Adam Smith' im Jahr 1 78v5 nicht aktualisiert, also ein JahrDer sagenhafte Homo oeconomicus Die psychologischen Annahmen hinter dem sagenhaften Homo oeco¬ nomicus bergen erhebliche Probleme. Erstens geht die Definition davon aus, daß alle Menschen gleich sind. Zweitens berücksichtigt sie nicht, daß das Verhalten einer Gruppe vom Verhalten einer Einzelperson abweicht. Anders ausgedrückt, sie läßt keinen Raum für eine »Gruppen-« oder »Massenpsychologie«, die sich qualitativ von der Persönlichkeitspsychologie unterscheidet. Dazu gehört der bekannte Trugschluß, daß sich das Ganze nicht von der Summe der Teile unterscheidet. Auf dem Gebiet der Boom- und BustPhasen ist ein solcher Trugschluß gefährlich. Gustave Le Bon, einer der Pioniere der Massenpsychologie, betonte: »Einzelne Gruppenmitglieder werden vom kollektiven Denken über¬ stimmt, egal, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäfti¬ gung oder Intelligenz sind. Diese Art des Fühlens, Denkens und Verhal¬ tens veranlaßt den einzelnen dazu, sich deutlich anders zu verhalten, als wenn er allein wäre.«130 Auffällig ist, daß Gustave Le Bon niemals den Begriff »Archetyp« benutzte, den sein Zeitgenosse C.G. Jung damals gerade entwickelte. Dennoch deckt sich Le Bons Definition der Grup¬ pendynamik mit Jungs Erkenntnissen über das kollektive Unbewußte.

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hundert bevor Sigmund Freud das Unbewußte »entdeckte«. Diese Grundsätze spiegeln die absolute Vormachtstellung des Verstandes wider, eine Ansicht, die seit Descartes dominiert (s. Kasten). Gerechterweise muß man sagen, daß die Wirtschaftswissen¬ schaftler seit Wesley Clair Mitchell die Vereinfachungen im Zu¬ sammenhang mit dem Homo oeconomicus kennen. Mitchell er¬ klärte: »Wirtschaftswissenschaft ohne Berücksichtigung der Psy¬ chologie ist, wie wenn man Technik betreibt, ohne die Gesetze der Physik zu beachten.«131 Wirtschaftswissenschaftler betrachten den Homo oeconomicus als »nützliche Hypothese« und nehmen die Annahmen nicht wörtlich. Dennoch ist diese Hypothese notwen¬ dig, damit die ökonomischen Theorien funktionieren. Das erklärt auch, warum einige Wirtschaftswissenschaftler auf das Thema Finanzhysterie häufig mit Ablehnung oder Leugnung reagieren.

Leugnung Geht man davon aus, daß Booms und Crashes die sakrosankte »Ra¬ tionalität des Marktes« widerlegen, überrascht es nicht, daß es ei¬ ne umfangreiche Literatur gibt, mit der Wirtschaftswissenschaftler die Existenz von Finanzhysterien zu widerlegen versuchen.132 Spe¬ kulationsmanien passen nicht ins Bild. Sie werden daher manch¬ mal als »anekdotische Anomalien« abgetan, die auf »Irrationalitä¬ ten« basieren. Charles Kindleberger begegnet dieser Kritik mit folgenden Argu¬ menten: »Der Vorwurf der Anekdote läßt sich leicht entkräften. Anekdoten sind Belege, es stellt sich nur die Frage, ob sie repräsen¬ tativ sind oder nicht ... Ich behaupte, daß die historischen Belege in ausreichendem Maße repräsentativ sind, um im Wirtschaftsle¬ ben unter dem System des Kapitalismus ein wiederkehrendes Sche¬ ma zu erkennen ... Zur Rationalität: Die Ansicht, daß Vermögens¬ märkte stets und unweigerlich von intelligenten, informierten und finanzstarken Spekulanten, die stets rational kalkulieren, domi¬ niert werden oder nur aus diesen bestehen, trifft ebenfalls nicht zu. Es scheint meistens so zu funktionieren, doch so ist es nicht.« 121


Kindleberger kommt zu folgendem Schluß: »Krankheitsbilder zeichnen sich ab. Die meisten Volkswirtschaften sind in der Regel gesund, doch gelegentlich kann sich eine Ökonomie mit dem ei¬ nen oder anderen Wirtschaftsvirus infizieren ... Wer Finanzkrisen mit der Begründung leugnet, daß es keine Boom- und Bust-Phasen geben kann, weil sie irrational sind, ignoriert einen Zustand um der bloßen Theorie willen.«133

Erklärungen der Wirtschaftswissenschaft Natürlich gibt es auch mutige Wirtschaftswissenschaftler, die es wagten, den merkwürdigen Fall der »wirtschaftlichen Pathologie« zu erklären. Zu den Theorien, die sowohl der Zeit als auch der Kri¬ tik der Kollegen am besten standhielten, gehören Kindlebergers Geldschaffungstheorie und Informationsflußtheorie. Eine kurze Erklärung soll an dieser Stelle genügen: KINDLEBERGERS GELDSCHAFFUNCSTHEORIE

Charles Kindleberger beschäftigt sich intensiv mit Wirtschaftsge¬ schichte. In seinem Buch über Finanzhysterien bewertet er die Ge¬ meinsamkeiten von 42 Krisen zwischen 1618 und 1990 (darunter auch einige, die parallel in verschiedenen Ländern auftraten). Sei¬ ne wesentlichen Schlußfolgerungen lauten: •»Der Begriff >Manie< suggeriert einen Verlust an Realität oder Ra¬ tionalität, ja sogar eine Art Massenhysterie oder Wahn ... Ratio¬ nalität ist mehr eine A-priori-Annahme und keine Beschreibung der Welt ... Manien und Ausbrüche von Panik sind meiner An¬ sicht nach gelegentlich mit einer allgemeinen Irrationalität und Massenpsychologie verbunden .«134 •Das Eintreten der zweiten Phase - die ich zuvor als »Feeding Frenzy« bezeichnete - kennzeichnet den Unterschied zwischen einem normalen und einem pathologischen Markt. Kindleber¬ ger zufolge setzt der Ansturm ein, wenn Kredit auf der Grundla¬ ge von Preiserhöhungen bei den Gütern geschaffen wird, mit denen man spekuliert. »Das Spekulationsfieber steigert sich durch die Expansion von Geld und Kredit.«135 122


•Der Auslöser für eine Krise kann fast alles sein, ob real oder ein¬ gebildet, das die Erwartungen ins Gegenteil verkehrt. Es gibt zahlreiche Verschwörungstheorien, die sich bei einer Überprü¬ fung aber selten als stichhaltig erweisen. »Eine Panik, eine »plötzlich auftretende, grundlose Angst<, benannt nach dem Hir¬ tengott Pan, kann in Vermögensmärkten auftreten oder bei ei¬ nem stürmischen Wechsel von weniger flüssigen zu flüssigeren Vermögenswerten ... Das System basiert auf positivem Feed¬ back. Ein Preissturz senkt den Wert der Sicherheiten und verlei¬ tet Banken dazu, Kredite aufzukündigen oder keine neuen mehr zu erteilen ...«136 Das löst eine Kettenreaktion aus, die in einem Zusammenbruch mündet. DIE INFORMATIONSFLUSSTHEORIE

Beim zweiten Ansatz zur Erklärung von Spekulationsmanien wer¬ den die Marktteilnehmer in zwei verschiedene Kategorien unter¬ teilt: »Smart Money« und »kleine Investoren«, in der Tiermeta¬ phorik der Wall Street auch als »Wölfe« und »Lämmer« bezeichnet (s. Kasten).

Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Informationsflußtheorie weist darauf hin, daß zwischen dem »Smart Money« und den »Kleinanlegern« ein Informationsungleichgewicht besteht. Die Profis sind natürlich zuerst da. Dann peitschen die Medien die Be¬ geisterung der kleineren Spekulanten auf. Der Markt boomt, und »Smart Money« überläßt seine Positionen großzügig den kleinen Anlegern. Wenn der Markt schließlich zusammenbricht, haben

Der glänzende Bullenmarkt ist hier durch das Firmenlogo von Merril Lynch dargestellt, dem größten Börsenhan¬ delshaus weltweit. Der Bulle ist ein Her¬ dentier, das meistens sehr zahm wirkt, aber regelmäßig in Panik gerät und dann blindlings mit der Herde davon¬ stürmt.

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Die Wall-Street-Fauna Wohl die meisten Leser haben schon von den »Bullen« und »Bären« der Wall Street gehört (also den Marktoptimisten bzw. -pessimisten). Doch nur wenige kennen den archetypischen Ursprung dieser bunten Fauna.137 •Bulle: männliches Sonnensymbol im Mithras-Kult und anderen indo¬ germanischen Traditionen. Das Wort stammt von dem indogerma¬ nischen Verb bhel, was »scheinen, blitzen, brennen« bedeutet. Im Al¬ tertum verband man genau diese Eigenschaften mit dem Gott Baal. Im Altenglischen stand der Begriff bellan für »brüllen, aufblasen, ein sinnloses Gerücht verbreiten«. Von der letzten Bezeichnung stammt die derzeitige Bedeutung des englischen Wortes bullshit. •Bär: weibliches Symbol des Nordpols, weswegen die Sternbilder Großer und Kleiner Wagen auch Großer und Kleiner Bär genannt

werden. Von dem indogermanischen Verb bher, was »tragen, ge¬ bären« bedeutet. Im Altenglischen bezeichnet man mit borian Tätig¬ keiten wie »bohren, durchstechen«. Der »Bear Skin Jobber« im WallStreet-Jargon ist jemand, der kurzfristige Wertpapiere, sog. Kurzläu¬ fer, verkauft, ohne welche zu haben. •Lämmer: »unschuldige«, nichtprofessionelle Kleinanleger. Christo¬ pher Elias schrieb ein Buch mit dem vielsagenden Titel Fleecing the Lambs138 (= »Den Lämmern das Fell über die Ohren ziehen«), •Wölfe: die großen, professionellen Anleger, die die kleinen Anleger schröpfen, ihnen sozusagen »das Fell über die Ohren ziehen«. Stellt man sich diese Tiere in Aktion vor, hat man den vollen BoomBust-Zyklus: Ein glänzender Bulle, der auf Gerüchten basiert, zieht die Lämmer auf den Markt. Dann kommt der Bär, der das Endergebnis ge¬ bärt und die aufgeblähte Seifenblase platzen läßt. Nur die schnellsten Wölfe entkommen ohne Schaden.

sich die meisten Profis bereits zurückgezogen, und die »Lämmer« werden entsprechend geschröpft. Einen Beleg für diese Theorie bietet eine Anekdote über Joseph Kennedy, den Vater des späteren Präsidenten John F. Kennedy. Kennedy sen. hörte angeblich, wie zwei Schuhputzer an der Wall Street 1929 Börsentips austauschten. Daraufhin beschloß er, daß 124


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Keltische Bronze aus dem 1 .Jahrhundert v. Chr., derzeit im British Museum, London. Sie zeigt einen gigantischen Bären, welcher der Göttin Artio (von kel¬ tisch art = »Bär«) gegenübersteht. Die Göttin trägt einen Korb mit Blumen, und auf dem Schoß liegen Früchte. Die Göttin Artio und der Bär symbolisie¬ ren den archetypischen Zyklus des tiefen Abstiegs in die Unterwelt (die wir heute als »kollektive Psyche« bezeichnen würden [Winterschlaf des Bären]) und die Wiedergeburt im Frühling. (Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

es höchste Zeit sei, sich von der Börse zurückzuziehen - eine Ent¬ scheidung, die sein Vermögen in den 30er Jahren rettete. Die aktuellste Version dieser Theorie nennt sich »Behavioral Fi¬ nance« (Psychologie der Finanzmärkte; s.den Kasten »Die Psycho¬ logie der Finanzmärkte als Kontext«). Sie bietet den theoretischen Rahmen für die Anwendung der kollektiven Psychologie auf die Fi¬ nanzwelt, die in diesem Kapitel beschrieben wird. DIE UNBEANTWORTETE FRAGE

Alle Theorien zur Erklärung des Boom-Bust-Phänomens, darunter auch die zwei besten, die oben vorgestellt wurden, haben eines ge¬ meinsam: Sie erklären, wie die Seifenblase der Spekulation entsteht und wie sie platzt. Doch damit bleibt eine Frage unbeantwortet: Warum passiert das? Weshalb werden die Lämmer nie klüger? Aus 125


welchem Gnind sind Märkte auch nach jahrhundertelanger Spezia¬ lisierung immer noch anfällig für solche gelegentlichen Ausbrüche einer »Massenhysterie« oder »Massenpanik«? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir einen kollektivpsychologischen An¬ satz, dabei werden wir uns auf eine archetypische Reise ins alte Griechenland begeben.

Die Psychologie der Finanzmärkte als Kontext »Während der letzten 30 Jahre stand Finanzdisziplin größtenteils unter der Ägide der Hypothese des effizienten Marktes. Doch in letzter Zeit haben sich genug Anomalien angesammelt, die die Dominanz in die¬ sem Bereich erschütterten. Infolgedessen verdient das Auftreten eines neuen Denkens zur Erklärung des Marktverhaltens Aufmerksamkeit, das sich »Behavioral Finance< nennt. Die Anhänger dieses Denkens glauben, daß der Markt die Gedanken, Gefühle und Handlungen nor¬ maler Menschen spiegelt. Das steht im Gegensatz zur Vorstellung vom idealisierten Homo oeconomicus der Schule der Markteffizienz und der fundamentalen Analyse. Menschen versuchen vielleicht, rational zu handeln, doch diese Rationalität wird normalerweise durch kognitive Tendenzen, emotionale Launen und soziale Einflüsse gestört. Die Behavioral Finance verwendet psychologische, soziologische und auf menschlichem Verhalten basierende Theorien zur Erklärung der Fi¬ nanzmärkte und Vorhersage ihrer Entwicklung. Außerdem berücksich¬ tigt sie den Einfluß unterschiedlicher Einstellungen zum Risiko, die Bil¬ dung von Informationen, Denkfehler, Selbstkontrolle oder einen ent¬ sprechenden Mangel, Bedauern bei finanziellen Entscheidungen und die Erkenntnisse der Massenpsychologie.«139 Auch George Soros stellt mit seinem Konzept der Fehlbarkeit und der Reflexivität die derzeit herrschende Lehrmeinung vom Marktgleichge¬ wicht in Frage: »Fehlbarkeit bedeutet, daß unser Verständnis von der Welt, in der wir leben, unzulänglich ist, und Reflexivität bedeutet, daß sich unser Denken aktiv auf die Ereignisse auswirkt, an denen wir be¬ teiligt sind und über die wir nachsinnen.«140 Soros weist also darauf hin, daß niemand der Wahrheit letzter Schluß kennt. In der archetypi¬ schen Sprache sind damit die Gefahren des hyperrationalen apollini¬ schen Schattens identifiziert. Im Gegensatz dazu basiert die klassische Wirtschaftstheorie auf der Annahme des »perfekten Wissens« bei allen

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Marktteilnehmern und betrachtet die Hyperrationalität als gegeben. Soros sieht den Hauptunterschied zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften darin, daß die Meinung des Beobachters in den Naturwissenschaften das Ergebnis nicht beeinflußt, wohingegen bei den Finanzen und in der Wirtschaft wechselnde Erwartungen oft der Schlüssel zu einer veränderten Realität sind. Das archetypische Modell, das in diesem Kapitel vorgestellt wird, er¬ klärt die psychische Dynamik, die sowohl der Behavioral Finance als auch den Kombinationseffekten der Fehlbarkeit und Reflexivität der Boom-und-Bust-Zyklen zugrunde liegt.

Denn »ohne eine solide Kenntnis des Denkens der Massen (das oft den Anschein eines Massen wahns erweckt) lassen unsere ökono¬ mischen Theorien noch einiges zu wünschen übrig«.141 So urteilt Bernard Baruch im Vorwort zu Charles Mackays Werk. Baruch war einer der erfolgreichsten amerikanischen Anleger in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Er überstand den Börsenkrach von 1929 und fungierte als Berater mehrerer US-Präsidenten. In einem an¬ deren Buch wurde er noch deutlicher: »Völkerwanderung, Kreuz¬ züge, mittelalterliche Büßerbewegung, Hexen Verbrennungen, all diese Phänomene - bis hin zum l’lorida-Boom und dem Börsen¬ krach 1 929 - waren Kollektivhandlungen, hervorgerufen durch Impul¬ se, die noch keine Wissenschaft untersucht hat ... Derartige Impulse sind so mächtig, daß sie unerwartet jeden statischen Zustand oder sogenannten normalen Trend beeinflussen können. Aus diesem Grund müssen ihnen aufmerksame Wirtschaftsexperten in ihren Überlegungen einen Platz zubilligen. Ich hatte stets den Eindruck, daß der Wahn, der die Menschheit regelmäßig heimsucht, einen tief verwurzelten Zug in der menschlichen Natur widerspiegelt -ein Zug ähnlich der Macht, die die Bewegung der Zugvögel beeinflußt oder die Lemminge ins Meer treibt.«'*2 Sollte Baruch das Werk seines Zeitgenossen C.G. Jung gelesen haben, dürfte ihm die Wissenschaft, die diese »Impulse« unter¬ suchte, nicht unbekannt gewesen sein. Tatsächlich lautet eine der 127


kürzesten Definitionen Jungs: »Archetypen sind für die Seele, was Instinkte für den Körper sind.«143 Ein anderer Hinweis darauf, wie nahe manche schon dem Ansatz waren, den ich vorschlage, zeigt

sich in einem Zitat von Peter Bernstein: »Alle Fälle [einer Finanz¬ panik] fügen sich zu einer erkennbaren Ereigniskette, die sich wie eine griechische Tragödie mit leicht erkennbarer Regelmäßigkeit entfal¬ tet,«144 Dieser Satz war als Metapher gedacht, ich werde jedoch zei¬ gen, daß viel mehr dahintersteckt.

Ein archetypischer Ansatz Wir stellten im Zusammenhang mit unserem archetypischen Menschen (Abb. 10) fest, daß wir während der letzten 5000 Jahre auf einem archetypischen »Bein«, d.h. dem Magier, »standen«. Das bedeutet, unsere Sicht der Umwelt wurde völlig von diesem be¬ sonders ausgeprägten Yang-Blickwinkel dominiert. Ich möchte nun zeigen, daß die Spekulationsphasen, die unser Wirtschaftssystem heimsuchen, eine direkte Folge dieser Haltung sind. Die griechische Mythologie bietet eine sehr präzise Beschrei¬ bung der vorliegenden Dynamik. Doch zunächst sollten wir klären, welche Bedeutung Mythen eigentlich haben.

Die Bedeutung von Mythen Bei Mythen handelt es sich nicht um unwahre, unwissenschaftli¬ che Geschichten über den Ursprung der Menschheit, auch wenn das oft angenommen wird. Statt dessen sind Mythen gültige Be¬ schreibungen psychischer Sequenzen; sie sind bevorzugte Szenari¬ en, die illustrieren, wie sich bestimmte Archetypen manifestieren. Mythen sollten daher in einem kollektivpsychologischen Sinn verstanden werden und nicht als die »Geschichte« eines Helden oder Gottes. Sie stehen für »Mächte, die dem menschlichen Geist schon immer bekannt sind und das artspezifische Wissen verkör¬ pern, mit dem der Mensch über Jahrtausende überlebte«.145 My¬ then sind das Traumdenken einer ganzen Kultur.146 128


Der moderne Mensch neigt dazu, den Wert solcher alten Weis¬ heiten systematisch zu verneinen. Joseph Campbell warnt aller¬ dings: »Zweifellos ist Mythologie kein Spielzeug für Kinder. Eben¬ sowenig ist sie eine Sache archaisierenden, rein gelehrten Interes¬ ses, für moderne Menschen der Tat ohne Belang. Denn ihre Sym¬ bole (ob in der faßlichen Form von Bildern oder in der abstrakten Form von Ideen) berühren und entfesseln die tiefsten Triebzentren und bewegen Gebildete und Ungebildete gleichermaßen, bewegen Menschenmeuten, bewegen ganze Kulturen.«147 In diesem Sinne sind meiner Meinung nach die alten griechi¬ schen Mythen nützliche Instrumente zur Erkundung aktueller Probleme.

Das Apollo-Dionysos-Paar Ich möchte Ihnen nun ein mythologisches Paar vorstellen, das meiner Ansicht nach bei jedem unserer »irrationalen« Spekulati¬ onshysterien der letzten 300 Jahre eine Rolle spielte. Sie gehörten zu den berühmtesten und mächtigsten Göttern des klassischen Pantheons, und die Tatsache, daß wir sie vergessen haben, läßt sie nicht weniger stark in unserer Mitte wirken. Apollo und Dionysos verbindet, daß sie die zwei Lieblingssöhne des Zeus waren und stets die beiden Pole beim Zusammenspiel zwischen Rationalität und Irrationalität darstellten. Ich möchte nun einen kurzen Überblick über die Geschichte dieser Götter ge¬ ben,148 zeigen, wie die beiden interagieren, und ihr Zusammen¬ spiel dann mit den bekannten Phasen des Boom-und-Bust-Zyklus in Verbindung bringen. In der anschließenden Beschreibung sind die Eigenschaften, die sich in Zusammenhang mit dem Phänomen des Spekulationsfiebers als besonders wichtig erweisen, kursiv ge¬ druckt. APOLLO

Apollo kam in der Rangfolge direkt nach Zeus und war damit ei¬ ner der wichtigsten griechischen Götter. Er galt als der Gott der Sonne, der Prophezeiung, der Künste (besonders der Musik) und des 129


Bogenschießens. »Römer und Griechen nannten ihn übereinstim¬ mend Apollon oder Apollon Phoibos (den Lichthellen). Die bilden¬ de Kunst stellte ihn als gutaussehenden, bartlosen Jüngling von männlicher Kraft und mit langen goldenen Locken dar.«149 Er konnte ganze Länder mit Epidemien überziehen, sie aber auch hei¬ len. Beziehung zum Weiblichen: Apollos Mutter Lcto wurde von der Ei¬ fersucht Heras verfolgt, der offiziellen Gattin des Zeus. Daher hat¬

te sie neun Tage lang schreckliche Wehen, bevor sie Apollo und sei¬ ne Schwester Artemis gebar, die Göttin des Mondes und der Jagd. Apollo wuchs in nur wenigen Tagen zum Mann heran, weil The¬ mis (die Göttin von Sitte und Ordnung) ihm reinen Nektar und Ambrosia zu essen gab. Apollo hatte keine erfolgreichen Liebschaften und keine Partne¬ rin. Er war der größte Frauenhasser des Pantheons. Im Drama Orest von Euripides ging er sogar so weit zu behaupten, daß die Mutter eines Kindes keine Elternfunktion habe, die besitze nur der Vater. Er übernahm das Orakel von Delphi (wörtlich »die Brust«), einen Ort, der schon vor den Griechen als Heiligtum der Göttin Gaia ei¬ ne lange Geschichte prophetischer Weissagung hatte. Das Heilig¬ tum wurde von einer riesigen weiblichen Schlange namens Py¬ thon bewacht. In der Mythologie erschlägt Apollo Python und nimmt so Delphi in Besitz. Er behauptete, daß sein »überlegenes Wissen«, das wir heute als »intellektuelle Überlegenheit« bezeichnen würden, ihm die Macht verliehen habe, die Fähigkeit zur Weissa¬ gung und Musik von der alten Göttin zu übernehmen. Danach wurde er als der pythische Apollo bezeichnet, und seine männli¬ chen Priester kontrollierten die Priesterinnen, die den Namen Py¬ thia trugen und die berühmtesten Weissagungen der Antike mach¬ ten. Eine weitere Bestätigung von Apollos Rang findet sich bei Vin¬ cent Scully in seiner Untersuchung der Sakralarchitektur des alten Griechenland: »Apollos wichtigste Tempel künden davon, daß er normalerweise von den Griechen angerufen wurde, wenn die ehr¬ furchtgebietenden Eigenschaften der alten Erdgöttin offenbar 130


Apollo ist in einer typisch selbstsi¬ cheren Position und Haltung darge¬ stellt. Seine traditionellen Attribute fehlen hier: Der Bogen befand sich normalerweise in seiner linken, die Leier in der rechten Hand, die auf ei¬ nem Baumstumpf ruht. Die Schlan¬ ge Python, die er vernichtete, ist auf dem Stumpf zu sehen. Python war das Symbol der Großen Mutter. Nachdem Apollo ihren Tempel und ihre Priesterinnen, die berühmt für ihre Wahrsagequalitäten waren in Delphi übernommen hatte, wur¬ de er Apollo Pythia, »der, der die Zukunft treffsicher voraussieht«. (Apollo vom Belvedere, 2. Jahrhun¬ dert v.Chr.,Vatikan-Museum, Rom.)

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wurden ... dort wurde der Tempel des jungen Gottes gebaut und im allgemeinen so ausgerichtet, daß er die chthonischen Kräfte nicht nur ergänzte, sondern sich auch gegen sie richtete.«150 Er war ein Gott der Autorität, wie sich anhand einiger Inschriften an sei¬ nem Tempel ablesen läßt: »Nichts im Übermaß. Halte deine Zunge im Zaum. Fürchte die Autorität. Beuge dich vor dem Göttlichen. Sonne dich nicht in deiner Stärke. Halte die Frau unter Kontrolle.«151

Apollos Instrumente: Seine beiden Instrumente sind mit Saiten ver¬ sehen: Bogen und Leier. W. F. Otto bemerkte, daß für die Griechen eine Verbindung zwischen ihnen bestand: »In beiden sehen sie ein Geschoß nach dem Ziele abschnellen, hier den treffenden Pfeil, dort das treffende Lied.«152 Apollos Pfeil traf mit tödlicher Genau131


igkeit; sein Gesang war klar und rein. Bei Homer erhielt er die Be¬ zeichnung »einer, der aus der Ferne zerstört«: Die Pfeile, die er ab¬ schoß, töteten die Opfer von weitem, wie er z. B. auch die Ferse des Achill, des berühmten und beliebten griechischen Helden, ver¬ letzte.

Apollos emotionale Attribute: Apollo ist stets emotional distanziert und unbeeindruckt von dem Schaden, den er anrichtet. Er kann in der Zukunft leben und seine objektive Haltung mit absoluter Gleichgültigkeit wahren. Apollo weist alles zurück, was in seine Nähe kommt: Er bleibt distanziert, unberührt, hyperrational und ist unfähig zur Selbstbeobachtung. Seine verletzten Gefühle be¬ herrscht er stets, indem er sich durch intellektuelle Abstraktion von seinen Gefühlen distanziert. DIONYSOS

Dionysos (bei den Römern »Bacchus« genannt) war der Gott der »Verzückung und des Schreckens, der Wildheit und der seligsten Be¬ freiung«. Er war der jüngste der Götter des Olymp und der einzige mit einer sterblichen Mutter. Ginette Paris fängt seine Energie bild¬ haft ein: »Es ist Dionysos, der uns [bei sexuellem Verlangen] dazu bringt, uns die Kleider vom Leib zu reißen (oder zumindest Knöp¬ fe öffnen läßt), unser Haar durcheinanderwirbelt, die Dinge um¬ wirft und die Nachbarn stört.«153 Sie geht sogar noch weiter: »Das Gesicht eines Mannes kurz vor dem Orgasmus hat stechende Au¬ gen mit erweiterten Pupillen, voller Macht, wie die eines Tieres, das man bei Nacht überrascht. Sein Gesicht verdüstert sich, die Venen schwellen, er wird wahnsinnig. Manchmal knurrt er, stöhnt, schreit auf. Dionysus lebt wieder!« Es mag niemanden überraschen, daß es Dionysos unter christli¬ chem Einfluß nicht gut erging. »Sie konnten mit Spiritualität und Ekstase, die über den Körper erlangt wurde, nichts anfangen, da¬ her machten sie aus dem Gott Dionysos den Teufel Dionysos ... Die Götter Pan und Priapus, die zum Dionysoskult gehörten und mit Bocksbeinen, 1 iörnern und Ziegenbart bzw. einem erigierten, 132


Dionysos in ekstatischer Trance, umringt von tanzenden Faunen. Er ist der »Auflöser aller Grenzen und Zwänge«. Pflanzen und Glockenspiele sind ebenfalls dargestellt. (Von einer klassi¬ schen griechischen Vase; Zeich¬ nung von Moreno Tomasetig.)

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zum Himmel zeigenden Phallus dargestellt wurden ..., wurden zu einer der populärsten Darstellungen des Teufels.«154 Die modernen westlichen Sprachen verfügen nur über einen sehr begrenzten Wortschatz, wenn es gilt, Ausgelassenheit und Ek¬ stase zu beschreiben. Im Sanskrit gibt es dagegen über 200 Formen von cinanäa155 (= »Wonne«), und die Griechen kannten noch meh¬ rere Dutzend Ausdrücke dafür. Daher haben es Übersetzer schwer, Worte für die dionysische Energie zu finden, ohne in das Vokabu¬ lar zu fallen, mit dem Psychiater Pathologien beschreiben. Beziehung zum Weiblichen: Dionysos war wie Apollo ein Sohn des Zeus und einer sterblichen Mutter namens Semele. Auch diese wurde von Heras Eifersucht verfolgt. Hera stellte ihr eine Falle. Sie brachte Semele dazu, Zeus zu bitten, sich vor ihr in seiner vollen Herrlichkeit zu präsentieren. Als Zeus sich in den Gott des Blitzes verwandelte, tötete seine Macht Semele, ließ jedoch ihren noch ungeborenen Sohn unsterblich werden. Zeus nähte Dionysos mit goldenen Klammern in seine Hüfte ein und rettete so seinen Sohn. Nur zwei Monate später wurde Dionysos geboren. Einer seiner Namen lautet »göttliches Kind« - Puer aetemus 156 (= »ewiger Jüng¬ ling, ewiges Kind«) weil er direkt von einem Gott geboren wur¬ de. Anfangs erzog man ihn als Mädchen, und Kybele (die dunkle Mondgöttin) lehrte ihn ihre Mysterien und Initiationsriten. Als Kind spielte Dionysos unter dem Namen Iakchos als Führer der 133


Initiierten zum I’empel der Göttinnen eine wichtige Rolle bei den Eleusinischen Mysterien.157 Dionysos ist der einzige griechische Gott, der Frauen, die Göttinnen darstellen und zuvor in der grie¬ chischen Mythologie vernichtet worden waren, rettet und ihren Status wiederherstellt. So errettet er beispielsweise seine Mutter Scmele, ebenso Ariadne, die seine Frau wird. Obwohl er von sexuel¬ ler Promiskuität umgeben ist, verkörpert er paradoxerweise auch den einzigen Gott in der griechischen Mythologie, der seiner Gat¬ tin Ariadne, der Vegetationsgöttin, treu bleibt. Über seine Frau wurde Dionysos mit der Vegetation, dem Weinberg, Früchten, dem Frühlingserwachen und sexueller Fruchtbarkeit in Verbin¬

dung gebracht. Die Verehrung des Dionysos war überwiegend ein Kult der Frau¬ en und fand in den wildesten Teilen der Berge statt. Dort wurden die Frauen zu Mänaden: das Gefolge des Gottes, das sich in einem emotionalen und irrationalen Wahn ekstatisch mit ihm verband. Die¬ se Feiern wurden bei Nacht abgehalten und Orgia genannt: wilde Tänze bei Wein und anderen heiligen Rauschmitteln sowie rasen-

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Dionysos, gekrönt mit Weinlaub und umringt von tanzenden Mänaden (den »wahnsinnigen Frauen«). Beachten Sie die Panflöte, die von der Frau links ge¬ spielt wird. (Klassische griechische Vase.)

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der Musik von Trommeln, Becken, Systrum und Panflöten. Der Höhepunkt war erreicht, wenn ein Opfertier, das den Gott selbst darstellte, in Stücke gerissen und roh verzehrt wurde, danach wur¬ de sein Fell getragen. Mehrere heutige Schlüsselbegriffe, die für unseren Zyklus der Spekulationsphasen relevant sind, haben hier einen Bezug: »Ma¬ nie« stammt von den Mänaden, »Orgie« von Orgia und »Panik« von Pan. Selbst moderne Bezeichnungen wie »Schwarzer Freitag« für den Börsenkrach von 1929 weisen kurioserweise auf die »dunk¬ le Nachtseite« der dionysischen Tradition hin. Im Bereich der Anekdote liegt, daß die heute noch existierende weibliche Sitte, Pelze zu tragen, sich die Lippen rot zu schminken und Nägel zu lackieren, ebenfalls auf diese Rituale zurückgeht. Die klassische griechische Tragödie, die zu den ersten bewußt »er¬ fundenen« Literaturformen überhaupt gehört, erlebte ihre ersten Aufführungen in Athen im Jahr 534 v. Chr. in Verbindung mit dem Dionysos-Kult. Danach fiel die alljährliche »Theatersaison« mit dem Monat zusammen, der in der Stadt den Dionysien geweiht war.158

Die Attribute des Dionysos: Seine Beigaben sind keine Artefakte, son¬ dern Pflanzen. Dionysos' Gemahlin Ariadne entspricht der alten kretischen Göttin der Vegetation und der Früchte, Fruchtbarkeit und Sexualität. Weintraube, Efeu und Myrte werden von Dionysos besonders geschätzt. Seine berühmteste Gabe ist natürlich der An¬ bau von Trauben und ihre Vergärung zu Wein. Das populäre Bild des römischen Bacchus konzentrierte sich ausschließlich auf dieses Attribut. Aber ganz allgemein zählen alle bewußtseinsverändern¬ den und psychotropen Erfahrungen zu seinem Ressort.

Dionysos' emotionale Attribute: Es gibt zwei emotionale Attribute, die Dionysos zugeschrieben werden: das »ewige Kind« und der ra¬ sende orgiastische Gott. Ovid verleiht Dionysos den Titel des Puer aeternus in Form des Kindsgottes Iakchos der Eleusischen Mysteri¬ en.159 Als das »göttliche Kind« verkörpert er eine gewisse Unschuld 135


und einen Sinn für das Schicksal. Er entkommt naiv der materiel¬ len Welt und »kann beeinflußt uncl leicht überzeugt werden «J60 Er vermag leichtfüßig »die Treppe zu den Sternen« zu erklimmen. Er ist der vorbehaltlose Träumer und Enthusiast, der sich so in seine Ge¬ fühle verstricken kann, daß alles andere aus seinem Bewußtsein schwindet. Die »Blumenkinder« der 60er Jahre verkörperten die¬ sen Aspekt des Dionysos. In seiner erwachsenen Form wird Dionysos wie Pan zur chaoti¬ schen Auflösung des Unterdrückten. Er zwingt jeden, der sich zu sehr festklammcrt, loszulassen, entweder freiwillig oder durch den Tod. Es war Dionysos, der König Midas den Wunsch erfüllte, daß alles, was er anfaßte, zu Gold wurde. Diese Gabe war jedoch tödlich, sie

verdammte den Beschenkten nämlich zum Hungertod. Erst ein Bad im Fuß Paktolos befreite ihn davon. In dieser Geschichte ist Dionysos wie in vielen anderen Erzählungen vor allem ein Ar¬ chetyp der Extreme und starker Gegensätze: Ekstase und Schrecken, die totale Vereinigung und völlige Auflösung, überschäumendes Le¬ bet! und schrecklicher Tod. Der erwachsene Dionysos kennt keine Grenzen, keine sozialen oder anderen Zwänge. Der traditionelle Schamane etwa ist eine Verkörperung des erwachsenen Dionysos. DIE APOLLO-DIONYSOS-POLARITÄT

Apollo und Dionysos weisen einige bezeichnende gemeinsame Ei¬ genschaften auf. Sie sind Halbbrüder, Söhne von Zeus, dem mäch¬ tigsten männlichen Gott. Auch haben beide ein »geschädigtes« Verhältnis zu ihrer Mutter. Apollo aufgrund seiner langen und schmerzhaften Geburt und Dionysos, weil er gar keine Mutter hat, die ihn gebar. Da »Mutter« und »Materie« wie gesagt den gleichen archetypischen Ursprung haben, bedeutet dies in der Praxis, daß keiner der beiden eine »begründete Materialität« besitzt. Apollo flüch¬ tet sich in die abstrakte Rationalität, während Dionysos durch die Mänaden weiter den Halt verliert und sich in völliger Emotionali¬ tät auflöst. Als Folge ihrer gemeinsamen Haltlosigkeit sind beide nicht zur Selbstbeobachtung fähig. Auf die heutige Situation über¬ tragen, vermag dieses archetypische Muster zu erklären, warum 136


»

Wall Street sich selten mit Selbstanalyse befaßt«, wie Robert Sobel

bemerkte.161 Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten befinden sieh die bei¬ den Götter im wahrsten Sinne des Wortes am jeweils entgegenge¬ setzten Ende des Spektrums, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt: Apollo

Dionysos

keine Kindheit

ewige Kindheit

haßt Frauen

geht in Frauen auf

übertriebene Grenzen, Distanz

keine Grenzen, ekstatische Vereinigung

Ordnung, harmonische Musik

Unordnung, dissonanter Lärm

Sonnenlicht, Klarheit

Nacht, Dunkelheit

hyperrational, keine Emotionalität

irrational, völlige Emotionalität

Trotz oder vielmehr aufgrund dieser Polarität sieht Nietzsche in »Apollo und Dionysos zwei Seiten derselben Münze«.162 Gilbert Durand benutzt das Bild von Tag und Nacht für die gleiche Aussa¬ ge. Er sieht Dionysos als Teil des »Nacht-Modus«'6* - nächtliches Bewußtsein in Verbindung mit Mond, Feuchtigkeit, Frauen, Se¬ xualität, Gefühlen, Körper und Erde - im Gegensatz zum »TagesMudus « in Zusammenhang mit Sonne, Trockenheit, allem Ratio¬ nalen, Ordentlichen und Apollinischen. Ginette Paris betont: »Wenn einer Kultur nur apollinisches Sonnenlicht zuteil wird, trocknet sie aus und stirbt; wenn sic umgekehrt zuviel dionysische Feuchtigkeit erhält, fault sie und wird wahnsinnig. Eine hypertechnologisierte, hyperrationale Gesellschaft ist in gewisser Weise so widersinnig wie eine antiintellektuelle Rock-'n'-Roll-Subkultur. Wir brauchen Dionysos und Apollo.«164 Die enge Beziehung zwi¬ schen den beiden Polen wird noch deutlicher, wenn man die My¬ then über ihr Zusammenspiel berücksichtigt.

137


DAS ZUSAMMENSPIEL VON APOLLO UND DIONYSOS

Die mythologische Beziehung ist sehr deutlich: »Im Allerheiligsten des Apollo-Tempels befand sich das Grab des Dionysos. Jedes Jahr überließ Apollon während der drei Wintermonate Dionysos sei¬ nen Tempel, während er selbst weit nach Norden, ins Reich der le¬ gendären Hyperboreer zog.«165 Darüber hinaus erkannte man mit dem dionysischen Fest in Delphi offiziell an, daß alle zwei Jahre die Herrschaft des Dionysos anbrach. Frauen begannen mit dem heiligen Tanz, in dem die Entdeckung und das Erwachen des Kindes Dionysos in einer Wiege nachgespielt wurde. Das Ritual steigerte sich zur orgiastischen Raserei und endete mit dem symbolischen Tod des erwachsenen Dionysos durch Zergliederung. Anschließend kehr¬ te der Gott bis zum nächsten Zyklus wieder in die Unterwelt zu¬ rück. Eine andere aufschlußreiche Darstellung findet sich bei Euripi¬ des in seinem berühmten Drama Die Bakchen. Die Handlung be¬ ginnt mit der Rückkehr des Dionysos nach Theben, seinem Ge¬ burtsort. Pentheus, der apollinische Herrscher der Stadt, »erkennt seine Göttlichkeit nicht« und weist ihn zurück. Er verbietet alle dionysischen Rituale aus Furcht, sie könnten die öffentliche Ord¬ nung stören. Eine Gruppe von Frauen beschließt, sich der Anord¬ nung zu widersetzen, und begibt sich in die Berge, um dort das Ri¬ tual zu begehen. Unter ihnen ist Agave, die Mutter von Pentheus. Der Herrscher versteckt sich in einem Baum, um die Frauen aus¬ zuspionieren. Er wird aber entdeckt. In ihrer Raserei halten die Frauen Pentheus fälschlicherweise für das Opfertier und reißen ihn in Stücke. Agave, seine Mutter, hält schließlich triumphierend seinen Kopf in die Höhe. James Hillman meinte zu dieser Szene: »Dionysos sendet den Wahn, die dunkle Kehrseite des Dionysischen, nicht seinen Ge¬ treuen, die sich seinem Wunder hingeben, sondern seinen Feinden, die sich gegen ihn wehren. «166 Anders ausgedrückt werden gerade die Menschen, die sich an die apollinische Hyperrationalität klam¬ mern, zu Opfern des dionysischen Wahns. Heutzutage bezeichnet man mit der »Verachtung des Dionysos« hyperrationale Kontroll138


versuche und mit »dionysischem Wahn« die Raserei, auf die eine Panik folgt. Nun haben wir alle Teile des Mythos beisammen, die uns bei der Entschlüsselung der Spekulationsmanie helfen können. DAS ARCHETYPISCHE ENTSCHLÜSSELN DER FINANZHYSTERIEN

Jede Phase des traditionellen Boom-und-Bust-Zyklus läßt sich mit einer Begebenheit aus der Welt der Archetypen gleichsetzen. Die Tabelle faßt das Ergebnis zusammen. Phase

Geschichte des Finanzmarktes

Archetypische Geschichte

1 . Aufbau

Marktexperten beginnen über großes Gewinnpotential zu sprechen.

Apollinische Hyper¬ rationalität präsentiert Weissagungen für die Zukunft.

2. »Feeding Frenzy«

Kleinanleger, die »Lämmer«, beteiligen sich: »Treppe zu den Sternen«.167

Das naive Kind (Puer aeternus) wird gebo¬ ren: »Treppe zu den Sternen«.

3. Die Panik

Kaufwahn wird plötzlich durch einen Verkaufswahn abgelöst. Die Seifenblase platzt.

Orgiastischer Wahn, Extreme werden ge¬ lebt. Der reife Diony¬ sos wird »zerstückelt«.

4. Aufsammeln

Eine »Kommission weiser Män¬ ner« nimmt die Ermittlungen

Apollo kehrt von den Hyperboreern zurück. Dionysos geht wieder in die Unterwelt.

der Scherben

auf. Regulierungen sollen dafür sorgen, daß »so etwas nie wie¬ der passiert«.

Apollo symbolisiert für unsere Zwecke den hyperrationalen Geist - den Eckpfeiler der Wirtschaftswissenschaften und die einzige Form des Handelns für den Homo oeconomicus: Der professionel¬ le Händler ist zurückhaltend, distanziert, zeigt sich gleichgültig ge¬ genüber dem Schaden, der anderen entsteht, er ist gefühllos, lo¬ gisch, hyperrational und zu keinerlei Selbstbeobachtung fähig. Tch weiß das! Ich selbst habe diese Tätigkeit fünf Jahre lang ausgeübt. 139


Puer ist geboren Diese apollinische Anzeige von Incorporated Investors, die an den Puer gerichtet ist, erschien am 14.8. 1929 im Wall Street Journal. Sie spricht völlig für sich selbst. Am 24./25. 1 0. 1 929 kam es zum großen Börsen¬ krach. »Das größte Erbe, das wertvollste Geburtsrecht besteht dieser Tage darin, ein Amerikaner zu sein. Denn nie zuvor war ein Land so glücklich, so wohlhabend und so fried¬ voll wie Amerika heute. Noch nie war der Horizont so weit, standen einem Mann so große Möglichkeiten für die besseren Dinge offen, denn nie war der Reich¬ tum, von dem diese Freuden abhängen, so leicht zu erlangen wie im heutigen Amerika. In der Schaffung neuen Reichtums in sagenhafter Fülle liegt Amerikas besondere Begabung. Die breitgefächerte Verteilung dieses Reichtums ist seine größte Ent¬ deckung. Und jeder kann daran teilhaben! Incorporated Investors bietet die ideale Methode. Durch seine voll gewinnberechtigten Aktien gibt Incorporated Investors, ein Unternehmen wie gemacht für das neue Amerika, das Wachstum und den Gewinn der größten expandierenden Unternehmen weiter.«

Der Handel soll nur über den Verstand ablaufen. Professionelle Händler arbeiten am besten, wenn sie frei von Emotionen sind. Ich erinnere mich, wie ich einmal einen der größten und erfolg¬ reichsten Devisenhändler in New York besuchte. Während ich mich mit ihm in seinem Büro unterhielt, schloß er, umgeben von Computermonitoren, die ganze Zeit über Geschäfte ab. Am Ende unseres Gesprächs hatte ich keinerlei Anzeichen bemerkt, ob er in dieser Stunde nun eine Million Dollar verdient oder verloren hat¬ te - die perfekt gefühllose, professionelle Haltung. Obwohl uns die Kubakrise näher als je zuvor an den Rand eines Atomkrieges gebracht hatte, blieb die Börse davon völlig un¬ berührt, auch wenn dies das Ende unserer Zivilisation hätte be140


deuten können. Während des gesamten Zweiten Weltkrieges war die Amsterdamer Börse offen, ganz und gar unbeeindruckt von dem Geschehen in der restlichen Welt. Wenn man Börsenanalytikern zuhört, könnte man meinen, sie würden die Zukunft kennen. Die Börsenspezialisten sind »Apollos«, die von Delphi aus sprechen. Das geht sogar so weit, daß sie zukünftige Gewinne und Verluste bereits berechnen. Doch es kommt immer wieder zu größeren und »grandioseren« Zusammenbrüchen: Charles Kindleberger hat eine interessante

Auswahl an Zitaten aus Zeitungen, Regierungsberichten und Ex¬ pertenmeinungen der letzten beiden Jahrhunderte zusammenge¬ stellt (s.Tab.).168 Sie bieten einen Überblick, wie Zusammenbrüche im Laufe der Zeit wahrgenommen werden. - Plus $a change, plus c'est la meme chose ...l69

Jahr

Ort

Zitat

1772

Großbritannien

»Einer der wildesten Finanzstürme des Jahrhunderts.«

1825

Großbritannien

»Bevölkerung von noch nie dagewese¬ ner Panik ergriffen.«

1837

USA

»Eine der katastrophalsten [PanikenJ, die das Land je erlebt hat.«

1847

Großbritannien

»In den letzten sechs Monaten riskan¬ teste und rücksichtsloseste Spekulation der Neuzeit.«

1857

Großbritannien

»Schwerste Krise, die England oder ein anderes Land je durchgemacht hat.«

1857

Hamburg

»Eine so totale und klassische Panik wie diese hat Hamburg noch nie er¬ lebt.«

1857

Hamburg

»Panik von bisher unbekannter Wucht.«

1866

Großbritannien

»Krise von 1 866: schwerste der Neu¬ zeit.«

1866

Großbritannien

»Wilder als alles seit 1825.«

141


Jahr

Ort

Zitat

1873

Deutschland

»In 56 Jahren gab es keine so langwie¬ rige Krise.«

1882

Frankreich

»Noch nie erlebte ich eine derartige Katastrophe.«

1929

USA

»Die größte Spekulationsmanie der Moderne - tatsächlich sogar seit dem

Südseeschwindel.«

Die Bedeutung des Apollo-Dionysos-Mythos heute Die jahrtausendealten Erzählungen der Griechen enthalten zwei wichtige Lektionen für uns Heutige darüber, wie das ApolloDionysos-Paar interagiert. Bei beiden handelt es sich je um ein Pa¬ radoxon. Der moderne Mensch neigt dazu, Paradoxa in geradezu apollinischem Ausmaß abzulehnen. Doch die eigentliche Lektion ist vielleicht die, daß wir den Umgang mit Widersprüchen lernen müssen, anstatt sie rundweg abzulehnen:

Paradoxie Nr. 1: Manien und Crashes gehören zu der hyperratio¬ nalen Art, mit der Profis normalerweise auf dem Markt auftreten. Mythologisch betrachtet, befindet sich das Grab des Dionysos im Hei¬ ligtum des Apollo, und Dionysos erwacht regelmäßig. Unser Erstaunen über die »plötzliche Irrationalität« in angeblich rationalen Märk¬ ten hätten die alten Griechen nicht teilen können. Schließlich wußten sie so sicher, wie daß die Nacht auf den Tag folgt, daß nach jeder ausgedehnteti apollinischen Phase zwangsläufig ein dionysischer Wahn kommt. Booms und Crashes sind ein Hinweis darauf, daß ar¬ chetypische Schatten immer wieder hervortreten. Auch wenn die¬ se Erkenntnis für das apollinische Ego vielleicht sehr demütigend ist, die Illusion, daß wir Marktvorgänge verstehen, hat sich wie¬ derholt als haltlos erwiesen. James Hillman formulierte das so: »Unser Leben folgt mythischen Figuren: Wir handeln, denken und fühlen nur so, wie es ursprüngliche Muster in unserer Vorstel¬ lungswelt zulassen.«170 142


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Paradoxie Nr. 2: Je hyperrationaler ein Markt ist, desto wahrschein¬ licher kommt es zu einer Panik. In der Mythologie wird, wie aus den Bakchen von Euripides her¬ vorgeht, am Ende der apollinische Herrscher in Stücke gerissen, und nicht derjenige, der sich auf die »Unordnung« des dionysischeti Raumes

einläßt. Anders ausgedrückt, je mehr wir uns gegen die dionysische Un¬ sicherheit wappnen, desto stärker ziehen wir den »Wahn« an. Das könnte erklären, warum gerade die am weitesten entwickelten Märkte oft vom Spekulationsfieber heimgesucht werden. Gerade wegen ihres hohen Entwicklungsstandes hält sich die Illusion der Kontrolle besonders hartnäckig. Je mehr Schutzvorrichtungen wir erfinden, um eine permanente apollinische Sicherheit zu gewähr¬ leisten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, einen dionysi¬ schen Ausbruch heraufzubeschwören. 143


Stanley Passy meint dazu: »Die Vorstellung, daß jemand die Zu¬ kunft mit Gewißheit vorhersehen kann, trägt den dunklen, tödli¬ chen Schatten der Panik in sich. Objektive Vermögensverwaltung, technische Analysen und Computermodelle existieren parallel zu Fusionsmanien, Markttrends und Zusammenbrüchen.«171 Wenn die Schlußfolgerungen aus diesem Kapitel zutreffen, müs¬ sen wir mit dem unbequemen Gedanken leben, daß der Weltdevi¬ senmarkt momentan als der fundierteste Markt der Weltgeschich¬ te gilt. Die kompliziertesten mathematischen Methoden, die es je gab, gehören dort zum Standard. Der globale Währungsmarkt, der erste voll integrierte, 24 Stunden offene, globale Markt überhaupt, boomt. Supercomputer mit neuronalen Netzmodellen aus der Ra¬ ketentechnik kontrollieren und handeln online ständig die wich¬ tigsten Währungen. Die apollinische Gewißheit schimmert so¬ wohl bei den Devisenspekulanten als auch bei den regelnden Behörden durch. Was das für uns bedeutet, geht beispielsweise aus dem Text im Kasten hervor. Im Gegensatz zu den bisher aufgeführten Fällen werde ich nun in den nächsten beiden Kapiteln untersuchen, welche Veränderun¬ gen im Währungssystem auftreten, wenn der Archetyp der Großen Mutter in einer Gesellschaft geehrt wird. Bekanntermaßen belegen historische Fakten, daß, wenn dieses Urbild in einer Gemeinschaft geachtet wurde, Währungssysteme entstanden, die sich stark von unserem unterscheiden. Mehr noch, diese Währungssysteme führ¬ ten zu einem ungewöhnlich breit gefächerten wirtschaftlichen Wohlstand. Soweit wir wissen, gab es in der Zeit auch keine Spekulations¬ phasen. Kindleberger definiert den Boom-und-Bust-Zyklus als ein wiederkehrendes Schema im Wirtschaftsleben des Kapitalismus, d. h., dieser Kreislauf trat nur während der letzten etwa 350 Jahre auf. Gesellschaften, in denen der Archetyp der Großen Mutter ver¬ ehrt wurde, zeichnen sich hingegen durch lange Zeiträume von bemerkenswerter wirtschaftlicher Stabilität aus, deren Länge sich in Jahrhunderten messen läßt! 144


Die Relevanz für heute172 Im folgenden werden Aussagen von Finanzexperten aus leitenden Po¬ sitionen in bezug auf das Weltwährungssystem zitiert. Zum ersten Mal geben sie öffentlich zu, daß das System außer Kontrolle geraten ist. •»Dies ist in vielerlei Hinsicht eine beispiellose Situation«, erklärte der USFinanzminister, der in seinen 26 Jahren als Händler an der Wall Street und dann als Co-Chairman der Investmentfirma Goldman Sachs meh¬ rere größere Preisverfälle mitgemacht hat. »Wir haben noch nie er¬ lebt, daß so viele Länder alle gleichzeitig in Schwierigkeiten sind ...« •»Wir befinden uns in einer wirklich gefährlichen Situation, die bei weitem nicht völlig rational ist«, meinte Michel Camdessus, Direktor des Internationalen Währungsfonds, der im November 1 999 seinen

Rücktritt für Februar 2000 »aus persönlichen Gründen« ankündigte. »... Das Ausmaß der momentanen Panik übt eindeutig einen unge¬ heuren und unfairen Druck auf viele Länder aus.« Für Camdessus ist das ein ganz neuer Ton. Er hatte in Indonesien ein Abkommen mit Präsident Suharto unterschrieben, von dem er überzeugt war, daß es vertrauensbildend wirken würde - und innerhalb weniger Wochen danach wurde das Land von einer Gewaltwelle, wirtschaftlichem Chaos und politischen Unruhen heimgesucht. Er hatte auch erklärt, es gäbe keine Krise in Rußland, und kurz darauf war die Katastrophe da. •»Der ganze Ton hat sich verändert, für jeden«, befand Jeffrey Garden, Dekan der Yale School of Management, der früher eine leitende Po¬ sition im Handelsministerium bekleidete. »Vor einigen Monaten spra¬ chen die Leute noch davon, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Jetzt hofft man nur noch, die Weltwirtschaft vor dem völligen Zu¬ sammenbruch zu bewahren. Und man hat das Gefühl, daß alles nun wirklich Adam Smith' unsichtbarer Hand überlassen bleibt - denn kein Land, keine Institution kann das kontrollieren.«

Das ist besonders heute von großer Bedeutung, denn wie gesagt findet derzeit ein Wertewandel in unserer Gesellschaft statt, der auf ein Wiedererwachen der weiblichen Energie hindeutet. Gleich¬ zeitig entstehen bereits wieder Währungssysteme, die in gewisser Weise den Systemen ähneln, die in den beiden folgenden Fällen vorgestellt werden. 145


Kapitel 5

Ein Fallbeispiel aus dem Hochmittelalter

»Die Schwarze Madonna ist eine Metapher der Er¬ innerung an die Zeit, als man glaubte, die Erde sei China Galland der Körper einer Frau.«173

»Frauen wird immer wieder vorgeworfen, sie wür¬ den Dinge persönlich nehmen. Ich kann mir kei¬ ne andere ehrliche Art vorstellen, wie man sie nehmen soll.«174 Maria Mannes

Wir halten das Sparen in Form von Geld offensichtlich für eine gute Idee. In vielen Ländern richten Eltern Sparkonten für ihre Kinder ein, um ihnen auf diese Weise den Wert der Sparsamkeit beizubringen. Allgemein gilt das Aufbewahren von Geld für

schlechte Zeiten als Tugend. Zinsen bieten einen systematischen Anreiz, Rücklagen in Form von Geld zu bilden. Darüber hinaus ist das gesamte Bankwesen darauf ausgelegt, Vermögen auf diese Wei¬ se zu erfassen, damit die Einlagen wieder für neue Kredite ver¬ wendet werden können. Doch stellen Sie sich einmal eine Welt vor, in der das Gegenteil vor sich geht - mit einem Währungssystem, bei dem eine geringe Gebühr für die Aufbewahrung von Geld verlangt wird, die Wäh¬ rung selbst jedoch ihren Wert behält. Was würde das bewirken? Zunächst einmal verwendete man Geld dann ausschließlich als Tauschmittel, nicht zur Wertaufbewahrung. Außerdem würde man auf andere Weise sparen, nicht in Form von Geld, sondern von Produktivkapital, Unternehmensanteilen, Wäldern oder Kunst - alles, was im Lauf der Zeit seinen Wert behält oder steigert. 146


Da keiner ein Interesse daran hätte, Geld anzusammeln, wäre es nur bei echten Tauschgeschäften im Umlauf. Selbst bei den unte¬ ren Gesellschaftsschichten würde Geld nicht knapp. Kurz gesagt, ein derartiges System bewiese den Spruch »Geld ist wie Dünger, es bringt den höchsten Ertrag, wenn es verteilt wird«. Wir leben seit Jahrhunderten mit der Vorstellung, daß wir Zin¬ sen für unser Geld erhalten, daher klingt für den modernen Men¬ schen allein schon die Idee von einer Gebühr auf Geld merkwür¬ dig. Dennoch existierte ein derartiges System in mindestens zwei Kulturen mehrere Jahrhunderte hindurch und zeigte bemerkens¬ werte wirtschaftliche und soziale Ergebnisse. Die Liegegebühr, also eine Steuer oder »Anti-Hortungs-Gebühr« (auch »Demurrage« genannt), ist schon seit langem nicht mehr ge¬ bräuchlich. Abgesehen von einer kurzen Wiederbelebung durch die Bemühungen Silvio Gesells175 und einigen wenigen Anwen¬ dungen in den 30er Jahren176 muß man für ein bedeutendes Anwendungsbeispiel bis ins Mittelalter zurückgehen. Bisher habe ich nur zwei Epochen gefunden, in denen Währun¬ gen mit einer »Anti-Hortungs-Gebühr« über mehrere Jahrhunder¬ te hinweg gebraucht wurden: im europäischen Hochmittelalter (vom 10. bis zum 13. Jahrhundert) und im alten Ägypten. In bei¬ den Fällen gab es eigentlich zwei Währungssysteme, die parallel zueinander existierten. Das war zum einen das bekannte »Fernwährungssystem«, das täglich von den Kaufleuten im Außenhandel und gelegentlich vom Militär oder Herrscherfamilien für Geschenke, Tribut- oder Lösegeldzahlungen verwendet wurde. Dieses System basierte ur¬ sprünglich auf seltenen und wertvollen Gütern, aus denen sich später die standardisierten Gold- und Silbermünzen entwickelten. Numismatiker präsentieren diese Münzen stolz als die Währung der Epoche. Ich bezeichne sie als die Yang-Währungen ebenjener Zeit.

Zum anderen gab es in den beiden Kulturen (und nur in diesen, wie ich bislang sicher feststellen konnte) noch eine zweite Währung, auf die eine Liegegebühr verlangt wurde. Solcherart Yin147


Währungen sahen natürlich weit weniger spektakulär aus. Sie wa¬ ren überwiegend als »lokales« Zahlungsmittel im Umlauf. In Ägypten bestand dieses Geld aus rohen Tonscherben, den sog. Ostraka. Es handelt sich dabei um Quittungen für Einlagen, die die Bauern in den örtlichen Lagerhäusern deponiert hatten. Im Hoch¬ mittelalter waren es »Brakteaten«, die im Durchschnitt jedes Jahr aus dem Umlauf genommen und durch neue ersetzt wurden. In beiden Kulturen waren die zerbrechlichen, unscheinbaren und be¬ fristeten Währungen nicht für die Ewigkeit gedacht. Aber ein Bau¬ er hatte damals fast ausschließlich mit diesen »lokalen« Währun¬ gen zu tun. Nur in relativ seltenen Fällen, etwa dem Kauf oder Ver¬ kauf von Land, bei Mitgift- oder Lösegeldzahlungen, wurde die gehortete Yang-Währung verwendet. Die schriftlichen Quellen be¬ richten überwiegend von diesen ungewöhnlichen Transaktionen, denn nur für solche »wichtigen« Vorgänge wurde ein schriftliches Dokument erstellt. Im Gegensatz dazu möchte ich in diesem Buch die Rolle der YinWährungen hervorheben, da sie einen deutlich stärkeren Einfluß auf die Wirtschaft ausübten, als allgemein wahrgenommen wird. Allerdings sollte uns dabei stets klar sein, daß sich die beiden Fall¬ beispiele gerade aufgrund der komplementären Rolle ihrer YinWährungen in einem dualen Yin-Yang-Währungssystem so von anderen Epochen, darunter auch unserer eigenen, unterscheiden. Zu meiner großen Überraschung fand ich Gemeinsamkeiten zwi¬ schen den Währungssystemen des mittelalterlichen Europa und des alten Ägypten, obwohl es sich um zwei Kulturen handelt, die nicht nur Jahrhunderte, sondern auch sonst sehr vieles trennt: Re¬ ligion, Kultur, Technik, Klima, Gesellschaftsstruktur und derglei¬ chen mehr. Auf den ersten Blick scheint es keine logische Verbindung zwi¬ schen den religiösen Kulten zu Ehren der Großen Mutter, dualen Yin-Yang- Währungssystemen und Zeiten wirtschaftlicher Blüte zu geben. Doch ich fand immer mehr Belege, die genau jenen Kon¬ text bestätigen. Einige dieser Erkenntnisse widersprechen der gän¬ gigen Schulmeinung, daher will ich sie hier ausführlich vorstellen. 148


Ich werde Sie an den Überraschungen in der Reihenfolge teilha¬ ben lassen, in der ich sie entdeckte. Was mit einer Verbindung zwi¬ schen den Währungssystemen begann, brachte mich auf die Spur der Schwarzen Madonna, die mich wiederum direkt ins alte Ägyp¬ ten führte. Die größte Überraschung war jedoch, als ich die be¬ merkenswerten wirtschaftlichen Auswirkungen sah, die in beiden Fällen zu beobachten waren und genau mit der Epoche zusam¬ menfielen, in der die mit einer Demurrage-Gebühr versehene Währung verwendet wurde. Eines der überzeugendsten Argumen¬ te dafür, daß diese unscheinbaren Yin-Währungen mit dem außer¬ gewöhnlichen Wirtschaftsboom der Zeit zu tun hatten, ist die Tat¬ sache, daß es in beiden Fällen zu einem spektakulären wirtschaft¬ lichen Zusammenbruch kam, als die Währungssysteme vom Mo¬ nopol der Yang-Währungen abgelöst wurden.

Eine Verbindung zwischen den Währungen Dieses ganze Projekt nahm seinen Anfang, als ich für mein Buch Das Geld der Zukunft nach historischen Beispielen für Währungen mit »Anti-Hortungs-Gebühren« suchte. Die Modalitäten, unter de¬ nen die Gebühren auf das Geld erhoben wurden, unterschieden sich in den beiden bisher entdeckten Beispielen. Doch trotz der unterschiedlichen Mittel fielen die Resultate im Hochmittelalter und in Ägypten unerwartet ähnlich aus.

Demurrage im Mittelalter Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs (5. Jahrhundert n. Chr.) löste sich auch das alte Währungssystem nach und nach auf. Hunderte von Lokalwährungen unterschiedlicher Qualität und Bedeutung entstanden. Erst Karl der Große zentralisierte im 9. Jahrhundert wieder die europäischen Münzprägestellen und ver¬ einheitlichte sie.177 Seine Münzen waren parallel mit sarazenischen Goldmünzen aus der Levante im Umlauf. Allerdings setzte schon bald nach seiner Herrschaft wieder die Zersplitterung der Währun149


gen ein und ging sogar noch weiter als zuvor. »Die Fragmentierung der politischen Macht durch Erbaufteilung oder Usurpation im Laufe von 300 Jahren, zuerst durch die Nachfolgereiche des karo¬ lingischen Reiches und schließlich durch unzählige kleinere Lehnsherren, ging nicht mit einer Fragmentierung der Münzrech¬ te einher. Doch auch da gab es natürlich Zersplitterungen ...«,78 So legte beispielsweise der englische König Aethelstan im Jahr 930 fest, daß jeder Bezirk seine eigene Münzstätte haben sollte! In diesem Zusammenhang entstand auch die Tradition, daß ört¬ liche Adlige ihr Einkommen durch die »Renovatio Monetae« auf¬ besserten (wörtlich: »Erneuerung des Geldes«). König Edgar z.B. hatte im Jahr 973 alle englischen Pennys neu prägen lassen. Den¬ noch ordnete kaum sechs Jahre später der junge König Aethelredll. eine Neuprägung an. Er wiederholte diese Maßnahme von da an in etwa regelmäßigen Abständen. Sein wichtigster Beweg¬ grund dafür war, daß man für vier alte Pennys nur drei neue er¬ hielt.179 Das entsprach einer Steuer von 25 Prozent alle 6 Jahre auf jegliches Münzkapital oder im Durchschnitt etwa 0,35 Prozent im Monat (etwas mehr als ein Drittel Prozent). Diese Neuprägungs¬ steuer war damit eine frühe Form der Demurrage-Gebühr. Außerhalb Großbritanniens verfuhr man ähnlich. Im Jahr 1075 reformierte Harald Hen das Münzwesen in Dänemark, und von da an wurden die Münzen regelmäßig alle fünf oder sechs Jahre er¬ neuert. Ungefähr zur gleichen Zeit führten VratislavII. in Böhmen und Salomo von Ungarn die gleiche Maßnahme ein. Polens Boleslaw III. (1085-1138) folgte eine Generation später. In Frankreich und dem Deutschen Reich war das Münzrecht an Fürsten, ßischöSilberpenny von Sigtrygg III. »Seidenbart«, Kö¬ nig von Dublin (993-1042). Dies ist die erste Münze, die in Irland geprägt wurde. Wie in Schweden, Dänemark und Norwegen zu der Zeit imitierten die Münzen den Kreuz-Penny Aethelredsll. von England, des »Erfinders« der »Renovatio Monetae«, als Einkommensquelle für die Herrscher.

150


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Zwei Beispiele von Währungen, die von örtlichen Herren im 1 1 . und 12. Jahr¬ hundert ausgegeben wurden. Beim linken handelt es sich um einen Pfennig von Sigwin, dem Erzbischof von Köln (1079-1089). Ursprünglich wurden in der Kölner Münze nur königliche Münzen geschlagen, dann wurden sie gemeinsam unter dem Namen des Kai¬

sers und des Kölner Erzbischofs geprägt. Schließlich fand sich, wie bei diesem Beispiel, nur noch der Name des Erzbischofs auf der Münze. Dieser typische Ablauf zeigt die wachsende Unabhängigkeit der Währungen im Europa des Hochmittelalters. Das rechte Beispiel zeigt einen Silberdenar, der in Provins unter Thibaud II., Graf der Champagne (1125-1152), geschlagen wurde.

fe und Äbte gefallen. Jeder ließ eigene Münzen prägen und regel¬ mäßig verrufen. Im 12.Jahrhundert wurde die jahrhundertealte Tradition der Steuerzahlung in Form von Naturalien allmählich durch das Ein¬ kommen ersetzt, das bei der Neuprägung der Münzen entstand. Das ging so weit, daß die Neuprägung zur wichtigsten Einnahme¬ quelle für viele lokale Herrscher wurde. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, daß der Wert der Münzen die ganze Zeit über in fast ganz Europa relativ stabil geblieben war;180 d. h., das Geld wur¬ de zwar regelmäßig besteuert, jede Münze behielt jedoch ihren Wert. Technisch gesehen bedeutet dies, daß es in den »guten« Jahr¬ hunderten des Hochmittelalters zwar eine Demurrage-Gebühr auf die Währungen gab, aber keine Wertminderung der Währung an sich.181 Eine Variante dieses Schemas stellt das Brakteaten -System dar (vom lat. brattea = »Blättchen«).182 Die Brakteaten waren runde Me¬ tallplättchen, die aus papierdünnem Silberblech gefertigt wurden. 151


Diese Reihe von vier Brakteaten wurden in vier aufeinan¬

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derfolgenden Jahren um 1225 unter dem Erzbischof Gerhard von der Lippe (1219-1258) geprägt. Sie zei¬ gen den heiligen Petrus mit dem typischen Doppelschlüs¬ sel in der rechten Hand. Jedes Jahr wurde durch einen klei¬ f nen Unterschied an dem . Buch markiert, das er in der ü, linken Hand hält. Beim ersten Brakteat ist ein Kreuz über dem Buch zu sehen, beim zweiten ein Stern, beim drit¬ ten ein Kreuz unter dem Buch, und der letzte weist gar keine Markierung um das Buch auf. Diese kleinen Unter¬ schiede ermöglichten es den Steuereintreibern, das Jahr zu erkennen, in dem der Brak¬ teat geprägt wurde. Der Brakteat auf dem unteren Bild wurde in Quedlinburg geschlagen. Er zeigt die Äbtissin Adelheid III. mit einem Lilienstab und geöffnetem Buch über »ihrer« Stadt, die durch Türme und Mauern geschützt ist. Bezeichnen¬ derweise gehören Brakteaten zu den wenigen Währungen in der westlichen Geschichte, auf denen Frauen dargestellt sind, die »wirklich« gelebt haben. Die Prägung der Brakteaten begann um 11 30 in der Mark Meißen in Sach¬ sen. Ihre höchste künstlerische Qualität erreichten sie im 12. Jahrhundert.

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Aus münzkundlicher Sicht ist vor allem interessant, daß sie nur auf einer Seite geprägt wurden, allerdings waren sie so dünn, daß die Prägung als vertieftes Relief auf der anderen Seite zu sehen war. Bei Zahlungen konnte man die dünnen Plättchen auch brechen. Für uns ist aus der Sicht der Währungssysteme jedoch wesentlich in¬ teressanter, was Frank Berger, der deutsche Spezialist für Braktea¬ ten, herausfand: »Der Umlauf der Münzen war nicht nur räumlich, 152


sondern auch zeitlich begrenzt.«183 In der Tat waren die Brakteaten eine Währung, die eine Münzerneuerung zu einem alljährlich wiederkehrenden Vorgang machte. Die Münzverrufung war an die großen Herbstmärkte in jeder Stadt gebunden - jeder Händler, der auf dem Markt Geschäfte machen wollte, mußte die alten Münzen gegen neue eintauschen. Seit etwa 1130 waren die Plättchen auf dem Baltikum, in Ost- und Mitteleuropa in Gebrauch.

Demurrage in Ägypten Das zweite Beispiel für die Erhebung von Liegegebühren über ei¬ nen längeren Zeitraum ist das alte Ägypten. Bislang kenne ich nur eine systematische Abhandlung des Währungssystems dieser Epo¬ che. Sie wurde Anfang unseres Jahrhunderts von Friedrich Preisigke, einem deutschen Gelehrten, verfaßt. Sein Werk veröffentlich¬ te man in drei Bänden mit einem entsprechend abschreckend lan¬ gen Titel: Das Girowesen im griechischen Ägypten enthaltend Korngiro, Geldgiro, Girohanknotariat mit Einschluß des Archivwesens.184 Als ich mich durch die Seiten arbeitete, erkannte ich, daß eine der Ge¬ schichten in der Bibel stimmte, aber nicht ganz vollständig war. Erinnern Sie sich an die biblische Geschichte von Joseph, den seine eifersüchtigen Brüder »um zwanzig Silberstücke den Ismaelitern verkauften; die brachten ihn nach Ägypten« (l.Mose 37,28)? Dort deutete Joseph den Traum des Pharaos von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen. Joseph empfahl die Anlage von Getreidevorräten in den sieben fetten Jahren, damit man in den mageren Jahren darauf zurückgreifen konnte. Jeder war davon so beeindruckt, daß Joseph zum Regenten über ganz Ägypten ernannt wurde. Eine wunderbare Geschichte über einen jüdischen Jungen, der sich in einem großen fremden Land bestens bewährte. Etwas ist allerdings merkwürdig an der Story, doch erst nachdem ich Preisigkc verdaut hatte, konnte ich genau sagen, was nicht stimmte. Die Vorratshaltung von Lebensmitteln geht zurück bis zu den Anfängen der neolithischen Revolution. Schließlich sind Nah¬ rungsmittelvorräte für die Aussaat im nächsten Jahr und als Rück¬ lage für schlechte Zeiten Grundvoraussetzung für jede Agrar153


gesellschaft. Man braucht kein Detektiv zu sein, um zu dem Schluß zu kommen, daß zu der Zeit, als der arme Joseph nach Ägypten kam, die Einwohner dieses Landes seit über 2000 Jahren schon wahre Experten in der Vorratshaltung gewesen sein mußten. Aus archäologischen Funden, die aus der Zeit Jahrhunderte vor Josephs Traumdeutung stammen, geht hervor, daß es in Ägypten ein offi¬ zielles System zur Vorratshaltung gab, das im Bereich um die Tem¬ pel organisiert war. Warum waren also alle so beeindruckt von je¬ mandem, der vorschlug, Vorräte anzulegen? Was in der Bibel nicht erwähnt wird, ist, daß Joseph wohl das ägyptische Währungssystem erfand, das direkt mit der Vorratshal¬ tung zusammenhing. Diese Erfindung war nun wirklich beein¬ druckend. Und so funktionierte sie: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Bauer im alten Ägypten, der nach der Ernte über einen Überschuß von zehn Säcken Weizen verfügt. Sie bringen die Säcke zum örtlichen Lagerhaus, und der Schreiber gibt Ihnen eine Quittung, auf der steht: »zehn Säcke Wei¬ zen erhalten«, mit offiziellem Siegel und dem Tagesdatum. Diese Quittungen wurden meist auf Tonscherben ausgestellt, den sog. Ostraka. In ganz Ägypten fand man Tausende davon. Sie wurden als Währung bei den meisten Geschäften verwendet. Die Raffinesse des Systems zeigt sich jedoch erst, wenn Sie nach, sagen wir, einem Jahr zurückkommen und Ihre Ostraka über zehn Säcke einlösen wollen. Der Schreiber wirft einen Blick auf Ihre Quittung und ordnet an, daß man Ihnen neun Säcke bringt. Dar¬ aufhin könnte sich folgendes Gespräch abspielen: »Aber ich brachte Ihnen zehn Säcke, warum geben Sie mir jetzt nur neun zurück?« Er betrachtet Sie mit einem Anflug von Ungeduld. »Verstehen Sie denn nicht, daß das vor einem Jahr war?« »Ja und?« »Sehen Sie nicht die Wache, die vor dem Lagerhaus steht? Er muß auch leben! Und ich übrigens auch. Außerdem verlieren wir trotz unserer Sicherheitsmaßnahmen etwas Weizen an Ratten und Mäuse.« 154


»Schon, aber was hat das mit meinem zehnten Sack zu tun?« »Nun, dieser zehnte Sack deckt einfach die Kosten für die Lager¬ haltung Ihrer Säcke über ein Jahr.« Nach diesem Ausflug in die pharaonische Geldtheorie sollte klar sein, daß es sich bei dem zehnten Sack um die Demurrage-Gebühr für ein Jahr handelt. Das ägyptische System war weiter entwickelt als das im mittelalterlichen Europa. Wenn Sie beispielsweise schon nach sechs Monaten anstatt nach einem Jahr zurückgekehrt wären, um Ihr Getreide abzuholen, hätten Sie 9,5 Säcke bekom¬ men. Die Demurrage-Gebühr verhielt sich nämlich proportional zur Zeit, in der das Geld ausstand, und zur Lagerzeit.

Ja und? Das Aufstöbern vergessener Währungssysteme ist ein interessan¬ tes, aber einsames Hobby, ich wagte nicht zu hoffen, daß ich je¬ mand anderen dafür begeistern könnte (s. Kasten).

Bedeutung und Einschränkungen Währungen, die nicht inflationsgefährdet, sondern mit einer Demur¬ rage-Gebühr ausgestattet sind, sind von besonderem Interesse, denn sie bewirken im Hinblick auf Währungen ein völlig anderes kollektives Verhaltensmuster als das, das wir heute kennen. Logischerweise ver¬ hinderten solche Währungen systematisch das Horten des Geldes. Sie werden daher nur als Tauschmittel verwendet, nicht jedoch zur Wert¬ aufbewahrung. Gleichzeitg vermieden sie so die Folgen der Inflation für die sozialen Beziehungen in einer Gemeinschaft. Damit zählen die¬ se Währungen zu den relativ seltenen Beispielen der, wie ich sie nen¬ ne, »Yin-Währungen«. Sie förderten den Geldumlauf und waren stets für alle Gesellschaftsschichten in ausreichendem Maße verfügbar. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß das System im Hochmit¬ telalter nur eine »rohe Form« für ein Demurrage-System darstellt. Ver¬ glichen mit dem ägyptischen System, wies es mehrere Fehler185 auf, die zu seinem Mißbrauch im 14. und 15. Jahrhundert führten. Aber vom 10. bis 12. Jahrhundert hatten die Yin-Währungen in den Gebie¬ ten, in denen das System nicht ausgenutzt wurde, einen positiven Ef¬ fekt auf die Wirtschaft, wie wir später noch sehen werden.

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Da stand ich nun mit meinen zwei Beispielen für Währungen mit einer »Anti-Hortungs-Gebühr«, doch zwischen den beiden Syste¬ men gab es keine erkennbare Verbindung. Tausend Jahre sind ei¬ ne lange Zeit, vor allem da es im lO.Jahrhundert eindeutig nie¬ manden mehr gab, der immer noch Hieroglyphen entziffern konnte, um die Lücke zu schließen. Dann begann ich mit meinen Nachforschungen über den Ar¬ chetyp der Großen Mutter und seiner Beziehung zu Währungssy¬ stemen (wie in Teil I dargestellt).

Die Spur der Schwarzen Madonna ich erwähnte bereits den merkwürdigen Fall der Schwarzen Ma¬ donna im Mittelalter als einzige bedeutende Ausnahme bei einer ansonsten rücksichtslosen Unterdrückung der Großen Mutter im Westen (Kapitel 2). Als ich mich mit der symbolischen Bedeutung der Schwarzen Madonna befaßte, ergab sich folgendes: •Die Schwarze Madonna ist ein völlig einzigartiges Phänomen in der romanischen Kunstgeschichte. •Sie war der esoterische Mittelpunkt der wiederauflebenden Ver¬ ehrung der Großen Mutter in dieser Zeit. •Die Spur der Schwarzen Madonna führt direkt nach Ägypten und zu einer weiteren wichtigen Ausnahme bei der Unter¬ drückung der Großen Mutter: zum Isis-Kult. •Das Verschwinden der an die Demurrage gekoppelten Währung erfolgte gleichzeitig mit dem Niedergang des Kultes um die Schwarze Madonna bzw. des Isis-Kultes und ging mit einer mas¬ siven Verschlechterung des Lebensstandards bei den einfachen Leuten einher. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß ich nicht behaupte, es ge¬ be einen kausalen Zusammenhang zwischen religiösen Kulten auf der einen und Währungssystemen nebst ihren wirtschaftlichen Auswirkungen auf der anderen Seite. Statt dessen besteht meiner 156


Die Schwarze Madonna von Mont¬ serrat in Katalonien ist die berühm¬ teste Spaniens. Abgesehen von Ge¬ sicht und Händen, sind sie und das Kind völlig mit Gold überzogen. Ih¬ re Gesichtszüge sind nicht afrika¬

nisch, sondern entsprechen denen der zeitgenössischen »weißen« Ma¬ donnen. Der einzige Unterschied ist die pechschwarze Farbe.

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Meinung nach eine indirekte Verbindung - die Kulte, das Wäh¬ rungssystem und die ungewöhnlichen wirtschaftlichen Resultate sind ein Zeichen dafür, daß dieselbe archetypische Konstellation in beiden Fällen zur entsprechenden Zeit aktiv war. Anders aus¬ gedrückt: Ich möchte zeigen, daß es eine verblüffende Korrelation zwischen Archetypen und Währungssystemen gibt. Dabei behaup¬ te ich jedoch nicht, daß ich den Mechanismus, der dieser Verbin¬ dung zugrunde liegt, erkannt habe.

Welche Bedeutung hat sie für uns Heutige? Die beste Antwort auf diese Frage fand ich in einem Buch von Robert Graves. Sein Buch The White Goddess ist relativ bekannt, al¬ lerdings stammt das folgende Zitat aus dem weniger populären Werk Mammon and the Black Goddess: »Die Schwarze Göttin ist bis¬ lang kaum mehr als eine Hoffnung, die von den wenigen Adepten der Weißen Göttin flüsternd ausgesprochen wird. Sie verspricht ein Band der Versöhnung zwischen Mann und Frau ... in dem sich das patriarchalische Band der Ehe auflösen wird. Die Schwarze 157


Göttin erfuhr Gutes und Böses, Liebe und Haß, Wahrheit und Falschheit in Gestalt ihrer Schwestern ... Sie wird den Menschen zurückführen zu diesem sicheren Instinkt der Liebe, den er vor langer Zeit durch den Stolz des Intellekts verlor.«186 Ein anderer Gelehrter, der Religionshistoriker Gilles Quispel, war

maßgeblich an der Erwerbung, Übersetzung und Veröffentlichung einer bemerkenswerten Sammlung gnostischer Texte des frühen Christentums beteiligt, die 1 945 in Nag Hammadi in Ägypten ge¬ funden wurde. Für ihn »spielt die Schwarze Madonna eine we¬ sentliche, übernatürliche Rolle. Er beschreibt sie in den Termini von Jung als Symbol der Erde, der Materie, des Weiblichen im Mann und des Selbst in der Frau ... Bevor nicht Männer und Frau¬ en gleichermaßen sich dieser uralten Vorstellung der Schwarzen Madonna bewußt werden und sie in sich selbst integrieren wür¬ den, würde die Menschheit unfähig sein, die Probleme des Mate¬ rialismus, Rassismus, der Frauenemanzipation und alles, was sie beinhalten, zu lösen ... Er stellte ihre Beziehung zur frühen christ¬ lichen gnostischen Überlieferung her, in der die Mutter auch >Weisheit<, »Heiliger Geist<, >Erde<, >Jerusalem< und sogar >Herrgott< ge¬ nannt wurde. Die frühen jüdischen Christen sahen den Heiligen Geist als Mutter personifiziert und beteten zu ihr, denn sie war glei¬ chermaßen Gott.«187 Jesus bezeichnete im Hebräerevangelium aus¬ drücklich den Heiligen Geist als seine Mutter. In der hebräischen Überlieferung ist von der Scheckinah die Rede, der Präsenz Gottes. Die Buddhisten und Hindus sprechen von der ursprünglichen Lee¬ re. Die christliche Mystik, darunter Jakob Böhme, Meister Eckchart, Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Juliane von Norwich oder der portugiesische Kult des Heiligen Geistes, spre¬ chen von einer Mutterschaft Gottes. Zu den Texten von Nag 1 lammadi gehört ein Gedicht, das von einer weiblichen Macht gespro¬ chen wird. Es könnte jede der alten Großen Mütter sein:

»Denn ich bin die Erste und die Letzte. Ich bin die Verehrte und die Verachtete. Ich bin die Hure und die Heilige. 158


Ich bin die Ehefrau und die Jungfrau ... Ich bin die Unfruchtbare, und zahlreich sind meine Söhne ... Ich bin das Schweigen, das unbegreiflich ist ... Ich bin das Sagen meines Namens.«188

Kurz gesagt geht es beim Kult der Schwarzen Madonna um die Hei¬ lung des Risses, der sich mitten durch die westliche, patriarchali¬ sche Weitsicht zieht: die Kluft zwischen Materie und Seele, Körper und Geist, weiblich und männlich, Sexualität und Spiritualität, Natur und Mensch, Kosmos und Individualität. Falls das zutrifft, ist sie vielleicht der Vorläufer eines Wandels, den die westliche Welt derzeit erlebt.

Esoterik versus Exoterik Alle Religionen haben eine exoterische und eine esoterische Tra¬ dition.189 »Exoterisch« bezieht sich auf die offiziellen, öffentlich verbreiteten Lehren; »esoterisch« befaßt sich dagegen mit dem »geheimen« Wissen, das traditionell nur den Eingeweihten zu¬ gänglich ist. Jede Religion besitzt beide Formen des Wissens. So gehört zu den esoterischen Traditionen im Judentum die »Kabba¬ la«, im Islam der Sufismus, im Hinduismus ist es Tantra, und für das Christentum gab es die Traditionen des Benediktiner-, Zister¬ zienser-, Augustiner- und Templerordens. Zwischen den exoterischen und esoterischen Traditionen einer Religion kommt es unweigerlich zu politischen Spannungen, manchmal sogar zur Feindschaft. Einer der Gründe dafür ist, daß das esoterische Wissen zwischen verschiedenen Religionen nicht so streng getrennt war, wie es die offiziellen Kirchen gern gehabt hät¬ ten (s.den Kasten über den heiligen Bernhard von Clairvaux). Al¬ les deutet darauf hin, daß unsere Schwarzen Madonnen zwischen dem 10. und 13.Jahrhundert in einem Zusammenhang mit den Aktivitäten von drei christlichen Orden standen (den Benedikti¬ nern, Zisterziensern und Templern) - alle drei Spezialisten in der Vermittlung der westlichen esoterischen Tradition. Anders ausge159


Bernhard von Clairvaux: Verehrer der Schwarzen Madonna Bernhard von Clairvaux war ein berühmter Abt des Zisterzienserordens und gilt allgemein als eine der einflußreichsten Persönlichkeiten des 12. Jahrhunderts. Er wurde in Fontaines in der Nähe von Dijon gebo¬ ren, wo es eine Kapelle mit einer Schwarzen Madonna gibt. Nach ei¬ ner Legende aus dem 14. Jahrhundert erhielt er den Ruf anhand »drei¬ er Milchtropfen von der Schwarzen Madonna« in St-Varles bei Chatillon-sur-Seine. Die ungewöhnliche Form seiner Berufung gibt uns einen Hinweis auf die esoterische Tradition. »Drei Tropfen Jungfrauenmilch« ist eine der traditionellen Bezeichnungen für die mysteriöse Materia prima (»Rohmaterial«) der Alchemisten. Dem Ruf folgend trat Bernhard in den kränkelnden Orden der Zister¬ zienser ein, der zu der Zeit nur noch aus einer Handvoll Mönchen be¬ stand, und machte daraus »ein riesiges multinationales ZivilisationsUnternehmen«190 mit Hunderten von Klöstern von Rußland bis zur Ibe¬ rischen Halbinsel. Jedes dieser Klöster war der Jungfrau Maria geweiht. Bernhard war auch bei der Abfassung der Regula dabei, der Ordens¬ regel der Templer. Sein Onkel, Andre von Montbard, war einer der neun Gründer dieses Ordens. Im Gegensatz zu den christlichen Tradi¬ tionen der damaligen Zeit wird in allen offiziellen Dokumenten der Templer, auch in ihrer Ordensregel, der Name der Jungfrau vor Jesus Christus genannt. Es gibt zahlreiche Hinweise, daß sich Bernhard mit esoterischen For¬ schungen beschäftigte. So hatte er beispielsweise in Citeaux spezielle Schreiber beschäftigt, die islamische alchemistische Texte aus Spanien für ihn übersetzten. Außerdem verfaßte er 200 Predigten über Salomos Hoheslied, das auch die jüdischen Kabbalisten als einen ihrer wichtig¬ sten Texte betrachten. Am Anfang des Hohenlieds steht der Satz: »Ich bin braun, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems.«191 Bernhard för¬ derte die Pilgerreise nach Santiago de Compostela,192 die auch »Weg der Milchstraße« genannt wird. Entlang der Strecke finden sich wie ge¬ sagt zahlreiche Heiligtümer, die der Schwarzen Madonna geweiht sind, sowie Bauten der Benediktiner, Zisterzienser und Templer. Der heilige Bernhard war nicht der einzige, den die Schwarze Ma¬ donna inspirierte. So gab z. B. Ignatius von Loyola sein Schwert der Schwarzen Madonna von Montserrat, wurde ein Priester und gründe¬ te den Jesuitenorden. Und Goethe diente sie als Inspiration für das »ewig Weibliche« im Faust.

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Diese drei ägyptischen Bilder zeigen grundlegende Eigenschaften der Isis (bzw. Ahmose-Nofretere), die später zu Kennzeichen der mittelalterlichen Schwarzen Madonnen wurden. Links oben: Isis ist hier in Gestalt der Hathor zu sehen, d. h. in ihrer Mut¬ terrolle mit Horus auf dem Schoß. Von diesem Archetyp leitet sich die Symbolik der Schwarzen Madonna ab. (Berlin, Ägyptisches Museum.) Rechts oben: Dieses Grabgemälde zeigt die Königin Ahmose-Nofretere. Ihre schwarze Körperfarbe ist von sym¬ bolischer Bedeutung und weist darauf hin, daß sie bereits verstorben ist und weiterlebt. (Zur Zeit im Kestner-Museum, Hannover.) Mitte: Isis in Gold gemalt und in schwarzen Basalt geritzt, mit dem Thron-Em¬ blem auf dem Kopf. Ihr Name wird in Hieroglyphen durch den Stuhl wieder¬ gegeben, wie in dem Text vor ihr zweimal zu sehen ist. Dieser gerade Stuhl ist der ursprüngliche »Sitz der Weisheit«, einer der Titel, mit denen später die Schwarze Madonna bezeichnet wird. Das Möbelstück, auf dem Isis kniet, hat die Form des ägyptischen Symbols für Gold und bekräftigt so ihre Verbindung zu dem Metall. (Sarkophag von Amenhotepll., Tal der Könige, Theben, ca. 1427-1401 v.Chr.)

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drückt, die Schwarze Madonna zwingt uns, das Verborgene zu er¬ kunden, die »Unterseite« der offiziellen Kirche. Unter den 13 Ge¬ meinsamkeiten der »originalen« Schwarzen Madonnen findet sich eine Verbindung zwischen ihren Heiligtümern und den obenge¬ nannten drei Orden (s.den Kasten »Einzigartig in 13facher Hin¬ sicht«). Wir sollten daher bei den esoterischen Traditionen nach der Bedeutung dieser merkwürdigen Statuen suchen.

Warum ist sie schwarz? Das auffälligste Kennzeichen der Schwarzen Madonna ist natür¬ lich ihre Farbe. Bis heute versucht man bisweilen, die Kolorierung als Zufallsprodukt auszugeben, als Folge davon, daß die Statuen dem Kerzenrauch oder anderen widrigen Bedingungen ausgesetzt waren. Doch »wenn Gesicht und Hände der Jungfrau und des Kin¬ des durch äußere Einwirkungen geschwärzt wurden, warum dun¬ kelte dann nicht auch ihre farbige Kleidung in ähnlicher Weise nach ... und warum trat der gleiche Effekt nicht auch bei anderen Statuen aus der Zeit auf?«196 In zahlreichen historisch dokumen¬ tierten Fällen färbten von Rom instruierte Priester Gesicht und Hände der Madonnen noch bis Anfang unseres Jahrhunderts weiß.197 Warum spielte die schwarze Farbe so eine große Rolle? An dieser Stelle spaltet sich der Weg unserer Suche nach der Be¬ deutung der Schwarzen Madonna in drei Richtungen auf. Erstens: Im Altertum repräsentierten schwarze Göttinnen das Weibliche in seiner Macht, nicht als Gefährtin oder als »netten«, sanften weiblichen Einfluß. Zu den bekanntesten zählt die Hin¬ dugöttin Kali (im Sanskrit wörtlich die »Schwarze«), die schwarze Anath des ugaritischen Pantheons oder die schwarze Annis der Bri¬ tischen Inseln. Ihnen allen ist gemein, daß sie das Weibliche in kriegerischer Form darstellen, das die Macht zu zerstören besitzt. Einige Ausführungen zu jeder Göttin verdeutlichen dies.198 Kali ist die mächtigste Form der Devi, der ursprünglichen weibli¬ chen Macht im Pantheon der Hindus. Aus westlicher Sicht kann sie furchterregend wirken, weil sie das Leben in einen Todestanz verwandelt. Thre Zunge springt aus ihrem schwarzen Gesicht, ihre 162


Einzigartig in 13facher Hinsicht jacques Huynen193 analysierte ausführlich Hunderte von Schwarzen Madonnen. Er unterscheidet dabei zwischen den »originalen« Schwar¬ zen Madonnen, die 1 3 gemeinsame Eigenschaften aufweisen, und den Statuen aus späterer Zeit, die nur einige der ursprünglichen Attribute nachahmen. Unter diesen 1 3 Eigenschaften scheinen die folgenden am wichtigsten zu sein: •Die ursprünglichen Heiligtümer der Schwarzen Madonna weisen in ihrer Geschichte stets eine Verbindung zu den Benediktinern, Zister¬ ziensern oder dem Templerorden auf. •Alle stammen aus etwa derselben Zeit, zwischen dem 10. und 1 3. Jahrhundert. »Keine originale Schwarze Madonna entstand nach dem 1 3. Jahrhundert.« •Das Holz stammt oft von einem Obstbaum, was wieder sehr unty¬ pisch ist für Statuen aus dieser Zeit und einen deutlichen Sym¬ bolcharakter hat (allerdings ist dieser verborgen, denn das Holz kann man unter den Farbschichten nicht sehen). •Es sind immer »thronende Madonnen«, bei denen die Mutter auf¬ recht sitzt und das Kind auf einen entfernten Punkt blickt. Das Ge¬ sicht der Madonna ist streng, edel, hieratisch, mit orientalischen Zü¬ gen, die in deutlichem Kontrast zu den typischen romanischen Ma¬ donnen stehen, die im allgemeinen den Frauen der Gegend nach¬ empfunden sind. Das Gesicht der Madonna ist kunstvoller geschnitzt als das des Kindes; man könnte fast meinen, die Mutter sei die wich¬ tige Person, nicht das Kind. •An ihrem Standort war zuvor stets ein vorchristlicher Kult einer kelti¬ schen oder anderen heidnischen Muttergottheit heimisch. Selbst wenn der Madonna eine Kathedrale erbaut wurde, bewahrte man sie in der Krypta194 unter der Kathedrale auf (wie z. B. in Chartres). In der Nähe der Heiligtümer befinden sich oft heilige Quellen oder Brunnen (z. B. »Puits des Forts« in Chartres), manchmal auch Menhire von prähistorischen Kulten. •Zu der Statue gab es immer wichtige Pilgerfahrten, entweder direkt zu dem Heiligtum oder als Station auf einer der wichtigsten Pilger¬ fahrten des Mittelalters, nach Santiago de Compostela. •Zur Legende der Statue gehört stets ein orientalisches Element; ein Kreuzfahrer brachte die Statue aus dem Heiligen Land, Jerusalem-Pil¬ ger wurden gerettet, weil sie die Madonna anriefen, usw. In einigen

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Fällen weist sogar ihr Name deutlich auf ihre Herkunft hin. Während der Französischen Revolution wurde die Schwarze Madonna von Chartres mit dem Ruf »Ä bas l'Egyptienne« (= »Nieder mit der Ägyp¬ terin«) verbrannt. • Die Legenden künden immer von Wundern, die sie vollbracht hat. Dabei werden die Leben von drei Kreuzfahrern, drei Gefangenen in Ägypten oder drei Seeleuten gerettet. Oft genießt sie auch den Ruf, Totgeburten zum Leben zu erwecken, zumindest bis zur Taufe der Kinder. •Sie sitzt auf einem Stuhl mit gerader Lehne, der als cathedra be¬ zeichnet wird (vom gr. kathedra = »Sitz, Stuhl«, von dem sich auch das Wort »Kathedrale« ableitet). Dieser Stuhl ist eine Nachahmung des geraden Stuhls in Ägypten, der zu Isis gehörte. Von dem Stuhl leitet sich auch der Titel Sedes Sapientiae (= »Sitz der Weisheit«) ab, ursprünglich eine Bezeichnung für Isis. Wenn der Pharao auf diesem Stuhl Platz nahm, wurde ihm die Weisheit zuteil, die für sein Amt not¬ wendig war. Ursprünglich wurde der Haushalt eines christlichen Bi¬ schofs als ecclesia bezeichnet, doch als der Begriff allgemein auf die Kirche angewandt wurde, erwies sich die Bezeichnung cathedra als »Sitz der Weisheit« geeignet. Später wurde das Wort auf die Kirche übertragen, in welcher der Bischof diesen Sitz innehatte.195 •Der offizielle Oberbegriff für diese Statuen lautet »Alma mater« (= »nahrungspendende Mutter«). Studierende bezeichnen heute noch so ihre Hochschule. •Gesicht und Hände der Schwarzen Madonna sind pechschwarz.

Hände halten schwere Waffen, ihre Halskette und Ohrringe sind aus Tütenköpfen gemacht. Viele Mythen handeln davon, wie unkontrollierbar Kalis Energie ist, wenn sie einmal geweckt wurde. Anath, auch »Anit« oder »Anata« genannt, ist die mächtigste Göttin der ugaritischen Überlieferung. Als »Mutter der Völker« wurde sie als die größte Kriegerin des Nahen Ostens häufig ange¬ rufen. Selbst die alten Hebräer wandten sich in der Schlacht an sie. Die schwarze Annis, die britische Form der walisischen Cailleach, lebte der Legende nach in einer Höhle in Argyll. Sie erschien zwi¬ schen den Ästen einer alten gekappten Eiche, dem letzten Über164


Dieses Bild illustriert die Kontinuität zwi¬ schen Isis und der Schwarzen Madonna. Die typische Schwarze Madonna ver¬ einigt Symbole der drei vorherigen IsisDarstellungen. Alle zeigen den strengen, hieratischen Gesichtsausdruck, als ob sie über den Gläubigen hinwegblicken wür¬ den, und den Cathedra-Stuhl (auf diesem Bild nicht zu sehen). Die Madonna ist die thronende Mutter wie in der Isis-Darstel¬ lung. Die Farben Schwarz und Gold wur¬ den ebenfalls übernommen. (Notre Da¬ me de Marsat, 1 2. Jahrhundert, Puy-deDöme, Frankreich.)

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i bleibsel eines riesigen Waldes, der aus einer Spalte am Eingang ih¬ rer Höhle wuchs. Sie verkörperte die dunkle Seite der Gentle An¬ nie (= »sanften Annie«) in den Märchen, die gutes Wetter und rei¬ che Ernte brachte, die die schwarze Annis nach Belieben vernich¬ ten konnte. Man kann sich vorstcllen, daß es aus patriarchalischer Sicht nicht sehr angenehm war, mit der Macht einer dieser schwarzen Göttinnen zu leben. Die archetypische Natur der schwarzen Farbe zeigt sich anhand ihrer Bedeutung in vielen unterschiedlichen Kulturen (s. Kasten). Der zweite Aspekt, der sich störend auf ein patriarchalisches Sy¬ stem auswirken würde, ist die ungezügelte Sexualität der großen Schwarzen Göttinnen. Sexualität und der dunkle Leib der Erd¬ mutter selbst waren bereits in der altsteinzeitlichen Initiations¬ höhle miteinander verbunden, wie wir am Beispiel der Venus von Laussei gesehen haben (Kapitel 2). In mehreren Mythen wird erzählt, wie unkontrollierbar die Tän¬ ze der Kali sind. Einmal tanzte sie mit Shiva, dem Herrn des Tan165


Schwarz als Archetyp »Dunkelheit innerhalb der Dunkelheit Ist das Tor allen Verstehens.«199 Laotse

Der archetypische Wert der Farbe Schwarz läßt sich anhand einiger Bei¬ spiele abseits des westlichen Kulturkreises verdeutlichen. Für die Chi¬ nesen ist Yin schwarz. Im Hinduismus gilt Schwarz als die Farbe der Urmasse Prakriti und des Chaos (in der Bedeutung »unendliches Wer¬ den«).

Für die australischen Aborigines ist der heiligste Ort Ayers Rock. Dort residiert die Mondgöttin in einer Höhle, die als die dunkle Mutter der Fülle und der Traumzeit gilt. In Mexiko wurde die aztekische große Muttergöttin Tonantzin in Tepeyac verehrt, einem Ort, der durch ei¬ nen großen, glänzenden schwarzen Stein gekennzeichnet ist. Dort hat¬ te auch der einfache Indio Juan Diego die Vision von der dunkelhäuti¬ gen Lieben Frau von Guadelupe, die ihn bat, genau an dieser Stelle ei¬ ne christliche Kirche zu errichten. Die brasilianische Göttin der Meere und Mutter der Erde, Jemanja, ist schwarz. Ebenso Sara, die Schutzpatronin der Zigeuner. Das älteste Heiligtum in Hidjas (der Umgebung von Mekka in SaudiArabien) ist ein schwarzer Meteor, der in die Wand der Kaaba (wörtlich »Würfel«) eingemauert ist. Der Stein wurde von den Römern mit Ve¬ nus in Verbindung gebracht, von den Byzantinern mit Anahita und von christlichen Arabern sogar mit Maria. Mohammed entfernte alle Göt¬ zenbilder, den ehrwürdigen Stein ließ er jedoch unberührt. Statt des¬ sen integrierte er den Stein in das islamische Ritual und behielt den Freitag als heiligen Tag, der schon sein heiliger Tag gewesen war. Im Diana-Tempel von Ephesus, einem der sieben Weltwunder der An¬ tike, wurde eine schwarze Statue der Göttin verehrt. In Ephesus soll auch Maria nach dem Tode Jesu gelebt haben. Ihre Himmelfahrt fand an einem Ort namens »Karatchalti« statt (wörtlich »der schwarze Stein«). Lilith, Adams erste Frau, die er der Überlieferung zufolge zurückwies, weil sie »beim Verkehr oben sein wollte«, wird in der Bibel nur einmal indirekt als »Nachtgespenst« im Rahmen einer apokalyptischen Anru¬ fung erwähnt Oesaja 34, 14). Doch sowohl im Buch Zohar als auch im Talmud ist ausführlich von ihrer schwarzen Farbe die Rede, außerdem wird vor ihrem Einfluß im Ehebett gewarnt. Erich Neumann spricht von

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der »Vorzeitgöttin, in der Dumpfheit ihres Elementarcharakters in sich ruhend, von nichts wissend als von dem Geheimnis in ihrem Leibesin¬ neren«, von der »Einheit des Großen Weiblichen, das in der Ganzheit seiner Entfaltung die Welt von ihrer untersten elementaren bis zur höchsten Geistwandlungsstufe erfüllt«.200

zes. Der Tanz wurde immer wilder, bis die Welt in Stücke zu zer¬ springen schien - und das wird sie eines Tages, denn der Tanz dau¬ ert über die Erscheinung der weltlichen Realität hinaus an. Die Geschichte von Anath ist sogar noch deutlicher. Anath, die unbesiegbare Kriegerin, war auch in sexueller Hinsicht sehr mäch¬ tig. Es hieß, sie hätte trotz ihrer häufigen Partnerwechsel nie ihre Jungfräulichkeit verloren. So ergriff sie beispielsweise die Initiati¬ ve und kopulierte mit dem Gott Baal 77 mal hintereinander. Die dritte Spur erklärt möglicherweise, warum eine Gruppe christlicher Mönche, die sich eigentlich mit esoterischer Vermitt¬ lung befaßte, überhaupt mit der Schwarzen Madonna in Kontakt kam, ungeachtet der obengenannten Zusammenhänge. Im Mittelalter waren Initiationsriten und esoterisches Wissen ein wichtiger Bestandteil der Kultur. Für uns heute mag das schwer zu verstehen sein. So gab es beispielsweise für jede zugelassene Zunft (z. B. der Bäcker, Maler, Steinmetzen, Schiffsbauer, sogar Hutmacher) for¬ melle Aufnahmerituale und »Zunftgeheimnisse«, deren Preisgabe

Die schwarze Kali, die potentiell

zerstörerische Macht der schwar¬ zen Göttinnen. In den Händen hält sie eine Schlange, ein Opfermesser und einen abgetrennten Kopf. Als Kragen trägt sie aufgereihte Schä¬ del.

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mit dem Tod bestraft werden konnte. Ebenso verhielt es sich mit der Wissensvermittlung bei den Intellektuellen. Die Darstellung von Pythagoras auf einem Tympanon in Chartres bestätigt, daß die pythagoreische esoterische Tradition zur Schule von Chartres im 12. Jahrhundert gehörte. Man unternahm große Anstrengungen, um Nichteingeweihte über die Sprache auszuschließen. Beispiels¬ weise enthalten die wichtigsten Texte der Troubadoure über die amour courtois (= »höfische Liebe«) kodierte esoterische Botschaf¬

ten. Bei den berühmten Wandteppichen der »Dame ä la Licorne«, die derzeit im Metropolitan Museum in New York ausgestellt wer¬ den, fand man vor kurzem ebenfalls heraus, daß sie eine Fülle eso¬ terischer Pflanzensymbole darstellen.201 Doch wie könnte nun die esoterische Botschaft der Schwarzen Madonnen lauten? Der erste Hinweis ist wieder linguistischer Natur. Das arabische Wort al khemit bedeutet wörtlich »schwarze Erde« und ist der tra¬ ditionelle Name Ägyptens. Gleichzeitig leitet sich davon der Be¬ griff »Alchemie« ab, von der man sagt, sie sei in Ägypten entstan¬ den. Wir verbinden heute mit der Alchemie die symbolische Be¬ deutung, »das gewöhnlichste Metall, Blei, in Gold, das edelste Me¬ tall, zu verwandeln«. Alchemisten aller Zeiten warnten jedoch immer wieder, daß es sich bei der Verwandlung von Metall in er¬ ster Linie um eine Metapher handle, eine »philosophische«, d. h. symbolische Verwandlung. Joseph Campbell bezeichnete das Be¬ harren auf der wörtlichen Bedeutung einmal als das »schlimmste Leiden unserer Zeit« und verglich dieses Verhalten mit jemandem, der auf die Metapher »Sie rennt leichtfüßig wie eine Gazelle« mit dem Einwand reagiert: »Das kann nicht sein, sie ißt kein Gras.« Die Alchemie war im Westen einer der wesentlichen traditionel¬ len Wege für die eigene spirituelle Entwicklung. Alchemisten hat¬ ten für die »Prahlhänse« (Souffleurs im Französischen) nur Verach¬ tung übrig, denn diese nahmen alchemistische Bücher wörtlich und betrachteten sie als Anleitung, wie man zu materiellem Reich¬ tum kam, anstatt sie als »philosophische« Führer für die persönli¬ che Entwicklung zu sehen. Unter dem Deckmantel der Beschäfti¬ gung mit der »Verwandlung von Metallen« konnten sich sogar 168


christliche Mönche mit dem anrüchigen Thema befassen und aus¬ führliche Traktate darüber schreiben.202 Nach den Schriften von Isaac Newton und C.G. Jung, die sich beide intensiv mit der mittelalterlichen Alchemie auseinander¬ setzten, handelt es sich bei der mysteriösen Materia prima um den Alchemisten selbst. Der erste Schritt beim alchemistischen Prozeß heißt »Nigredo« oder »Werk in Schwarz«. Jung beschrieb ihn als »Tod des Ichs«, »Gewand der Dunkelheit«203 oder die »dunkle Nacht der Seele«. Gelehrte im Mittelalter und der Renaissance bezeichneten diesen Zustand exoterisch als »Melancholie« (wörtlich »Sc/7wurzgalligkeit«). Für die mittelalterlichen Alchemisten und die Künstler der Renaissance war die »Saturnische Melancholie«204 der schwierige, aber unverzichtbare erste Schritt auf dem Weg zu wahrer Inspiration und Ganzheit. Für den Eingeweihten war das Symbol der Schwarzen Madonna daher die Voraussetzung, der erste Schritt des »Alchemisten« bei seinem Bemühen, die Seele bewußt wieder in die Materie, in seinen Körper, zu integrieren. Dieser Weg wurde mit der weiblichen Initia¬ tion assoziiert. Wir wissen von der Samenmytholgie der sumeri¬ schen Inanna oder der griechischen Persephone, daß bei jeglichen weiblichen Initiationsriten der Antike als erster Schritt zunächst das Abstreifen aller mit der Persönlichkeit verbundenden Attribu¬ te als Bedingung für ihren »Abstieg in die Unterwelt« galt. 205 Aus heutiger Sicht symbolisiert die Schwarze Madonna das, was James Hillman als die positive Kraft einer Depression betrachtet eine Verlangsamung, die für eine Vertiefung der Seelenarbeit als er¬ ster Schritt notwendig ist.206 »Durch eine Depression steigen wir in die Tiefe, und in der Tiefe finden wir die Seele ... Die eigentliche Revolution beginnt beim einzelnen, der zu seiner Depression ste¬ hen kann.«207 Die Auseinandersetzung mit einer Depression ist im¬ mer noch der häufigste, im allgemeinen nicht beabsichtigte Weg zu neuem Lebensmut. Eine Depression ist auch in den meisten Fäl¬ len der Grund, warum Menschen einen Therapeuten aufsuchen. Wenn die Behandlung erfolgreich verläuft, können die Betroffe¬ nen ein neues Stadium psychischer Reife erreichen. 169


Das amerikanische National Institute of Health erklärte Depres¬ sionen zur Volkskrankheit, von der jeder vierte Amerikaner be¬ troffen ist. In diesem Zusammenhang könnte sich die Botschaft der Schwarzen Madonna heilsamer als das Medikament Prozac er¬ weisen. Die Situation in Deutschland, Frankreich und Italien ist sogar noch ernster (s. Kasten).

Depression - die Seelenepidemie des 21. Jahrhunderts? Nach Aussage von Dr. Christopher Murray, Leiter für Epidemiologie bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), werden Depressionen bis zum Jahr 2020 weltweit die zweithäufigste Krankheit nach den Herzund Gefäßkrankheiten sein. Im Jahr 1 999 existierte für Antidepressiva ein Markt von 7 Milliarden Dollar, der nach vorläufigen Schätzungen innerhalb weniger Jahre um 50 Prozent wächst.208 Darüber hinaus wer¬ den zahlreiche Menschen Alkoholiker oder drogenabhängig. 1 5 Pro¬ zent der Patienten mit einer schweren Depression begehen Selbst¬ mord; zwei Drittel der Betroffenen spielen mit dem Gedanken daran. Bereits heute leidet jeder 20. Erwachsene (zwischen 18 und 64 Jah¬ ren) in den USA an einer klinischen Depression, in Deutschland und Ka¬ nada ist es jeder zehnte, in Neuseeland und Italien jeder achte, in Frankreich jeder sechste und in Rußland und im Libanon jeder fünf¬ te.209 Depressionen sind die am wenigsten beachtete Leidensquelle der Welt. Sie können nicht allein mit Medikamenten geheilt werden. Eine Depression ist eine Krankheit der Seele.

Es faszinierte mich, daß sich die Symbolik der Großen Mutter so¬ gar in der stark verhüllten Form der Schwarzen Madonna wieder mit Währungssystemen in Verbindung bringen ließ. Die Metapher für die letzte erfolgreiche Verbindung, das »Elixier des Philoso¬ phen«, wurde symbolisch durch die Verwandlung von Blei (»Sohn des Saturn«) in Gold (»Sonnenbewußtsein«) ausgedrückt. Und im kollektiven Bewußtsein des Mittelalters war Gold gleich Geld, das meistgeschätzte Münzmetall der damaligen Zeit. Wie Jungianer gerne betonen, erzählen Archetypen ihre eigene Geschichte unab¬ hängig von Zeit und Raum.

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Die Verbindung nach Ägypten Anhand der besonderen Eigenschaften der Schwarzen Madonna (s. Kasten »Einzigartig in 13facher Hinsicht«, S. 163) zeigt sich die Verbindung nach Ägypten bereits deutlich. Die Assoziationen rei¬ chen von den »orientalischen« Elementen in den Legenden bis zur Bedeutung ihres Cathedra-Stuhles und der Art der Wunder, die sie vollbringt (alle direkte Attribute der ägyptischen Isis). Schließlich gibt es noch die esoterische »alchemistische« Verbindung nach Ägypten. In zahlreichen Fällen tritt der Zusammenhang jedoch noch deutlicher hervor. Wie gesagt wurde die Schwarze Madonna von Chartres vom Volk »l'Egytienne« genannt. Von mehreren an¬ deren Schwarzen Madonnen, darunter diejenigen von Boulogne oder von Sablon, heißt es, sie seien mit einer Ausgabe der Evange¬ lien in orientalischer Schrift auf wunderbare Weise in einem Boot ohne Segel und Mannschaft eingetroffen.210 Diese Ankunft per Schiff ist die genaue Übertragung eines Rituals am Nil bei Helio¬ polis, bei dem Isis als »Stern der Meere«, »Sitz der Weisheit« und »Himmelskönigin« angerufen wurde. Die drei Titel verwendete

Darstellung der Schwarzen Madonna von Chartres, deren Original von Revo¬ lutionären 1 789 zerstört wurde. Die Kathedrale ist hinter ihr links im Bild zu sehen. Der Titel »Virgini Pariturae« (= »Jungfrau, bereit zu gebären«) be¬ zieht sich auf ihre Fruchtbarkeit. Vom Volk wurde sie »die Ägyptische« ge¬ nannt, ein weiterer deutlicher Hinweis auf die Verbindung zu dieser frühen Hochkultur.

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übrigens Bernhard von Clairvaux für die Schwarzen Madonnen (Stella Maris, Sedes Sapientiae, Regina Coelis). Eine weitere Bestätigung bietet der Bericht in einer Chronik aus dem Jahr 1255. Als Ludwig IX. von einem Kreuzzug zurückkehrte, ließ er in der Grafschaft Forez ein Bild »Unserer Lieben Frau«, ge¬ schnitzt und in schwarzer Farbe, das er von der Levante gebracht hatte. Bei dieser »Schwarzen Madonna« handelte es sich um eine original ägyptische Statue von Isis mit Horus auf dem Schoß. Im nächsten Kapitel werden wir die Spur der Isis weiterverfolgen und ihre tiefere archetypische Bedeutung erfahren. Doch an dieser Stelle wollen wir zunächst unseren Besuch im Mittelalter mit einer Bewertung der wirtschaftlichen Auswirkungen des damaligen Währungssystems abschließen.

Wirtschaftliche Auswirkungen im mittelalterlichen Europa - die »erste europäische Renaissance« Die überraschendsten Erkenntnisse bei dieser Detektivgeschichte, in der ich mich auf den Weg machte, das Mysterium Geld zu ent¬ schlüsseln, waren für mich die Natur und das Ausmaß der wirt¬ schaftlichen Folgen all dessen, was ich hier entdeckte. Meine Vorstellung vom Mittelalter stammte größtenteils aus Ge¬ schichtslehrbüchern, die sich noch auf dem wissenschaftlichen Stand des 19.Jahrhunderts befanden. Diese Ära hatte ihren Na¬ men erhalten, weil sie als das »dunkle Zeitalter« zwischen den »Hochkulturen« der Antike und der Renaissance angesiedelt wur¬ de. Wir lernten über das Mittelalter, daß es eine Zeit kläglicher Ar¬ mut und primitiver Lebensweisen war, die ihren Höhepunkt in der Pest fand, der ein Großteil der europäischen Bevölkerung zum Op¬ fer fiel. Mit der Bezeichnung »mittelalterlich« meint man heute noch etwas Negatives, manchmal auch auf lächerliche Weise Alt¬ modisches. Allerdings umfaßt das europäische Mittelalter über 1000 Jahre Geschichte. Die neuere Forschung sieht je nachdem, auf welchen 172


Abschnitt man sich bei dieser langen Zeitspanne bezieht, erhebli¬ che Unterschiede. Das »düstere« Bild läßt sich grob für das frühe Mittelalter (etwa 5. bis 8. Jahrhundert) und besonders gegen Ende hin (14. Jahrhundert)211 nachvollziehen. Doch wir wissen heute auch, daß es zwei oder drei Jahrhunderte in der Mitte gab (etwa zwischen dem 10. und 13.Jahrhundert), in denen das Bild ganz anders aussah. Bei dieser Epoche handelt es sich um das ausge¬ hende Hochmittelalter, das auch als »Zeitalter der Kathedralen« oder der Gotik bezeichnet wird, weil fast alle derartigen Bauwerke in dieser Epoche errichtet wurden. Die Zeit zwischen 1050 und 1290 verdient den Titel »erste euro¬ päische Renaissance«. Einige Historiker sind sogar der Ansicht, die Lebensqualität der sog. kleinen Leute sei in dieser Epoche des wirt¬ schaftlichen Aufschwungs die höchste in der europäischen Geschich¬ te gewesen! So kommt etwa der französische Mediävist Fourquin zu dem Schluß, daß in Frankreich »das 13.Jahrhundert das letzte Jahr¬ hundert war, in dem auf dem Land allgemeiner Wohlstand herrsch¬ te«.212 Francois Icher, ein anderer Historiker, berichtet: »Zwischen dem 11. und 13.Jahrhundert erlebte die westliche Welt ein hohes Maß an Wohlstand, das sich konkret in einem in der Geschichte beispiellosen demographischen Anstieg niederschlug.«213 Ein drit¬ ter Historiker wird noch konkreter: Die Zeit zwischen 1150 und 1250 sei eine Ära außergewöhnlicher Entwicklungen gewesen, ei¬ ne Epoche wirtschaftlichen Wohlstands, den wir uns heute nur schwer vorstellen können.214 Bemerkenswert ist daran vor allem, daß diese »erste Renaissance« mit der Zeit zusammenfällt, in der Währungssysteme mit Demurrage-Gebühren überwogen und der Kult der Schwarzen Madonna blühte und sich rasch ausbreitete.

Liegegebühren - der unsichtbare Motor? Es zeigt sich, daß ein wesentlicher Bestandteil für diese ungewöhn¬ lich hohe Lebensqualität des Volkes eine mit Liegegebühren ver¬ sehene Währung war. Wie es zu allen Zeiten bei Steuererhöhungen der Fall ist, stieß die »Renovatio Monetae« bei der Bevölkerung zunächst auf Ableh173


nung. Ich werde noch zeigen, daß ein späterer Mißbrauch des Sy¬ stems die Abneigung zu Recht verstärkte. Doch obwohl das De¬ murrage-System bis dahin scheinbar sowohl den Herren als auch dem Volk unbekannt war, trug es zu einem außergewöhnlich er¬ folgreichen wirtschaftlichen Wandel bei. Eine mit Liegegebühren versehene Währung (wie z. B. Aethelreds Neuprägung zu 25 Prozent alle 6 Jahre) motivierte die Menschen in zweierlei Hinsicht: •Das Anlegen von Ersparnissen in Form von Geld war nicht sinn¬ voll. Die Währung wurde ausschließlich als Tauschmittel ver¬ wendet. Wer über Geld verfügte, war automatisch motiviert, es entweder auszugeben oder zu investieren. (Technisch gesehen bedeutet dies, daß die Funktion des Tauschmittels von der des Wertaufbewahrungsmittels getrennt ist.) •Statt dessen legte man seine Ersparnisse in Form von greifbaren Produktionsgütern an, die lange Bestand hatten. Zur idealen An¬ lageform wurden so beispielsweise Maßnahmen zur Landver¬ besserung oder die Wartung von hochwertigen Anlagen wie Wasserrädern oder Windmühlen. Wie sich diese beiden Effekte in der Praxis auswirkten, läßt sich schon anhand eines einzigen bedeutenden Beispiels zeigen. Nach den Urbaren des königlichen Klosters St-Denis, die uns aus den Jahren 1229 bis 1230 sowie von 1280 zur Verfügung stehen, wur¬ de jedes Jahrein wichtiger Teil der Mühlen, Öfen, Weinpressen und anderem schweren Gerät entweder verbessert oder komplett er¬ neuert. So überholte man zwischen 1229 und 1230 14 Wind- und Wassermühlen sowie 18 andere wichtige Teile der Klostergerät¬ schaften (Weinpressen etc.). All diese Maßnahmen waren präven¬ tiv. »Sie warteten nicht, bis etwas kaputtging ... Im Durchschnitt wurden mindestens 10 Prozent aller Bruttoeinnahmen sofort wie¬ der in Wartungsarbeiten investiert.«215 Dieses Verhalten war nicht allein den Klöstern Vorbehalten; das Währungssystem gab jeder¬ mann Anreiz dazu. Beachten Sie, daß wir hier von den Bruttoeinnahmen sprechen 174


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Die Abbildung zeigt die Rodung des Waldes. Außerdem werden Straßen ge¬ baut, und eine Brücke wird angelegt. Im 12. Jahrhundert fand die Verdrän¬ gung des Waldes durch die Agrarentwicklung einen Höhepunkt.

(dem gesamten Einkommen aus einer Produktion), nicht von dem Gewinn. Ich kenne kein Agrar- oder Industrieland, in dem die

Reinvestitionen in vorbeugende Wartungsarbeiten ein solches Ausmaß erreichen, weder heute noch in der Vergangenheit.

Expansives Wirtschaftswachstum Das Resultat dieser auf kleinen Investitionen basierenden Wirt¬ schaft kann natürlich nur fragmentarisch untersucht werden; denn zu der Zeit errechnete noch niemand ein Bruttosozialpro¬ dukt. Daher bleibt uns lediglich, aus so verschiedenen Quellen wie möglich ein Schema zusammenzustellen (s. den Kasten »Mittelal¬ terliches Wirtschaftskaleidoskop«). Insgesamt betrachtet, können wir aber schon jetzt sagen, daß mit dem 10. Jahrhundert eine Epo¬ che außergewöhnlichen Wohlstandes einsetzte, die nach dem 13. Jahrhundert wieder abflaute. 175


Mittelalterliches Wirtschaftskaleidoskop Einige Daten illustrieren die wirtschaftlichen Auswirkungen der »ersten europäischen Renaissance« (die Namen der Historiker sind in Klam¬ mern angegeben). Wichtig ist in der Zusammenfassung, daß all diese Trends um das Jahr 1300 ihren Höhepunkt fanden. Dann folgten ein plötzlicher Zusammenbruch und Niedergang, der in vielen Gebieten mehrere Jahrhunderte währte. •»Nach den Erkenntnissen französischer und deutscher Historiker be¬ gann die Epoche des allgemeinen Wohlstandes mit massiven Ro¬ dungen aufgrund des landwirtschaftlichen Platzbedarfs. Die Rodun¬ gen nahmen im frühen 11 .Jahrhundert ihren Anfang und währten bis ins 1 3. Jahrhundert« (G. Fourquin).216 »Das größte Ausmaß an Ro¬ dungen wurde im Laufe des 1 2. Jahrhunderts erreicht« (G. Duby). •Nicht nur der Bestand an Ackerland wuchs, auch der Durchschnitts¬ ertrag bei Getreide stieg in den meisten Fällen mindestens um das Doppelte (G. Fourquin).217 »Zwischen dem 9. und 1 3. Jahrhundert stieg das durchschnittliche Ernteergebnis selbst im ungünstigsten Fall um das Zweieinhalb- bis Vierfache ... auf gutem Boden stieg es in der Ile de France um das Achtfache und im Artois um das Fünf¬ zehnfache« (G. Duby). In England stiegen die Erträge im Durch¬ schnitt um das Fünf- bis Achtfache (G. Fourquin).

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Glasbläser aus einer Abschrift aus dem 12. Jahrhundert von Hrabanus Maurus' Werk. Die Herstellung von Glas, vor allem von Buntglas für Kirchenfenster, war ein komplizierter Vorgang. Einige Farben (wie z. B. das »Chartres-Blau«) konn¬ ten bis heute nicht reproduziert werden.

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Im Hochmittelalter nahmen die Anlage und der Bau ganzer Dörfer und Städte - mit öffentlichen und privaten Gebäuden - in noch nie dagewesener Weise ihren Anfang.

•»Im 10. Jahrhundert hatte das neue Europa trotz des Untergangs des Römischen Reiches, der Zerstörungen durch die Wikinger und Sara¬ zenen und des Verlustes der griechischen Wissenschaft die antike Welt des Mittelmeerraumes auf dem Gebiet der Technik eindeutig über¬ holt. In der Landwirtschaft, Metallurgie und Machtausübung wurden zahlreiche Verbesserungen durchgeführt« 0- Gies).218 Vom kastilischen Spanien verbreiteten sich die Windmühlen seit dem 10. Jahr¬ hundert Richtung Norden. Es ist bezeichnend, daß sich die Zahl der Kornmühlen im Umkreis der Städte erhöhte. Diese Mühlen gehörten nicht dem Adel, sondern »Bürgern« (Einwohner der »Burg« oder selbständiger Städte). Ein sprunghaftes Wachstum läßt sich beispiels¬ weise für das Umland von Toulouse, Bazacle oder Rouen nachweisen.

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• Nicht nur das Land und die Erträge verbesserten sich, man brauchte auch weniger Arbeitskraft. »Im 10. Jahrhundert übernahmen die Eu¬ ropäer technische Verbesserungen, die im Mittelmeerraum seit Jahr¬ hunderten angewandt wurden. Durch die Einführung des Kummet und Steigbügels ließ sich die Kraft der Pferde viel besser nutzen. Die Neuerungen bei der Kontrolle der »Pferdestärken kamen hauptsäch¬ lich der Verbesserung des Transportwesens im Europa des 1 0. Jahr¬ hunderts zugute. In diesem Jahrhundert begannen die Europäer auch, in größerem Ausmaß als je zuvor Wasserkraft auf dem Land sowie Windkraft auf dem Land und auf dem Wasser zu nutzen ... Wasser¬ mühlen erleichterten das Mahlen des Getreides erheblich und trugen dadurch zu einer Steigerung der Lebensmittelversorgung bei. Was¬ serkraft wurde zum Betreiben von Sägemühlen verwendet, die wie¬ derum die Produktion von gutem Bauholz steigerten« (Cantor).219 »Allein in England gab es gegen Ende des 11 . Jahrhunderts 5624 Was¬ sermühlen in 300 Dörfern. In Frankreich existierten mindestens zehn¬ mal so viele Mühlen, und zwei Jahrhunderte später waren mehrere hunderttausend Getreide- und Ölmühlen in Betrieb« (Delort).220 •»Seit 950 stieg ... die Herstellung von Textilien, Töpferwaren, Leder und vielen anderen Dingen zunehmend. Die Liste der hergestellten Güter wurde immer länger. [Im Laufe des 1 1 .Jahrhunderts] wurden die Produkte immer besser. Die Preise sanken, weil aufgrund einer bes¬ seren Organisation, einer Verbesserung der Werkzeuge und Maschi¬ nen und besserer Transport- und Verteilungsmöglichkeiten weniger Arbeitsstunden gebraucht wurden« (R. Reynolds).221 So entwickelte man beispielsweise in der Textilindustrie leistungsfähigere HorizontalTrittwebstühle und bessere Spinnräder zum Garnspinnen 0* Gies).222 •Die Verbesserung der Lebensqualität erhöhte auch die Nachfrage nach Qualitätsweinen. Die Methoden bei der Weinbereitung wurden zwischen dem 11 . und 1 3. Jahrhundert entwickelt - und blieben bis zum Reblausbefall [Ende des 19. Jahrhunderts] unverändert. Sie wa¬ ren die am weitesten entwickelten Agrartechniken der westlichen Welt« (Dion und Fourquin). »Wo es das Klima erlaubte, baute man Wein an, auch in Großbritannien. Der Weinkonsum war überall be¬ trächtlich ... Apfelmost verbreitete sich von der Biscaya im hundert bis in die Normandie ... In Deutschland und den Niederlan¬ den verwendete man im 12. Jahrhundert bereits komplizierte Verfah¬ ren zum Bierbrauen« (Delort).

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Senkrechter Webstuhl mit Kett- und Warenbaum aus einer Abschrift des UtrechtPsalters aus dem 12. Jahrhundert. Beachten Sie, daß Frauen an diesem neuen Gerät arbeiten.

•Seit dem 1 1 .Jahrhundert wuchs der Bestand an Schafen, Vieh

und Pferden beständig. Fleisch war nicht mehr länger knapp. Ein einzel¬ nes Kloster in Maisoncelles-en-Brie in Frankreich verkaufte zwischen 1 229 und 1 230 »51 6 >Wolltiere< (Schafe), 40 Schweine, 7 Ochsen so¬ wie 30 Kühe und Kälber«. Der Verbrauch von Käse, Butter, Leder und Wolle stieg beträchtlich. Im Jahr 1 300 gab es in England acht Millio¬ nen Wollschafe für eine Bevölkerung von fünf Millionen Menschen. Wie in Frankreich die Weinberge gehörten auch in England die mei¬ sten Schafe den Kleinbauern« (C. Fourquin).223 »Der Salzverbrauch war enorm, vermutlich doppelt so hoch wie heute, weil man große Mengen für die Konservierung von Fleisch und Fisch benötigte« (Delort). •»Die Kalorienzufuhr entsprach etwa den unteren Rationen in den heutigen Industrieländern, d.h. etwa 3000 Kalorien am Tag ... Ge¬ nauere Berechnungen der Kalorienzufuhr für das Jahr 1268 ergaben im französischen Beaumont 3500 Kalorien am Tag. Eine andere Un¬ tersuchung bei den Arbeitern der Abtei in Montebourg kam für das Jahr 1 31 2 auf 3500 bis 4000 Kalorien am Tag. Im Jahr 1310 enthielt die Tagesration für einen Seemann in Venedig bis zu 3915 Kalorien« (Delort).224

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Die Brücke St-B6n£zet in Avignon. Eine der vielen Brücken, die von einem spe¬ ziellen Orden von Brückenbauern errichtet wurde, »Les Freres Pontifes«, der ur¬ sprünglich im Südwesten Frankreichs entstand.

•Jahreszeitliche Weidezyklen für Vieh in höheren Lagen, die im Westen bis ins 1 2. Jahrhundert unbekannt waren, entwickelten sich vor allem in den bayerischen Alpen und in Tirol (Almwirtschaft) sowie in der Provence. »Zehntausende von Tieren wanderten jedes Jahr von Arles in der Provence in die Berge des Zentralmassivs.« Derartige Wander¬ bewegungen erforderten komplizierte Vereinbarungen über das »Durchzugsrecht« zwischen Schäfern und Tausenden von Bauern entlang der Strecke. Einige Abkommen gelten noch heute (Georges Duby). •Eine sprunghafte Steigerung bei der Zahl der Dörfer und Städte und der Aktivität innerhalb der Städte war zu verzeichnen (Pirenne). »Mit einem Wort wurde aus dem >Entwicklungsgebiet< Europa ein ent¬ wickeltes Gebiet. Das Wachstum des Gewerbes bedeutete ein Wachs¬ tum der Städte, die im 1 2. und 1 3. Jahrhundert ihre alte Rolle als mi¬ litärische Festungen und Verwaltungszentren aufgaben und sich mit Handel und Gewerbe füllten« (J. Gies).225 •Das Entstehen und die Verbreitung verschiedener Handwerkszünfte und Kaufmannsgilden: Eine Gilde wurde sehr schnell international.

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Die Hanse nahm in Köln und mit der Gründung der Stadt und des Hafens Lübeck (1 1 58) ihren Anfang. Sie verband Stadtneugründun¬ gen wie Rostock, Danzig, Königsberg und viele andere, Riga auf dem Baltikum und Nowgorod in Rußland im Osten, bis nach London und Brügge im Westen. •Der Brückenbau lebte im 1 1 ./1 2. Jahrhundert wieder auf. Die London Bridge beispielsweise stammt aus dem Jahr 1 1 76 und blieb bis ins 1 9. Jahrhundert intakt. Im südöstlichen Frankreich wurde im 1 2. Jahr¬ hundert ein neuer spezialisierter Orden gegründet, die »Freres Pontifes« (= »Brüder der Brücke«). Sie bauten zahlreiche neue Brücken, von denen einige immer noch stehen, wie die berühmte Pont d'Avignon und die Pont St-Esprit in Lyon (J- Gies).226

Eine Renaissance für das Volk durch das Volk ? Das wohl Ungewöhnlichste an all diesen großartigen Neuerungen war wie gesagt der Umstand, daß sie den »kleinen Leuten« ein¬ deutig zugute kamen. Die Bewertung des Lebensstandards eines einfachen Arbeiters ist nicht einfach. Natürlich gibt es für die da¬ malige Zeit keine »Statistik« in unserem heutigen Sinne, die uns helfen könnte, den Wohlstand der verschiedenen Bevölkerungs¬ schichten genau zu ermessen. Darüber hinaus ist in fast allen Text¬ quellen, die aus dieser Zeit stammen, nur von den Laten und Lei¬ stungen der Adligen, Könige und Kleriker die Rede, die damals so gut wie alle Schreiber beschäftigten. Dennoch besitzen wir aussagekräftige Quellen. So berichtet bei¬ spielsweise Johann Butzbach in seiner Chronik: »Die gemeinen Leute hatten selten weniger als vier Gänge bei der Mittags- und Abendmahlzeit. Sie aßen Getreide und Fleisch, Eier, Käse und Milch zum Frühstück, und um 10 Uhr morgens und noch einmal um vier Uhr nachmittags eine leichte Mahlzeit.« Der Historiker Fritz Schwartz brachte die Verhältnisse auf den Punkt: »Kein Unterschied zwischen Bauernhaus und Schloß.«235 Für die Gesellen war der sog. blaue Montag frei. Während der Sonntag als der »Tag des Herrn« galt, an dem man sich um öffent181


Kleidungsvorschriften und Nacktheit in Hochmittelalter und Renaissance Der Archetyp der Großen Mutter korrespondiert mit der Art, wie wir unseren Körper wahrnehmen. Unter diesem Blickwinkel symbolisiert die Schwarze Madonna den Ceist in der Materie - im Gegensatz zum Geist, der von Körper und Materie getrennt ist. Daher ist die Frage in¬ teressant, ob es gravierende Unterschiede bei der Einstellung zu Kör¬ per, Nacktheit und Kleidung zwischen dem Hochmittelalter und den fol¬ genden Jahrhunderten gegeben hat. Hier zeigt sich, wie subtil sich ar¬ chetypische Werte in der Gesellschaft ausdrücken können:

•Im Mittelalter war

Nacktheit nicht selten, weder bei Männern noch bei Frauen. Ein Grund dafür war, daß es so gut wie keine Privatsphä¬ re gab, da ganze Familien im selben Raum schliefen. Außerdem hat¬ te jede Stadt mindestens ein öffentliches Badehaus, wo Nacktheit un¬ abhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Stand die Regel war. Männer wie Frauen trugen lose Tuniken. Es gab keine Mode, da sich der Stil der Kleidung über Jahrhunderte hinweg nicht veränderte. »Zwischen arbeitenden Männern und Frauen gab es im Mittelalter kaum einen Unterschied in der Kleidung.«227 Die Kleidung war »lang, aus grobem Stoff; Mann und Frau, Priester und König, alle waren fast gleich als eine einzige, universale Familie gekleidet«.228 •Im Gegensatz dazu gewann die Mode seit dem 14. und 15. Jahrhun¬ dert an Bedeutung und veränderte sich für Männer und Frauen rasch. »Anfang des 1 4. Jahrhunderts verzichteten Frauen auf die losen Tuni¬ ken ... zugunsten engerer Kleidung, und die Unterwäsche nahm ih¬ ren Aufstieg in der Mode. Von da an galt eine Art Bruststütze für die

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1 Eine Frau badet ohne Scham nackt vor einem Mann. Aus einem deut¬

schen Holzschnitt aus dem Mittelalter.

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Garderobe einer Dame mit Selbstachtung als unerläßlich. Bis zum Be¬ ginn unseres Jahrhunderts wurde der Busen hauptsächlich durch Korsette gestützt. Korsette wurden mit der Erfindung des »Körpers« in Spanien wahre Folterinstrumente.«229 Montaigne schrieb: »Für ei¬ nen schlanken Körper spanischen Stils, welche Folter nehmen sie nicht auf sich, eng geschnürt und gebunden.«230 Der Unterschied zwischen Männer- und Frauengarderobe sowie in der Kleidung zwi¬ schen Volk und Adel wuchs rasch. »Seit dem 14. Jahrhundert verän¬ derten sich die Mentalitäten grundlegend. Mittels der Kleidung wur¬ de kunstvoll zwischen sozialen und beruflichen Tätigkeiten unter¬ schieden. Reichtum und sozialer Stand wurden offensichtlich.«231 »Darüber hinaus kennzeichnete Nacktheit den Rückzug aus der Ge¬ sellschaft. Männliche Nacktheit wurde mit Wahnsinn und Raserei in Verbindung gebracht.«232 Im Gegensatz dazu gab es seit der Antike zum ersten Mal wieder ästhetisches Interesse an weiblicher Nackt¬ heit. Bei den ersten Studien einer weiblichen Nackten, die für einen Maler Modell steht, handelt es sich vermutlich um Albrecht Dürers Zeichnungen von einer stehenden jungen Frau aus den Jahren 1493 und 1 506.233 Eine Generation nach Dürer wurden Tizians Akte zum Standard im künstlerischen Schaffen der Renaissance. Kluge Köpfe des 19. Jahrhunderts hielten die Bilder für »gelehrte Allegorien aus der klassischen lateinischen Literatur«, doch mittlerweile ließ sich ein anderer Verwendungszweck ausmachen. »Erst kürzlich tauchten Briefe aus der Zeit auf, die zeigten, daß diese Kunstwerke geschaffen wurden, um die lebhafte Nachfrage nach Schlafzimmerbildern mit erotischen Nackten in aufreizenden Posen zu befriedigen. Als Guidobaldo, der Herzog von Urbino, über den Kauf eines Gemäldes von Tizian aus dem Jahre 1538 verhandelte, das heute als Venus von Ur¬ bino bekannt ist, bezeichnete er es einfach als das Bild einer »nackten Frau« ... Der päpstliche Nuntius in Venedig erklärte, daß ein anderer Akt Tizians (der Kardinal Farnese gehörte) die Venus von Urbino wie »eine frigide Nonne« aussehen lasse. Im Jahr 1600 erklärte sich der Herzog auf die Anfrage eines Bewunderers bereit, eine Kopie des Gemäldes anfertigen zu lassen, allerdings unter der Bedingung, daß die Identität des Besitzers geheim blieb - denn er wollte nicht, daß überall bekannt wurde, daß er der Besitzer »dieser Art von Gemälde« war.«234 Salopp formuliert, dienten Tizians Nackte also wohl auch als »P/oyöoy-Bilder« für die damalige Hautevolee ...

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Männer und Frauen teilen sich in einer mittelalterlichen Herberge ein reich¬ haltiges Mahl.

liehe Angelegenheiten kümmerte, war der Montag der Tag, an dem die Menschen Zeit für ihre Privatangelegenheiten hatten. Zusätz¬ lich gab es mindestens 90 offizielle Feiertage im Jahr! Daher arbei¬ tete ein Geselle im Durchschnitt nicht mehr als vier Tage in der Woche. Außerdem war auch die Zahl der Arbeitsstunden pro Tag begrenzt. Als die Herzoge von Sachsen die Arbeitsstunden von sechs auf acht Stunden am Tag ausdehnen wollten, revoltierte das Volk. Die Herzoge mußten ihre Untertanen zudem ermahnen, daß »Arbeiter nur vier Gänge bei jeder Mahlzeit« erhalten sollten.236 Die Bauern, die als niedrigster Stand galten, »trugen Silberknöp¬ fe an Weste und Mantel, meist in Doppelreihen, und verwendeten silberne Schnallen und Verzierungen für ihre Schuhe«. Soziale Un¬ terschiede zwischen hohem und niedrigem Stand, Adel und Bau¬ ern waren deutlich geschrumpft (s. Kasten zu den Kleidungsvor¬ schriften). Doch eine Form des sozialen Unterschiedes ist für unsere Unter¬ suchung besonders interessant: Wie wurden die Frauen im Mittelalter behandelt?

Eine »halbe Renaissance« für Frauen »Konventionelle Unterscheidungen wie mittelalterlich und mo¬ dern, die im Hinblick auf männliche Tätigkeiten lange Zeit fun¬ diert und nützlich erschienen, wirken ganz anders, wenn man sie 184


anhand weiblicher Erfahrungen bewertet.«237 Joan Kelly veröf¬ fentlichte im Jahr 1977 einen kontrovers diskutierten Artikel mit dem Titel »Hatten Frauen eine Renaissance?« und gab auch gleich die Antwort: Nein, zumindest was die »offizielle« Renaissance im 16. Jahrhundert betrifft.238 Dagegen »öffnete sich im 12. Jahrhundert ein Fenster der Freiheit für die europäischen Frauen in der Stadt, das sich allerdings noch vor dem Ende des 15.Jahrhunderts wieder verschloß«.239 Der Spruch »Stadtluft macht frei«240 schien für Männer und Frauen zu gelten, für Frauen allerdings in geringerem Maße. Ich möchte da¬ mit natürlich nicht behaupten, daß Frauen in dieser Zeit nicht dis¬ kriminiert wurden. Tatsächlich gibt es zahlreiche Beispiele für ih¬ re Unterdrückung. Wichtig ist hier jedoch, daß Europas »erste Re¬ naissance« eine Zeit war, in der Frauen viel mehr Freiheiten be¬ saßen, als es je zuvor und lange danach der Fall war. Für die Epoche »vor« dem Hochmittelalter bietet sich für einen Vergleich am besten das Römische Reich an, das bis zum 5. Jahr-

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B Diese Zeichnung auf hochwertigem blauem venetianischem Papier, deutlich von Dürer datiert und sig¬ niert, zeigt ohne weitere »Entschul¬ digung« als »akademische Studie« eine nackte Frau. Vom gleichen Künstler gibt es frühere Zeichnun¬ gen, wie z. B »Frauen in einem Ba¬ dehaus«, bei dem, obwohl es sechs Nackte zeigte, bestimmte Umstän¬ de als Vorwand benutzt wurden. (Aus der Sammlung von Dr. Rolf Blasius in Braunschweig.)

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hundert in einem Großteil des hier behandelten Gebiets rich¬ tungweisend war. Der Paterfamilias hatte die absolute Kontrolle über seine Frau, besonders in allen rechtlichen und finanziellen

Angelegenheiten. Es gab eine kurze Zeit gegen Ende der Republik, in der Frauen sich einige unbedeutende Rechte sichern konnten, doch unter der Herrschaft von Augustus wurden die Vorschriften wieder strenger. Einer Frau in Rom war es beispielsweise zu keiner Zeit möglich, Geschäfte ohne die Beteiligung eines Vormundes zu führen. Für die Zeit nach dem Hochmittelalter kann man annehmen, daß die Frauen in vielerlei Hinsicht erst in den letzten 50 Jahren unseres Jahrhunderts das zurückerobert haben, was im hundert als »normal« galt! DIE TÄTIGKEITEN DER FRAUEN

Frauen wurden mit bestimmten Fähigkeiten in Verbindung ge¬ bracht, »muliebria opera, auf die Männer sich nicht verstanden«, was sich z. B. bei der weiblichen Dominanz in der Stoffproduktion zeigt (darunter auch quasi industrielle Prozesse wie das Färben oder die Herstellung von Garnen und Seide), beim Bierbrauen, al¬ len Milchprodukten (auch Butter und Käse) und natürlich beim Kochen. Teilweise wirkte sich das später in der Bulle von Papst In¬ nozenz VIII. gegen die Hexerei von 1488 negativ aus, denn auch die »Schwarzen Künste« galten als muliebre opus. Neben diesen Mo-

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Zwei technische Neuerungen des Hochmittelalters in den Händen von Frau¬ en. Links das schnellaufende Spinnrad. Rechts Wollkämmer mit Metallzähnen. Frauen besaßen de facto das Monopol in der wichtigen Textilherstellung.

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Eine Frau destilliert verschiedene Kräuter, von denen Bündel auf dem Boden liegen. Dies ist eine der muliebria opera, die Frauen mit der Schwarzen Kunst in Verbindung brachten, als der Rückschlag im 1 4. Jahrhundert eintrat.

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nopolen waren Frauen bei den 312 Berufen, die offiziell als metiers Ende des 13. Jahrhunderts in Frankreich aufgelistet wurden, in 108 Berufen vertreten. Dazu gehörten Städte, die Frauen als Schlüssel¬ wächter, Steuereintreiber, Wächter und Musiker beschäftigten. Frauen waren auch als Bankiers, Wirtinnen und Ladenbesitzerin¬ nen tätig.241 »Im 13.Jahrhundert treten Frauen in der Stadt gele¬ gentlich als unabhängige Handwerkerinnen in vielen Gewerben und Zünften auf ... Ende des 15. Jahrhunderts nimmt ihr Anteil an den Arbeitskräften stark ab.«242 Dieser Abwärtstrend setzte sich lange fort, so daß Turgot im Jahr 1776 klagen konnte, Frauen sei¬ en von jeglicher kommerziellen Tätigkeit ausgeschlossen, »selbst solchen, die sich für ihr Geschlecht hervorragend eignen, wie z. B. Sticken«.243 Für Paris läßt sich dank der Steuerlisten sogar der ge¬ naue Zeitpunkt für diesen Wandel bestimmen. Im Jahr 1292 sind 15 Prozent der Steuerzahler Frauen, die als finanziell unabhängig und damit steuerpflichtig gelten. Dabei wurde zwischen unver¬ heirateten, verheirateten oder verwitweten Frauen kein Unter¬ schied gemacht. Sie stellten eine ungewöhnliche Vielfalt in 172 verschiedenen Berufen. Dazu gehörte die Arbeit der Kistenmacher 187


und Küfer, Seifensieder, Kerzenzieher, Buchbinder, Puppenbemaler und selbst, wenn auch selten, der Metzger. »Frauen waren so¬ gar im Bergbau, als Schwert- und Sensenschmiede tätig.«244 In der Pariser Steuerliste von 1313 war der Anteil der Frauen be¬ reits auf insgesamt 11 Prozent gesunken, und die Zahl ihrer Beru¬ fe war auf 130 zurückgegangen.245 Selbst in Italien, wo das lom¬ bardische Gesetz Frauen mehr als im übrigen Westeuropa benach¬ teiligte, waren sie um 1300 offenbar stärker am Wirtschaftsleben beteiligt als in späteren Jahrhunderten. Albertus Magnus (»Albert der Große«, ca. 1200-1280) kommen¬ tierte die Arbeitsbedingungen für Frauen indirekt, als er erklärte, daß Männer laut Aristoteles »von der Natur her« zwar länger als Frauen leben sollten, im 13. Jahrhundert aber genau das Gegenteil der Fall war, weil Frauen leichtere und bessere Arbeit hätten und sie aus diesem Grund »nicht so schnell verbraucht« seien. Eine Analyse von Grabsteindaten ergab, daß im alten Rom Männer vier bis sieben Jahre länger lebten als Frauen (was der These von Ari¬ stoteles entspricht), sich die Situation im Mittelalter aber allmäh¬ lich änderte. »Vor allem im Hochmittelalter (1000-1350) erhöh¬ ten sich die Lebenserwartung der Frauen.«246 Historiker sind der Ansicht, es gebe keine wirklich stichhaltige Erklärung, warum Frauen im Wirtschaftsleben der Städte zwischen dem 13. und 15. oder 16. Jahrhundert eine immer geringere Rolle spielten. Daß es so war, läßt sich allerdings nicht leugnen. FRAUEN UND BESITZ

Beim Besitz genossen Frauen ein ungewöhnlich hohes Maß an Frei¬ heit, das nach dem Hochmittelalter natürlich nicht erhalten blieb. »Unter den Karolingern legten die Verwalter der Krongüter ihre Ab¬ rechnungen der Königin vor ... Die Königin wachte auch über den Kronschatz und war offenbar für die Verteilung der jährlichen Ge¬ schenke als eine Art Lohn an die Ritter bei Hof verantwortlich.«247 Als Klostergründerinnen und allgemeine Wohltäterinnen hatten Frauen die Kontrolle über große Stiftungen, die sie in ihrer Umge¬ bung bekannt machten. 188


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Eine weibliche Händlerin verkauft ein Männergewand. Frauen konnten die ver¬ schiedensten Geschäfte in den unterschiedlichsten Bereichen besitzen und be¬ treiben. Eine Liste der von Frauen verkauften Gegenstände, die dem Stadtrat von Görlitz 1 409 vorgelegt wurde, enthielt Abdeckungen für Armbrusthüllen, Satteltaschen, Pergament, Papier, Sporen und Steigbügel. Es sollte schon bald als »unziemlich« gelten, daß Frauen mit solchen Gegenständen handelten.

Eine Tradition aus vorchristlicher Zeit, die sich bis ins Mittelalter hielt, war das sog. Wergeid, ein Sühnegeld im Rechtssystem, das ein 'l ater bei Verletzungen oder Todesfällen an die Familie zahlen mußte. Im Mittelalter waren die Geldstrafen zum Schutz der Frau¬ en im allgemeinen so hoch wie die für Männer, manchmal sogar noch höher. Vor allem Frauen im gebärfähigen Alter genossen be¬ sonderen Schutz. FRAUEN UND GEISTESLEBEN

Während Jungen und Männer adliger Abstammung überwiegend im Gebrauch von Waffen und Kriegshandwerk unterrichtet wur¬ den, genossen Frauen Unterricht im Lesen, Schreiben, Singen und Zeichnen. Üblicherweise waren sie außer dem Klerus die einzigen, die lesen konnten. Das war nicht einmal nur auf adlige Frauen beschränkt. In Klosterschulen finden sich Aufzeichnungen über 189


Mädchen, die dort ab dem Alter von sechs oder sieben Jahren un¬ terrichtet wurden, neben adligen Kindern auch die Töchter von Be¬ diensteten und Handwerkern.248 Frauen lasen nicht nur, sondern schrieben auch selbst. So wurde beispielsweise behauptet, das älte¬ ste Handbuch zur Erziehung sei von Francois Rabelais in Frank¬ reich verfaßt worden. Doch über fünf Jahrhunderte bevor Rabelais überhaupt geboren wurde, schrieb eine Frau namens Dhuoda ihr Manuel pour mon Fils,249 das zwischen 841 und 843 entstand. Die bemerkenswerte und völlig einzigartige literarische Blüte zum Thema »höfische Liebe« nahm ursxuünglich in der Provence und Aquitaine in Südfrankreich ihren Anfang. Ihr Wesen wurde hervorragend von Uc de St-Cir in Worte gefaßt, einem Troubadour des 13.Jahrhunderts: »Höfische Liebe heißt für einen Mann, den Himmel über eine Frau zu erreichen.« Die Werte, die diese Litera¬ tur zum Ausdruck brachte, beeinflußten Europa zweimal, zuerst bei ihrer Entstehung im 12. und 13.Jahrhundert und dann über¬ raschenderweise bei ihrer Wiederentdeckung im 18.Jahrhundert, als sie die Romantik befruchtete.250 Regine Pernoud behauptet so¬ gar: »Liebe wurde im 12.Jahrhundert erfunden.«251 Sicher wurde damals das »entdeckt«, was die westliche Liebe von der Liebe in der übrigen Welt unterscheidet. Diese Neuerung im dert wurde auch als »wichtiger Schritt bei der Emanzipation der Frau« bezeichnet.252 C. S. Lewis zufolge bewirkten die Troubadoure »eine Verände¬ rung, die kein Fleckchen unserer Ethik, unserer Vorstellungskraft oder unseres Alltagslebens unberührt ließ. Sie errichteten zwi¬ schen uns und der klassischen Antike oder der orientalischen Ge¬ genwart unpassierbare Barrieren. Verglichen mit dieser Revolution kratzte die Renaissance nur ein bißchen an der Oberfläche der Li¬

teratur.« 253 Der erste Impuls für die Literatur der höfischen Liebe kam aus der lenga ä'oc (Südfrankreich): Auf provenzalisch, wie damals in der ganzen südlichen Hälfte Frankreichs gesprochen wurde, hieß sie trobar fin' amor. Sie beschleunigte die Entwicklung der Lyrik in all den anderen im Entstehen begriffenen Landessprachen in Europa, 190


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/./n/cs: Ein Ritter huldigt seiner Dame. Da es sich hierbei um das offizielle Siegel von Raymond de Mondragon handelt, wissen wir, wie er sich präsentieren wollte. Vergleichen Sie diese Haltung mit früheren und späteren Adligen, die nicht auf ihr kriegerisches Gehabe verzichten mochten. (Zeichnung von More¬ no Tomasetig, Kopie des Siegels.) Rechts: Trobar firi amor, illustriert in einer Miniatur aus dem Hochmittelalter. Die Minnesänger erfanden unser westliches Konzept der Liebe als eine Bezie¬ hung von Person zu Person. Die unbenutzten Waffen des Kriegers sind in der oberen Reihe zu sehen.

vom Katalanischen und Galizischen zur nordfranzösischen langiie d'oi'l (wo die Dichter als »Trouveres« bezeichnet wurden), dem Deutschen (»Minnesänger«), Englischen (»Troubadour«) und Ita¬ lienischen (»Trovatore«, später die Inspiration für Dantes Beatri¬ ce).254

Interessanterweise wurden unter den original Troubadouren der lenga d'oe im 12. Jahrhundert 20 weibliche Troubadoure ent¬ deckt.255 Die Sichtweise dieser trobairitz, wie die Dichterinnen in ihrer eigenen Sprache genannt wurden, bietet den ungewöhnli¬ chen Blick einer Eingeweihten in die höfische Liebe aus weiblicher mittelalterlicher Sicht (s. Kasten). 191


Weibliche Troubadoure des 12. Jahrhunderts Meg Bogin untersuchte die Gemeinsamkeiten von 20 weiblichen Trou¬ badouren der ersten Phase.256 Sie alle stammten aus dem südfranzösi¬ schen Adel und besaßen Besitz unter ihrem eigenen Namen, wie das nach dem damaligen Erbrecht üblich war. Alle sprachen als Frau, und wir verfügen noch über Dokumente, die belegen, daß mindestens die Hälfte von ihnen zu Lebzeiten offiziell als Dichterinnen anerkannt wa¬ ren. Diese Frauen hätten offensichtlich nicht verstanden, warum sie wie etwa George Sand in einem späteren Jahrhundert als letzte Mög¬ lichkeit, um »ernst genommen zu werden«, ein männliches Pseud¬ onym hätten verwenden sollen. Von den 20 weiblichen trobairitz, die in der original lenga d'oc schrie¬ ben, exisitieren noch von 18 Dichterinnen Texte. Hier sind einige kur¬ ze Auszüge, die eine Direktheit zeigen, die man in der zeitgenössischen Troubadour-Lyrik der Männer nicht findet: »Elias Carel, ich will die Wahrheit erfahren Über die Liebe, die wir einst teilten: So sag mir, bitte, warum schenktest du sie jemand anderem?«257

Isabella (geb. um 11 80)

»Er hat mir so schweres Unrecht getan, Daß er kaum weiß, wo er sich verstecken soll; Nein, ich irrte nicht, als ich ihm all meine Liebe entzog, Und ich werde mich nicht um seinetwillen erniedrigen.«258 Anonym »Dennoch, auf Dauer läufst du Gefahr, alles zu verlieren, Wenn du nicht den Mut hast, deine Sache vorzutragen. Und du wirst uns beiden großen Schaden zufügen, wenn du dich

weigerst. Denn eine Dame wagt es nicht, ihren wahren Willen zu enthüllen,

Noch weniger, wenn ihre Umgebung sie für niedrig hält.«259 Garsenda (geb. um 11 70, verheiratet mit Alfons II. von der Provence; bei seinem Tod im Jahr 1209 wurde sie Regentin und blieb bis 121 7 oder 1220 in dieser Position)

192


Zum Unbehagen einiger Gelehrter gibt es von der Dichterin Bieiris de Romans sogar den einzigartigen Fall einer, wie es scheint, lesbischen Liebeserklärung an eine unbekannte Frau: »Ich bitte dich mit diesen ehrenwerten Zeilen, Schenke deine Liebe nicht einem betrügerischen Verehrer. Liebliche Dame, die Frohsinn und edle Rede zieren, Dir widme ich meine Verse. Denn du bist voll Fröhlichkeit und Glück Und aller guten Eigenschaften, die man sich bei einer Frau wünschen

kann.«260 Bieiris de Romans (erste Hälfte des 1 3. Jahrhunderts)

Noch einmal sei an dieser Stelle gesagt, daß es im Hochmittelalter zu einer einzigartigen Verehrung des weiblichen Archetyps kam. Die Freimütigkeit und Qualität im Ausdruck der weiblichen trobairitz fanden sich nach dem 13. Jahrhundert so schnell nicht wieder. Schließlich sollten wir auch noch den Bereich der Mystik er¬ wähnen, denn dort traten Frauen vielleicht am stärksten hervor. Sie zählten zu den bedeutendsten und berühmtesten Mystikern und Autoren ihrer Zeit, wie z. B. Hildegard von Bingen, Herade von I.andsberg, Margery Kempe, Juliane von Norwich, Katharina von Siena, Katharina von Genua und viele andere. FRAUEN IN DER POLITIK

Einige sehr unabhängige Frauen spielten in der Politik und dem Geistesleben ihrer Zeit prominente Rollen. Das Beispiel Eleanors von Aquitanien dominiert das 12.Jahrhundert. Sie war zweimal Königin, Mutter von zwei Königen, widersetzte sich erfolgreich dem Kaiser und dem Papst und herrschte mit bemerkenswertem Geschick und einem starken Willen über ihre beiden Reiche.261 Dieser Wille verschaffte ihr bei den (männlichen) Historikern spä¬ terer Jahrhunderte einen schlechten Ruf. In ihrer Zeit galt sie je¬ doch nicht als Ausnahme. Regine Pemoud262 analysiert in ihrem 193


Buch das Leben von Adele de Blois, Königin Anne, Gräfin Mathil¬ de, Agnes de Poitou und Alienor von Kastilien. Sie zeigt, daß all diese Frauen sehr unabhängig und mächtig die Politik der dama¬ ligen Zeit mitbestimmten. Alle lebten zwischen dem 10. und dem 13.Jahrhundert. Auch die Frauen in den Klöstern hatten in der Welt etwas zu sa¬ gen. »Im 11Jahrhundert herrschte die Äbtissin von Maubeuge in Nordfrankreich nicht nur über ihr Kloster, sondern auch über die Stadt und die Gebiete, die zum Kloster gehörten. Die Äbtissinnen von Regensburg sandten ihre Vertreter zu den Landtagen. Die Äb¬ tissinnen von Herford und Quedlinburg stellten Truppenkontin¬ gente für das kaiserliche Heer und waren bei den reichtagsähnli¬ chen Versammlungen vertreten.«263 MITGIFT UND BRAUTGELD

In vielen Kulturen auf der ganzen Welt gibt es immer noch den Brauch, entweder eine Mitgift (die Seite der Braut bringt Geld oder andere Gaben als Aussteuer ein) oder Brautgeld zu bezahlen (der Bräutigam bringt die »Mitgift« in die Ehe ein). Tacitus stellte 98 v. Chr. fest, daß bei den germanischen Stämmen der Bräutigam der Braut die »Mitgift« gab und nicht wie umgekehrt bei den Römern. Wenn man verfolgt, wie das Pendel im Laufe der Zeit zwischen der römischen und germanischen Tradition hin und her schwingt, läßt sich daran vielleicht erkennen, welche Stellung die Frau in der Gesellschaft innehatte. Interessant ist vor allem, daß das germani¬ sche System nicht nur bis ins Mittelalter bestand, sondern die rö¬ mische Tradition weitgehend ersetzte, und das selbst in den Mit¬ telmeerländern, in denen sich die römischen Traditionen viele Jahrhunderte lang gehalten hatten. Der arabische Chronist Ibra¬ him Ibn-Jakub beschrieb im Jahr 965 eine für das »barbarische« Eu¬ ropa typische Sitte: »Das Brautgeld ist so hoch, daß ein Mann mit zwei oder drei Töchtern als reich gilt; wenn er jedoch Söhne hat, kann ihn das in Armut stürzen.« Nahezu die gleiche Klage war in Europa wieder im Spätmittelalter zu hören (1300-1500), doch die¬ ses Mal war die Geschlechterverteilung genau umgekehrt.264 194


Genauer werden wir wohl nicht zur Zufriedenheit eines Wirt¬ schaftswissenschaftlers ermessen können, daß es einen bedeutsa¬ men Wandel in Hinblick auf den weiblichen Archetypus gab. Die Zeit vom 10. bis 13. Jahrhundert ragt jedoch eindeutig und me߬ bar als eine Epoche heraus, in der sich die finanzielle Wertschät¬ zung von Frauen und Mädchen genau umgekehrt verhielt als in den Epochen davor oder danach. Einige Historiker versuchten die ungewöhnlich aktive Rolle der Frauen im Hochmitteialter einfach mit einem »Mangel an Ar¬ beitskräften« in den Städten zu erklären. Doch wenn Arbeitskräfte so knapp waren, warum gab es dann die »blauen Montage«? War¬ um hätten die Menschen dann soviel Zeit darauf verwendet, Or¬ namente und Skulpturen in die entferntesten und verstecktesten Ecken gigantischer Gebäude wie der Kathedralen zu meißeln? Oder was noch merkwürdiger ist: Warum begann man überhaupt mit dem Bau von Kathedralen, in die die Bevölkerung einer ganzen Stadt drei- oder viermal hineinpaßte und deren Fertigstellung sie gar nicht mehr erlebte? Meiner Meinung nach ging es dabei um et¬ was Wichtigeres, für das ich die Kathedralen als Zeugen anführen möchte.

Die Zeit der Kathedralen Das Hochmittelalter gilt weithin als Zeit großer Bauaktivität. Eine bloße Auflistung der Namen und Orte kann keinen Eindruck von der Qualität und Strenge der Bauwerke vermitteln. Tatsächlich betrachte ich die plötzliche Blüte des Kathedralen¬ baus in dieser Zeit als den stichhaltigsten Beweis dafür, daß während der Epoche etwas in archetypischer Hinsicht Unge¬ wöhnliches geschah. Der einzigartige Bauboom kam nach 1300 genauso plötzlich zum Erliegen, wie er etwa 300 Jahre zuvor be¬ gonnen hatte. Außerdem halte ich es für sehr wichtig, daß fast al¬ le der etwa 300 Kathedralen, die in Europa während dieser Zeit ge¬ baut wurden, der Jungfrau Maria und nicht Jesus Christus geweiht waren, obwohl es doch in dieser Religion um ihn geht. Allein in Frankreich entstanden im Hochmittelalter über 80 Kathedralen 195


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Mittelalterliche Steinmetzen bei der Arbeit mit verschiedenem Gerät: eine Bau¬ winde mit strahlenförmigen Speichen, ein Senkblei, Wasserwaage, Äxte und eine Dechsel.

und mehrere hundert Kirchen zu Ehren Mariens. Dies ist sogar von noch größerer Bedeutung, wenn man bedenkt, daß es - anders, als man heute oft annimmt - damals keine zentrale Autorität gab (we¬ der in Form der Kirche noch als weltliche Herrscher), die für den Bau oder die Namensgebung der Kathedralen verantwortlich war. Nach den Schätzungen von Jean Gimpel wurden im Verlauf dieser 300 Jahre allein in Frankreich Millionen Tonnen an Stein abge¬ baut, mehr als in den Jahrtausenden ägyptischer Geschichte. Der Mediävist Robert Delort schätzt, daß es 1300 über 350000 Kirchen in Westeuropa gab - darunter fast 1000 Kathedralen und mehrere tausend große Abteien. Die Gesamtbevölkerung der damaligen Zeit belief sich vermutlich auf 70 Millionen Menschen. Damit kommen auf eine Kirche im Durchschnitt etwa 200 Menschen! In manchen Gegenden Ungarns und Italiens war das Verhältnis so¬ gar noch höher: eine Kirche auf 100 Einwohner.265 Im Gegensatz zur heute gängigen Vorstellung gehörten die mei¬ sten mittelalterlichen Kathedralen weder der Kirche noch dem 196


Adel.266 »Das Haus Gottes war auch das Haus des Volkes. Jeder hat¬ te Zugang; natürlich um zu beten, aber auch, um sich dort aufzu¬ halten, zu essen und sogar zu schlafen. Die Leute gingen mit ihren Hunden in die Kirche; man diskutierte dort lebhaft über die ver¬ schiedensten Themen.«267 In der Kathedrale fanden neben religiö¬ sen Handlungen auch Stadtversammlungen für die gesamte Ein¬ wohnerschaft und andere öffentliche Veranstaltungen statt, für die man einen überdachten Raum brauchte. Die Kathedralen gehörten meist den Bürgern der Stadt, in der sie erbaut worden wa¬ ren, und wurden auch von diesen finanziert. Die Kirche besaß selbstverständlich ihre »privilegierten Zeiten« (d. h. jeden Lag die Messe zum Sonnenaufgang und den ganzen Tag an religiösen Fei¬ ertagen) sowie ihren »privilegierten Raum« (den Chor um den

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Die Federzeichnung zeigt einen Steinbruch, in dem das Material für den Bau des Klosters Schönau gewonnen wird. Man sieht verschiedene Stadien, vom groben Zuschnitt bis zum Transport (unten). Das Ausmaß des Steinabbaus, umgerechnet auf die Zahl der Einwohner, erreichte im Hochmittelalter einen Höchststand.

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Altar). Doch sie war

nur eine von vielen Nutzern. Die Finanzen ei¬ ner Kathedrale wurden von einer unabhängigen Einrichtung gere¬

gelt, die bezeichnenderweise »L'CEuvre Notre Dame« (= »Die Arbeit unserer Lieben Frau«) genannt wurde.268 Sie mußte für das Geld aufkommen und die Arbeitsmannschaften für den Bau und später den Erhalt der Kathedrale finanzieren (s. Kasten). Eine Zunft oder Gilde, die eine Kapelle finanziert hatte, be¬ stimmte völlig über deren Gebrauch. Der örtliche Adel und/oder der König spendeten häufig eine spektakuläre Fensterrosette oder einen Reliquienschrein für die Überreste des örtlichen Heiligen.270 Insgesamt sorgten sie für das Tüpfelchen auf dem i. Das »i« wurde jedoch von den normalen Bürgern und Kaufleuten finanziert, und die Kathedrale selbst gehörte der Stadt und ihren Bürgern. So trug beispielsweise in Danzig die Zunft der Sackträger finanziell zum Bau der berühmten Marienkirche bei und bezahlte auch noch ein eigenes Fenster, das mit zu den schönsten zählt, ln Chartres ist im¬ mer noch das Buntglasfenster zu sehen, das die Tuchhändler bei der Arbeit zeigt, ein anderes Fenster wurde von den Kürschnern ge¬ stiftet. In Amiens war der größte einzelne Spender ein örtlicher Händler mit Färbestoffen.

Bäcker bei ihrer täglichen Arbeit. Das Bild soll an den finanziellen Beitrag ihrer Zunft zum Bau der Kathedrale von Chartres erinnern.

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»Die Arbeit Unserer Lieben Frau« oder Die Finanzen einer Kathedrale269 Eine spezielle, rechtlich und finanziell unabhängige Einrichtung, in Frankreich namens »La Maison de l'CEuvre Notre Dame«, wurde für je¬ de Kathedrale geschaffen. Zu den vollständigsten Aufzeichnungen dar¬ über gehören die Unterlagen für das Straßburger Münster im Elsaß. Im Jahr 1206 bestand die Münsterbauhütte in Straßburg aus einem Bür¬ gerausschuß, zu dem noch der örtliche Bischof gehörte. Seit 1 230 ver¬ loren Bischof und Klerus jedoch zunehmend an Einfluß, bis der Bischof schließlich 1262 vom Ausschuß ausgeschlossen wurde. Nach 1290 kam »L'CEuvre Notre Dame« in städtische Hand. Dort ist sie bis zum heutigen Tag geblieben, nur nach der Französischen Revolution (1 789-1 799) gab es eine kurze Unterbrechung, während der sie vom französischen Staat kontrolliert wurde (»Regie des Domaines«). Im Fall von Straßburg steht die »Maison de L'CEuvre Notre Dame« immer noch und ist derzeit ein Museum mit einer einzigartigen Samm¬ lung an Originaldokumenten im Zusammenhang mit der Planung und dem Bau des Straßburger Münsters.

Auch hier, und das wird kein Zufall sein, ist es wieder die Epoche zwischen dem 10. und 13.Jahrhundert, in der die Kathedralen Frankreichs begonnen und gebaut wurden (bei einigen setzte man später in langsamerem Tempo die Bauarbeiten fort, doch keine einzige wurde je ganz fertiggestellt). In England lag »der Höhepunkt der Bautätigkeit zwischen 1210 und 1350. Ein weitreichender Niedergang setzte bereits vor dem Schwarzen Tod ein und erreichte im 15. Jahrhundert einen Tief¬ stand ... Einen allgemeinen Niedergang der Religiosität können wir nicht ins Feld führen ...«271 Eine Analyse von R. Morris über die Zahl der in England erbauten Kirchen zeigt, daß der Höhe¬ punkt 1290 erreicht war, danach sank die Zahl während des ge¬ samten 14.Jahrhunderts rapide ab.272 Mir gefällt das Beispiel der Kathedralen, da diese für mich eines der schönsten Geschenke der westlichen Geschichte darstellen. Sie sind ein starkes Bekenntnis zu Glaube, Einfallsreichtum, Solida199


Kathedralen: Investition für die Ewigkeit? Neben der symbolischen und religiösen Bedeutung einer Kathedrale, die ich gewiß nicht schmälern möchte, besaß ein derartiges Bauwerk auch eine wirtschaftliche Funktion. Währungsströme in eine Gemein¬ de zu ziehen ist stets ein sehr wichtiger wirtschaftlicher Vorteil, wie die Kommunen in der Umgebung von Disneyland bestätigen werden. Da¬ mals zog man Pilger an, die die wirtschaftliche Rolle der heutigen Tou¬ risten hatten. Als Magnet für die Pilgerströme erwies sich der Bau der schönsten Kathedrale der Gegend. Warum hätten die Städte sonst sol¬ che Bauwerke errichtet, die das Zwei- oder Dreifache ihrer Einwohner¬ schaft fassen konnten? Mich fasziniert an den Kathedralen jedoch vor allem, daß sie für die »Ewigkeit« gebaut wurden und der Gemeinde langfristig beständige Einnahmen garantieren sollten. Damit schuf man für Sie und Ihre Vor¬ fahren in 13 Generationen Wohlstand! Der Beweis ist einfach, denn es funktioniert heute noch. In Chartres z. B. leben die meisten Geschäfte der Stadt immer noch von den Touristen, die die Kathedrale auch neun Jahrhunderte nach Baubeginn besuchen. - Wie lange wird Disneyland seine wirtschaftliche Funktion behalten?

rität und Großzügigkeit. Aus wirtschaftlicher Sicht verkörpern sie eine grandiose Möglichkeit zur Schaffung eines langfristigen zukünftigen Einkommens für eine ganze Gemeinde. Das frühere Beispiel der Wartungsarbeiten bei Mühlen und Geräten zielt in die gleiche Richtung. Wie erklärt man diese zahlreichen Bauvorha¬ ben? Wenn man seine Ersparnisse nicht in Form von Geld anlegen kann, investiert man in etwas Dauerhaftes, das in der Zukunft Ge¬ winn abwerfen wird. Für die damaligen Menschen war es normal, in Maßnahmen zur Landverbesserung, Bewässerungsprojekte, Go¬ belins, Gemälde, Vieh, Schafe, Webstühle, Brücken, Transportmit¬ tel, Windmühlen, Weinpressen oder sogar Kathedralen zu inve¬ stieren, anstatt Währungen zu horten (s. Kasten).

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Wie alles ein Ende fand Der Rückschlag im Jahr 1300 Wie Gerda Lerner schon bei den Sumerern feststellte,273 ging die Etablierung eines zentralisierten Königtums mit der starken Un¬ terdrückung der Frauen in der Gesellschaft einher. Die Verbindung ließe sich damit erklären, daß Männer die Unterwerfung unter ei¬ nen autoritären König leichter akzeptieren, wenn sie wenigstens noch »König in ihren eigenen vier Wänden« sind. Als sich das Kö¬ nigtum als Institution »von Gottes Gnaden« konsolidierte, ver¬ band sich die weltliche Militärmacht direkt mit der »natürlichen« Vorherrschaft des Archetyps männlicher Stärke. In der Sprache der Archetypen heißt dies, daß zwischen König, Krieger und Magier, also den drei Yang-Urbildern, eine institutioneile Verbindung ge¬ schaffen wurde. Ein früheres Anzeichen dafür, daß sich der Zeitgeist wieder an pa¬ triarchalischen Vorbildern orientierte, läßt sich bereits für das Jahr 1300 feststellen. Mit dem ersten Auftreten der Mode entstanden

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K Holzschnitt von Hans Vintner aus dem jahr 1 486. Der Teufel sitzt auf dem lan¬ gen Kleid einer Frau, während sie von einem Kleriker wegen ihrer Eitelkeit und Arroganz ermahnt wird.

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auch neue Gesetze zu ihrer Kontrolle. »Eine Form der Gesetzge¬ bung hatte besondere Bedeutung für Frauen. Es handelt sich dabei um die >Luxusgesetze<, deren Zahl sich in Europa um etwa 1300 vervielfachte. Die Gesetze richteten sich gegen Verschwendung bei sozialen Anlässen (Hochzeiten und Begräbnissen) und teure Kleidung - theoretisch bei Männern und Frauen, grundsätzlich je¬ doch vor allem bei Frauen.«274 Ein anderer aufschlußreicher Wan¬ del zeigt sich darin, wie die Gesellschaft die Rolle der Brust inter¬ pretierte, ein archetypisches weibliches Symbol par excellence (s. Kasten). Der patriarchalische Rückschlag setzte nun ein, dauerte minde¬ stens 600 Jahre und verstärkte sich sogar im Laufe der Zeit, wie sich im erschwerten Zugang der Frauen zu Arbeit und Freiheit zeigt. Bis Mitte des 20Jahrhunderts waren die meisten Frauen nicht einmal berechtigt, ohne die »Genehmigung ihres Gatten« ein eigenes Bankkonto zu eröffnen, eine Situation, die Eleanor von Aquitani¬ en als völlig undenkbar und lächerlich empfunden hätte.

Eine Geschichte der Brust: Vom Normalen zum Heiligen,

von der Erotik zum Kommerz Im Hochmittelalter war die weibliche Brust etwas »Normales«. Sie wur¬ de weder stärker verborgen noch offensichtlicher gezeigt als die männ¬ liche Brust. Im Italien des 14. Jahrhunderts wurde die »heilige Brust« in Form der zahlreichen Bildnisse der »Madonna del Latte« erfunden (it. latte = » Milch«), auf denen die Jungfrau Maria beim Stillen gezeigt wurde und ihre Brust dem Kind darbot. Dabei handelte es sich jedoch nur um eine Übergangsphase. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts geriet die symbolische Rolle der Brust - trotz der heldenhaften Bemühungen des Klerus - mit einer neuen Rolle in Konflikt und trat ihr gegenüber zurück: die Brust als Lustobjekt. Das blieb sie praktisch bis heute. In die¬ ser Rolle wurde die verführerische Brust schon bald »kommerzialisiert«. Sie wurde als Verkaufsanreiz (in erster Linie für Männer) für praktisch alles benutzt; von Revolutionen (z. B. die Marianne, die bis heute die Französische Revolution symbolisiert) über Kriegsanleihen, Bier, Jeans¬ hosen bis zu Autos.

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Marilyn Yalom faßt diesen Reprogrammierungsprozeß zusammen: »In Kunst und Literatur gehörte die Brust in zunehmendem Maße we¬ niger dem Kind oder der Kirche und mehr den Männern der weltlichen Macht, die die Brust nur als Lustobjekt betrachteten.«275 Das Gemälde des Hofmalers Jean Fouquet, das Agnes Sorel zeigt, die 20jährige Mätresse Karls VII. von Frankreich, verdeutlicht diesen wich¬ tigen Bedeutungswandel vom Heiligen zur Erotik. Anne Holländer zu¬ folge steht dieses Gemälde für den Moment, in dem die nackte Brust zu einem »erotischen Signal in der Kunst« wurde.276 Agnes Sorel war die erste »offizielle Mätresse« eines französischen Kö¬ nigs. »Agnes wurde mit Schlössern, Juwelen und anderen Luxusgütern belohnt, die den Favoritinnen der Könige bis dahin vorenthalten ge¬ blieben waren. Sie erhielt im Jahr die beträchtliche Summe von 300 Pfund, trug die kostspieligsten Kleider des Königreichs und besaß ein größeres Gefolge als die Königin ... Agnes war die erste königliche Mätresse, die aus Liebesdiensten den vollen Gewinn zog.«277 Diese neue Definition der Brust fiel mit einer neuen Epoche in der französischen Geschichte zusammen. Offiziell und in aller Öffentlich¬ keit bestand eine direkte Verbindung zwischen Sex, Politik und Geld. Agnes war die erste einer langen Reihe königlicher Mätressen, die Ein¬ fluß auf die Politik nahmen, ein Vorgang, der so lange währte wie das französische Königtum.

k U »Die Jungfrau von Melun«: Agnes Sorel, die Mätresse von Karl VII., wird hier als Madonna dargestellt. Die Brust ist auf den Betrachter gerichtet, nicht auf das Kind, das gedankenverloren in eine andere Richtung blickt. Jean Fouquet, »Maria mit Kind«, um 1450. Antwer¬ pen, Koninklijk Museum voor Schone Künsten.

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Die Auswirkungen auf die Bevölkerung Eines der wichtigsten Anzeichen für einen massiven sozialen Wan¬ del ist die Fähigkeit einer Gesellschaft, die eigene Bevölkerung zu ernähren und zu erhalten. Wir besitzen wie gesagt keine statisti¬ schen Daten zur europaweiten Gesamtbevölkerung im Mittelalter, und selbst die für einzelne Länder sind nicht immer verläßlich. Dennoch schätzt man, daß sich die Bevölkerung Europas zwischen den Jahren 1000 und 1300 enorm vergrößerte, tatsächlich soll sie sich sogar verdoppelt haben.278 Abb. 13 zeigt die Entwicklung der englischen Bevölkerung von 1086 bis 1600, wobei sie sich auf die besten Schätzungen stützt, die zur Verfügung stehen.279 Das Bevölkemngswachstum ist gerade zwischen 1150 und 1300 enorm und bestätigt das Kaleidoskop der Wirtschaftsdaten, das wir an früherer Stelle zusammengestellt haben. Noch spektakulärer ist allerdings der jähe Rückgang zwischen 1300 und 1350. Erst um 1 7(X) erreichte die englische Bevölkerung wieder den Stand von 1300! Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die

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Der König wird von dem ar¬ chetypischen König Christus persönlich gekrönt. Der Text in dem offenen Buch lautet: »Ich bin das Licht der Welt. Folge mir.« (Mosaik, das die Krönung Wilhelms II. von Si¬ zilien zeigt; Kathedrale von

Monreale, Italien; Zeichnung von Moreno Tomasetig.)


um 1 290 Änderung

des Währungssystems

um 1 300 Scheitelpunkt: einsetzender Rückgang der Bevölkerung 1 347: erstes Auftreten der Pest in England

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1600

Abb. 7 3: Die Bevölkerung Englands zwischen 1086 und 1600 (in Millionen)

Pest in England erst 1347 ausbrach. Die neue Seuche war verhee¬ rend und trat von da an immer wieder auf. Das Schaubild zeigt je¬ doch, daß der Bevölkerungsrückgang bereits zwei Generationen vor diesem Datum stattfand!

Der Mediävist Guy Fourquin stellt fest: »Gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14.Jahrhunderts treten Hungersnöte großen Aus¬ maßes auf. Hungersnöte, auf die oft Seuchen folgten, waren seit dem Jahr 1000 nur selten und eng begrenzt gewesen. Das änder¬ te sich ab dem Jahr 1300.«280 Die erste allgemeine europäische Hungersnot läßt sich auf die Jahre 1315 und 1316 datieren. Etwa 10 Prozent der europäischen Bevölkerung verhungerten. In der Not aßen die Menschen Katzen, Ratten, Reptilien und Tierkot, ge¬ legentlich kam es auch zu Kannibalismus.281 Barbara 1 larvey, eine Spezialistin für diese Zeit, ist bezüglich der Reihenfolge der Ereignisse etwas genauer: »Der Rückgang nach 1300 läßt sich anhand fallender Preise und Mieten erkennen, einer Abnahme des Anbaugebietes, leerer Mietshäuser in den Städten und einer sinkenden Nachfrage bei Handwerk und Gewerbe. Mit 205


der schrumpfenden Wirtschaft ging auch die Bevölkerung zurück. Aber der Bevölkerungsrückgang war zunächst langsamer als die sinkende wirtschaftliche Aktivität, daher sank der Lebensstandard, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen.«282 Das Zitat stammt von den ersten Seiten eines Buchs mit dem bezeichnenden Titel Before the Black Death (»Vordem Schwarzen Tod«). Darin werden die aktuel¬ len Ergebnisse der historischen Forschung zu dieser Epoche zusam¬ mengefaßt. Die Historiker kommen zu einem Schluß, der der bis¬ herigen Auffassung widerspricht, der Schwarze Tod sei der Grund für diesen Zusammenbruch gewesen. Statt dessen war ihren Er¬ kenntnissen nach die Pest die Folge eines wirtschaftlichen Zusam¬ menbruchs, der 50 Jahre früher seinen Anfang genommen hatte. Diese Erkenntnisse weisen auf einen massiven wirtschaftlichen Niedergang nach 1300 hin, der so gravierend war, daß mehrere große Hungersnöte vor allem zwischen 1315 und 1350 die Bevöl¬ kerung stark schwächten. Nach zwei Generationen war damit der Boden für den Ausbruch einer tödlichen Seuche bereitet, die den »guten Jahrhunderten« ein Ende bereitete. Die meisten Historiker betrachteten die »gute Zeit« nur als merk¬ würdige Ausnahme: »Waren Lebenserwartung und -qualität wie¬ der auf das niedrige Niveau der karolingischen Zeit gesunken? ... Auf jeden Fall erwiesen sich die 250 bis 300 Jahre (je nach Region) nur als Unterbrechung zwischen zwei Epochen, in denen das Le¬ ben kurz und die Nahrung knapp war.«281 Derzeit diskutieren Mediävisten eifrig über die Gründe für den ungewöhnlichen Niedergang vor der Pest. Als wichtigste Ursachen werden Klimaveränderungen, ausgelaugte Böden und Überbevöl¬ kerung genannt. Diese Faktoren mögen alle eine Rolle gespielt ha¬ ben, doch ich möchte noch eine weitere, bisher offenbar überse¬ hene Erklärung hinzufügen: Der wirtschaftliche Niedergang wurde von einer bedeutenden Veränderung im Währungssystem einge¬ läutet und begleitet. Die alten Demurragc-Währungen waren aus drei Gründen aus der Mode gekommen, die alle miteinander Zu¬ sammenhängen und im Anschluß ausführlicher beschrieben wer¬ den: 206


1. Das Demurrage-System war mißbraucht worden. 2. Das Währungssystem geriet in zunehmendem Maße unter die Kontrolle einer zentralen Autorität, was zwei Folgen hatte: - Ein Einkommen aus der Demurrage durch eine Münzverru¬ fung ließ sich nicht mehr erzielen, weil größere Gebiete be¬

teiligt waren. - Bei jedem währungspolitischen »Fehler« wie z. ß. einer Münzverschlechtemng (etwa unter Philipp IV. von Frankreich seit 1298) waren größere Gebiete betroffen. 3. Die königliche Münzautorität war militärisch durchgesetzt worden und wurde später durch die »Schießpulver-Revolution« zur ständigen Einrichtung. Zusammen mit den obengenannten Faktoren kam es dadurch zu einem wirtschaftlichen Niedergang, der wiederum Voraussetzung dafür war, daß sich die Pest zu einer solchen Katastrophe ent¬ wickelte. Ein Drittel bis die Hälfte der europäischen Bevölkerung fiel ihr zum Opfer. DER MISSBRAUCH DES DEMURRAGE-SYSTEMS

Es war zu erwarten, daß das Einkommen aus der »Renovatio Mo¬ netae« bei einigen Herren Gier wecken würde. Eines der frühesten Beispiele für derartige Exzesse findet sich in England, als Harold I. nur drei Jahre nach der letzten Münzerneuerung unter Knut neue Münzen prägen ließ. Hardeknut wartete 1040 sogar nur zwei Jah¬ re.284 Adel und Bevölkerung reagierten jedoch entsprechend un¬ gehalten, so daß spätere Könige größere Abstände wählen mußten. Die »Renovatio Monetae« hielt sich in Mittel- und Osteuropa am längsten. Doch selbst dort mißbrauchte man das Brakteaten-System. Schon bald wurden Extreme erreicht: Erzbischof Wichmann von Magdeburg verriet die Münzen in seinem Herrschaftsbereich zweimal im Jahr. Herzog Johann II. von Sachsen ließ während sei¬ ner Regierungszeit von 1350 bis 1368 die Münzen 86mal neu prä¬ gen. Ein Herrscher in Polen wechselte sie sogar bis zu viermal im Jahr aus! 207


Ein König besucht seine zentrale

Münze. Diese Miniatur diente als Il¬ lustration für die erste theoretische Abhandlung zum Thema Geld mit dem Titel Abhandlung über die erste Erfindung des Geldes, die von Nikolaus von Oresme (ca. 1 320-1 382) verfaßt wurde. Für diese frühe Zeit ist das Werk erstaunlich niveauvoll. Ein Bei¬ spiel: »Geld ... ist ein Instrument, das künstlich für den leichteren Aus¬ tausch natürlicher Reichtümer erfun¬ den wurde. Und ohne weiteren Be¬

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weis ist offensichtlich, daß Münzen für die Bürger sehr nützlich und für die Staatsgeschäfte praktisch, ja sogar not¬ wendig sind.« (»Traite de la premiere invention des monnaies«, Oresme, Pa¬ ris, Bibliotheque Nationale [ms fr 23927].)

ZENTRALE MACHT

Ende des 1 3.Jahrhunderts war das französische Königreich so groß geworden, daß man die Münzen nicht mehr verrufen konnte. Hier finden wir vermutlich die Verbindung zwischen einer wachsenden yanggeprägten Zentral macht und dem Ende der damaligen YinWährungen. Je mächtiger der König und je größer das Königreich, desto weniger läßt sich ein Demurrage-System beibehalten. Paral¬ lel dazu wächst die politische Notwendigkeit, auch die Frauen zu unterdrücken. Denn wie gesagt, je stärker der patriarchalische Im¬ puls ist, desto notwendiger kann es scheinen, jedem Mann das Ge¬ fühl zu geben, er sei zumindest »König in seinen eigenen vier Wänden«. Man sollte nicht vergessen, daß das Münzregal schon lange vor¬ her existierte, doch in früheren Zeiten bestand das Monopol noch nicht, das später üblich wurde. Im Hoch m ittelalter sah oder ver¬ wendete ein Bauer nur selten eine »Fernwährung« wie sarazeni¬ sche oder italienische Goldmünzen oder die königlichen Münzen, mit denen Luxusgüter auf den großen Messen gehandelt wurden. Wenn es Demurrage-Währungen gab, wurden sie für den lokalen 208


Tauschhandel verwendet, denn die Münzen mit Gold- oder ho¬ hem Silbergehalt hortete285 man natürlich lieber oder benutzte sie im Fernhandel. Wie schon gesagt wurde, enthalten aus ebendie¬ sem Grund alle mittelalterlichen Münzschätze ausschließlich oder überwiegend die hochwertigeren Gold- und Silbermünzen, die mit keiner Demurrage-Gebühr belastet waren.286 Den Todesstoß erhielt die Zeit der »guten« Währungen allerdings in Frankreich, als König Philipp IV. sich für die Münzverschlcchterung anstelle der Demurrage entschied, um seiner Finanznöte Herr zu werden. Bei der Münzverschlechterung erzielt man ebenfalls Gewinn, allerdings unterscheidet sie sich deutlich von der De¬ murrage. Die Methode war sicherlich nicht neu, auch in Sumer, China und dem Römischen Reich hatte man bereits darauf zurück¬ gegriffen. Da die Münzverschlechterung als Steuer nicht so offen¬ sichtlich ist wie die Demurrage, formte sich der Widerstand dage¬ gen langsamer. Allerdings zieht die Münzverschlechterung eine Inflation nach sich; d. h., die Währung selbst verliert an Wert, was bei den Liegegebühren nicht der Fall war. Philipp IV. wählte den einfacheren Weg der Münzverschlechte¬ rung und betrieb sie in großem Ausmaß (s. Kasten).287 Das war der währungstechnische Teil der Erklärung für das Ende der »ersten europäischen Renaissance«. KRIEG UND DIE ERFINDUNG DES SC H I ESS P U LV E RS

Aber warum litt Philipp IV. überhaupt unter Geldmangel? Die kur¬ ze Antwort lautet Krieg; zuerst ein Krieg gegen England ( 1 295) und dann gegen Flandern (1311). Danach herrschte überall in Europa Krieg. Im 14. Jahrhundert gab es Bürgerkriege in Frankreich, Kasti¬ lien, Neapel und Brandenburg; Städtekriege zu Land und zu Was¬ ser in Norditalien; »soziale« Revolten der Bauern in England und Frankreich und der Handwerker in den Städten Flanderns und Oberitaliens. Obwohl jedem Konflikt eine eigene Dynamik zugrunde liegt, kann man als umfassenden Grund die Errichtung von immer größeren zentralen Herrschaftsbereichen ausmachen, ein Prozeß, 209


Münzverschlechterung und Demurrage Die Münzverschlechterung ist ein Vorgang, bei dem der Edelmetallge¬ halt einer Münze erheblich gesenkt wird. Dadurch kann der Münzherr aus jeder Mark oder jedem Pfund des Edelmetalls mehr Münzen ma¬ chen. Er kann daher einen höheren Preis pro Mark oder Pfund wert¬ vollen Edelmetalls zahlen, das zur Münze gebracht wird, auch für die alten Münzen, die bereits in Umlauf sind. Daher erscheint es den Un¬ tertanen, die Edelmetalle oder alte Münzen besitzen, oft gewinnbrin¬ gend, alles zur Münze zu bringen, um es in neue Münzen umzutau¬ schen. Natürlich war diese Illusion nicht von Dauer, und schon bald setzte die Inflation ein. Plötzliche Münzverschlechterungen haben ka¬ tastrophale Auswirkungen auf diejenigen, die von einem festen Ein¬ kommen leben, wie z. B. Landbesitzer mit langfristigen Pachtverträ¬ gen. Der Hauptvorteil für den Herrscher liegt darin, daß man eine Münzverschlechterung zunächst nicht erkennt. Die anschließende In¬ flation ist eine Steuer, allerdings eine »listige« Steuer, die keine zu sein scheint. Im Gegensatz dazu verändert eine richtig verwaltete Demurrage nicht den Wert der Währungseinheit. Die Demurrage hat jedoch den gewichtigen Nachteil, daß sie leichter als Steuer zu erkennen ist. In unserem Beispiel von Philipp IV. von Frankreich können wir den Vorgang exakt rekonstruieren. Aufzeichnungen für das jahr 1296 (mit Allerheiligen als letztem Tag) zeigen, daß Philipp IV. von seinen Mün¬ zen 1 01 000 Livres Parisis erhalten hatte. Zum Vergleich: Sein Gesamt¬ einkommen betrug 550974 Livres. Zwischen 1 298 und 1 299 erbrach¬ ten die Münzen 1 200000 Livres Tournois, wobei weniger als 800000 Livres Tournois aus anderen Quellen kamen. Die Gewinne der Münze waren durch die Münzverschlechterung in die Höhe geschnellt und machten den Großteil von Philipps Einkommen aus.

der automatisch weitere größere Konflikte zwischen den Reichen auslöste. Unglücklicherweise war die kriegerische Energie, nach¬ dem sie einmal entfesselt war, lange Zeit nicht mehr aufzuhalten. Im Laufe des 15.Jahrhunderts veränderte eine neue Kriegstech¬ nik - der Einsatz des Schießpulvers288 - die geographische und politische Landkarte des ausgehenden Mittelalters. Eine spekta¬ kuläre Demonstration seiner Durchschlagskraft gelang 1494, als 210


Karl VIII. von Frankreich bei der Belagerung eines italienischen Stadtstaats neue Belagerungskanonen verwendete und die Stadt in acht Stunden in Schutt und Asche legte. Einige Jahre zuvor - vor Einführung der neuen Technik - war »dieselbe Festung berühmt geworden, weil sie einer Belagerung von sieben Jahren standge¬ halten hatte«.289 Bis dahin waren mittelalterliche Verteidigungs¬ anlagen überlegen gewesen: Mit einer dicken Stadtmauer und ei¬ ner guten Rüstung für den Körper konnte man auch zahlenmäßig überlegene Angreifer lange erfolgreich abwehren. Mit Schießpul¬ ver waren dagegen die Angreifer im Vorteil, und von da an gewann die Seite den Krieg, die mehr Soldaten mit Kanonen aufstellen konnte. Das Schießpulver war in China schon seit Jahrhunderten be¬ kannt, doch die Chinesen verwendeten es vornehmlich für Feuer¬ werkskörper. Erst im Europa des 14.Jahrhunderts wurde es zu Kriegszwecken eingesetzt. Kanonen und Gewehre wurden schon bald zu den eigentlichen Steuereintreibern, und die Machtkonzentration wuchs, je größer die beteiligten Streitkräfte wurden. Vom 14.Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg waren bei jedem größeren Krieg immer mehr In u

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S Der Holzschnitt zeigt eine der Bela¬ gerungen, bei denen erstmals Ka¬ nonen verwendet wurden, um die Stadtmauern zu durchbrechen. Die Öffnung in der Wand ist deutlich zu sehen und entstand durch die Ka¬ nonen im Vordergrund.

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Streitkräfte beteiligt. Infolgedessen wurden kleinere Herrschafts¬ gebiete und andere kleine, unabhängige Staaten noch bis ins 20. Jahrhundert von immer größeren Reichen geschluckt. Mit den kleinen Herrschaftsbereichen verschwand auch die Zeit der klein¬ räumigen Währungssysteme, die aufgrund der damaligen techni¬ schen Beschränkungen Voraussetzung für die Demurrage waren.

Wie es zur Geldknappheit kam Das Verschwinden der Demurrage-Währungen führte auf zwei

Wegen zur Geldknappheit: 1. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verringerte sich (s.den Kasten »Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ...«). 2. Der Reichtum konzentrierte sich in den Städten und in den Händen der huhrungsschicht (s.den Kasten »Der Geldverknap¬ pungsprozeß ...«). Die Konzentration von Reichtum an der Spitze der Gesellschaft König und Adel - führte mit der Zeit zu einem aufwendigen Le¬ bensstil. Die wirtschaftlichen Grundlagen für die Renaissance im

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Edelmetallbergbau in Ungarn zur Zeit der Renaissance. Doch auch die neu¬ en großen Minen in Böhmen und Ungarn konnten die Nachfrage nach Edelmetallen nicht befriedigen. Der Druck, neue Vorkommen zu ent¬ decken, auch in der »Neuen Welt«, wurde unwiderstehlich.

212


Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und die »Entdeckung der Neuen Welt« Einer der wichtigsten Gründe, die bei der Erklärung der berüchtigten »Geldknappheit« des Spätmittelalters möglicherweise bisher übersehen wurden, ist ein auffallender Rückgang bei der »Umlaufgeschwindigkeit des Geldes«,290 zu dem es selbst bei einem allmählichen Übergang von der Demurrage zu einer normalen Währung gekommen wäre. Aus den bekannten Gründen zirkuliert Demurrage-Geld schneller als normale Münzen, die oft gehortet wurden.291 Daher trug zu dem Phänomen der »Geldverknappung«, das allen Mediävisten bekannt ist, der Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit genauso bei wie der bloße Zugang zu Sil¬ ber und Gold. Doch erst mit Gesell (1 891) und Fisher (30er jahre) ver¬ stand man die Bedeutung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Die »Metallknappheit« im Spätmittelalter wurde für die nächsten Jahrhunderte in Europa eine Art Dauerzustand. Die enorme Zunahme des Goldabbaus in Ungarn und Transsylvanien seit 1 320 konnte die eu¬ ropäische Gier nach Gold nicht stillen.292 Diese war sogar Motivation für die »Entdeckung der Neuen Welt« und ihrer anschließenden Ausbeutung. Christoph Kolumbus' Log¬ bucheintrag vom 1 3. 1 0. 1 492 ist in dieser Hinsicht sehr deutlich: »Y yo estavo atento y trabajava de saber si avfa oro«293 (= »Und ich unter¬ nahm große Mühen und Anstrengungen, um herauszufinden, ob es dort Gold gab«).

1 5. und 16.Jahrhundert finden sich hier. Für das Volk dagegen be¬ deutete das Verschwinden der Demurrage-Währungen eine plötz¬ lich eintretende, ständige und zunehmende Verknappung des

Tauschmittels. Für sie war das »Goldene Zeitalter« vorbei. Der Geldverknappungsprozeß, der Ende des Mittelalters begann, setzt sich heute noch fort. Auf regionaler Ebene entwickelte sich daraus die Kluft zwischen Ghettos und den reichen Vororten, global be¬ trachtet zwischen den Entwicklungs- und den Industrieländern. Grundsätzlich handelt es sich jedoch um den Vorgang, den Peter Spufford für das Ende des Mittelalters als Gegensatz zwischen Stadt und Land beschreibt (s. Kasten). Die Mittel haben sich weiterent¬ wickelt, doch der Mechanismus bleibt unverändert. 213


Der Geldverknappungsprozeß: Stadt gegen Land (14. bis 16. Jahrhundert) »Sparen bedeutete nicht unbedingt das Horten von Münzen, gele¬ gentlich aber doch ... Manchmal wurde das System [der saisonalen Geldströme auf das Land] teilweise durch die Grundherren abgekürzt, und deutlich weniger Geld floß auf das Land. Das geschah beispiels¬ weise, wenn bestimmte Grundherren eine Lieferung örtlicher Erzeug¬ nisse, Getreide, Wolle oder Vieh zusammenstellten und sie selbst zu ei¬ ner entfernt gelegenen größeren Stadt brachten, wo sie damit einen höheren Preis erzielten als auf der Messe oder dem Markt vor Ort. Der Verkäufer oder seine Bediensteten gaben dann einen Großteil des Gel¬ des direkt in der Stadt aus. Sie kehrten mit Luxusgütern für den Grund¬ herrn zurück, doch nach Abzug der Mieten und Transportgebühren mit relativ wenigen Münzen. Diese Praxis findet sich seit dem 1 3. Jahr¬ hundert in verschiedenen Teilen Europas ... Schon wenige Wochen nachdem die Börsen mit gutem Silber gefüllt worden waren, befand sich außer bei den ganz Reichen kein Geld mehr darin. Das blieb so für den Rest des Jahres. Ein Teil des Geldes war bereits in den Taschen städtischer Gelegenheitsarbeiter in die Stadt zurückgeflossen, die zur Ernte aufs Land gekommen waren, oder in den Börsen der städtischen Geldverleiher und der Händler, die städti¬ sche Produkte auf den Messen verkauften, und in den Truhen der Steuereintreiber gelandet. Ein Teil der Münzen ging an den Klerus, ei¬ nige blieben bei den reichen Bauern, doch die meisten waren an den Adel oder dessen Verwalter gezahlt worden. Auch dieses Geld floß wie¬ der in die Stadt, denn viele Adlige hatten dort einige Monate oder schon das ganze Jahr ihren Wohnsitz und ließen die Abgaben von den Verwaltern eintreiben. Einige der Hotels, alberghi und Herbergen aus dem 1 3. Jahrhundert oder späterer Zeit stehen noch heute in den Städ¬ ten (beispielsweise der Palast der Bischöfe von Winchester in England oder das hotel der Äbte von Cluny in Paris). In den Hauptstädten gaben die Grundherren das Geld, das sie vom Land erhielten, für städtische Produkte und Dienstleistungen aus. Dort kauften sie die Luxusgüter, die nicht nur für die Stadthäuser, sondern auch für die Verwendung auf dem Land bestimmt waren. Kleinere Grundherren verwendeten ihr Geld für weniger aufwendige Luxusgü¬ ter in den Bezirksstädten ... Allmählich blieben dem Land nur noch ge¬ ringe Kleingeldmengen von einer >Ernte< zur nächsten ... Einige Histo-

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riker sind der Ansicht, daß dieses jahreszeitliche Muster der Ebbe und Flut zwischen Stadt und Land, das im langen 1 3. Jahrhundert entstand, die gesamte vorindustrielle Epoche durchzog.«294 Im 1 7. Jahrhundert war die Konzentration des Reichtums in den grö߬ ten Städten in der westlichen Welt bereits allgemein verbreitet. Ein komplizierteres System der Geldkonzentration besteht mit denselben Auswirkungen noch immer. Aus den »Städten« wurden die Finanzme¬ tropolen der »Industrieländer« und aus dem »Land« die übrige, dar¬ unter auch die »Dritte Welt«.

Schlußfolgerung aus einem unbewußten Finanzexperiment Das Kapitel der Demurrage-Währungen im Hochmittelalter kam und ging, ohne daß damals jemand verstand, daß diese Währun¬ gen Investitionsschemata schufen, die Voraussetzung für das »Gol¬ dene Zeitalter« waren. Das Experiment sollte sich nicht wiederho¬ len, zumindest nicht in einer zunehmend männlich dominierten modernen Welt. Betrachtet man die Währungssituation aus ar¬ chetypischer Sicht, dann wurden die unspektakulären lokalen YinWährungen, die mit einer Demurrage-Gebühr versehen waren, einfach aufgegeben. Man hatte ein Monopol der knappen YangWährungen dauerhaft errichtet. Doch auch wenn dieses Experiment nicht noch einmal zustande kommen sollte, so besaß es doch einen faszinierenden Vorläufer in der fernen Vergangenheit. In Ägypten währte das Experiment län¬ ger - vermutlich über 1500 Jahre und soweit wir feststellen kön¬ nen, sind die Ergebnisse genauso beeindruckend.

215


Kapitel 6

Ein Fallbeispiel aus dem alten Ägypten

»Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben, Bleib' im Dunkeln unerfahren,

Mag von Tag zu Tage leben.« Johann Wolfgang von Goethe295

Die ägyptische Wirtschaft Tn Ägypten wurden wie im europäischen Hochmittelalter zwei Währungen parallel verwendet. Die Yang-Währungen benutzte man für den Fernhandel, etwa für Geschäfte mit Mesopotamien und Nubien oder später mit Griechenland. Jonathan Williams, Ku¬ rator für die Abteilung Münzen und Medaillen im British Museum, London, erklärt: »Der Fernhandel spielte bei der Verwendung von Edelmetallen als Geld vermutlich rund um das Mittelmeer eine be¬ deutende Rolle.«296 Zu den handfesten Beweisen für diesen Fern¬ handel zählen die vielen griechischen Münzen, die in Ägypten, dem Nahen Osten oder um das Schwarze Meer gefunden wurden. Auch »internationale« Geschenke und Tributgaben wurden in Form von Goldringen, Silberbarren, Weihrauch und anderen wert¬ vollen Gütern, darunter Silber- und Goldmünzen, ausgetauscht oder bezahlt. Allerdings fungierte genau wie im Mittelalter eine andere, weni¬ ger glanzvolle Yin-Währung, die mit einer Demurrage-Gebiihr ver¬ sehen war, als allgemeines Tauschmittel unter dem ägyptischen Volk. Das Demurrage-System der Pharaonen war höher entwickelt als das mittelalterliche. In Ägypten war die Liegegebühr unter Ver¬ wendung der »Getreide-Standard-Währung« (»Korngiro«-System), 216


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Oben: Das ägyptische Wandgemälde &UB zeigt, wie Goldringe abgewogen werden. Die Ringe sind ein Beispiel «in ü für eine ägyptische Yang-Währung, die aufbewahrt und im Fernhandel ra verwendet wurde. Das Gegenge¬ & wicht für die Ringe hat die Form ei¬ & nes Kuhkopfes, eine Verbindung zur Rolle der Kuh und der Göttin Hathor y als Symbol für Fruchtbarkeit und Wohlstand. (Theben, ca. 14. Jahrhun¬ dert v. Chr.) Rechts: Eine Verwendungsform für nS Yang-Währungen, die in der Antike überall sehr bekannt war, auch in Ägypten, waren die Tributzahlungen, fl die eroberte Völker den Siegern in ™ Gold- oder Silbermünzen leisten mußten. Diese Szene von einer klassischen griechischen Vase zeigt den großen persischen König Darius, wie er auf einem Thron sitzt und dem Bericht seines obersten Schatzmeisters zuhört. In der un¬ teren Reihe ist dargestellt, wie Säcke voll Silbermünzen gezählt werden, während ein »Buchhalter« die Anzahl der herbeigebrachten Säcke notiert. (Ausschnitt aus der sog. »Darius-Vase«, 4. Jahrhundert v. Chr.)

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der dort am weitesten verbreiteten Währung, automatisch in allen finanziellen Transaktionen enthalten. Die ägyptischen »Liegege¬ bühren« wurden genau auf den Monat, ja sogar den Tag abge217


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Ostrakon-Weizenquittung, die gebräuchlichste Währung in Ägypten (Hanno¬ ver, Kestner-Museum). Die abgebildete Quittung umfaßt im Prinzip »Klein¬ geld«. Die Übersetzung lautet: »Zweites Regierungsjahr von Ramses II., zwei¬ ter Tag des dritten Monats von Shamu (Sommer). An diesem Tag wurden drei hin [Maßangabe über etwa 1 ,5 Liter] Getreide vom unterzeichnenden Offizier des Westens in Empfang genommen.« Infolge der Lagerhaltungskosten ver¬ minderte sich der Wert solcher Quittungen im Laufe der Zeit. Diese Kosten ver¬ körperten eine bescheidene Demurrage-Gebühr. Dadurch wurde die Währung zu einer Yin-Währung, denn aufgrund der Gebühr wurde sie hauptsächlich als Zahlungsmittel und nicht zur Wertaufbewahrung verwendet.

stimmt. Außerdem bestand eine Bindung der Gebühr an die »Rea¬ lität« des verderblichen Getreides und die Lagerhaltungskosten. Die mittelalterliche »Renovatio Monetae« hingegen fand im Durchschnitt alle fünf oder sechs Jahre statt und kam dann wieder zum Erliegen. Wie wir anhand des späteren Mißbrauchs gesehen haben, brachten die willkürliche Wahl der Abstände und das Aus¬ maß der Besteuerung schließlich den gesamten Vorgang in Verruf. 218


Für den wirtschaftlichen Einfluß des Währungssystems konnte ich im Falle von Ägypten noch nicht so viele Quellen ausfindig machen wie für das Mittelalter. Beispielsweise kann ich nicht be¬ legen, daß Joseph dieses System erfand, obwohl er nach wie vor der aussichtsreichste Kandidat zu sein scheint. Josephs Geschich¬ te wird normalerweise auf die Zeit zwischen 1900 und 1600 v. Chr. datiert. Preisigke zufolge war es auf jeden Fall »eine sehr alte Er¬ zählung« aus der Zeit, als die Griechen Ägypten kolonialisierten (ca. 4.Jahrhundert v.Chr.). Die nachstehenden Fakten über das ägyptische Wirtschaftssystem sind jedoch ausreichend belegt: •Die Ägypter waren mit ihrem Währungssystem sehr zufrieden. Wenn die Griechen sie wegen ihrer »profanen« Ostraka ver¬ spotteten, antworteten sie, daß sie die griechische Begeisterung für Gold- und Silbermünzen als äußerst merkwürdige Fixierung betrachteten. In ihren Augen waren Edelmetallmünzen »Aus¬ druck für lokale Eitelkeit, Patriotismus oder Werbung ohne weit¬ reichende Bedeutung«.297 Die Ägypter bezahlten für griechische

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Landwirtschaftliche Arbeit auf dem Anwesen von Nakht und seiner Frau, die in der oberen Reihe zu sehen sind, wie sie ein Dankopfer für den Wohlstand darbringen. In der unteren Reihe sieht man Pflügearbeiten und das Ausbrin¬ gen der Saat. Dahinter die Ernte und das Worfeln des Getreides. (Datiert auf die 18. Dynastie; Metropolitan Museum of Art, New York.)

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Silberstater aus Nordgriechenland, ca. 500 v. Chr., der in einem Schatz griechischer Münzen im NilI delta gefunden wurde. Der Stater wurde aufge|| schnitten, um die Reinheit und Qualität des Metalls H zu überprüfen. Auf der Münze ist ein Löwe dargef stellt, der einen Stier angreift. Doch die Ägypter wa¬ ren offensichtlich mehr an ihrem Edelmetallgehalt als an ihrer Schönheit interessiert.

Münzen nur den Wert ihres Edclmetallgehalts und betrachteten sie wie einfaches Rohmaterial. Das zeigt sich an den zahlreichen Funden von griechischen Münzen in Ägypten, die aufgeschnit¬ ten worden waren, um ihren Edelmetallgehalt zu überprüfen. •Das alte Ägypten galt viele Jahrhunderte lang weithin als die »Kornkammer der Antike«. •Produktionsmittel wie z. B. Bewässerungssysteme wiesen einen hohen Qualitätsstandard auf, derentwegen die übrige damalige Welt Ägypten beneidete. •Wenn die Ägypter ein für sie wichtiges Gebäude errichteten, schien es für die »Ewigkeit« gebaut zu werden. Ihre Tempel zeu¬ gen heute noch davon. Diese Punkte deuten darauf hin, daß die Demurrage-Währung ei¬ nen vergleichbaren Effekt hatte wie im Mittelalter. Aber es gibt noch weitere belegbare Vorteile: •Die Erträge im Getreideanbau waren die höchsten der Antike; Schätzungen kommen im Durchschnitt sogar bis auf das Zehn¬ fache der übrigen Anbaugebiete! Allerdings sollte man beim Ver¬ gleich mit anderen Landschaften berücksichtigen, daß die schwarze Erde Ägyptens enorm fruchtbar war. Ich konnte nicht unterscheiden, welcher Anteil dem »Geschenk des Nils« zu¬ kommt und welcher dem Fleiß der Menschen. Vermutlich spiel¬ te beides eine Rolle. •Ein beispielloser Beleg dafür, daß sich bei der Lebensmittelpro¬ duktion im alten Ägypten etwas Besonderes abspielte, ist das er¬ ste dokumentierte »Auslandshilfeprogramm«. Es gibt schriftli220


che Aufzeichnungen darüber, daß Ägypten den Athenern Ge¬ treide schenkte, als die Stadt im Jahr 445 v.Chr. von einer Hun¬ gersnot bedroht war.298 •Ein letztes Anzeichen dafür, daß das Währungssystem mit die¬ sem Reichtum zu tun hatte, liegt darin, daß alles ein Ende fand, als die Römer die ägyptische »Getreide-Standard-Währung« durch ihr eigenes monetäres System ersetzten. Soweit die Fakten. Doch interessiert uns mit unserer detektivischen Neugier noch mehr, ob einer der aufgezähltcn Belege in Zusam¬ menhang mit einer Verehrung des weiblichen Archetyps steht. Wir werden uns in drei Schritten mit genau dieser Frage befassen: 1. Welche Bedeutung hat der weibliche Archetyp in der ägypti¬ schen Mythologie, und wie unterscheidet sie sich von anderen damaligen Kulturen?

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ln der oberen Reihe sind Traubenernte und Weinherstellung zu sehen, in der unteren Vogelfallen und Vorbereitungen für die Vogeljagd. In beiden Reihen werden Vorratsamphoren dargestellt, offensichtlich ein wichtiges Detail. (Da¬ tiert auf die 1 8. Dynastie; Metropolitan Museum of Art, New York.)

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2. Wirkte sich dies auf das Leben der Frauen in der ägyptischen Gesellschaft aus? (Wieder sollen zum Vergleich andere Kultu¬ ren dieser Zeit herangezogen werden.) 3. Wie und warum endete dieser Zustand, und welche wirtschaft¬ lichen und sozialen Auswirkungen hatte die Unterdrückung des weiblichen Archetyps?

Der Isis-Kult Im allgemeinen betrachtet man die ägyptische Kultur als ein pa¬ triarchalisches System unter vielen mit einem allmächtigen Pha¬ rao an der Spitze. Allerdings ist die gesamte esoterische Überliefe¬ rung überwiegend und ausschließlich matrifokal. Die mächtigste Göttin Ägyptens war Isis, sie wurde seit prädynastischen Zeiten (vor 3000 v. Chr.) bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. ununterbrochen über 3000 Jahre lang verehrt. Wenn man die Isis-Mythen sorgfäl¬ tig auf ihren symbolischen Inhalt überprüft, findet man zahlrei¬ che Hinweise auf den archetypischen Rahmen (s. Kasten). Im Ge¬ gensatz zu der griechischen oder anderen indogermanischen My¬ thologien wird das weibliche Prinzip in Ägypten nicht nur verehrt, sondern systematisch mit Macht ausgestattet. Osiris degeneriert

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Die Göttin Nut, die Mutter der Isis, umgeben von Sternen. Hier schenkt sie der Sonne das Leben, deren Strahlen wieder¬ um auf einen Kopf von Hathor fallen, der fruchtbaren Seite von Isis. Auf jeder Kopfseite wachsen Pflanzen. (Zeichnung von Moreno Tomasetig.)


Sethos I. aus der 1 9. Dynastie saugt an der Brust von Isis. Die Milch der Göttin ist Quelle für die Weisheit und Herrschaftsbefähigung des Pha¬ raos. (Aus dem Tempel Sethos' I., Abydos, ca. 1 300 v. Chr.; Zeichnung von Moreno Tomasetig.)

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schon fast zum Handlanger, der hilflos darauf wartet, daß Isis ihm immer wieder aus Liebe hilft. Auch das Verhältnis zwischen Isis und der vorübergehenden Macht des Pharaos ist sehr aussagekräf¬ tig. Es gibt zahlreiche Darstellungen, auf denen ein Pharao an der Brust von Isis als Quelle der Weisheit und Legitimation zur Macht saugt. Bemerkenswert ist auch, wie dauerhaft sich dieses Bild hielt, denn über eine Kluft von 1000 Jahren hinweg übernahm die Hei¬ ligenlegende über Bernhard von Clairvaux das unorthodoxe, aber zutreffende Bild, seine Weisheit stamme von der »Milch der Göt¬ tin« (s.den Kasten auf S. 160). Die archetypische Konstellation, die diese Erkenntnisse für Ägyp¬ ten ergeben, unterscheidet sich deutlich von der übrigen westli¬ chen Tradition. Außerdem ist bekannt, daß die Ägypter ein für die antike Welt einzigartiges Währungssystem besaßen. Wie hätten ty¬ pisch autokratische Herrscher - von Hammurabi in Babylon bis zu Ludwig XIV. in Frankreich - auf Josephs einfache Idee für ein Währungssystem reagiert, in dem selbst die Ernte des kleinsten Bauern auf dessen Wunsch zu Geld werden konnte? 223


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dem gehörnten Symbol Hathors, der Form, in der sie als Fruchtbarkeitsgöttin verehrt wird. Hier trägt sie den beson¬ deren »Menit«-Halsschmuck, eines von Hathors Attributen. Außerdem bäumt sich an ihrer Vorderseite die königliche Uräusschlange auf. (Aus dem Grab der Königin Nefertari, Theben.) ,sis m't

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Isis, die Erlöserin Isis war die Tochter Nuts, des allumspannenden Nachthimmels, »der alle HH Götter gebar«, und des kleinen Erdgottes Geb, der unter Nut lag. Der ägyptische Name für Isis lautete »Au Set« (= »Äußerste Königin«), aus dem die kolonisierenden Griechen dann das bekannte »Isis« machten. Jedes Lebewesen ist ein Tropfen ihres Blutes.299 Von Anfang an hatte Isis ein besonderes Auge auf die Menschen, lehrte die Frauen, Getrei¬ de zu mahlen, Flachs zu spinnen und Stoffe zu weben, und »zähmte«

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die Männer. Isis' Bruder war gleichzeitig ihr Gemahl: Osiris, der Gott des Nilwas¬ sers und der Vegetation, die nach den alljährlichen Nilüberschwem¬ mungen emporsprießt. Es heißt, Isis und Osiris hätten sich bereits im dunklen Leib ihrer Mutter geliebt. Aber Set, ihr böser und eifersüchti¬ ger Bruder, tötete Osiris und teilte ihn später in 1 3 Teile. Dann beginnt die lange Geschichte, in der Isis versucht, den Körper ihres Bruders und Geliebten wiederzufinden. Sie segelt mit ihrem Schiff den Fluß hinun¬ ter; und schließlich gelingt es ihr, alle Körperteile nach und nach zu fin¬ den. Jede Stelle wird mit einem Tempel und einer heiligen Stadt mar¬ kiert. Sie findet alle Körperteile außer einem, den Penis, den sie schlie߬ lich durch einen goldenen ersetzt. Dann erfindet sie die Kunst des Einbalsamierens und spricht magische Worte zum toten Körper des Osiris. Ihr Bruder erhebt sich so lebendig wie das Getreide nach der Spring¬ flut in Ägypten, und dank des goldenen Phallus empfängt Isis ein Kind, den Sonnengott Horus. Das weibliche Prinzip umfaßt auch den Sonnengott: »Der Taghimmel ist im matriarchalen Bezirk der Geburts- und Todeshimmel der Sonne,

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nicht wie später ihr Herrschaftsgebiet.«300 Isis war als die »Göttin der zehntausend Namen« bekannt, die die Griechen »Isis Panthea« (= »Isis, die All-Göttin«) nannten. »Ich bin die Mutter allen Lebens, Herrin der Elemente, Ursprung der Zeit, die erste unter den Göttern und Göttin¬ nen ... Ich herrsche über alles.«301 Sie war der Mond und die Mutter der Sonne, die trauernde Gattin und liebende Schwester, Kulturspen¬ derin und Heilerin. Sie war die Himmelskönigin und der leitende Stern des Meeres, Dame der Freude und des Wohlstandes, die Grüne Göt¬ tin, Königsmacherin, Macherin des Sonnenaufgangs, Dame der Liebe. Sie war Hathor, die großzügig so viel Nahrung spendete, wie es Ster¬ ne am Himmel gab. Sie war Sothis, die das neue Jahr eröffnete, sie war Meri, eine Meeresgöttin, und Sochit, das Kornfeld. Isis war der Sitz der Weisheit, wie man an ihrer Hieroglyphe in Form eines hochlehnigen Thrones erkennen konnte, der oft ihr einziges Er¬ kennungsmerkmal war.302 Der Schoß der Göttin Isis wurde der Kö¬ nigsthron Ägyptens, und der Pharao, der an ihrer Brust saugte, sym¬ bolisierte den Weg zur nährenden göttlichen Weisheit, die sein Recht zu herrschen garantierte. »Der Thron macht den König«, wie es in vie¬ len Texten bis zurück in die 1 . Dynastie heißt.303 Die Schulen der Isis in Abydos und Heliopolis hatten in der gesamten antiken Welt einen guten Ruf. So waren etwa Solon, der berühmte athenische Gesetzgeber, und die griechischen Philosophen Platon und Pythagoras Initiierte aus Heliopolis.

Die Tatsache, daß in der Mythologie das Weibliche geehrt wird, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, daß gewöhnliche sterbliche Frauen ähnlich behandelt wurden. Dieser Frage werden wir nun

nachgehen.

Die ägyptische Frau Altertumsforscher haben herausgefunden, daß Frauen in der ägyp¬ tischen Gesellschaft bemerkenswerte Privilegien besaßen, und in einigen wichtigen Bereichen waren sie den Männern gleichge¬ stellt. Der Historiker Wilhelm Max Müller war der Ansicht: »Kein antikes oder modernes Volk räumte Frauen einen so hohen ge225


setzlichen Status ein wie die Bewohner des Nildeltas.«304 Obwohl Ägypten in offizieller und administrativer Hinsicht305 immer noch in erster Linie als »Männergesellschaft« betrachtet werden sollte, ist der Gegensatz zur Stellung der Frauen in anderen fortschrittli¬ chen Kulturen der damaligen Zeit dennoch auffallend (s. Kasten). Eine Parallele zwischen Ägypten und dem europäischen Hoch¬ mittelalter finden wir über die Liebeslieder. Die Ägypter sind die ersten, von denen wir wissen, daß sie Liebeslyrik verfaßten.310 Im vorherigen Kapitel sahen wir bereits die Bedeutung und unge¬ wöhnliche Aufmachung der Literatur der amour courtois im Mit¬ telalter. Zur großen Verwunderung der griechischen Zeitgenossen ergriffen ägyptische Frauen oft die Initiative bei der Partnerwer¬ bung. ln den meisten Liebesgedichten und -briefen wendet sich die Frau an den Mann oder verspricht ihm die Heirat.311

Eheverträge »Die Ehe war im alten Ägypten eine völlig private Angelegenheit, die den Staat nicht interessierte und die nicht offiziell registriert wurde. Es gibt keinen Hinweis auf eine gesetzliche oder religiöse Zeremonie bei der Heirat, obwohl vermutlich gefeiert wurde.« Al¬ lerdings waren die sog. »Eheverträge« weit verbreitet, und mit der Zeit wurden dort immer detaillierter finanzielle Regelungen fest¬ gehalten, die man in früheren Zeiten nach Sitte und Brauch gere¬ gelt hatte. Zu den Verträgen würde eigentlich die Bezeichnung »Renten Verträge« besser passen, weil es darin ausschließlich um wirtschaftliche und finanzielle Angelegenheiten ging. »Als solche waren sie für die Ehefrau besonders vorteilhaft ... Der Großteil der Rentenverträge wurde direkt zwischen dem Ehemann und der Frau abgeschlossen, nicht mit ihrem Vater.« Bereits in der Zeit vom Alten bis zum Neuen Reich waren Frauen im Rechtssystem voll berücksichtigt, sie waren nicht auf einen Mann angewiesen, um ihre rechtlichen Angelegenheiten zu regeln (s. Kasten). Jede Seite konnte sich wegen zahlreicher Gründe scheiden lassen, doch auf¬ grund der finanziellen Regelungen des Rentenvertrages war das ein schwerwiegender Schritt für den Ehemann. Bei der Scheidung 226


Die Frau in Mesopotamien und im klassischen Griechenland Die beste Grundlage für einen Vergleich bei der Stellung der Frau bie¬ ten zwei Kulturen, mit denen Ägypten ausgiebige wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen pflegte: Mesopotamien und Griechenland. Hier werden nur einige charakteristische Gesetze und Gebräuche zu¬ sammengefaßt. Doch vergleichen Sie diese einmal mit den ägypti¬ schen Gepflogenheiten und Gesetzen im Haupttext. Im Codex Hammurabi (ca. 1 750 v.Chr.) gilt es als normal, wenn ein Mann, der seine Schulden nicht bezahlen kann, zur Tilgung seine Frau oder seine Kinder als Sklaven verkauft. Eine mesopotamische Ehe wur¬ de stets vom Vater ohne die Beteiligung der Mutter oder der Tochter arrangiert.306 Allgemein galt im Nahen Osten der Antike: »Ehebruch kann es nur von seiten der Ehefrau geben, weil sie das Eigentum des Gatten ist, nicht auf seiten des Ehemanns.«307 »Eine Scheidung war vom Ehemann leicht zu erreichen, da er seine Scheidungsabsicht nur öffentlich bekanntzumachen brauchte ... Für eine Frau war es schwierig, eine Scheidung anzustrengen, und nur ei¬ ne völlig unbescholtene konnte versuchen, diesen Schritt zu tun ... [In einem Gesetz heißt es:] >Wenn sie nicht unbescholten ist, aushäusig ist, ihren Haushalt verschlampt und ihren Ehemann vernachlässigt, so soll man diese Frau ins Wasser werfen.<«308 In den Stadtstaaten im alten Griechenland wie z. B. in Athen gestan¬ den die Gesetze einer Frau gar keine unabhängige Existenz zu. Frauen besaßen keine politischen Rechte und waren an keinem Entschei¬ dungsprozeß beteiligt. Die Ehe wurde vom Vater oder einem männli¬ chen Verwandten der Frau arrangiert. Sie konnte weder ein Gut besit¬ zen oder erben noch ein Geschäft tätigen, dessen Wert den eines Schef¬ fels Getreide überstieg.309 Frauen lebten abgeschlossen in einem iso¬ lierten Teil im hinteren Bereich des Hauses, in den kein Mann Vordringen konnte, es sei denn, er war ein enger Verwandter. Von Xenophon (ca. 430-354 v.Chr.) stammt die allgemeine Regel: »Es ist besser für eine Frau, wenn sie im Haus bleibt und sich nicht an der Tür zeigt.« Ein jahrhundert später bestätigte Menander (ca. 341-290 v.Chr.): »Eine an¬ ständige Frau muß zu Hause bleiben, die Straßen sind für niedere Frau¬ en.« Die einzigen, die Zugang zur Öffentlichkeit hatten oder in der Li¬ teratur und den feineren sozialen Künsten ausgebildet wurden, waren die heta'fre, die freilich eine völlig andere Stellung in der damaligen Ge¬ sellschaft genossen als die heutigen »Prostituierten« in der unseren.

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Ägyptische »Eheverträge« In einem erhaltenen Vertrag313 wendet sich der Mann direkt an die Frau. Er listet den Wert des Besitzes auf, den sie in die Ehe einbringt, vermerkt, daß er ihr eine Geldsumme als »Brautgeschenk« überlassen wird, und erklärt, »daß sein ganzer Besitz als Sicherheit für ihr Geld dient ... Die Mengen an Getreide, Öl und Geld für Kleidung, die er je¬ den Monat stellen muß, werden genannt. Wenn er seinen Zahlungen nicht nachkommt, hat sie rechtlichen Anspruch auf alle Rückstände. Lassen sich die beiden scheiden (gleichgültig, ob die Trennung von ihm oder ihr ausgeht), erlöschen seine Verpflichtungen erst, wenn er ihr die gesamte Menge an Silber ausgezahlt hat, die im Vertrag fest¬ gelegt ist. Wie bei den frühen ägyptischen Ehen >besitzt< die Frau das Vermögen, aber der Mann benutzt es.«314 In einem anderen Vertrag315 kann der Ehemann seine Verpflichtun¬ gen durch die Bezahlung von Geld nicht einfach lösen; er muß seine Frau weiterhin unterstützen, bis sie das Geld will. Diese Regelung gilt auch, wenn sich die beiden scheiden lassen und nicht mehr Zusam¬ menleben. Der Ehemann erklärt außerdem, daß »alles, was ich habe und besitzen werde«, nicht nur für den Unterhalt seiner Frau bestimmt ist, sondern auch an ihre Kinder vererbt wird. Derartige Regelungen galten wahrscheinlich auch für Menschen mit weniger Besitz; selbst die Frau eines armen Mannes war ähnlich abge¬ sichert.316

mischte sich der Staat ebensowenig ein wie bei der Heirat. Das Wort für »Scheidung« bedeutete einfach »Verlassen, Zurücklas¬ sen«. »Ließ sich ein Mann von seiner Frau scheiden, mußte er ih¬ re Mitgift zurückerstatten (falls sie eine gehabt hatte) und ihr ein Bußgeld zahlen; wenn sie sich von ihm scheiden ließ, gab es kein Bußgeld. Ein Ehepartner, von dem man sich wegen eines Verge¬ hens trennte (einschließlich Ehebruch), verwirkte seinen oder ihren Anteil am Besitz des Paares ... Söhne und Töchter konnten Besitz von jedem Elternteil erben; Mütter und Väter behielten das Recht, jedes Kind zu enterben.«312 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es aus rechtlicher Sicht ein Bemühen um Ausgeglichenheit zwischen Eheleuten gab. In 228


der Praxis kamen Frauen vielleicht sogar besser weg. »Frauen wa¬ ren unabhängiger und galten als befähigt, größere Entscheidun¬ gen, die sie persönlich, ihren Besitz und ihre Familie betrafen, selbst zu treffen; Männer dagegen nicht. Obwohl Männer in der Öffentlichkeit standen und Frauen normalerweise zu Hause blie¬ ben und sich um die Familie kümmerten, waren die Frauen wahr¬

scheinlich freier, konnten unabhängig handeln und Entscheidun¬ gen auch für Bereiche fällen, die ihre Ehemänner betrafen.«317 All das unterschied sich eindeutig völlig von den Gebräuchen der damaligen patriarchalischen Gesellschaften im Mittelmeerraum.

Rechtliche Stellung »Seit den frühesten erhaltenen Aufzeichnungen (Altes Reich) war die rechtliche Stellung der Frau (ledig, verheiratet, geschieden, ver¬ witwet) offiziell identisch mit der des ägyptischen Mannes ... Ägyptische Frauen waren wie die Männer vor dem Gesetz für ihre Handlungen verantwortlich und konnten zivil- und strafrecht¬ lich persönlich belangt werden. Sie konnten Grundbesitz und per¬ sönliches Eigentum erwerben, besitzen und verkaufen. Verträge schlossen sie unter ihrem eigenen Namen ab; sie konnten Ge¬ richtsverfahren einleiten und umgekehrt auch verklagt werden, fungierten als Zeuginnen vor Gericht, konnten Geschworene sein und als Zeuginnen offizielle Dokumente unterzeichnen ... Frauen besaßen gesetzlich verankerte Rechte und waren bereit, dafür zu kämpfen.«318 Einen wichtigen Hinweis auf die Stellung der Frau im ägypti¬ schen Brauchtum bietet ihre vorbereitende Behandlung für das Jenseits, eine äußerst wichtige Dimension der ägyptischen Kultur. In diesem Bereich wurde eindeutig nach sozialem Stand unter¬ schieden, denn nur die Reichen und Mächtigen konnten sich die immensen Kosten für eine Mumifizierung leisten. Allerdings gibt es kaum Hinweise für eine unterschiedliche Be¬ handlung der Geschlechter. »Mindestens seit der Zeit des Alten Reichs erhielt die Leiche einer Frau die gleiche Behandlung wie die eines Mannes und wurde mit ähnlichen Grabbeigaben bestattet. 229


Mit der Entwicklung einer Technik zur Mumifizierung wurden auch Frauen einbalsamiert, um ihre Körper für die Ewigkeit zu be¬ wahren ... Andere Beigaben wie Schmuck, Kleider, Perücken und Möbel finden sich ebenfalls in den Gräbern von Männern und Frauen.«319 Man sollte jedoch erwähnen, daß in der Spätzeit die Ausstattung der Grabstätten für Männer oft reicher war als die für Frauen.

Herrscherinnen Obwohl Frauen offenbar rechtlich gleichgestellt waren und in ei¬ nigen privaten und juristischen Angelegenheiten sogar bevorzugt wurden, stellte die jüngere Forschung fest, daß sie in wichtigen öf¬ fentlichen Ämtern relativ selten vertreten waren. »Wenn die idea¬ le Frau eine vorbildliche Gattin und Mutter ist, die im Haus bleibt und am öffentlichen Leben nicht teilnimmt, ist es kein Wunder, wenn die Forschung nicht bemerkte, daß Frauen im alten Ägypten in der Öffentlichkeit nicht vertreten waren.«320 In öffentlichen Ämtern waren Frauen kaum vertreten. So wurde beispielsweise die mächtigste Position im Land, die des Pharaos, nahezu immer mit einem Mann besetzt. Allerdings ist allein schon die Tatsache bemerkenswert, daß es mindestens vier gut doku¬ mentierte Ausnahmen gibt, vor allem, wenn man die Situation mit anderen zeitgenössischen Kulturen im Mittelmeerraum vergleicht. Zwischen 3000 und 1000 v.Chr. gab es vier Frauen, die offiziell den Thron innehatten. Es handelt sich um Nitokris (6. Dynastie), Sobeknofru (12. Dynastie), Hatschepsut (die bekannteste, 18. Dy¬ nastie) und Tausret (19. Dynastie). Außerdem gab es noch den häu¬ figeren Fall der Regentschaft, bei dem die Mutter eines Königs im Namen ihres Sohnes regierte, bis er alt genug war (s. Kasten mit Beispielen für Regentinnen und offizielle Herrscherinnen). Obwohl die Zahl der Herrscherinnen im Vergleich zu den Phara¬ onen natürlich gering ausfällt, ist sie doch groß genug, um zu be¬ weisen, daß die Machtausübung für Frauen in Ägypten weder aus ideologischen noch theologischen Gründen unmöglich war. Die¬ se Situation hebt sich von den Traditionen in anderen Kulturen 230


Hatschepsut, die bekannteste ägyptische Herrscherin. Diese Granitstatue zeigt die feinen Züge der Königin. (Statue im Ägyptischen Museum in Berlin.)

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der damaligen Zeit ab. Selbst heute gibt es viele Länder, darunter so wichtige wie die USA, China, Rußland, Frankreich, Deutschland oder Japan, die noch keine Frau als Regierungchef oder Staats¬ oberhaupt hatten.

Frauenberufe324 Für das Alte Reich (2620-2100 v. Chr.) sind die meisten Frauen mit Titeln dokumentiert, die hohe Positionen in der öffentlichen Ver¬ waltung oder bei Hof kennzeichnen. Dazu gehörten Verwalterin¬ nen für Königinnen und Prinzessinnen, »Siegelträgerinnen« (d. h. Schatzmeisterinnen) und Totenpriesterinnen. Henry G. Fischer stellte die Ämterbezeichnungen für Frauen im Alten und Mittleren Reich zusammen. William Ward untersuchte das Mittlere Reich, und Gay Robins faßte alles zusammen und bezog darüber hinaus noch das Neue Reich mit ein.325 Offenbar nahm die Präsenz der Frauen im öffentlichen Leben aufgrund fremder Einflüsse (mesopotamische, hethitische, persische, Einflüsse der Hyksos und schließlich der Griechen und Römer) im Laufe der Zeit ab. Be¬ zeichnend dafür ist beispielsweise die Abschaffung der mächtigen Position der »Gemahlin Gottes«, als die persischen Eroberer die Herrschaft der 26. Dynastie 525 v. Chr. beendeten (s. Kasten). 231


Ägyptische Herrscherinnen321 •Neith-Hotep, zu Beginn der 1 . Dynastie (2900-2760 v. Chr.), fungier¬ te vermutlich als Regentin für Djer, der wahrscheinlich ihr Neffe war. Ihr Name ist uns von Grabbeigaben in Naqada und Abydos bekannt. Sie wurde in ihrem eigenen Lehmziegelgrab in Naqada begraben, ei¬ nem der ältesten Zentren Ägyptens. •Meret-Neith fungierte unter dem Titel »Königsmutter« als Regentin für König Den aus der mittleren 1 . Dynastie. Auf einem Siegel, das die Pharaonen der 1 . Dynastie auflistet, wird sie offiziell als Herrscherin bezeichnet. Ihr persönliches Königsgrab befindet sich in Abydos. Von dort sind zwei Stelen erhalten, die sie als Eigentümerin des ganzen Komplexes bezeichnen. •Africanus, ein Kommentator des berühmten ägyptischen Ge¬ schichtsschreibers Manetho, erklärt, daß während der Regierungs¬ zeit von Ny-netjer aus der 2. Dynastie (2760-2620 v. Chr.) »be¬ schlossen wurde, daß Frauen das königliche Amt ausüben kön¬ nen«.322 Es existieren Hinweise darauf, daß Königin Nitokris (oder Neith-ikret) gegen Ende des Alten Reichs (ca. 2150 v.Chr.) die Herr¬ schaft über Ägypten übernahm. Es gibt eine Pyramide der »Königin Neith«, doch man weiß nicht sicher, ob sie zur selben Person gehört. •Sobeknofru war die erste Herrscherin mit allen königlichen Titeln: »Der Horus, Sie, die von Ra geliebt wird, Die der zwei Damen, Her¬ rin der beiden Länder, der goldene Falke, Königin von Unter- und Oberägypten, Tochter von Re Sobeknofru.« Sie war die Tochter von Amenemhetlll. in der späten 12. Dynastie (1991-1 785 v.Chr.). Vier Jahre lang regierte sie als letzte Herrscherin der Dynastie. Auf einer Säule aus rotem Granit bietet Amenemhetlll. Sobeknofru das Sym¬ bol des Lebens dar, ein eindeutiges Zeichen, daß sie auf seinen Wunsch hin regieren soll.323 •Hatschepsuts Regierungszeit ist selbst im Vergleich zu den meisten männlichen Herrschern gut dokumentiert. Sie zog in besonderem Maße die Aufmerksamkeit der Forschung zu ägyptischen Pharaoninnen auf sich. Während ihrer Herrschaft (1490-1468 v.Chr.) verfolg¬ te sie ein sehr aktives Bauprogramm, darunter ihr Grabtempel in The¬ ben bei Dair el-Bahri und mehrere wichtige Gebäude in Karnak und Nubien. Besonders stolz war Hatschepsut auf ihre Handelsmission nach Punt, einem ostafrikanischen Zentrum für Weihrauch, und auf ihre Feldzüge in Sinai, Nubien und der Levante. Dreißig Jahre nach

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ihrem Tod startete Amenhotepll. eine Kampagne, um ihr Andenken zu tilgen, indem er jede Erwähnung ihres Namens auslöschen ließ. Noch immer fragt man sich, ob ihr Geschlecht der Grund dafür war oder ob Amenhotepll. einfach dafür sorgen wollte, daß sein Nach¬ komme (Thutmosislll.) sich durchsetzte. •Nefertari ist auch heute noch unter dem Namen »Nofretete« be¬ kannt. Sie war die »Große königliche Gemahlin« von Amenhotep IV. (Echnaton). Auf vielen Monumenten ist sie allein mit verschiedenen königlichen Insignien abgebildet. Das deutet auf mehr hin als auf ei¬ ne bloße Königsgemahlin. Mit Sicherheit zeigt es, daß Amenhotep (ca. 1353-1335 v.Chr.) ihre Rolle als außergewöhnlich wichtig er¬ achtete. •Tausret ist die letzte Herrscherin, die ich hier aufführe. Sie lebte Ende der 19. Dynastie. Nach dem Tod ihres Mannes (Sethosll.) wurde ihr Versuch zu herrschen durch die Erhebung des jungen Siptah (1 204-11 98 v. Chr.) zum König vereitelt, die Kanzler Baj eingefädelt hatte. Ihre eigene Regierungszeit dauerte nur zwei Jahre (11 98-1 1 96 v.Chr.). Ihre Grabstätte im Tal der Könige wurde rasch von Sethnacht, dem Begründer der nächsten Dynastie, für sein eigenes Grab beansprucht.

Neben der Mutterschaft trat als der häufigste Titel für eine verhei¬ ratete Frau »Herrin des Hauses« auf. Die Bezeichnung war an¬ scheinend mehr als nur ein Euphemismus für »Hausfrau«. »Da Frauen häufig ein Haus oder zumindest den Teil eines Hauses als >Mitgift/Hochzeitsgeschenk< erhielten, mag zumindest für die Spätzeit der Titel >Herrin des Hauses< mehr bedeuten, als wir ge¬ meinhin annehmen. «i27 Im Ägyptischen gibt es sogar ein Wort¬ spiel- »Nebet Per, Nebet Pet« (wörtlich »Herrin des Hauses, Herrin des Himmels«) -, das oft auf Statuen und in Texten mit Bezug auf Frauen zu lesen ist. Die rechtliche Stellung der Frau im ägyptischen Haushalt deutet darauf hin, daß die mächtige Position der Isis in der ägyptischen Mythologie auch praktische Auswirkungen im Alltagsleben der Frauen zeitigte. Ein weiterer Beleg dafür, daß sie keinerlei Schwierigkeiten hatten, sich mit der mächtigen Göttin

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Die »Gottesgemahlin des Amun« Die genauen Vollmachten der Frauen, die »Gottesgemahlinnen des Amun« wurden, sind nicht bekannt. Man weiß aber, daß die Position mit einer Stiftung ausgestattet war, die im Laufe der Zeit wuchs. Dazu gehörten Grundstücke sowie zahlreiche und prestigeträchtige Bedien¬ stete, die das Land verwalteten. »Der Besitz machte das Amt mächtig, und die Gemahlin Gottes besaß in dem Kult wirkliche Macht. Das Pre¬ stige, das mit der Position verbunden war, würde erklären, warum bei¬ spielsweise Ahmose Nefertari, Hatschepsut und Neferura [alle Köni¬ ginnen in der 18. Dynastie] so oft >Gottesgemahlin< als alleinigen Titel verwendeten. Hatschepsut könnte die damit verbundene Autorität zum Aufbau ihrer politischen Position eingesetzt haben, denn während ihrer Regentschaft, während der sie Unterstützung für ihren späteren Anspruch auf den Thron sammelte, bevorzugte sie diesen Titel.«326 Später bereitete der Einfall der Perser der 26. Dynastie und dem Amt der »Gemahlin Gottes« ein Ende.

Isis zu identifizieren, findet sich in Form von Zaubersprüchen, die häufig von Müttern gebraucht wurden, um ihr Kind dem Schutz der Isis anzuvertrauen. Sie rezitierten: »Meine Arme sind über die¬ sem Kind - die Arme der Isis sind über ihm, wie sie die Arme über ihren Sohn Horus hält.«328 In allen Epochen hatten Frauen bei wichtigen Kulthandlungen bedeutende Funktionen inne. Am häufigsten waren sie Priesterinnen, besonders von Hathor und anderen Formen der Isis. Ab etwa 1400 v. Chr. erscheinen diese Priesterinnen in der Darstellung von Ritualen, die bis dahin ausschließlich Vorrecht des Königs gewesen waren, wie z. B. die Feier zur Errichtung neuer Tempel. Tempelmu-

sikerinnen gehörten ebenfalls in allen Zeiten zum Standard. Allge¬ mein hieß es: »Das Werk Nuts und Hathors wirkt unter Frauen. In Form der Frau sind Glück und Unglück auf der Welt. Schicksal und Glück kommen und gehen, wie es [die Göttinnen] befehlen.«329 Die wichtigsten »Industrien« im alten Ägypten waren die Nah¬ rungsmittelproduktion und die Herstellung von Textilien. Be¬ stimmte Bereiche der Lebensmittelerzeugung waren speziell den 234


Frauen zugewiesen, andere dagegen galten als Sache der Männer. Zu allen Zeiten war das Schneiden des Getreides auf dem Feld rei¬ ne Männerarbeit, das Mahlen dagegen Aufgabe der Frauen. Auf Abbildungen aus dem Alten Reich und gelegentlich auch später sieht man Frauen beim Worfeln von Getreide, doch nie beim Schneiden der Halme. Andere Arbeiten wie z. ß. Bierbrauen oder Töpfern werden dagegen von beiden Geschlechtern ausgeführt. Das wichtigste Gewerbe Ägyptens war die Herstellung von Lei¬ nen. Dieses Material hatte für die Lebenden und die Toten große Bedeutung, ln einem Grab aus der Zeit der 5. Dynastie in Gebelein fand man mehrere Ballen Stoff, von denen einer 21 Meter lang war. Line Holztruhe im Grab von Ramses enthielt 76 zusammen¬ gelegte Leintücher. Für eine einzige Mumie konnte man über 900 Quadratmeter Leinen benötigen.ÿ0 Nach dem vorhandenen Bild¬ material zu schließen, galt die Leinenherstellung als reine Frauen-

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Drei junge Frauen nehmen an einer Zeremonie für Hathor teil. Das Musikin¬ strument, das sie schütteln, ist ein Sistrum, ein wichtiger ritueller und symbo¬ lischer Gegenstand zu Ehren Hathors. Das Sistrum ist mehr als nur ein Musik¬ instrument, selbst der Pharao verwendete es auf genau die gleiche Weise, wenn er ein Ritual für Hathor durchführte. In Griechenland war das Sistrum ei¬ nes der Instrumente, die die Mänaden zur Huldigung Dionysos' spielten. (Aus dem Grab des Ramses in Theben.)

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m Grabmodell einer Frau beim Getreidemahlen. Die helle Hautfarbe ist ein klas¬ sisches Unterscheidungsmerkmal für das Geschlecht der Figur, vermutlich weil Frauen üblicherweise mehr Zeit im Haus verbrachten als Männer. (Grab 604 Sidmant, Mittleres Reich. Oxford, Ashmolean Museum.)

arbcit. Wie im europäischen Hochmittelalter waren Frauen an allen Produktionsschritten beteiligt: Flachsernte, Hecheln und Vorspinnen der Flachsfasern, Spinnen der Garne und schließlich das Weben selbst. Die Hieroglyphe für das Wort »Weber« zeigt so¬ gar eine sitzende Frau, die vermutlich ein Schiffchen oder einen Webschützen hält. Zum Weberhandwerk gehörten oft auch »Fa¬ briken« zur Massenproduktion mit zahlreichen Arbeitern, die ei¬ ner meist weiblichen Aufsicht unterstanden. Es wird auch von Frauen berichtet, die die Bezahlung für fertige Stoffballen entgegennahmen oder den Titel »Aufseherin im Haus der Weber« tru¬ gen. Erst gegen Ende des Neuen Reichs waren auch Männer an ei¬ nigen Produktionsschritten bei der Textilherstellung beteiligt, z. B. am Weben. Man sollte nun jedoch nicht denken, daß es in Ägypten keine Diskriminierung der Frauen gab. Immerhin wissen wir von zahl¬ reichen Ämtern, von denen sie ausgeschlossen waren. Nur zwei¬ mal wurde das höchste Amt bei Hof, die Stelle des Wesirs, an Frau¬ en vergeben (einmal in der 2. und einmal in der 26. Dynastie). An236


dere Schlüsselpositionen wie z. B. als oberster Schatzmeister, kö¬ niglicher Bote, oberster königlicher Verwalter, Bürgermeister, kö¬ niglicher Schreiber und General beim Militär wurden Frauen wohl nie zugestanden. Auch verschiedene »öffentliche« Handwerksbe¬ rufe wie Bildhauer, Schreiner, Kupferschmied, Barbier, Gärtner, Ziegelbrenner oder TuchWäscher schlossen Frauen offenbar grund¬ sätzlich aus. s,

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Der griechische Einfluß auf das Verhältnis der Geschlechter: Männer handeln mit Prostituierten. Der Mann links bietet der Frau vor sich eine Geldbörse. Der Mann in der Mitte signalisiert mit drei erhobenen Fingern den Preis, die Frau hält mit vier Fingern dagegen. (Von einer bemalten griechischen Schale.)

Ein griechisch-römisches Ende Die »ägyptische Ausnahme« endete allmählich. Zunächst nahm der griechische Einfluß seit dem 4. Jahrhundert ständig zu. Die allererste Münze mit einer ägyptischen Hieroglyphe wurde unter dem letzten wirklich ägyptischen Pharao NektanebosII. (380-343 v. Chr.) geprägt, obwohl diese Münze speziell für die Bezahlung griechischer Söldner gedacht war, nicht für Ägypter. Der hellenisti¬ sche Einfluß erhöhte sich nach der Eroberung durch Alexander den Großen (336-323 v. Chr.) noch weiter. Die römische Besatzung und die spätere Christianisierung besiegelten das Ende der alten, mit ei¬ ner Demurrage-Gebühr versehenen Getreide-Standard-Währung

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Cäsar neckt Kleopatra Ich stelle mir folgendes Gespräch zwischen Cäsar und Kleopatra vor: »Ich kann nicht glauben, daß ihr immer noch dieses archaische Weizen-Geld-System verwendet.« »Nun, es funktioniert.« »Habt ihr je etwas von richtigem Geld gehört?« »Aber die Menschen sind mit der alten Methode zufrieden.« »Die Bauern vielleicht. Aber du solltest doch klüger sein. Schau mal, ich baue eine nette Bank und führe dich endlich in der römischen Welt ein. Ich werde dafür sorgen, daß dein hübsches Profil auf den Münzen zu sehen ist.«

Unabhängig davon natürlich, daß die beiden auch noch interessante¬ re Geprächsthemen hatten ...

und des Isis-Kultes. Ähnlich bröckelte die relativ privilegierte Stel¬ lung der Frauen in Ägypten und verschwand schließlich ganz. Ägypten war vielleicht ein Geschenk des Nils, doch meiner An¬ sicht nach kommt auch dem guten alten Joseph aus der Bibel mit das Verdienst zu, daß Ägypten zur »Kornkammer der Antike« wur¬ de. Das Währungssystem nach dem Getreide-Standard funktio¬ nierte über 1000 Jahre lang sehr gut. Dann übernahmen die Römer gegen Ende der ptolemäischen Herrschaft (323-30 v. Chr.) das Fi¬ nanzwesen (s. Kasten zu Cäsar und Kleopatra). Kurz nachdem das römische Geld die »archaische Weizen-Währung« ersetzt hatte, wurde aus Ägypten ein Entwicklungsland. Die »moderne« römi¬ sche Währung hatte »normale« positive Zinssätze, Zinsen, die nach Rom flössen. Ist es bloßer Zufall, daß es seit damals bis auf den heutigen Tag nie wieder zum »Wirtschaftswunder am Nil« kam? Der Nil ist immer noch da, doch nicht einmal in der Bibel wird erwähnt, wie Josephs Währungssystem aussah. Die Konzentration des Reichtums beschleunigte sich danach. In einem typischen Fajum-Dorf aus römischer Zeit wie z. B. Kerkereosiris bewirtschaftete eine Einwohnerschaft von etwa 1500 Familien ungefähr 1200 238


Hektar, das ergibt im Durchschnitt 80 Ar pro Familie. Am anderen Ende des Spektrums steht die Familie Apion, Ägypter, die im 6.Jahrhundert v. Chr. zweimal die Position des prätorianischen Präfekten in der öffentlichen Verwaltung erreicht hatten und ein Gut mit etwa 30000 Hektar besaßen. Von der Ernte trugen sie ca. 7500000 Liter für die jährliche Getreideabgabe nach Konstanti¬ nopel bei.331 Es fand zu dieser Zeit also eine Konzentration des Reichtums statt, wie sie später auch in der Niedergangsphase des Römischen Reichs zu beobachten war. Dieser silberne Tetradrachmon (Vierdrachmenstück) trägt den Namen Alexan¬ ders des Großen und wur¬ de 280 v. Chr. geprägt. Be¬ zeichnenderweise stellen die beiden Figuren Hera¬ kles (Hercules) und Zeus dar, zwei eindeutige Symbole für männliche Stärke im griechischen Pantheon. Die Münzen wurden im ganzen Reich verwendet. Unter hellenistischem Ein¬ fluß wuchs die Bedeutung solcher Währungen in Ägypten.

Das Bild zeigt eine Stelle, an der ein gigantischer Kopf Hathors zum Vorschein kam, genau auf der Achse des Dendara-Tempels. Der Kopf war durch ein Vordach geschützt. Die Skulptur der Göt¬ tin wurde zugeschüttet und weggemeißelt, als der patriar¬ chalische Einfluß im späten Rö¬ mischen Reich stärker wurde.

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Die Suche nach Gemeinsamkeiten Anfangs dachte ich, der Fund der beiden historischen Präzedenz¬ fälle für eine Demurrage-Währung habe keine Bedeutung und sei zufällig. Dann entdeckte ich, daß die zwei Kulturen entgegen mei¬ ner Erwartung eine Gemeinsamkeit aufwiesen, denn in beiden gab es eine archetypische Konstellation zur Verehrung des Weiblichen, die sich deutlich von der übrigen Welt unterschied. Die Erkenntnis, daß die Schwarze Madonna des Hochmittelalters die ägyptische Isis war, bestätigte meinen Verdacht, es müsse mehr sein als ein bloßer Zufall. Erstaunlicher ist jedoch, daß die Epochen, in denen diese Wäh¬ rungen verwendet wurden, mit einem ungewöhnlichen Wohl¬ stand für die gesamte Bevölkerung einhergingen. Außerdem wur¬ de in beiden Fällen die Verehrung der Schwarzen Madonna bzw. der Isis ungefähr zur gleichen Zeit aufgegeben wie die DemurrageWährungen, und der Wohlstand für die Allgemeinheit schmolz dahin. Ich behaupte nicht, daß es einen »magischen« direkten Kausal¬ zusammenhang zwischen der Verehrung der Großen Mutter und der Wahl des Währungssystems gibt, doch die Beispiele aus den letzten zwei Kapiteln zeigen, daß es zumindest eine faszinierend starke Verbindung zwischen diesen Bereichen gibt. Wenn die Große Mutter verehrt wurde, verwendete die Bevölkerung eine mit einer Demurrage-Gebühr versehene Währung, die nur dem Aus¬ tausch, nicht aber dem Horten von Geld diente. Im Austausch dafür förderte die Demurrage-Yin-Währung zusammen mit den traditionellen Yang-Währungen aus Edelmetall ein außergewöhn¬ liches Wirtschaftswachstum, von dem die »kleinen Leute« profi¬ tierten.

Aus meiner Sicht handelt es sich bei allen drei Faktoren - die Ver¬ ehrung des Archetyps der Großen Mutter, Demurrage-Währungen und »Wohlstand für alle« - um Spuren desselben archetypischen Zusammenhangs. Kurz gesagt hatten die zwei besprochenen Kul¬ turen einen bestimmten Zeitgeist gemeinsam. Historisch außerge240


wohnlich ist an diesen »guten« Zeiten in beiden Kulturen, daß ei¬ ne Yin-Kohärenz verehrt wurde. Gegen Ende übernahm jeweils eine zentralistische Militärmacht die Herrschaft: in Ägypten die Griechen und Römer und in Euro¬ pa gegen Ende des Mittelalters die wachsende Macht der Könige von Gottes Gnaden. Nach diesem Wechsel dominierte eine YangKohärenz, und das Monopol der Yang-Währungen begann. Die Ereignisse danach gleichen denjenigen in der übrigen westlichen Geschichte. Der Prozeß der Yang-Übernahme läßt sich als neuerli¬ che Bestätigung des Patriarchats und der damit verbundenen Un¬ terdrückung des Archetyps der Großen Mutter zusammen fassen. Dadurch traten die Schatten der Großen Mutter immer deutlicher zutage. Die kollektiven Gefühle der Gier und Knappheit erstarrten durch das Währungssystem zur Realität.

Die Bedeutung für heute All das bestätigt den Nutzen, den das »linke Bein« unseres ar¬ chetypischen Menschen hat, denn es informiert uns über die Ent¬ wicklung der Währungssysteme. Wenn sich etwas an der arche¬ typischen Kohärenz in Zusammenhang mit der Großen Mutter ändert, sollten wir darauf achten, wie unser Währungssystem rea¬ giert und umgekehrt. Die folgenden Kapitel werden zeigen, wie der Archetyp der Großen Mutter im westlichen Weltbild aufs neue erwacht. Denn wie gesagt begannen auf der »Graswurzelebenc« Experimente mit Währungen des Yin-Typs, die als Ergänzung zu den konventionel¬ len Landeswährungen fungieren. Sollte sich die Verbindung zwischen archetypischen Verände¬ rungen und Währungssystemen bestätigen, haben die beiden letz¬ ten Kapitel gezeigt, daß sich uns möglicherweise eine ungewöhn¬ liche Gelegenheit bietet, bei der wir die erste bedeutende Ände¬ rung unseres Währungssystems seit Jahrhunderten durchführen könnten. »Einen Vorteil haben wir indes gegenüber jeder anderen Ge¬ schichtsepoche: Als andere tiefgreifende Umwälzungen stattfan241


Exkurs: Miura Baien - ein japanisches Musterbeispiel? Nachdem ich diesen theoretischen Rahmen der Beziehungen zwischen dem Weiblichen und den Yin-Yang-Währungssystemen entwickelt hat¬ te, wurde ich auf ein zusätzliches Beispiel an unerwarteter Stelle hin¬ gewiesen: Japan während der Edo-Zeit (1603-1 867). Können Sie sich einen Kant oder Hegel vorstellen, den heutige Ma¬ thematiker zu Rate zögen, um Aufschluß über die Chaostheorie oder die fraktale Geometrie zu erhalten? Der zugleich eine integrierte Wirt¬ schaftsweise auf Grundlage eines Yin-Yang-Währungssystems empfahl und so liberal dachte, daß er Frauen als gleichberechtigte Partner im gesellschaftlichen System betrachtete? Die Person, auf die diese Be¬ schreibung zutrifft, ist ein japanischer Philosoph namens Miura Baien (1 723-1 789). Miura Baien war selbst in der westlichen Bedeutung des Begriffs ein wahrer Philosoph. Er studierte nicht nur wie die meisten der zeitgenössischen Gelehrten die alten Texte, sondern auch die Na¬ tur und arbeitete wie die westlichen Philosophen an grundlegenden Prinzipien und universalen Kategorien. Obwohl einige seiner Vorstel¬ lungen von der Natur veraltet waren (so bekannte er sich z. B. in sei¬ nen frühen Arbeiten immer noch zur ptolemäischen Sicht des Son¬ nensystems, stellte es jedoch später selbst in Frage), war er in anderer Hinsicht seiner Zeit weit voraus. Er war beispielsweise ein Vorläufer des Westens beim Thema des linguistischen Problems in der Philosophie oder der postmodernen Kritik an der Fähigkeit des Menschen, die Na¬ tur an sich zu verstehen. Miura Baiens Grundsatz hieß jori, die gleichzeitige Beobachtung der Wirklichkeit in ihren Yin-Yang-Polaritäten sowie ihrer letztlichen und notwendigen Einheit jenseits der Erscheinung der Polaritäten. Dieses Prinzip umschrieb er mit einer faszinierenden Metapher: »Wenn Dinge, die wir als einander entgegengesetzt betrachten, sich zu einer Einheit verbinden, muß es sich um wahre Gegensätze handeln, und wenn sie wahre Gegensätze sind, werden sie eins, wenn sie sich verbinden. Das läßt sich mit einem Artefakt verdeutlichen, mit der Verbindung von Zap¬ fen und Zapfenloch. Der Zahn des Zapfens findet sein Gegenstück im Zapfenloch. Gibt es nur die geringste Unebenheit, halten sie entweder nicht zusammen, oder sie verkeilen sich. Wenn sie keinen wirklichen Ge¬ gensatz bilden, können sie nicht eins werden. Sofern Artefakte einander kunstfertig gegenübergestellt werden, sind sie getrennt, und wenn sie zusammengefügt werden, verbinden sie sich nahtlos.«334

242


Miura Baien schlug als lokale Währungen Quittungen über Lagerbe¬ stände an Reis vor, ein Konzept, das stark an das ägyptische System er¬ innert und ebenfalls eine Demurrage-Gebühr umfaßte. Baien zufolge sollte eine Währung in erster Linie ein Tauschmittel sein. Verwendet man sie gleichzeitig zur Wertaufbewahrung, hat das negative Folgen, eine Aussage, die der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Dieter Suhr vor nicht allzu langer Zeit wissenschaftlich belegte.33S Ein weiterer Punkt, der in einer stark hierarchisch und patriarchalisch bestimmten Gesellschaft besonders überrascht, ist Baiens ausgeprägt liberale Ansicht zur möglichen Rolle der Frau. Er verwendete sogar die Bezeichnung danjo (= »Mann-Frau«) zur Beschreibung des Menschen anstatt des gebräuchlichen hito (= »Mensch«, ein Begriff, der sich im japanischen auf alle Menschen bezieht, implizit aber maskulin ist). Obwohl er damals wie heute als Philosoph hohes Ansehen genoß, wurde sein Währungssystem nur zum Teil in einigen Regionen Japans zur Edo-Zeit umgesetzt, und seine Ansicht über Frauen fand keinen Wi¬ derhall. Dennoch ist sein Beispiel interessant, denn es bietet uns einen weiteren historischen Beleg für die Verbindung zwischen Wirtschafts¬ systemen des Yin-Yang-Typs und der Ehrung des Weiblichen.

den, waren sich die Menschen, die sie erlebten, zumeist nicht der historischen Bedeutung bewußt, sondern nur der Schmerzen und Schwierigkeiten, die mit dem Übergang einhergingen. Wir haben das Glück, nicht nur miterleben zu dürfen, wie sich in einer einzi¬ gen Lebensspanne ein großer Wandel vollzieht, sondern auch über genügend Kenntnisse zu verfügen, um uns ein klares Bild von den Vorgängen machen zu können. Unsere Rolle dabei kann sehr spannend sein und uns auch Freude machen. Wenn wir die Wahl haben - warum sollen wir es dann nicht auf diese Weise betrach¬

ten?«™ Kurz gesagt könnte dies die erste Gelegenheit sein, aus einer Än¬ derung unseres Währungssystems eine bewußte Wahl zu machen. Eine Gelegenheit, von der Vergangenheit zu lernen und durch un¬ sere Einsichten eine Welt des nachhaltigen Wohlstandes für die Zukunft zu schaffen. 243


Ein Programm für die Forschung Der II. Teil dieses Buchs ist auch ein Programm für die Forschung und soll Anstoß für weitere Untersuchungen geben. Wir wissen eindeutig noch nicht genug über die Geschichte des Geldes und der Wirtschaft. Da die Historik den einzigen Weg bietet, ein Wirt¬ schaftskonzept überhaupt zu testen, ist diese Forschung auch für unsere Zukunft wichtig. Der Ansatz müßte interdisziplinär sein. Archäologen und Anthropologen wissen in der Regel nicht ge¬ nug über Währungstheorien, um die richtigen Fragen zu stellen. Und Finanzexperten wurden nicht für die Beschäftigung mit ver¬ sunkenen Kulturen ausgebildet. Paul Einzigs Werk über Primitives Geld ist hier die Ausnahme, die die Regel bestätigt.333 Selbst Preisigkes sorgfältige Untersuchung der ägyptischen Ostraka machte ihm nicht bewußt, daß er sich mit einer Demurrage-Währung be¬ faßte. Und diese Untersuchungen sind 40 bzw. 90 Jahre alt, ist es da nicht an der Zeit für einen erneuten Versuch? Es wäre besonders interessant, wenn man herausfändc, ob ande¬ re antike matrifokale Kulturen, wie z. B. die minoische oder mal¬ tesische, duale Ying-Yang-Währungssysteme nach ägyptischem Vorbild mit einer Demurrage-Gebühr für die Yin-Währung ver¬ wendeten. Oder benutzten sie ausschließlich Währungen mit po¬ sitiven Zinssätzen wie die Griechen? Während ich dies schreibe, habe ich keinerlei Hinweise, welcher der beiden Fälle zutrifft. So¬ weit mir bekannt ist, gehören die Währungssysteme beider Kultu¬ ren noch zur »Terra incognita primitiver Währungen«, die der Hi¬ storiker Toynbee beklagte. Ein Test des hier vorgestellten Rahmens wäre daher objektiv sinnvoll. Ich stelle die konkrete These auf, daß es auf Kreta zu minoischer Zeit eine Yin-Währung gab. Diese Annahme stützt sich auf die großen Vorratsräume, die alle minoischen »Paläste« kenn¬ zeichnen. Die Währung basierte auf einer Demurrage-Gebühr ähnlich der Getreide-Standard-Währung, die die Ägypter verwen¬ deten. Ich wage auch zu behaupten, daß die wirtschaftlichen Aus¬ wirkungen für die breite Bevölkerung auch auf Kreta positiv wa¬ ren. Sollte sich diese These belegen lassen, würde der Beweis einen 244


wissenschaftlich nachprüfbaren Test der Hauptthese dieses Buchs darstellen. Hin weiterer Forschungsgegenstand ist die Frage, ob sich aus der ungewöhnlichen Stabilität des ägyptischen Systems wichtige Leh¬ ren für unsere Zukunft ziehen lassen. Außerdem wäre es wichtig herauszufinden, was die »erste Renaissance« in Europa in Gang hielt. Wie eng können wir Währungspolitik und gesellschaftliche Veränderungen miteinander verknüpfen? Wie stark ist die Verbin¬ dung zwischen archetypischen Veränderungen und wirtschaftli¬ chen sowie finanziellen Auswirkungen? Hin wichtiger Punkt, auf den sich die Forschung konzentrieren könnte, wäre der Einfluß der Demurrage-Währungen der damali¬ gen Zeit: Wenn sich schlüssig beweisen ließe, daß duale Yin-YangWährungen mit einer Yin-Währung, die mit einer DemurrageGebühr versehen war, in der Vergangenheit einen nachhaltigen Wohlstand über viele Jahrhunderte hin schufen, sollte es dann nicht zu unseren Zielen gehören, derartige Systeme in Zukunft

umzusetzen?

24S


A.

Mysterium Geld Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus

Aus dem Amerikanischen von Heike Schlauerer, VerlagsService Mihr

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Teil III

Warum jetzt?

»Wir sagen: Die Wartezeit ist vorüber. Wir sagen: Das Schweigen ist gebrochen. Wir sagen: Es kann kein Vergessen mehr geben. Wir sagen:

Hört zu. Wir sind die Knochen der Großmütter eurer Großmütter.

Wir sind zurückgekehrt. Wir sagen: Ihr könnt uns jetzt nicht vergessen. Wir sagen: Wir sind bei euch. Und ihr seid wir. Erinnert euch ... Erinnert euch ...«336 Patricia Reiss »Eines können wir bereits jetzt sagen: Die größte Verände¬ rung wird die Veränderung beim Wissen sein - in Form und Inhalt; in seiner Bedeutung; seiner Verantwortung; und

darin, was es heißt, über Bildung zu verfügen.«337 Peter Drucker

In Teil III wenden wir die archetypische Karte auf aktuelle Fragen an. Zunächst untersuchen wir, was es in der Praxis bedeutet, wenn die Schatten des Archetyps der Großen Mutter in unser konven¬ tionelles Währungssystem eingebettet sind. Dann befassen wir uns mit den Fragen: Wo stehen wir jetzt? Gibt es Trends, die darauf hindeuten, daß sich in Amerika, Europa und der Welt insgesamt ein grundlegender Wertewandel vollzieht? In meinem Buch Das Geld der Zukunft beschrieb ich die Beson¬ derheiten unseres konventionellen Währungssystems und die Ver¬ änderungen, denen es momentan unterworfen ist. Was wir daraus für die weitere Lektüre dieses Buches wissen müssen, wird im fol¬ genden zusammengefaßt. 247


Die wichtigsten Thesen aus dem Geld der Zukunft

An dieser Stelle werden die wohl wesentlichsten Schlußfolgerun¬ gen kurz angesprochen, die in meinem Buch Das Geld der Zukunft ausführlicher belegt sind. •Das Informationszeitalter hat bereits das De-facto-Monopol der konventionellen Landeswährungen aufgehoben. So entwickel¬ ten sich beispielsweise die Bonusmeilen für Viclflieger zu einer Unternehmenswährung (d. h. einer Währung, die von einem pri¬ vaten Unternehmen zu kommerziellen Zwecken ausgestellt wird). Ursprünglich handelte es sich bei den ßonusmeilen nur um einen Marketingtrick, der die Kundenbindung stärken soll¬ te. Heute jedoch hat man zahlreiche Möglichkeiten, Bonus¬ meilen zu erhalten oder einzulösen. Daher entwickeln sie sich allmählich zu einer Währung, wie sie oben definiert wurde. Gleichzeitig verwenden etwa 2500 Gemeinden in verschiede¬ nen Ländern ihr eigenes Tauschmittel als lokale KomplementärWährung. Diese Systeme dienen als Ergänzung zu den konven¬ tionellen Landeswährungen, weil sie nicht darauf abzielen, letz¬ tere zu ersetzen. Im Gegenteil, sie erfüllen Funktionen, denen konventionelle monetäre Systeme nicht gerecht werden kön¬ nen. Sie werden als »komplementär« bezeichnet, weil sie bei ei¬ ner Transaktion oft parallel zur Landeswährung verwendet wer¬ den (ein Teil in der Landes-, ein Teil in der Komplementär¬ währung; z. B. werden Malerarbeiten zu 50 Prozent in offiziel¬ lem und zu 50 Prozent in lokalem Geld bezahlt). •Es ist nützlich, zwischen verschiedenen Formen der gegenwär¬ tigen Währungen zu unterscheiden, z. B.: - Alle konventionellen Landeswährungen sind heute »Fiat«Währungen (mehr dazu weiter unten), bei denen es sich stets 248


um Yang-Währungen handelt: Eine hierarchisch strukturierte Autorität schafft sie »aus dem Nichts«. Auch der Euro wird so geschaffen und als Bankgeld unter der Autorität einer Zen¬ tralbank ausgegeben. - Wechselseitige Kreditwährungen entstehen durch die gleichzei¬ tige Schaffung von »Soll« und »Haben« direkt bei den Betei¬ ligten. Das Time-Dollars-System beispielsweise, das von Edgar Kahn erfunden wurde, ist eine wechselseitige Kreditwährung. Bei diesem System erhalte ich, wenn ich etwas für Sie eine Stunde lang mache, eine Stunde an Guthaben, Ihr Konto da¬ gegen ist mit einer Stunde im Soll. Es wäre ein einfacher Tauschhandel, wenn Sie im Gegenzug etwas für mich täten, um diese Stunde auszugleichen. Sobald ich aber mein Gutha¬ ben für etwas anderes verwenden kann, haben wir in unserer Gemeinschaft ein Tauschmittel geschaffen, d.h. eine lokale Währung. Mittlerweile existieren mehrere hundert derartige Systeme, die meisten davon in den USA. Ein anderes Beispiel für eine wechselseitige Kreditwährung wurde unter dem Na¬ men LETS338 gegründet. Heute bestehen über 1000 LETS oder ähnliche Systeme auf der ganzen Welt. Darin eingeschlossen sind über 45 funktionierende Währungen allein in Deutsch¬ land, die als »Tauschringe« bezeichnet werden. Alle Systeme dieser Art sind Yin-Währungen. •Wir sind so daran gewöhnt, Landeswährungen als die einzige Form »echten« Geldes zu betrachten, daß wir einige Eigenschaf¬ ten als selbstverständlich hinnehmen, die im Grunde sehr merk¬ würdig sind. Beispielsweise ist es in unseren Augen »normal«, daß Geld Zinsen bringt, daß es seinen Wert nur behält, wenn es künstlich verknappt wird, und daß die Benutzer miteinander kon¬ kurrieren, um es zu besitzen. Wechselseitige Kreditwährungen dagegen sind zinsfrei, da sie von den Beteiligten selbst geschaf¬ fen werden, sobald bei einer Transaktion eine Einigung erzielt wurde. Sie sind außerdem immer in ausreichender Menge vor¬ handen, und die Praxis hat gezeigt, daß sie die Beteiligten zur Zusammenarbeit veranlassen, anstatt Konkurrenz zu schaffen. 249


•1991 gab es weltweit kaum 200 Komplementärwährungssyste¬ me, doch zur Jahrtausendwende existierten bereits zirka 2500, und ihre Zahl wächst weiter. Dennoch werden sie immer noch nur bei einem Bruchteil aller Geschäfte verwendet, was ihren Gegnern das Argument liefert, sie seien lediglich eine Rander¬ scheinung. Aber das trifft nicht immer zu. So kann beispiels¬ weise das einzige voll ausgereifte Komplementärwährungssy¬ stem der Welt - das Schweizer WIR-System339 - auf über 65 Jah¬ re Erfahrung verweisen. Heute hat es mehr als 80000 Mitglieder und erreicht einen Jahresumsatz im Wert von über 2 Milliarden Euro. Darüber hinaus gibt es mittlerweile bei Tausenden von praktischen Experimenten mit Komplementärwährungen ein¬ deutige Belege dafür, daß sie sich positiv auf die Gemeinschaf¬ ten auswirken, in denen sie verwendet werden. Sie schaffen nicht nur Arbeit, die es sonst nicht gäbe, sondern fördern die Bil¬ dung und Festigung eines Gemeinschaftsgefühls, das zuvor nicht zum Ausdruck kam. •Es gibt noch einen weiteren Grund, warum diese neuen Syste¬ me komplementär sind: Sie ermöglichen die Einführung des YinYang-Konzepts auf dem Gebiet der Währungen. - Bei einer Yang-Währung basiert die Geldschöpfung auf einer Hierarchie, die das Horten in Form dieser Währung fördert und im allgemeinen zwischen den Beteiligten ein Konkur¬ renzdenken hervorruft und immer weiter verstärkt. Wie ge¬ sagt sind die konventionellen Landeswährungen Yang-Wäh¬

rungen, denn sie weisen alle diese Eigenschaften auf. Aus dem Grund wird die Wettbewerbsökonomie, die sie vorantreiben, als »Yang-Wirtschaft« bezeichnet. Sie ist typischerweise die einzige Wirtschaftsform, die von den konventionellen Öko¬ nomen anerkannt wird. - Bei einer Yin-Währung dagegen basiert die Geldschöpfung auf Gleichstellung. Sie schränkt das Horten von Geld ein und fördert die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten. Richtig geplante Komplementärwährungen aktivieren eine koopera¬ tive »Yin-Wirtschaft«. 250


Komplementär¬ währung (gemeinschafts¬ fördernd, ausreichend)

Landeswährung (wettbe¬ werbsfördernd, knapp)

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Yang-Wirtschaft

(Geldkapital) Geschäftliche Transaktionen

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Transaktionen innerhalb einer Gemeinschaft

Natürliches Kapital

Abb. 14: Die integrierte Wirtschaft und die komplementären Yin-Yang-Wirtschaftskreisläufe

•Meiner

Ansicht nach ist ein Gleichgewicht zwischen der Yinund Yang-Wirtschaft für das nachhaltige Funktionieren einer Gesellschaft unverzichtbar. Gemeinsam bilden sie die sog. »in¬ tegrierte Wirtschaft«. Abb. 14 verdeutlicht dieses Konzept.340 •Die Aktivierung dieser integrierten Wirtschaft bietet die beste Möglichkeit, binnen kurzem für einen nachhaltigen Wohlstand auf der Welt zu sorgen. Das Ziel beider Bücher ist letztlich, zu zeigen, daß die Schaffung ei¬ nes nachhaltigen Wohlstandes innerhalb einer Generation durch¬ aus realisiert werden kann. Nachhaltiger Wohlstand wurde defi¬ niert als »die Möglichkeit, materiell, emotional und spirituell zu wachsen und sich zu entfalten, ohne die Ressourcen der Zukunft zu vergeuden ... Es geht darum, unsere materiellen Bedürfnisse so zu stillen, daß wir unser höchstes Potential als Menschen ent¬ decken können.«341 Ausgerüstet mit diesen Definitionen, können wir uns nun aufmachen und untersuchen, wie das archetypische Schema, das wir in Teil I entwickelt und in Teil 11 anhand historischer Beispiele überprüft haben, dabei helfen kann, innerhalb einer Generation einen nachhaltigen Wohlstand zu schaffen. 251


Kapitel 7

Das heutige Geld und die Große Mutter

»Die Welt bietet genug für die Bedürfnisse eines jeden, nicht jedoch für die Gier eines jeden.« Mahatma Gandhi

Die Hauptfolge der Unterdrückung des Großen -Mutter- Archetyps im monetären Bereich liegt darin, daß dadurch die Natur unseres Währungssystems geformt wurde, also dessen, was wir als »nor¬ males« Geld oder Yang-Währungen betrachten. Die historische Entwicklung in der Natur derartiger Geldsysteme werden wir nun auf den archetypischen Menschen übertragen. Dadurch erhalten wir einige interessante Einblicke in unser gegenwärtiges Wäh¬ rungssystem.

»Yang«-Währungen Im allgemeinen unterscheidet man zwischen drei Grundformen der Yang-Währungssysteme. Die allmähliche Entwicklung von der einen zur anderen ist an vielen Orten der Welt gut dokumentiert. Bei den drei Formen handelt es sich um: 1. Warenwährung, 2. standardisierte Münzwährungen und 3. schließlich »Fiat Money«.

Warertwährung: Das erste »Geld« besteht meist aus Produkten oder Waren, die einen allgemein anerkannten Nutzwert haben. Viele sogenannte »primitive« Währungen sind Warenwährungen. Dazu gehören beispielsweise Eier, Federn, Hacken, Töpfe, Leder, Felle, 252


Tabak, Rohmetallbarren, Matten, Nägel, Ochsen, Schweine, Reis, Salz oder Bronzebarren.342 Der englische Begriff salary (= »Lohn«) oder das deutsche »Salär« leiten sich direkt von dem häufigen Ge¬ brauch von Salz als Währung in Teilen des Römischen Reichs ab (lat. sal, salis = »Salz«). Selbst in der jüngeren Geschichte entstan¬ den in chaotischen Zeiten, etwa bei Unruhen oder im Krieg, sol¬ che Währungen von selbst. So dienten beispielsweise im Zweiten Weltkrieg an der Front Zigaretten als Währung oder vor kurzem Marlboro-Stangen beim Zusammenbruch des Sowjetreiches in

Osteuropa.

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Bronzebarren, die im 8. bis 7. Jahrhundert v.Chr. in Tepe Hasanlu im heutigen Nordwestiran als Währung verwendet wurden. Ihre Länge variiert zwischen 20 und 28 Zentimetern, die Breite zwischen 1,5 und 2,5 Zentimetern. Bei jedem Geschäft mußte man die Barren vorher wiegen.

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Salzbarren, wie sie im 1 9. Jahrhundert in Äthiopien zur Bezahlung verwendet wurden. Die Barren waren aus natürlichem Salzstein, wurden von Hand in be¬ stimmte Größen geschnitten und dann in Schilfrohr gepackt, damit sie beim Transport und beim Gebrauch geschützt waren. Die Salzbarren stellen eine Übergangsform von der Warenwährung zur Standardisierung dar. Das Abwie¬ gen der Barren war wahrscheinlich nicht bei jedem Geschäft nötig, allerdings gibt es noch keine Autorität, die den Standard garantiert.

253


Von einer Autorität ausgegebene, standardisierte Münzen: Auf der Ebe¬ ne über den einfachen Warenwährungen finden wir eine Wäh¬ rung, die so weit standardisiert ist, daß eine Autorität für ihre Zu¬ sammensetzung, Qualität und/oder Menge garantiert. Oft kam es dazu, weil so die Währung leichter zu handhaben war. Beispiels¬ weise mußte man bei einer Warenwährung für jedes Geschäft die Reinheit und das Gewicht der verwendeten Metalle überprüfen. Dann beschloß 687 v.Chr. ein König in Lydien, einem Gebiet, in dem zu der Zeit viel Gold gefunden wurde, die rohen Münzen zu standardisieren, und ließ sein Siegel darauf prägen. Dieser Vorgang geschah mit verschiedenen Warenwährungen an vielen Orten, denn der Emittent profitierte davon, daß seine Währung akzeptiert wurde. Er konnte eine Gebühr für das Prägen verlangen.

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Von Barren verschiedener Größen und Gewichte ist der nächste Schritt die Standardisierung, wie hier anhand der bronzenen »Delphin-Barren« von Olbia an der Nordküste des Schwarzen Meeres zu sehen ist. Die Barren aus dem 5. Jahrhundert v.Chr. haben Standardgrößen und -gewichte.

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Elektron, eine Legierung aus Gold und Silber, die in Lydien vorkommt, war das erste standardisierte Edelmetall. Diese lydische Münze aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. trägt das Siegel einer lokalen Autorität.

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& Eine 1 0O-Daler-Note aus dem Jahr 1 666. Die Ehre, das erste Papiergeld Euro¬ pas offiziell emittiert zu haben, fällt dem Letten Johan Palmstruch zu, der die ersten Noten im Namen der Stockholm Banco ausstellte. Auffallend sind die zahlreichen Unterschriften - acht verschiedene - und zusätzlichen Siegel, die ein Höchstmaß an Vertrauen schaffen sollten. Palmstruchs eigene Unterschrift steht ganz oben links. Da er aber mehr Geld emittierte, als er Metall in Reser¬ ve hatte, konnte er den Sturm auf seine Bank nicht verhindern. Ein Jahr später verurteilte eine Kommission der schwedischen Regierung Palmstruch zum To¬ de, ein Urteil, das später in eine Gefängnisstrafe umgewandelt wurde.

»Fiat«-Wöhningen: Der nächste Schritt in der Entwicklung hin zur Abstraktion sind »Fiat«-YVährungen. In diesem Fall erklärt eine Au¬ torität - anstatt nur für die Zusammensetzung oder das Gewicht einer Warenwährung zu garantieren - einfach etwas (das anson¬ sten wertlos wäre) zur Währung. Der Begriff bezieht sich auf die er¬ sten Worte, die Gott der Bibel zufolge bei der Erschaffung der Welt sprach: »Fiat lux« (= »Es werde Licht«). Eine solche Währung wird allein durch die Macht des Wortes der beteiligten hierarchischen Autorität aus dem Nichts geschaffen. Der Grund für eine derartige Entwicklung ist darin zu suchen, daß so das Einkommen aus dem Münzregal erhalten bleibt, die Kosten für die Herstellung der 255


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»Großes Ming zirkulierendes Schatz-

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Zertifikat« lautet der offizielle Titel auf dieser Papiergeldwährung, die im Jahr 1 374 n.Chr. vom kaiserlichen Schatzmeister in China ausgestellt wurde. Dieser Nennbetrag hat den Wert von »einer Schnur Münzen«, was 1 000 Bronzemünzen in bar entspricht. Die Einheit wurde von Chu Vüan-chang (1 368-1 398) ausgegeben, dem Be¬ gründer der Ming-Dynastie.

MWährung jedoch sinken. Wie gesagt sind all unsere konventionel¬ len Landeswährungen (auch der Euro) heute »>Fiat«-Währungen; sie werden als Bankgeld unter der Aufsicht einer Zentralbank ausgegeben.343 Doch wenden wir uns nun der Frage zu, welche Archetypen in einer Gesellschaft aktiv sein müssen, damit diese Währungsfor¬ men existieren können und als »selbstverständlich« hingenom¬ men werden.

Die Entwicklung des Geldes im archetypischen Schema Eine Warenwährung kann in jeder Gesellschaft verwendet werden - von »primitiven« bis zu besonders hoch entwickelten Kulturen und existiert oft neben anderen Währungsformen. Beispielsweise kommt es in den USA relativ häufig vor, daß Hotelzimmer oder Ra¬ dio- und Fernsehwerbespots gegen andere Güter und Dienstlei¬ stungen getauscht werden. Mittlerweile ist daraus eine Milliarden Dollar schwere Tauschhandelsindustrie entstanden.

256


In Zeiten, in denen fast alles zusammenbricht, wie z. B. in Krie¬ gen oder bei langen zivilen Unruhen, hat normalerweise das Wa¬ rengeld als einzige Währung Bestand. Aus diesem Grund brauchen »Waren Währungen in Kriegszeiten« meiner Definition zufolge nur den Archetyp des Kriegers, um funktionieren zu können. Eine standardisierte Münzwährung braucht dagegen definitions¬ gemäß eine zentrale Autorität, damit sie akzeptiert wird und funk¬ tioniert. Die Ausgabe königlicher Münzen beispielsweise ist nur möglich, wenn es eine starke Zentralregierung gibt, in welche die Menschen Vertrauen haben. In der Geschichte bedeutete das je¬ doch oft, daß die Autorität Gewalt anwandte, um ihre Währung durchzusetzen. Das »Recht« eines »Herrn«, seinen Untertanen eine Währung aufzuzwingen und gut daran zu verdienen, impliziert die Archety¬ pen des Kriegers und des Herrschers. Abb. 15 zeigt, wie wir die bei¬ den Währungsformen auf unserer archetypischen Karte unter¬ bringen können.

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Abb. 15: Der archetypische Mensch, Warenwährungen in Kriegszeiten und von einer Autorität ausgegebene Währungen

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Abb. 16: Der archetypische Mensch, wechselseitige Kreditsysteme und Landeswährungen, die auf Bankgeld basieren, als gegenseitige Ergänzung

Im Falle der offiziellen Landeswährungen von heute ist die Situa¬ tion komplizierter. Wir wissen, daß alle zeitgenössischen Landes¬ währungen Kreditwährungen sind, die aus dem Nichts geschaffen werden (»Fiat« Money). Es erfordert Geschick und Technik, um etwas, das aus dem Nichts geschaffen wird, in etwas zu verwan¬ deln, um das alle konkurrieren. Aus dem Grund wurde diese Form der Geldschöpfung auch schon als »moderne Alchemie« bezeich¬ net. Als die amerikanische Vertreterin beim Weltwährungsfonds erklärte, Geld sei Zauberei und die Zentralbanken seien die Zaube¬ rer, verkündete sie eine archetypische Wahrheit. Ebenso bezeich¬ nend ist es, daß die amerikanische Zentralbank »Tempel«344 ge¬ nannt wird und ihr Vorsitzender »Hohepriester«. Kurz gesagt, ne¬ ben den Archetypen des Kriegers und Herrschers besitzt beim mo¬ dernen Geld auch der des Magiers große Bedeutung. Wechselseitige Kreditsysteme, bei denen die Beteiligten ihre ei¬ gene Währung nach Bedarf in Form von Soll und Haben schaffen (z. B. LETS und Time Dollars), stellen dagegen eine Währungsform 258


dar, die stets in ausreichendem Maße vorhanden ist. Derartige Kre¬

ditsysteme fördern die Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft. Aufgrund dieser Eigenschaften kann man sie zu Recht als »starke Yin-Währungen« bezeichnen. Auf die Archetypen übertragen, heißt dies, daß solche Wähningen meist die beiden Yin-Archetypen aktivieren, also die Ernährerin/Große Mutter und den Lieb¬ haber. In Abb. 16 sind die drei Archetypen hervorgehoben, welche die offiziellen Landeswährungen aktivieren. Sie zeigt außerdem, warum die Yin-Währungen archetypisch gesehen als Ergänzungen zum Währungssystem der Landeswährungen fungieren. Wie wir schon gesagt haben, sind derartige Komplementärsyste¬ me trotz enormer Steigerungsraten heutzutage dennoch eher eine Randerscheinung. Und selbst wenn es sie gibt, machen die YinWährungen nur den unbedeutenderen Teil der Transaktionen ins¬ gesamt aus. Welche Folgen hat es für eine Gesellschaft, wenn ein monetäres System wie unsere konventionellen Landeswährungen eine Monopolstellung als Tauschmittel innehat?

Der archetypische Mensch und das System der Landeswährungen Diese Frage läßt sich beantworten, indem man die »Teile« zusam¬ menfügt, die Antwort darauf geben, in welcher Beziehung das vor¬ herrschende System der Landeswährungen zum archetypischen Menschen und seinen Schatten steht. Zu diesem Puzzle gehören drei Hauptteile: 1 . das derzeit bestehende Währungssystem als »starkes Yang-Kon¬ strukt«, 2. die Folgen einer Unterdrückung der Großen Mutter und 3. die Resonanz des Yang-Schattens.

Außerdem müssen die Rolle von Währungssystemen als »Informationsreplikatoren« und ihre soziopsychologischen Folgen un¬ tersucht werden. 259


Archetypen, die durch das konventionelle Währungs¬ system aktiviert werden

Schatten, die durch das konventionelle Währungssystem aktiviert werden

Tyrann Herrscher (König/Königin)

abhängig

Sadist Krieger

Liebhaber

Ernährer Magier (Große Mutter) (Priester, Wissenschattier) Gier

hyperrational (apollinisch)

Knappheit

Abb. 17: Der archetypische Mensch mit den Werten und Schatten, die durch das System der Landeswährungen aktiviert werden

Unser derzeitiges offizielles Währungssystem braucht eine starke zentrale und hierarchisch strukturierte Kontrolle durch Banken und Zentralbanken, um zu funktionieren. Es ist auch erwiesen, daß dieses System das Konkurrenzdenken fördert und die Anhäu¬ fung von Reichtum belohnt.™5 Aufgrund dieser Eigenschaften kann man unsere konventionellen Landeswährungen als »starke Yang-Währungen« beschreiben. Der Aspekt der hierarchischen Zentralmacht wird durch den Herrscher verkörpert. Die starke Yang-Natur des Systems verbindet es mit den beiden Yang-Ar¬ chetypen des Kriegers und des Magiers. Es mag kaum überraschen, daß die beiden Yin-Archetypen (Große Mutter und Liebhaber) mit einer derart starken Yang-Energie unvereinbar sind. Daher werden, wie schon in Abb. 16 gezeigt, von einem solchen Währungssystem nur drei Archetypen aktiviert: Herrscher, Krieger und Magier. 260


Eine fortwährende Unterdrückung der großen Mutter deckt sich völlig mit der oben genannten Yang-Tendenz. Wir haben bereits im »Fall des verschwundenen Archetyps« gesehen, daß der Um¬ gang mit dem Urbild der Großen Mutter in einer Gesellschaft die bestimmende Kraft ist, die unser Währungssystem formt. Die Re¬ pression der Großen Mutter führt automatisch dazu, daß ihre bei¬ den Schatten Gier und Angst vor Knappheit in das Währungssystem eingebettet sind. Das dritte und letzte Puzzlestück ist ein Phänomen, das man als »Resonanz des Yang-Schattens« bezeichnen könnte. Ein Ungleich¬ gewicht auf der Yang-Seite bedeutet auch, daß, wenn ein Archetyp nicht voll integriert ist, der Yang-Schatten ungefragt am deutlich¬ sten hervortritt. Daher aktiviert das Phänomen der Resonanz vor¬ zugsweise alle Yang-Schatten auf unserer Karte. Wenn alle drei Teile unseres Puzzlespiels an der richtigen Stelle liegen, erhalten wir eine Karte der Werte und Ängste, die durch das vorherrschende System der Landeswährungen aktiviert werden können (Abb. 1 7).

Welche Auswirkungen hat es für eine Gesellschaft, wenn diese archetypischen Werte und Ängste ständig aktiviert werden?

Geld als Informationsreplikator Die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Va¬ rela beschreiben, wie sich selbst organisierende Systeme entstehen und sich durch Replikation erhalten. Die beiden zeigen, daß replikative Informationen Teil des genetischen Codes oder der DNS werden. »Wir können diesen Prozeß in den verschiedensten Be¬ reichen beobachten: auf molekularer Ebene zum Beispiel und auch im sozialen Bereich. Denn jedes System hat seine eigene charakte¬ ristische replikative Information,346 die Systeme bildet, erweitert und zusammenhält.«347 Derartige Replikatoren von Ideen und kol¬ lektiven Empfindungen sind daher Instrumente, die jedes gesell¬ schaftliche System am Leben erhalten. In sozialen Systemen wer261


den diese Konstruktionen manchmal auch analog zu den »Genen« in der Biologie »Mneme« genannt (gr. mneme = »Gedächtnis«). Das Schema von Abb. 17 macht die emotionale Information an¬ schaulich, die über das offizielle Währungssystem vermittelt wird. Als Folge davon ist unser Währungssystem einer der wichtigsten Informationsreplikatoren für eine Yang-Tendenz in unserer Ge¬ sellschaft. Es liefert den Grund dafür, daß sich die »reale Welt« nach den Regeln der Yang-Kohärenz richtet. Es ist der Mechanis¬ mus, der erklärt, warum sich die meisten Menschen - egal, ob männlich oder weiblich - trotz bester Absichten und selbst mit völlig anderen persönlichen Wertvorstellungen schließlich doch nach den Yang-Regeln richten, um das Geld zu verdienen, das man zum Leben braucht. Ich möchte nicht behaupten, daß es sich bei den anschließend beschriebenen Folgen um zwangsläufig eindeutige Beziehungen nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip handelt. Die Ausführungen sollen eher dem Erkennen der Zusammenhänge ohne jeglichen Determinismus dienen.

Einige positive Folgen Das derzeit bestehende Währungssystem steuerte uns durchaus ef¬ fektiv in und durch die Moderne und das industrielle Zeitalter. Die Werte, die Herrscher, Krieger und Magier verkörpern, wurden in unserer Gesellschaft verehrt und gefördert. Sie haben jeweils zur Gestaltung eines historisch einzigartigen Ethos beigetragen, der Universalität, Ideale wie Selbstkontrolle, Verantwortungsbewußt¬ sein und Erfindungsgeist umfaßt. Die Bedeutung dieser Eigenschaften sollte man nicht unter¬ schätzen. Sie formten einige der besten Beiträge der westlichen Welt zur Entwicklung der Menschheit. Es läßt sich beispielsweise die Idee der Menschenrechte auf dieses Ethos zurückverfolgen. Die Betonung der persönlichen Freiheit - auch gegen staatliche oder andere Autorität - ist in der Geschichte beispiellos. So wurde ein Ethos gefördert, der auf Selbstkontrolle und Verantwortungsbe¬ wußtsein gründet und innerhalb der Gesellschaft ein höheres Maß 262


an Freiheit ermöglichte. Und schließlich könnte die derzeitige Weltbevölkerung ohne die unglaublichen technischen Fortschrit¬ te der letzten 200 Jahre nur wenige Tage überleben. Negative Folgen Allerdings leiden wir auch unter den Folgen, die durch die Ver¬ nachlässigung der Archetypen des Liebhabers und der Großen Mutter entstanden sind. Diese Mißachtung kommt z. B. im Zerfall der Gemeinschaft bzw. im fahrlässigen Umgang mit der Umwelt zum Ausdruck. Geld aktivierte stets einige kollektive Schatten in unserer Gesell¬ schaft. Diese Schatten gehören sogar zu unseren Stereotypen. (Im folgenden beziehen sich die kursiv gedruckten Begriffe auf die Schatten von unserer Karte in Abb. 17.) Wir alle kennen die tyrannischen und gierigen Geizhälse, die sadi¬ stisch ihre Macht über andere genießen. Ein aktuelleres Klischee ist der arbeitssüchtige Karrieremensch, der abhängig von Geldverdie¬ nen, Macht und Ruhm ist. Doch nach seiner dritten Scheidung wird er vielleicht bedauern, daß er seine Familie vernachlässigt hat. Er endet einsam in einer sinnlosen Welt. Am anderen Ende des Spektrums finden wir Menschen, die das Knappheitssyndrom ausleben und die Möglichkeiten sabotieren, um ihre wirtschaftli¬ chen Möglichkeiten zu verbessern. Außerdem mußten viele Menschen lernen, bei ihrer Arbeit nicht auf ihre eigenen Gefühle und die anderer zu achten. Eine »profes¬ sionelle« Haltung bedeutet im Bereich der Medien, der Schulme¬ dizin oder Finanzen, daß man eine hyperrationale apollinische Di¬ stanz wahrt. Der Zynismus der Medien oder die Gefühllosigkeit im medizinischen Bereich sind die Folgen. Wir haben bereits aus¬ führlich dargestellt, daß eine derartige Einstellung in der Finanz¬ welt die Boom-und-Bust-Zyklen auslöst, die regelmäßig die Fi¬ nanzmärkte heimsuchen. Global betrachtet, schuf das derzeitige Währungssystem eine Welt, in welcher der Großteil der Menschheit durch die Verknap¬ pung des Geldes unterdrückt wird, und das oft mit Gewalt. Auf263


grund der heutigen Währungsgesetze müssen schwächer ent¬ wickelte Länder »harte« Devisen von den reichsten Ländern lei¬ hen, um überhaupt untereinander Handel treiben zu können. Die Zinsen plus Tilgung für diese Kredite belaufen sich auf ungefähr 250 Milliarden US-Dollar im Jahr, was die Entwicklungshilfe der reichen Länder lächerlich gering erscheinen läßt. Peter C. Gold¬ mark jr., der Präsident der Rockefeller-Stiftung, meint dazu: »Ein armseliges Slum in Ecuador, ein armes Land - vor Hunger aufge¬ blähte Bäuche hängen über Wasserfässern können Sie das Geld sehen, das aus diesem Land in die Industrieländer fließt? Können Sie sich das auch nur vorstellen ?«348 Die Bewegung »Erlaßjahr 2000« setzt sich seit Jahren erfolgreich für die Streichung eines Teils der Schulden der ärmsten Länder ein. Doch selbst wenn sie erlassen worden sind, bleibt die Frage: Warum stellen wir über¬ haupt Regeln auf, die derartige Schulden notwendig machen? Für den einzelnen sind einige psychologische Folgen der durch das Währungssystem unbewußt aktivierten Ängste und Vorlieben ebenfalls dramatisch.

Psychologische Folgen Geld ist das wichtigste Tauschin ittel für die Menschen außerhalb unseres engsten Kreises. Unsere Beziehung zum Geld wirkt sich da¬ her auf unser Verhalten gegenüber allen anderen aus. Es ist im Ge¬ gensatz zu den Behauptungen in vielen Wirtschafts-, Psychologieund Soziologie-Lehrbüchern kein emotional neutrales Instrument. ln dem Ausmaß, in dem wir mit dem Monopol der offiziellen Lan¬ deswährungen leben, sind die Werte und Ängste, die unbewußt bei jedem Vorgang aktiviert werden, in dieses Währungssystem ein¬ gebaut (d.h., diejenigen, die in Abb. 17 hervorgehoben wurden). Dies formt unsere Gesellschaft in viel tiefgreifenderer Weise, als allgemein angenommen wird. Meiner Meinung nach gibt es »heimliche Verführer« für mehre¬ re unserer schwerwiegendsten gesellschaftlichen Probleme. Auch hier handelt es sich wieder nicht um ein einfaches Prinzip von Ur¬ sache und Wirkung. Statt dessen haben wir es mit einem Effekt zu 264


tun, den Chemiker als katalytisch bezeichnen würden, mit einem Bestandteil, der oberflächlich betrachtet nicht an der Reaktion be¬

teiligt ist, sie aber dennoch stark aktiviert. Die Einstellung zum Geld formt den emotionalen Bereich der Be¬ ziehungen zu anderen Menschen. Eigenschaften wie Großzügig¬ keit oder ein Mangel daran sagen beispielsweise genauso viel über eine Beziehung zum Geld wie zu den beteiligten Menschen aus.

Die Stärkung des »dominatorischen Prinzips«, Konsumdenken und Fundamentalismus »[China] fehlte es nie an der Anerkennung der Pa¬ radoxie und Polarität des Lebendigen. Die Ge¬ gensätze hielten sich stets die Waage - ein Zei¬ chen hoher Kultur, während Einseitigkeit zwar immer Stoßkraft verleiht, dafür aber ein Zeichen der Barbarei ist.«349 C. G. Jung

Unter den sozialen Krankheiten, die auf diese katalytische Weise aktiviert werden, möchte ich besonders das »dominatorische Prin¬ zip« hervorheben, also den kollektiven Narzißmus unserer Kultur, sowie Konsumdenken und Fundamentalismus. Keines dieser be¬ kannten Probleme scheint mit unserem Währungssystem zusam¬ menzuhängen. Doch ich werde nun zeigen, wie unser derzeitiges Geld-Paradigma sie dennoch ständig nährt. DAS DOMIN AT O R I S C H E PRINZIP

Das sog. dominatorische Prinzip350 hängt mit der Konstellation der Ängste zusammen, die den Schatten von Abb. 1 7 zugrunde liegen. Dominanz ist das Bedürfnis, andere zu kontrollieren und zu domi¬ nieren, um ein Gefühl von Sicherheit zu erlangen oder seine Iden¬ tität zu finden. Dem Dominanz-Paradigma, das historisch mit der patriarchalischen Ideologie in Verbindung steht, immanent ist die Vorliebe für totale Autonomie, Unabhängigkeit von anderen und ein Gefühl von Sicherheit in einer Welt, die auf der »Macht über« andere Menschen gründet. Das kam als Unterdrückung (politisch, 265


wirtschaftlich, psychologisch) der Menschen zum Ausdruck, die wir fürchten, nicht kontrollieren können oder nicht verstehen. Aus der dominanten kulturellen Perspektive zählen dazu andere Kulturen und Rassen sowie Frauen. »Sei es direkt mittels persönli¬ cher Gewaltanwendung, sei es indirekt mittels immer wiederkeh¬ render sozialer Gewaltdemonstrationen wie öffentlicher Inquisi¬ tionen und Exekutionen - Verhaltensformen, Meinungen und Empfindungen, die nicht den dominatorischen Normen entspra¬ chen, wurden systematisch bekämpft und ausgelöscht. Die repres¬ sive, Angst auslösende Konditionierung bemächtigte sich aller Aspekte des täglichen Lebens, beeinflußte die Kindererziehung, die Schulen, die Gesetze.«351 Zu den Beispielen für Vorgänge, die zu diesem dominatorischen Prinzip in unserer heutigen Gesellschaft beitragen, zählen die Verherrlichung von Gewalt und die Faszina¬ tion für Kriegs- und Waffentechnologie. Unter archetypischen Gesichtspunkten ist das dominatorische Prinzip Ausdruck einer ungezügelten Krieger-Energie ohne das ausgleichende Einfühlungsvermögen des Liebhabers. Es wird noch durch den Abdruck der »anderen« in der entgegengesetzten Pola¬ rität der Yang-Schatten verstärkt. Es ist daher eine Folge der YangTendenz, die in Abb. 17 dargestellt wird. KOLLEKTIVER NARZISSMUS UND KONSUMDENKEN

Ein dominatorisches System verlangt nicht nur von den Unter¬ drückten, sondern auch den Unterdrückern einen hohen Preis.352

Sein Ursprung liegt in der von Psychologen als »Narzißmus« bezeichneten Selbstliebe der westlichen Kultur. Das Ergebnis: ein lee¬ res Selbst, die Unfähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, andere als an¬ ders zu akzeptieren, ja sogar die Verleugnung der Realität. »Eines der wichtigsten und schwerwiegendsten diagnostischen Kennzei¬ chen für Narzißmus ist der Mangel an Empathie für andere. Das ist ein Hauptmerkmal des dominatorischen Prinzips. Eine Partner¬ schaft oder die Fähigkeit zu einer gegenseitigen Beziehung ist un¬ vorstellbar, wenn jemand nicht ein gewisses Maß an Mitgefühl für die Erfahrung eines anderen aufbringen kann.«353

266


C. Lash weist darauf hin, daß der Narzißmus auch einige positi¬ ve Eigenschaften hat. »Die Bewältigung persönlicher Eindrücke fällt ihm [dem Narzißtenl natürlich leicht, und seine Beherr¬ schung komplizierter Situationen kommt ihm bei politischen und geschäftlichen Organisationen zugute.«354 Allerdings zeigt Lash auch, daß einige Züge der Ursprung vieler gesellschaftlicher Pro¬ bleme sind, von der Unfähigkeit, langfristige partnerschaftliche Bindungen einzugehen, bis zu Versuchen, das leere Selbst mit ei¬ nem »supermaterialistischen und umweltunverträglichen Konsumenten-Lebensstil« zu füllen.355 In der Terminologie der Archetypen ist der Mangel an Mitgefühl wieder ein direkter Ausdruck der fehlenden Aktivierung des Lieb¬ habers, wie sich auch in Abb. 1 7 erkennen läßt. Bedeutung ent¬ steht unweigerlich aus Beziehungen, Beziehungen zu geliebten Personen, zu Gott, zur Natur, zum Heimatland usw. Daher ver¬ stärkt die Unfähigkeit, Beziehungen zu anderen einzugehen, vor¬ aussichtlich die Gefühle von Bedeutungslosigkeit, ein Zustand, der als »leeres Selbst« bezeichnet wird. Das »leere Selbst« ist der Haken, mit dem die Verbraucherwer¬ bung funktioniert. Ziel der Reklame ist es, Menschen ein Gefühl der Leere und Unvollkommenheit zu vermitteln. Sie sollen unzu¬ frieden mit dem sein, wer sie sind und was sie haben. Die Botschaft der Werbung lautet unweigerlich, daß die Leere kompensiert wer¬ de, wenn man nur das beworbene Produkt erwerbe. FUNDAMENTALISMUS UND TERRORISMUS

Ein letztes Phänomen in Verbindung mit der kollektiven Leere, die durch das vorherrschende Paradigma entsteht, ist der Fundamen¬ talismus samt seinen extremen Ausformungen wie etwa dem Ter¬

rorismus. Fundamentalismus hat weniger damit zu tun, was je¬ mand glaubt, sondern wie er damit umgeht. Wenn jemand seine Überzeugung für die absolute Wahrheit hält, können Menschen, die eine andere Weitsicht haben, aus seiner Perspektive nur un¬ recht haben. Der Fundamentalismus entpuppt sich als ein weiterer »Weg«, mit 267


der Angst vor Bedeutungslosigkeit und einem leeren Selbst umzu¬ gehen. Oder, wie M. Jacoby es ausdrückt: »... wenn sich archaische Wut mit der Suche nach höheren Idealen und der Notwendigkeit verbindet, seinem Leben einen Sinn zu geben, kann es >im Namen< irgendeines Ideals zu Wutausbrüchen mit allen Konsequenzen kommen. Jedes Gefühl von Schrecken, Wut und Rachsucht läßt sich dann mit Hilfe des >Ideals< rechtfertigen, dem man dient. ,356 Wieder einmal zeigt sich, was passieren kann, wenn die YangTendenz die Yin-Seite überwältigt, wenn die Energie des Kriegers ohne die notwendige ausgleichende Empathie des Liebhaber-Ar¬ chetyps aktiviert wird.

Fazit Der Grund, warum ich die sozialen Probleme in diesem Zusam¬ menhang überhaupt erwähne, ist nicht, um einen neuen Prügel¬ knaben - das Währungssystem - zu finden, dem die »Sünden Isra¬ els« aufgeladen werden. Ein weiteres Mal möchte ich betonen, daß die gerade beschriebenen sozialen Leiden nicht das automatische Ergebnis allein des monetären Systems sind, sondern vielmehr die folge eines Zusammenhangs, von dem die Art der Geldwirtschaft ein wichtiger Bestandteil ist. Dennoch sollte klar sein, daß das Le¬ ben mit dem Monopol einer Währung mit eingebauter Yang-Ten¬ denz weitreichende Konsequenzen für jeden in der modernen Ge¬ sellschaft hat. Geld ist in den Worten Maturanas, wie wir sahen, unser allgegenwärtiger »Informationsreplikator«, und seine unter¬ schwellige Funktionsweise vervielfacht diese Macht noch. Es ist interessant, daß Beobachter aus anderen Kulturen die Aus¬ wirkungen unseres Währungssystems bemerkt haben, während wir selbst als »Westler« dazu neigen, die Augen davor zu ver¬ schließen. Chief Finnow z. B., ein traditioneller Häuptling von den Tonga-Inseln, machte die folgende, erstaunlich präzise Beobach¬ tung hinsichtlich der Auswirkungen unserer hortbaren YangWährungen: »Selbstverständlich ist Geld einfach zu handhaben und praktisch. Aber da es beim Aufbewahren nicht schlecht wird, horten es die Menschen, anstatt es mit den anderen zu teilen (wie 268


es sich für einen Häuptling gehört), und werden selbstsüchtig. Wenn dagegen Lebensmittel als der wertvollste Besitz eines Men¬ schen gelten (wie es der Fall sein sollte, denn sie sind überaus nütz¬ lich und notwendig), kann er diesen Besitz nicht aufheben und muß ihn daher entweder gegen andere nützliche Dinge tauschen oder mit seinen Nachbarn, niedrigeren Häuptlingen und allen ihm anvertrauten Menschen teilen, und zwar ohne dafür etwas im Gegenzug zu bekommen. Ich weiß inzwischen sehr gut, was die Europäer so selbstsüchtig macht: Geld.«357 Die sozialen Neuerer, die intuitiv verschiedene Yin-Währungen als Ergänzung zu den dominanten Landeswährungen erfinden und verwenden, sind auf dem richtigen Weg. Dies wiederum bestätigt die These, daß das plötzliche Entstehen all dieser KomplementärWährungen nicht als kuriose Anekdote oder vorübergehende Mo¬ deerscheinung abgetan werden sollte. Statt dessen könnten sie sich als eines der bedeutendsten sozialen Experimente zur Verhinde¬ rung kollektiver Zusammenbrüche erweisen. Für diese Zusammen¬ brüche - wie z. B. den Verlust von Gemeinschaft und Sinn - gab es bis jetzt noch keine effektiven und praktikablen Lösungen.

269


Kapitel 8

Wo stehen wir heute?

»Und wenn alte Worte auf der Zunge sterben, neue Melodien aus dem Herzen hervorbrechen und die alten Pfade verlassen werden, zeigt sich das Neuland mit all seinen Wundern.« Rabindranath Tagore

»Ich würde gerne berichten, daß das Wachstum eines anderen Denkens unvermeidlich ist, ein Ansatz, der Bewußtsein als Teil der Natur sieht, ei¬ ne Erfahrung im Bereich des Wissens als Intimität anstatt als Macht. Doch nichts steht von vorn¬ herein fest.« Susan Griffin

Wir werden das archetypische Schema des Menschen noch einmal

überprüfen, indem wir es nun auf den Vorgang des Bewußtseins¬ wandels anwenden. Die Geschichte der Strukturen unseres Be¬ wußtseins, wie sie von Jean Gebser gesehen wird, verdeutlicht, warum sich gerade jetzt zum ersten Mal in Jahrhunderten ein grundlegender Wertewandel vollzieht. Die Veränderung ist bei allen Aspekten der Gesellschaft zu er¬ kennen, ob es nun um ein gesteigertes Umweltbewußtsein oder ganzheitliche Medizin geht, die Chaostheorie in der Physik, den Ersatz hierarchischer Strukturen durch Netzwerke (wie z. B. das In¬ ternet und virtuelle Organisationen), die Überwindung der karte¬ sischen Kluft zwischen Geist und Materie bis zu einer ganzen Rei¬ he von sozialen Bewegungen wie etwa der Emanzipation der Frau. All diesen Bewegungen ist gemein, daß sie wieder auf archetypi¬ sche Energien des Yin-Typs zurückgreifen, welche die moderne Kultur bisher abgewiesen hatte. 270


Doch bevor wir uns näher damit befassen, müssen wir diesen Vorgang in den Kontext der Geschichte von den Veränderungen des Bewußtseins einordnen.

Die Entwicklung des Bewußtseins Unser Bewußtsein ist nicht statisch: Wie alle anderen Aspekte des menschlichen Seins hat es sich entwickelt, allerdings in seinem ei¬ genen (sehr langsamen) Tempo. In den letzten 50 Jahren entstand eine umfangreiche Literatur, die versuchte, die Natur des moder¬ nen Bewußtseinswandels zu erfassen.358 Das aufschlußreichste Werk ist für unsere Zwecke die Arbeit eines wenig bekannten Zeit¬ genossen von C.G. Jung: des schweizerischen Kulturphilosophen Jean Gebser.

Das Werk von Jean Gebser

Jean Gebser wurde im Jahr 1905 in Posen geboren, das früher zu Preußen gehörte. Die aristokratischen Wurzeln seiner Familie ließen sich bis ins Thüringen (ein Herzogtum des fränkischen Reichs) des 13.Jahrhunderts zurückverfolgcn. Gebser führte ein recht abenteuerliches Leben: Er verbrachte einige Jahre in Spanien, wo er sich mit Federico Garcia Lorca anfreundete und zunächst als Poeta laureatus bekannt wurde. Im Jahr 1936 versuchte er, wenige Stunden bevor sein Haus in Madrid bombardiert wurde, nach Frankreich zu fliehen, wurde jedoch von Faschisten gefangenge¬ nommen. Eigentlich sollte er wie sein Freund Garcia Lorca hinge¬ richtet werden, doch er konnte erneut fliehen und, zwei Stunden bevor die Grenzen geschlossen wurden, in die Schweiz reisen. Er ließ sich schließlich dort nieder, um sein philosophisches Werk zu verfassen. Gebser war Mitglied von C.G. Jungs illustrem EranosKreis, wo er unter anderem Erich Neumann begegnete; allerdings nahm keiner der beiden Bezug auf die Arbeit des jeweils anderen.359 Gebsers Hauptwerk Ursprung und Gegenwart erschien in zwei Bän¬ den zwischen 1949 und 1953, es erreichte jedoch keine interna271


integrate

rational

mythisch

magisch archaisch Abb. 18: Gebsers fünf Strukturen des Bewußtseins

tionale Bekanntheit.360 Die für uns wichtigen Erkenntnisse Geb¬ sers lassen sich am besten in einem Schaubild deutlich machen (s. Abb. IS).36* Gebsers wichtigste Erkenntnis war, daß ein gesunder Bewußt¬ seinswandel nicht so aussieht, daß man von einer Struktur zur an¬ deren wechselt, sondern den vorherigen Phasen neue kumulativ hinzufügt. Gebser unterschied fünf verschiedene Bewußtseins¬ strukturen, von denen jede die vorherige umfaßt. Er beschrieb die einzelnen Strukturen sehr ausführlich, hier kann jedoch nur ein knapper Überblick in chronologischer Reihenfolge geboten wer¬ den (s. Kasten). Die Entwicklungsphasen müssen sich nicht unbe¬ dingt mit einem bestimmten Stadium der Menschheitsgeschichte decken. Welche Auswirkungen hat das »dominatorische Prinzip« oder patriarchalische System (wie wir es Ende des vorherigen Kapitels definierten) auf Gebsers Bewußtseinsstrukturen? Abb. 19 zeigt das Ergebnis. Die extreme Yang-Abweichung der dominatorischen Weitsicht resultiert in einer »modernistischen« Sichtweise, die uns in der 272


integrativ hyper¬ rationale »Box«

/

rational

mythisch

magisch Abb. 19: Die Auswirkungen der hyper¬ rationalen »Box« bei Gebsers Bewußtseinsstrukturen

archaisch

Idee gefangenhält, daß nur das Rationale und bestimmte Teile der mythischen Struktur »erlaubt« sind. Ein Yang-Schlüsselmythos, der unbewußt als selbstverständlich hingenommen wird, stammt von dem Vorsokratiker Parmenides im 6.Jahrhundert v. Chr. Er be¬ sagt, daß der Vernunft bei der Interpretation der Wirklichkeit rechtmäßig das Monopol zukomme: Das Wahre, Seiende werde nur durch das Denken enthüllt, während die Sinneswahrneh¬ mung lediglich »Meinung« erzeuge. Jeder Zusammenhang mit ar¬ chaischen oder magischen Strukturen hat seine Gültigkeit verlo¬ ren und wird als »primitiv« und später als »unwissenschaftlich« abgetan. Dieses Weltbild ist Ausdruck des hyperrationalen apollinischen Schattens, der bereits definiert wurde. Anne Wilson Schaef schuf dafür den Begriff »männliches System«.365 Zur Erinnerung: Dieser Schatten »glaubt«, •es gebe nur ihn, •er sei von Natur aus überlegen, weil er alles wisse und verstehe, und •es sei möglich, völlig logisch, rational und objektiv zu sein. 273


Diese Mythen, die nützlich waren, als es darum ging, die Kapazität des menschlichen Intellekts und der Technologien auf den jetzi¬ gen Stand zu bringen, sind nun die stärkste intellektuelle Blocka¬ de bei der Bewältigung der nächsten Entwicklungsstufe: der integrativen Bewußtscinsstruktur. Wie stehen die Chancen, aus die¬

sem »hyperrationalen Gefängnis« auszubrechen? Die Integration Gebsers in die archetypische Entwicklung Abb. 20 bietet eine erste Antwort auf diese Frage. Das Schaubild il¬ lustriert drei Phänomene: 1. Einerseits sind die archaische und die magische Bewußtseins¬ struktur durchaus mit dem Archetyp der Großen Mutter ver¬ einbar, denn das einheitliche Bewußtsein, das Eintauchen in das Ganze, die participation mystique mit der Natur, waren bei diesen beiden ältesten Bewußtseinsstrukturen »natürliche Zu¬ stände«. Sie paßten auch sehr gut zum Archetyp der Großen Mutter. Andererseits haben wir bereits erkannt, daß die ratio¬ nale Bewußtseinsstruktur wie angegossen zum Weltbild des Magier-Archetyps paßt. 2. Daher wurde der Archetyp der Großen Mutter automatisch aus unserem Bewußtsein verdrängt, als es sich von den frühen Strukturen zur rationalen entwickelte, ln Abb. 20 wird dieser Vorgang durch den großen Pfeil anschaulich gemacht, der die Energie vom Archetyp der Großen Mutter zu dem des Magiers leitet. 3. Da jedoch die integrative Bewußtseinsstruktur die magische und archaische Struktur automatisch wieder mit einbeziehen kann, wird der Archetyp der Großen Mutter erneut in den Mit¬ telpunkt rücken. Umgekehrt wird die Verehrung der Großen Mutter in der Praxis bedeuten, daß das Erzählen von Ge¬ schichten, Intuitionen und andere nichtrationale Ansätze zur Wahrnehmung und Deutung der Realität wieder akzeptiert werden. Der Unterschied zur Vergangenheit liegt darin, daß beide Archetypen, die mit unserer Weitsicht Zusammenhängen - der Magier und die Große Mutter -, gleichzeitig aktiv sein und 274


- integrativ rational

mythisch

magisch

\ Magier

archaisch

O

Große Mutter

Abb. 20: Gebsers Bewußtseinsstrukturen, auf die archetypische Entwicklung übertragen

einander ergänzen werden. Ein aktuelles Beispiel für diesen Versuch, beide Interpretationen des Universums streng wissen¬ schaftlich mit einzubeziehen, bietet Brian Swimmes Kosmolo¬ gie.366 Um die Metapher aus Abb. 10 zu verwenden: Wir werden endlich auf beiden archetypischen Beinen stehen, anstatt wei¬ ter in dem instabilen Bemühen fortzufahren, das Gleichgewicht auf nur einem zu halten, egal, ob dem rechten oder dem linken. Die integrative Bewußtseinsstruktur bezieht jedoch mehr als nur die beiden Archetypen ein. Ihre Hauptaufgabe liegt in der von C.G. Jung als Individuation bezeichneten vollen Integration aller fünf Archetypen. Anders ausgedrückt, die integrative Bewußt¬ seinsstruktur zielt darauf, daß die Menschheit die Verantwortung für all ihre Schatten übernimmt und so zu dem archetypischen Menschen wird, der in Abb. 10 beschrieben wird. Wenn Gebser recht hat, stehen wir kurz vor einem grundlegen¬ den Bewußtseinswandel. Die Verlagerung von den modernisti¬ schen zu den integrativen Werten läßt sich hinsichtlich der Aus¬ maße nur mit der Hinwendung zur Vernunft im klassischen Grie¬ chenland vergleichen. Allerdings wird der derzeitige Wandel we¬ sentlich schneller vor sich gehen. Der griechische Rationalismus brauchte Jahrhunderte, um sich auch in anderen Regionen des Mittelmeerraums durchzusetzen. Wir mußten auf die Renaissance 275


Eine Zusammenfassung der fünf Bewußtseinsstrukturen nach Cebser 1. Archaische Struktur: Sie begann vor etwa 1 bis 1,6 Millionen Jahren bei den Hominiden (Homo erectus). Diese Bewußtseinsstruktur hat keine Vorstellung von Zeit oder Tod; das Leben ist eine Folge vom »Hier und Jetzt«. Wahrnehmungen und Gefühle sind vorhanden, aber begrifflich nicht zu erfassen; es gibt keine Vorstellung von »Gut« und »Böse«. Diese Ebene des Bewußtseins besuchen wir jede Nacht in der Tiefschlafphase (langsame, großamplitudige Deltawel¬ len der Hirnströme). 2. Magische Struktur: Sie begann wahrscheinlich vor 150000 Jahren. Vorstellungen von Zeit und Tod entstehen, Rituale entwickeln sich. Die ersten Eliten sind Magi/Schamanen, die das Universum erklären und beeinflussen. Gefühle sind die Grundlage der Wahrnehmung. Dieses Stadium erreichen wir im normalen Schlaf und beim Bio¬ feedback (Deltawellen mit K-Komplexen/Alphawellen). Wirtschaftli¬ che Tätigkeit in Form des ersten (steinzeitlichen) Handwerks, be¬

gleitet von Tauschhandel. 3. Mythische Struktur: Sie setzte je nach Region vor 25 000 bis 3000 Jah¬ ren ein. Erste matrifokale Gesellschaften, gefolgt von frühen »Kultu¬ ren« mit sozialen Regeln, die von einer Elite zur Kontrolle über die »Götter« verhängt wurden. Beginn des Patriarchats, wenn mytho¬ logische Figuren zu überwiegend hierarchischen Göttern werden. Die Vorstellungskraft wird zur Grundlage der Erkenntnis. Diesen Zu¬ stand besuchen wir im Traum (rapid eye movement, REM-Phase) und bei Tagträumen. Erste spezialisierte Herstellungsverfahren tauchen auf (erste Steinartefakt-»Fabriken«, später Bronze- und andere Me¬ tallverarbeitung). Geld wird erfunden. 4. Rationale Struktur:162 Sie begann vor etwa 3000 Jahren und ver¬ stärkte sich vor allem während der letzten 500 Jahre mit einem Höhepunkt im Westen während der vergangenen zwei Jahrhunder¬ te. Diese Epoche wurde bereits bei den aufeinanderfolgenden Ent¬ wicklungslinien der Kulturen beschrieben, die zur Entstehung des westlichen Denkens führten. Wir bezeichnen diesen Zustand als »ra¬ tionale Reflexion«, dem das Monopol der Wirklichkeitsinterpretati¬ on zufiel, nachdem die patriarchalische Yang-Energie triumphiert hatte. Wirtschaftswachstum ohne Nachdenken über die äußerlichen Folgen. Entwicklung der modernen Volkswirtschaften.

276


5. Integrative Struktur:™* Diese setzt gerade erst mit einer »Subkultur« ein, die Paul Ray als »kulturell Kreative« bezeichnet (Erklärung wei¬ ter unten). Sie integriert nichtlineares Denken, multiple Kausalität und akausale Beziehungen in der Wahrnehmung der Realität. Bei¬ spiele dafür sind ganzheitliche Medizin, Umweltbewußtsein und postkapitalistische Wirtschaftsformen, wie sie Peter Drucker364 be¬ schreibt. Angesichts der Bedeutung für unser Thema werden wir uns später noch ausführlicher mit der integrativen Struktur befassen.

und die Aufklärung warten, damit sich diese Vorstellungen auch im Alltagsleben niederschlugen. Aktuelle Meinungsumfragen zei¬ gen dagegen, daß die derzeitige Entwicklung der integrativen Wer¬ te bereits mit einer Flutwelle zu vergleichen ist.

Eine Lektion über 30 000 fahre archetypischer Geschichte Wir werden nun überprüfen, wie sich das Modell des archetypi¬ schen Menschen (Abb. 10) mit den großen archetypischen Verla¬ gerungen vereinbaren läßt. Der historische Überblick wird außer¬ dem erklären, wie ich zu der Schlußfolgerung kam, daß sich der Übergang zur nächsten Bewußtseinsstruktur bereits abzeichnet. Meine Arbeitsthese für diesen Abschnitt lautet: »Kulturen verän¬ dern sich aufgrund ihrer verletzten Archetypen, oder sie sterben.« Anders ausgedrückt: Wenn ein Urbild in einer Kultur lange Zeit unterdrückt wird, konnte die Gesellschaft nicht die Fähigkeit ent¬ wickeln, mit diesem Aspekt der menschlichen Psyche umzugehen. Sie muß sich daher letztlich verändern oder auf dem Gebiet schei¬ tern, das mit dem Archetyp zusammenhängt. Trifft diese These zu, würde das insbesondere bedeuten, daß die westliche Gesellschaft derzeit ihrer Nemesis entgegengeht, da sie über die Ökokrise, die Selbstbestimmung der Frau, die Sinnkrise und die Krise des beste¬ henden Paradigmas in Kontakt zum Wiedererwachen des Arche¬ typs der Großen Mutter gerät. Das ist erstaunlich, denn bisher er¬ wies sich die westliche modernistische Weitsicht über mehrere Jahrtausende hinweg als bemerkenswert robust. 277


Um Längen zu vermeiden, werde ich keiner Epoche mehr als ei¬ nige Abschnitte widmen (die in den Anmerkungen angegebene Li¬ teratur bietet ausführlichere Informationen). EIN MYTHISCHES »GOLDENES ZEITALTER«?

Unter Fachleuten wird immer noch diskutiert, wie es der Cro-Magnon-Mensch367 (Homo sapiens sapiens), der leichter gebaut war als der Neandertaler (Homo sapiens neanderthalensis), schaffte, seinen körperlich viel kräftigeren Vorgänger systematisch zu ver¬ drängen. Ich möchte behaupten, daß es dabei nicht um physische Stärke ging, sondern um eine vergleichsweise stärkere archetypi¬ sche Welt. Der Zugang zu mehr Dimensionen des archetypischen Menschen ist ein wichtiger Vorteil, wenn man sich beispielsweise an so komplizierte Umweltbedingungen wie die eiszeitlichen Kli¬ maveränderungen anpassen muß. Solche Eigenschaften lassen sich natürlich nicht anhand der Größe und Form der Knochen unserer entfernten Vorfahren mes¬ sen. Immerhin haben wir als Beleg die sprunghafte Zunahme der Höhlenmalerei, die der Cro-Magnon-Mensch schuf. Können wir uns einen besseren Beweis für die reiche archetypische Vorstel¬ lungswelt wünschen?

Archäologische Belege für ein Goldenes Zeitalter Neuere archäologische Funde368 deuten darauf hin, daß für die Men¬ schen der Altsteinzeit von Zentralafrika bis Europa tatsächlich eine Epo¬ che des Überflusses existierte. Es handelt sich um eine Warmzeit, in der das Klima mild war und es zahlreiche Tiere für die jäger sowie eine Fül¬ le von Früchten und Pflanzen für die Sammler gab. Der hohe Entwick¬ lungsstand bei verschiedenen Techniken der damaligen Zeit wurde erst kürzlich entdeckt. Beispielsweise fand man an den archäologischen Fundstätten Pavlov und Dolnf Vestonice in der Tschechischen Republik hochentwickelte Fischer- und Jagdnetze. Die Netze waren aus feinen Garnen gefertigt, wobei sieben von acht bekannten Netzknoten ver¬ wendet wurden. Man datiert sie auf die Zeit um 20000 v.Chr.!369

278


Schamane im Trancetanz. Er »ver¬ bindet« das Reich der Tiere mit dem der Menschen. Die Füße sind ein¬ deutig menschlich. Die außerge¬ wöhnliche Kunst in den Initiations¬ höhlen des Homo sapiens sapiens kündet von der reichen archetypi¬ schen Welt, die in der steinzeitli¬ chen Welt förmlich explodierte. (Aus der Höhle »Les Trois Freres«, Ariege, Frankreich.)

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Wenn man bereit wäre, unbesehen die Legende vom Goldenen Zeitalter zu glauben, die schon zu Hesiods Zeiten (um 700 v. Chr.) bekannt war, könnte man sogar behaupten, daß das »reiche Le¬ ben« irgendwann einmal alle fünf Urbilder des archetypischen Menschen umfaßte. Ob es je ein wirkliches »Goldenes Zeitalter« gab, wo es sich erstreckte und wie lange es währte, sind Fragen, die wohl noch lange diskutiert werden. MATRIARCHALISCHE GESELLSCHAFTEN

UND DER FEHLENDE KRIEGER

Die nächste Stufe ist die Blüte der matrifokalen und matriarchalen Gesellschaften (30000 [?] bis 3000 v.Chr.). Diese Epoche über¬

schnitt sich eindeutig mit der vorherigen. Doch aus dem 7. Jahr¬ tausend v. Chr. gibt es archäologische Fundstücke, die nach der In¬ terpretation von James Mellaart und Marija Gimbutas belegen, daß der Archetyp des Kriegers inaktiv geworden war. Zu den Be¬ weisen zählt auch das Fehlen von Waffen oder irgendwelchen Ver¬ teidigungsanlagen in und um £atal Hüyük. Wenn man in einer friedlichen Gemeinschaft lebt, die einige tausend Jahre lang nicht angegriffen wurde, erscheint es vielleicht sinnlos oder sogar kon¬ traproduktiv, inmitten der Gesellschaft die Energie des Kriegers beizubehalten. 279


Eine Frau klettert mit einem Korb auf dem

Rücken einen Baum hinauf, um den Honig wilder Bienen einzusammeln. Diese Fels¬ zeichnung der Mittelsteinzeit aus den Cuevas de Araha in Bicorp, Spanien, illustriert eine Lebensweise des Sammelns, die vielleicht Teil eines matrifokalen Goldenen Zeitalters war.

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* Die Haltung scheint vernünftig, doch sie kann tödlich sein, wenn die Gesellschaft sich plötzlich einer Kultur zu stellen hat, in wel¬

cher der Archetyp des Kriegers geehrt wird. Das könnte passiert sein, als die matrifokalen Gemeinschaften des alten Europa plötz¬ lich sehr mobilen, berittenen indogermanischen Invasoren entge¬ gentreten mußten. Die zwei nächsten archetypischen Veränderungen hängen mit der Unterdrückung der beiden Yin-Archetypen zusammen: in einer ersten Phase der Liebhaber, dann die Große Mutter/Ernährerin. INDOGERMANISCHE GESELLSCHAFTEN UND DER FEHLENDE LIEBHABER

Georges Dumezil widmete sein gesamtes Lebenswerk einer umfas¬ senden Analyse der internen Organisation der indogermanischen Gesellschaft. Er kam zu dem Schluß, daß bei den Indogermanen vier Archetypen institutionalisiert waren: der Herrscher, der Krie¬ ger, der Magier und der Ernährer (s. Kasten). Auch hier fehlte ein 280


Dumezils Indogermanen170 Nur wenige Menschen konnten ihr Leben einem einzigen For¬ schungsthema mit einer solchen Ausdauer widmen wie Georges Dumezil. Zwischen 1 924 und seinem Todesjahr 1 986 veröffentlichte er 60 Bücher und 300 Artikel, die sich alle mit verschiedenen Aspekten der indogermanischen Mythologie befaßten. Er schälte das grundle¬ gende archetypische System der Indogermanen aus den zahlreichen Mythologien ihrer vielen Untergruppen heraus, aus den Überlieferun¬ gen des Ural, den nordischen Sagen, den germanischen, indischen, griechischen und römischen Mythologien bis zu den persischen. Seine Schlußfolgerung: Die Gesellschaftsstruktur der Indogermanen bestand aus drei »offiziellen Kasten«, wie wir sie heute noch aus Indien kennen. Vom unteren Ende der sozialen Hierarchie bis nach oben handelt es sich dabei um: 1. die Versorger (Handwerker, Kaufleute, Hirten und Bauern), 2. die Krieger (ähnlich der Kschatrija-Kaste in Indien) und 3. die Priester (die Brahmanen in Indien), aus denen ein König erwählt wurde. Sie entsprechen dem Ernährer, Krieger, Magier und Herrscher in unse¬ rem archetypischen Schema.

Archetyp, dieses Mal der Liebhaber. Aufgrund des fehlenden Ar¬ chetyps konnten die Indogermanen mit einer so brutalen »Effizi¬ enz« die matrifokalen Kulturen erobern. Wie bereits erwähnt, grif¬ fen sie dabei zu »ethnischen Säuberungen«, d. h., sie töteten alle Männer und vergewaltigten und versklavten die Frauen. Die Entstehung der Sklaverei ist die logische Folge, und die Tat¬ sache, daß sie sich über Jahrtausende gehalten hat, deckt sich völ¬ lig mit einer derartigen archetypischen Konstellation. DAS CHRISTENTUM UND DER FEHLENDE ARCHETYP

DER CROSSEN MUTTER

Das aufkommende Christentum verbreitete sich im Römischen Reich zunächst vor allem bei Sklaven und Frauen in den Städten. Die neue Religion brachte ihnen die Hoffnung auf Rettung und Freiheit. Der Unterschied zwischen dem Christentum und den 281


früheren hebräischen und indogermanischen Religionen lag im »Evangelium« (wörtlich die »frohe Botschaft«), das verkündete: »So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eigenen Sohn da¬ hingab, uns zu erlösen.« Die christliche Religion setzte den Arche¬ typ des Liebhabers in asexueller Form wieder ein. Das Christentum verdrängte in den folgenden Jahrhunderten praktisch alle frühe¬ ren Religionen im Römischen Reich (mit Ausnahme des jüdischen Glaubens) und wurde zum einigenden geistigen Bezugspunkt der westlichen Welt. Wir zeigten bereits in Kapitel 2, wie ein Archetyp - der Großen Mutter/des Ernährers - in diesem System unterdrückt wurde. Wir besprachen auch schon einige der Auswirkungen. Wieder einmal waren also nur vier Archetypen aktiv; wie gesagt fehlte dieses Mal der Archetyp der Großen Mutter. ZURÜCK ZUR HEUTIGEN SITUATION

Wenn wir die beiden folgenden Hypothesen akzeptieren, dann kommt der Krise unserer Zeit selbst in Hinblick auf die lange Ent¬ wicklung unseres Bewußtseins eine ungewöhnlich große Bedeu¬

tung zu: 1. Kulturen verändern sich oder gehen zugrunde, wenn sie auf den Archetypen treffen, den sie unterdrücken. 2. Die derzeitige ökologische und erkenntnistheoretische Krise des Westens ist von einer Rückkehr des Archetyps der Großen Mutter gekennzeichnet. Der Hauptunterschied zwischen diesem Wandel und den vorheri¬ gen Veränderungen besteht wie gesagt darin, daß wir uns dieses Mal bewußt darauf einlassen können. So haben wir die Möglich¬ keit, daraus eine Chance für alle zu machen, statt daß manche er¬ heblich dabei verlieren. In der Geschichte erwiesen sich solche Umbruchsituationen bisher immer als tragisch für die Verlierer. Das neue Wertesystem ist integrativ, d.h., daß andere Weltan¬ schauungen nicht zwangsläufig ausgeschlossen werden. Im Ge¬ genteil: Bei der Ausweitung des Bewußtseins geht es darum, so vie282


le Ansichten wie möglich mit einzu beziehen. Könnte dieser Wan¬ del daher nicht friedlicher verlaufen als die bisherigen? Uns liegen ermutigende und faszinierende Ergebnisse aus aktuel¬ len Umfragen vor, die zeigen, daß sich die Veränderung bereits bei etwa einem Viertel der amerikanischen Bevölkerung vollzieht. Bis¬ her verlief der Wandel so friedlich, daß er kaum bemerkt wurde.

Und heute? »Ich denke, wir haben allen Grund zu glauben, daß das Zeitalter der Moderne zu Ende ist. Heute deutet vieles darauf hin, daß wir uns in einem Übergangsstadium befinden, in dem offensichtlich etwas verschwindet und etwas anderes unter Schmerzen entsteht. Es ist, als ob etwas bröckelt, zerfällt und sich selbst erschöpft, während sich etwas anderes, noch Unbestimmtes aus den Trüm¬ mern hebt.« Worauf könnte sich Vaclav Havel, der Präsident der Tschechischen Republik, in seiner Äußerung bei der Verleihung der Freiheitsmedaille am 4. Juli 1994 in Philadelphia bezogen haben? Normalerweise kann man sich bei der Beschäftigung mit solchen tiefgreifenden Paradigmenwechseln nur auf Ahnungen und Anek¬ doten verlassen. Ein Experte zu diesem Thema meint sogar: »Wenn Sie Paradigmenpioniere dazu auffordern, ihre Entscheidung für ei¬ nen Paradigmenwechsel zu rechtfertigen, können sie das nicht mit Zahlen machen. Denn es existieren keine Zahlen.«371 Für unser Thema trifft das aber nicht zu, denn zumindest von ei¬ nem wichtigen Land liegen uns Zahlen vor: Die größte aktuelle Umfrage zum Wertewandel in Amerika wurde 1995 von Paul Ray und der American Lives Inc. durchgeführt. Es gibt jedoch Hinwei¬ se darauf, daß sich diese Entwicklung in der gesamten westlichen Welt vollzieht, vermutlich geschieht sie sogar global. Auf der Grundlage von Umfrageergebnissen bei 100000 Amerikanern und 500 Zielgruppen ließen sich in den USA drei verschiedene »Sub¬ kulturen« identifizieren: die sog. »Traditionalisten«, die »Moder¬ nisten« und die »kulturell Kreativen«.372 283


Die Traditionalisten Traditionalisten sind, wie Paul Ray und Sherry Ruth Anderson beobachtet haben, in erster Linie die »religiös Konservativen«. »Nachdem wir zahlreiche Diskussionen in Zielgruppen angehört hatten, kristallisierte sich allmählich heraus, daß es eine traditionalistische Denkart gibt ... Der amerikanische Traditionalisms beinhaltet auch den Wunsch nach Vereinfachung, traditionellen Sicherheiten, einem weniger hohen Entwicklungsstand und weni¬ ger Säkularismus, nach einer religiösen Monokultur sowie nach nationaler und ethnischer Einheit ... Traditionalisten glauben an die Wiederkehr der Kleinstadt und der Religion in Amerika, an ein nostalgisches Bild aus der Zeit von 1890 bis 1930 ... Zum Schatten des Traditionalisms gehören die radikalen Gruppen und der ul¬ trarechte Flügel.«373 »Die Traditionalisten werden anhand ihrer traditionellen und konservativen Werte und Vorstellungen identifiziert. Sie sind im Durchschnitt älter und weniger gebildet als die Modernisten oder kulturell Kreativen ... Diese familienorientierte Gruppe fällt am leichtesten auf politische Lehren religiöser Führer herein. Im Lau¬ fe der Zeit geht ihre Anzahl eher zurück: Ihr Durchschnittsalter liegt derzeit bei 53 Jahren, außerdem sterben die Traditionalisten schneller, als sie durch jüngere Leute >ersetzt< werden.«374

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Abb.21: Zeitliche Entwicklung der drei Subkulturen (Millionen Erwachsene, USA, 1965-2000)

284


Bis vor kurzem gab es neben den Traditionalisten - deren Anteil an der US-amerikanischen Bevölkerung etwa 24 Prozent aus¬ macht, wobei ihre Bedeutung seit dem Zweiten Weltkrieg zurück¬ geht - nur noch eine weitere Gruppe: die sog. Modernisten.

Die Modernisten Praktisch alle Menschen des westlichen Kulturkreises sind der »mo¬ dernistischen« Weitsicht ausgesetzt. Sie ist so durchdringend, daß die Modernisten die einzigen sind, die mit der Idee durchkommen, ihre Haltung sei keine Weltanschauung von mehreren. Einige glau¬ ben vielmehr immer noch, daß sie »die Welt so sehen, wie sie wirk¬ lich ist«. Diese Einstellung prägte das industrielle Zeitalter und dominiert nach wie vor in der westlichen Welt. Mit 47 Prozent (88 Millionen Erwachsene) stellen die Modernisten in der US-ame¬ rikanischen Bevölkerung noch immer den größten Anteil. Dieser geht zwar mit der Zeit allmählich zurück, doch ihre modernistische Weitsicht wird weiterhin von den Massenmedien wiedergegeben. Der Modernismus entwickelte sich als Reaktion auf die »traditionalistischen« Gesellschaften in Ablehnung des vom Glauben bestimmten Weltbildes, das im ausgehenden Mittelalter fast die einzige Weltanschauung darstellte. Als »modern« (synonym mit »hochentwickelt, fortschrittlich, urban und/oder unvermeidlich« verwendet) gelten somit Werte, Technologien und Vorstellungen, die im Gegensatz zu den »rückständigen«, »unterentwickelten« Gesellschaften früherer Zeiten stehen. Die Sichtweise der Modernisten kommt in zwei verschiedenen Bereichen zum Tragen: 1. Auf persönlicher Ebene: Modernisten schätzen im allgemeinen universelle Normen und Säkularität (im Gegensatz zu Provin¬ zialismus und religiösen Dogmen). Dennoch praktizieren viele einen orthodoxen Glauben (40 Prozent). Bei ihnen genießen persönliche Freiheit und eigene Leistungen oberste Priorität, außerdem schätzen sie den finanziellen Materialismus (82 Pro¬ zent). Ihre Werte konzentrieren sich auf persönlichen Erfolg, Konsum, Materialismus und technische Rationalität. 285


2.

Auf kollektiver

Ebene: Hinsichtlich Management und Technik glauben die Modernisten an Praktiken aus dem Industriezeital¬ ter, darunter auch an die traditionellen Wirtschaftswissen¬ schaften (s. Kasten). Sie sind der Ansicht, daß sich die Technik letztlich gegenüber den negativen Konsequenzen bestehender Verfahren durchsetzen wird. Meist werden die negativen Fol¬ gen (Umweltschäden, gesellschaftliche Verwerfungen) herun¬ tergespielt. Politisch können die Modernisten rechts oder links stehen, Liberale oder Konservative sein. Ihr konservativer Flü¬ gel teilt beispielsweise mit den religiösen Fundamentalisten die Ansicht, daß Frauen nicht im Berufsleben stehen sollten.

Die kulturell Kreativen »Die Bezeichnung »kulturell Kreative< stammt daher, daß sie die neuesten Ideen in der amerikanischen Kultur haben und an der Spitze des kulturellen Wandels stehen.«375 Diese letzte Subkultur ist gerade erst im Entstehen begriffen, weswegen die Werte, die die¬ se Weitsicht tragen, sich vor 20 Jahren statistisch noch gar nicht erfassen ließen. Heute treten etwa 29 Prozent der amerikanischen Bevölkerung (d. h. 52 Millionen Erwachsene) für das »transmoder¬ ne« Denken ein. Die kulturell Kreativen sind in fast allen Regionen der USA ver¬ treten. Sie zählen zur mittleren bis oberen Mittelklasse (46 Prozent gehören zum oberen Einkommensviertel der Bevölkerung). Das Alter der kulturell Kreativen beträgt im Mittel 42 Jahre. Mit einem Anteil von 30 Prozent College-Absolventen verfügen sie über eine bessere Ausbildung als alle anderen Subkulturen. Die Geschlechts¬ verteilung liegt bei 40 Prozent Männern und 60 Prozent Frauen. So wie die Sichtweise der Modernisten als Reaktion auf eine in ihren Augen zu Vereinfachungen und Exzessen neigenden Weit¬ sicht des Spätmittelalters entstand, bildete sich die Subkultur der kulturell Kreativen als Reaktion auf die Blindheit und Übertrei¬ bungen der modernistischen Tradition. Doch wenden wir uns nun dem Wertesystem der kulturell Krea¬ tiven auf persönlicher und kollektiver Ebene zu: 286


Wirtschaftswissenschaften und Modernismus Der Großteil der konventionellen Wirtschaftstheorien basiert auf dem modernistischen Weltbild. Obwohl immer mehr Wirtschaftsexperten mit der Tradition brechen, resultierte dieser modernistische Hinter¬ grund in den folgenden Tendenzen, die die Analyse der wirtschaftli¬ chen Realität zu stark vereinfachen: •Alles, was nicht sein kann oder sich nicht messen läßt, existiert nach dieser Auffassung auch nicht. Beispielsweise trägt eine Frau, die für ihre Kinder sorgt, nicht zum Bruttosozialprodukt bei. Dagegen ist die Arbeit von jemandem, der diese Aufgabe beruflich wahrnimmt - al¬ so Geld dafür erhält -, meßbar und »besteht« damit usw. Selbst der Begriff »Volkswirtschaft« wird einfach als Raum definiert, in dem Transaktionen unter Verwendung dieser bestimmten Landeswäh¬ rung stattfinden. •Diese Blindheit gegenüber dem nicht Meßbaren führt zu einer »Cow¬ boy-Wirtschaft«, wie der britisch-amerikanische Wirtschaftswissen¬ schaftler Kenneth Boulding meint. Dem Begriff liegt die Vorstellung zugrunde, daß Cowboys ihr Vieh grasen lassen und, wenn der Boden erschöpft ist, einfach weiterziehen. Unser Umgang mit Ressourcen und unser Landschaftsverbrauch zeugen häufig von dieser Praktik. •Für eine andere Folge wurde von Carlos Andres Perez, venezuelani¬ scher Politiker und Wirtschaftsexperte, der Begriff »Ökonomismus« geprägt. Er bezieht sich auf die Verwendung ausschließlich ökono¬ mischer Kriterien bei der Entscheidungsfindung. Beim Ökonomismus wird im Prinzip nur die reduktionistische Tendenz, die sich manch¬ mal in den modernistischen Naturwissenschaften zeigt, auf die Wirt¬ schaft übertragen. Aber - in den Worten von Albert Einstein ausge¬ drückt - nicht alles, was zählt, läßt sich zählen. Nicht alles, was sich zählen läßt, zählt.

•Auf persönlicher Ebene besteht ihr Hauptanliegen in der Selbst¬ verwirklichung; d. h., ihnen liegt mehr an inneren Werten und innerem Wachstum als an äußerem sozialem Prestige. Sie sind »an der Welt« interessiert (85 Prozent sind Fremdem gegenüber aufgeschlossen). Bei persönlichen Beziehungen ist die Qualität für sie entscheidend (diese Ansicht vertreten 76 Prozent, bei den Modernisten 49 Prozent und bei den Traditionalisten 65 Pro287


zent). Außerdem sind sie meist besser informiert als die Gesell¬

schaft an sich. •Auf der kollektiven Ebene gilt die Sorge der kulturell Kreativen dem Zerfall des Gemeinsinns und der Umwelt. (92 Prozent wol¬ len den Gemeinsinn wieder stärken; 87 Prozent glauben an einen ökologisch nachhaltigen Umgang mit der Umwelt.) Sie werden von Paul Ray als »altruistischer« als jede andere Gruppe einge¬ stuft und erklärten sich zu persönlichen Opfern bereit (84 Pro¬ zent sind altruistisch, bei den Modernisten 51 Prozent und bei den Traditionalisten 55 Prozent). Sie wollen sogar persönlich die Initiative für eine Gesellschaft ergreifen, an die sie glauben (45 Prozent möchten sich »engagieren« [im Vergleich zu mage¬ ren 29 Prozent bei den Modernisten und 34 Prozent bei den Tra¬ ditionalisten]). Erfolg ist den kulturell Kreativen nicht so wich¬ tig (70 Prozent), sie legen größeren Wert auf ihre Freizeit. Frau¬ en im Beruf werden als selbstverständlich betrachtet (69 Pro¬ zent). Die kulturell Kreativen sehen die Zukunft außerdem etwas optimistischer als die anderen (35 Prozent gegenüber 24 Prozent bei den Modernisten und 26 Prozent bei den Traditionalisten).

Bedeutungsvoll ist auch, was die kulturell Kreativen ablehnen: die Intoleranz der religiösen Rechten, den gedankenlosen Hedonis¬ mus der kommerziellen Medien heute und die gedankenlose Um¬ weltzerstörung im Namen des Big Business. Die Zahl der kulturell Kreativen, die binnen einer Generation scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht sind, ist erstaunlich. Auch Menschen, die zu dieser Subkultur gehören, betrachten sich selbst als isolierte Ausnahmen. Der Eindruck von Isolation entsteht aus zwei Gründen: Es gibt erstens keine Organisation, Partei, religiöse Massenbewegung oder dergleichen, mit der man sie in Verbin¬ dung bringen kann. Zweitens werden sie von den Medien nicht beachtet, die sich fast ausschließlich immer noch mit dem moder¬ nistischen Standpunkt befassen. Als der Modernismus aufkam, wußten die »Modernisierenden« sehr gut, daß sie eine Bewegung verkörperten. Die »Medien« der 288


damaligen Zeit verfolgten beispielsweise jeden Schritt von Krasmus von Rotterdam. Dabei machten sie nur 1 oder 2 Prozent der damaligen Bevölkerung aus - im Gegensatz zu den 24 Prozent, die die integrative Subkultur bereits heute umfaßt. Wenn die soziopolitische Realität dieser Entwicklung also eines Tages in Erscheinung tritt, müssen wir mit deutlich schnelleren Veränderungen rechnen als beim Modernismus. Genau das geschieht bereits heute, wenn man Vaclav Havel glaubt (s.S.283). Andere Intellektuelle sind ebenfalls dieser Ansicht (s. Kasten). Ray unterscheidet bei den kulturell Kreativen zwei Typen: die »grünen« kulturell Kreativen und den sog. »harten Kern«, den ich lieber als »integrierte« bzw. »integrative« kulturell Kreative be¬ zeichnen möchte.

Bewußtsein im Wandel

»Stellen Sie sich vor, daß Sie als Historiker irgendwann im nächsten Jahrhundert zurückblicken: Was war Ihrer Meinung nach im 20. Jahr¬ hundert das wichtigste Ereignis für die Welt? ... Ich vermute, daß es et¬ was sein wird, was uns, die wir heute leben, wesentlich weniger spek¬ takulär erscheint, etwas, dessen Bedeutung auch in den nächsten Jahr¬ zehnten noch nicht deutlich werden wird. Es wird etwas so Leises und Unauffälliges sein wie eine Veränderung der Denkweise, etwas, das aus den Tiefen des Unterbewußtseins heraufquillt, sich in der ganzen Welt ausbreitet und alles verändert ... Die Gesellschaft wird sich schon inner¬ halb weniger Generationen so stark von der modernen Industriegesell¬ schaft unterscheiden, wie sich diese von der Gesellschaft des Mittelalters unterschied« (Willis Harman).376

»Jeder Wandel ... basiertauf tieferen Bewegungen und Intuitionen, de¬ ren rationalisierter Ausdruck sich zu einem neuen Bild von der Welt und der Natur des Menschen formt ... Wir stehen auf der Schwelle zu einer neuen Welt und einem Selbst, das befähigt ist, seine Rolle in einem größeren Umfeld zu übernehmen« (Lewis Mumford).377 »Das menschliche Bewußtsein, unser Gespür für andere, wird einen Quantensprung machen. Alles wird sich verändern. Wir werden völlig andere Menschen sein« (Paul Williams).378

289


1. Die grünen kulturell Kreativen (16 Prozent oder 28 Millionen Erwachsene in der amerikanischen Bevölkerung) befassen sich mit der Umwelt und sozialen Aspekten aus weltlicher Sicht. Sie treten häufig aktiv in der Öffentlichkeit auf. Sie konzentrieren sich auf die Lösung der Probleme ihrer Umwelt und sind weni¬ ger an der Entwicklung ihrer Persönlichkeit interessiert. Sie gehören meist der Mittelklasse an. 2. Die integrierten bzw. integrativen kulturell Kreativen (nach Rays Untersuchung 13 Prozent oder 24 Millionen Amerikaner) sind sowohl an der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit als auch am Umweltschutz interessiert. Typische Vertreter dieser Gruppe beschäftigen sich ernsthaft mit Psychologie, dem spiri¬ tuellen Leben, der Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung. Sie probieren gern neue Ideen aus, sind sozial engagiert, be¬ schäftigen sich mit der Emanzipation der Frau und/oder dem Umweltschutz. Sie zählen in der Regel zur oberen Mittelklasse. Das Verhältnis männlich zu weiblich liegt bei 33 zu 67, es sind also doppelt so viele Frauen wie Männer. »Mit der Entstehung der kulturell Kreativen ist die Heilung alter

Risse verbunden: zwischen Innerem und Äußerem, Spirituellem und Materiellem, dem einzelnen und der Gesellschaft. Die Mög¬ lichkeit einer neuen Kultur kreist um die Wiedereingliederung des¬ sen, was der Modernismus zerschlug: die Integration des Selbst und Authentizität, die Einbeziehung der Gemeinschaft und die Verbindung zu anderen nicht nur daheim, sondern auf der ganzen Welt; die Verbundenheit mit der Natur und das Lernen, Ökologie und Ökonomie zu integrieren, und eine Synthese verschiedener Ansichten und Traditionen.«379 Genau diese Eigenschaften wurden von Gebser mit seiner inte¬ grativen Bewußtseinsstruktur vorhergesehen. Wir können daher den Schluß ziehen, daß die Gesellschaft, die die kulturell Kreati¬ ven unbemerkt und unangekündigt schaffen, eine integrative Kul¬ tur ist. Für die globale oder zumindest europäische Entwicklung gibt es 290


Die Stimme des Volkes

In 21 Ländern ziehen über 50 Prozent der Bevölkerung den Umwelt¬ schutz einem Wirtschaftswachstum vor. Dazu zählen erwartungs¬ gemäß Länder wie Dänemark, Finnland, Norwegen, Deutschland, die Schweiz, Niederlande, Großbritannien und Schweden. Doch auch Länder, mit denen man nicht unbedingt gerechnet hätte, sind vertre¬ ten: die USA, Kanada, Mexiko, Brasilien, Irland, Uruguay, Chile, Korea, Polen, Japan, Rußland, Ungarn und Portugal. In vielen Ländern glauben über 50 Prozent der Bevölkerung, daß es ihrem Land mit einem höheren Frauenanteil in der Politik besserginge. Für die USA, Kanada und Westeuropa kommt eine solche Aussage nicht überraschend. Doch auch in Thailand, Indien oder Kolumbien ist man dieser Ansicht.

keine Untersuchung, die sich mit der von Paul Ray vergleichen ließe. Allerdings verwendete das Generalsekretariat der Europäi¬ schen Union Rays Fragebogen zur Erkennung kulturell Kreativer in ihrer monatlich erscheinenden Umfrage im Euro-Barometer, die bei allen 15 Mitgliedsländern durchgeführt wird (800 Interviews pro Land). Zur allgemeinen Überraschung fand man heraus, daß der Anteil der kulturell Kreativen an der Bevölkerung mindestens so hoch wie in den USA ist. Duane Elgin sammelte auf der ganzen Welt Daten zu diesem The¬ ma. Er kommt zu dem Schluß: »Insgesamt betrachtet, deuten die Trends darauf hin, daß sich ein weltweiter Wertewandel voll¬ zieht.«380 Die Weltbevölkerung ist in der Entwicklung zu einer integrativen Gesellschaft den Staatsoberhäuptern und Medien über¬ all voraus. Dieser Trend prägt sich bemerkenswerterweise in den Entwicklungsländern fast genauso stark aus wie in den Industrie¬ nationen (s. Kasten). Elgin verweist auf einen weiteren interessanten und bisher meist vernachlässigten Beleg für integrative Werte: die zunehmende Hinwendung zu einer ganzheitlichen Heilkunde und die Abkehr von der konventionellen Schulmedizin der Modernisten. Und nach einem Artikel in der Zeitschrift Time ist bei Ärzten in Europa

291


kulturell Kreative 29%

Kulturell Kreative schätzen Selbstverwirklichung, legen Wert auf Beziehungen und ökologische Nachhaltigkeit; v Interesse an der Welt; \ besser inform iert; \ Anteil an der Bevölke\ rung stark im Wachsen.

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Traditionalisten / 24%

Modernisten 47%

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schätzen universelle Normen und Säkularität, / persönliche Freiheit und eigene Leistung haben Vorrang; materialistisch; Glaube an technische Lösungen; Anteil an der Bevölkerung nimmt ab.

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Traditionalisten schätzen Familie und Religion, stehen Veränderungen mißtrauisch gegenüber, haben Probleme mit der Komplexität und der modernen Welt; Anteil an der Bevölkerung nimmt ab.

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Abb.22: Prozentzahlen und Weltbild der drei Subkulturen (nach Paul Ray)

der Trend zu ergänzenden alternativen Behandlungsmethoden »enorm«.381 Jede dieser Veränderungen wird für sich genommen häufig als »Marotte« oder kurzlebiger Modetrend gesehen. Wenn man sie je¬ doch als Gesamterscheinung betrachtet, läßt sich daran ein allge¬ meiner Wertewandel hin zu einer integrativen Kultur ablesen. Am erstaunlichsten sind auch hier wieder die Unauffälligkeit, die Ge¬ schwindigkeit und das Ausmaß des Wandels. Abb. 22 faßt die wichtigsten Eigenschaften der drei Kulturen und ihren Anteil an der amerikanischen Bevölkerung im Jahr 1995 schematisch zusammen.

292


Ein archetypisches Schema der drei Subkulturen Diese drei Subkulturen werden wir nun auf den archetypischen Menschen übertragen. Dabei wollen wir noch einmal betonen, daß im Leben aller Individuen bis zu einem gewissen Maß alle fünf Archetypen aktiv sind. Wenn das nicht zuträfe, wäre das Schema des archetypischen Menschen ungültig! Allerdings variiert die Betonung jedes Urbilds stark, sowohl in seiner Intensität als auch in dem Ausmaß, wie es sich im öffentli¬ chen oder privaten Leben äußert. Das läßt sich mit dem Zuberei¬ ten von Nahrungsmitteln vergleichen. Alle Köche auf der Welt bereiten Speisen zu, die meist die gleichen Grundstoffe wie Pro¬ teine, Kohlehydrate, Salz, Wasser oder Gewürze enthalten. Doch ist die Gewichtung eindeutig unterschiedlich. Vergleicht man die Küchen untereinander, könnte man vereinfacht beispielsweise sa¬ gen, daß Indien bei der Verfeinerung mittels Gewürzen unüber¬ troffen ist, Frankreich bei der Raffinesse der Soßen, Italien bei Pastagerichten und Japan bei der eleganten Präsentation der Spei¬ sen. Aber überall basiert eine hervorragende Mahlzeit in gewissem Maße auf den gleichen Komponenten. Nun folgt ein Versuch, die relative Betonung bestimmter Ar¬ chetypen in jeder Subkultur zu erkennen. Da wir uns vor allem für den Umgang mit Geld interessieren, ist in erster Linie die Art von Bedeutung, wie jede Subkultur regelmäßig jeden Archetyp im öf¬ fentlichen Leben belohnt. In der folgenden Darstellung wird da¬ her nicht beschrieben, wie die Menschen sind, sondern was in ih¬ rer Subkultur Belohnung findet. Abweichendes Verhalten wird meist als »unanständig«, »unpassend«, »verrückt« oder »sündhaft« und dergleichen mehr verurteilt. Bei den Traditionalisten genießt die Religion besonderen Vorrang. Tn den USA handelt es sich beim Großteil der Traditionalisten um strenggläubige Katholiken, Mormonen, Protestanten, verschiede¬ ne Fundamentalisten und einige Jüdisch-Orthodoxe. Sie alle ha¬ ben die gleiche Vorstellung von einem jüdisch-christlichen Him293


melsgott, der mit dem Archetyp des Krieger-Königs verbunden ist. Im selben Maße, wie das Leben der Traditionalisten von ihrem Glauben gelenkt wird, sind auch die Archetypen des Herrschers und Kriegers aktiv. Dies wird durch die Tatsache bekräftigt, daß viele ein starkes Mißtrauen gegenüber der Technologie und ande¬ ren Neuerungen der Moderne empfinden (d. h., sie haben oft ei¬ nen schwachen Magier). Ray und Anderson erklären dazu: »Nach den Ansichten der Traditionalisten sollten wieder Patriarchen in allen wichtigen Bereichen des Lebens dominieren.«;*82 Keiner der beiden Yin-Archetypen ist besonders aktiv (d. h., Große Mutter und Liebhaber sind relativ schwach). Vereinfacht ausgedrückt, fügten die Mociemisten dieser Mischung nur noch den Magier hinzu. Die Kombination erweist sich als so stark, daß die Moderne in den letzten Jahrhunderten auf die Na¬ turwissenschaften und den technischen Fortschritt vertraute und damit die Welt eroberte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. All das ist in Abb. 23 dargestellt. Eine Ellipse hebt die aktivsten Archetypen beider Weltanschauungen hervor.

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Herrscheÿ (König/Königm)

: Liebhaber

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Große Mutter (Ernährerin)

Abb. 23: Der archetypische Mensch, die traditionalistischen und die modernistischen Wertvorstellungen

294


Man muß nur einen Archetyp hinzufügen, damit es zwischen den Subkulturen zu Spannungen, ja sogar Konflikten kommt. Die Wur¬ zeln für die »Kriege der Kulturen« zwischen Traditionalisten und Modernisten liegen in der europäischen Renaissance. In Amerika gehen sie mindestens bis ins 19.Jahrhundert zurück. Beachten Sie, daß die Gruppe mit dem reichsten archetypischen System, die Mo¬ dernisten, den Krieg gewann. Allerdings hatten Giordano Bruno, Galileo Galilei und viele andere guten Grund, ein derartiges Er¬ gebnis zu bezweifeln, da sie ihre lokalen Kämpfe an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten verloren. Doch setzen wir jetzt unsere Erkenntnisse in einen größeren Zu¬ sammenhang und betrachten die Natur neuerer Herausforderun¬ gen an den Modernismus: Fast alle erwiesen sich als hochspeziali¬ sierte Ablehnungen verschiedener Seiten der Yang-Tendenzen, die in unsere gesellschaftlichen Werte eingebettet sind. Es folgt eine Liste, die auf den ersten Blick wie eine willkürliche Aufreihung al¬ ler größeren, einander überlappenden sozialen Bewegungen des 19. und 20.Jahrhunderts wirkt: •die Transzendentalphilosophie des 19.Jahrhunderts, •die Anfänge der Frauenbewegung (»Suffragetten«), •die Bürgerrechts- und Friedensbewegung, •die Hippie-»Blumenkinder« der 60er Jahre, •die Grünen, •alternative Medizin (auch vegetarische Ernährung und die Be¬ ziehung zwischen Körper und Seele), •humanistische, Öko- und transpersonale Psychologie, •die Schwulenbewegung, •die Genossenschaftsbewegung, •die heutige Frauenbewegung, •Bewegungen zum »neuen Denken« und zu »neuer Spiritualität« •sowie schließlich die New-Age-Bewegung. Diese Herausforderungen haben alle etwas gemeinsam. Sie versu¬ chen auf ihre eigene Weise, eine Facette der dominanten YangTendenzen des Modernismus zu hinterfragen. Der Grund für ihre 295


Spezialisierung und Fragmentierung ist in der Natur des Modernis¬ mus zu suchen. Dieser teilte alle Aspekte des Lebens in immer en¬ gere und speziellere Kategorien ein. Daher kommt es nicht über¬ raschend, daß derartige Herausforderungen in so spezieller Form auftreten, besonders weil praktisch alle Mitglieder der obenge¬ nannten Bewegungen einmal selbst Modernisten waren. Infolge der Fragmentierung ist den meisten Menschen die gemeinsame Basis der Bewegungen gar nicht bewußt, also das Programm, YinF.nergie wieder zurückzugewinnen. Viele versuchen beispielsweise, unterschiedliche Formen der weiblichen Energie zu stärken (etwa die Emanzipation, Friedens¬ bewegung, Schwrulenbewegung, Genossenschaftsbewegung, die derzeitige Frauenbewegung). Andere fordern den hyperrationalen apollinischen Schatten heraus, der die Seele vom Körper, den Geist von der Materie trennt (Transzendentalismus, alternative Medizin, humanistische und transpersonale Psychologie, neue Spiritualität, New Age). Einige beziehen sich explizit auf die fehlende archety¬ pische Energie. Die Hippies kann man beispielsweise als Revolte des dionysischen Schattens betrachten. Auch die Grünen, die Ökopsychologie und die wissenschaftlichen Debatten über die »Gaia-Hypothese«383 beziehen sich auf ein Wiedererwachen des Archetyps der Großen Mutter. Wir könnten jede dieser Bewegungen in unser Schema eintragen. Allerdings würden wir dann das Schema mit überflüssigen Infor¬ mationen überladen. Die Fragmentierung der Bewegungen würde den Nutzen des Schemas noch zusätzlich einschränken. Statt dessen werde ich nur die beiden »Flügel« von Rays kulturell Kreativen eintragen und damit den Überblick über die drei wich¬ tigsten Subkulturen in den USA beenden: 1. Die grünen kulturell Kreativen verkörpern die Energie der Großen Mutter/Ernährerin. Sie unterscheiden sich außerdem von den Modernisten und Traditionalisten in ihrer Ablehnung jeglicher hierarchischer Autorität. Ihre Energie des Kriegers ist aktiviert, sie engagieren sich stark. Obwohl einige mit den Traditionali¬ sten das Mißtrauen gegenüber der Technik und dem »moder296


ncn« Fortschritt teilen, gibt es unter ihnen nur wenige maschi¬ nenstürmende Neo-Ludditen. Ich habe sie in Abb. 24 bei den Grünen eingetragen. Anhand des Schaubilds können wir leicht Vorhersagen, daß die Konfliktgebiete zwischen Grünen und der Mainstream-Kultur der Modernisten bei der Nachhaltigkeit (Große Mutter) und der Autorität/Hierarchie (Herrscher) lie¬

gen. 2. Die integrierten bzw. integrativen kulturell Kreativen schließlich zielen auf eine Implementierung aller fünf Archetypen in aus¬ geglichener Weise. Sie stellen die Frühform einer integrativen Kultur dar, die Gebser angekündigt hatte. Allerdings müssen wir uns darauf gefaßt machen, daß die volle Integration aller fünf Archetypen - von C. G. Jung als Individuation bezeichnet -mehrere Generationen dauern wird. Auf breiter Basis kann sie vielleicht nie erreicht werden. Wichtig ist hier jedoch der Weg, weniger das Ziel. Abb. 24 vervollständigt das vorherige Schau¬ bild durch die beiden neuen Subkulturen.

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Abb. 24: Der archetypische Mensch, traditionalistische, modernistische und integrative Wertvorstellungen

297


Zurück zum Geld Wir können nun alles zusammenfassen, was wir aus der archety¬

pischen Analyse verschiedener Währungssysteme und Subkultu¬ ren gelernt haben. Im Bild läßt sich dieses Resümee am einfach¬ sten mit einem stufenförmigen Graph wie in Abb. 25 darstellen.384 Das Schaubild betont die kumulative Natur der archetypischen Energie bei der Entwicklung des Geldes. Die einzelnen »Stufen« se¬ hen wie folgt aus: 1. Warenwährungen sind die erste Stufe nach dem Tauschhandel, bei dem gar keine Währung verwendet wird. Wir haben bereits besprochen, daß in Kriegszeiten oder bei langen Unruhen das Warengeld als einzige Währung bestehenbleibt, d.h., daß ein Produkt selbst in gesetzlosen Zeiten einen direkten Nutzen hat. Als klassische Beispiele für Warenwährungen wurden Salz und Zigaretten genannt. Für dieses System braucht man nur die Energie des Kriegers. 2. Wenn es eine vertrauenschaffende zentrale Autorität gibt, em ittiert diese normalerweise ihre eigene Währung für ihren Herr¬ schaftsbereich. Beispiele dafür sind Sumer, China und Europa aktive Archetypen

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Abb. 25: Währungssysteme und kumulativ aktive Archetypen

298


Währungssysteme und biblische Gebote Der Kongreßabgeordnete Bill Dannemeyer, ein Konservativer aus Süd¬ kalifornien, schrieb an seinen Wahlkreis: »Es ist kein Zufall, daß das amerikanische Experiment mit einem Papierdollarstandard, einem va¬ riablen Standard, zeitlich mit der Frage zusammenfällt, ob die ameri¬ kanische Gesellschaft auf der jüdisch-christlichen Ethik basiert oder dem weltlichen Humanismus. Die Ethik umfaßt formale Regeln von Gott, die uns über die Bibel vermittelt werden. Der Humanismus um¬ faßt Regeln, die der Mensch aufstellte und zurechtformte, wie er es für richtig hielt.«385

von den klassischen Mittelmeerkulturen bis zum 1 /.Jahrhun¬ dert. Dieses System war offenbar hervorragend an die präindu¬ strielle (d.h. Agrarwirtschaft angepaßt. Es mobilisierte und brauchte nur zwei Archetypen, um zu funktionieren: den Krie¬ ger und den Herrscher. Mit dieser Welt fühlten sich die Tradi¬ tionalisten wohl. Das erklärt, warum selbst heute noch einige von ihren Nachfolgern argumentieren, wir sollten zu auto¬ ritätsgestützten Währungen wie Goldmünzen zurückkehren. Der Sinn liegt darin, daß diese Währungsform die beiden Ar¬ chetypen aktiviert, die in der Subkultur der Traditionalisten am stärksten belohnt werden. Es erklärt auch, warum die Traditio¬ nalisten dem modernen »Papiergeld« so mißtrauisch gegen¬ überstehen (s. den Kasten »Währungssysteme und biblische Gebote«). 3. Wir wissen bereits, daß man für das Entstehen einer modernen Bankgeldwährung drei aktive Archetypen braucht: den Herr¬ scher, den Krieger und den Magier. Diese Währungsform paßt hervorragend zu den Modernisten (s.Abb.23). 4. Die Beispiele für diese Stufe sind weniger fest umrissen und deutlich älter. Hier kommt nun auch noch die Große Mutter zu den anderen Archetypen hinzu. Währungen, die das Prinzip der Nachhaltigkeit mit finanziellen Interessen verbinden, wür¬ den zu dieser Stufe passen.386 Man könnte behaupten, das ägyp299


tische Währungssystem mit den Liegegebühren kommt dem System, das den Archetyp der Großen Mutter mit einbezieht, am nächsten. 5. Ein monetäres System, das alle fünf Archetypen aktiviert, exi¬ stiert bislang noch nicht. Ich vermute, daß cs sich nicht mit ei¬ ner Währung schaffen läßt, sondern noch die offizielle Förde¬ rung durch lokale Komplementärwährungssysteme brauchen würde. Wir haben gesehen, daß sich in der Geschichte in Ägyp¬ ten und im Mittelalter solche duale Systeme von selbst ent¬ wickelten. Ich schlage eine ähnliche Strategie vor, allerdings schließt sie ein bewußtes Handeln mit ein: Dabei werden die heutigen konventionellen Landeswährungen (die den Herr¬ scher, Krieger und Magier stärken) durch Währungen des YinTyps ergänzt, wie z. B. wechselseitige Kreditsysteme auf lokaler Ebene. Aus traditioneller wirtschaftswissenschaftlicher Sicht bedeutet dies, daß die Teilnehmer eines solchen wechselseiti¬ gen Kreditsystems gegenseitig ihr soziales Kapital anerkennen und so ihr Entwicklungspotential verbessern (siehe den Kasten »Komplementärwährungen und die Schaffung von Reichtum«, rechte Seite). Eine derartige Strategie wurde schon an anderer Stelle ausführlich vorgestellt.387 Vielleicht gibt es zur Aktivie¬ rung aller fünf Archetypen noch andere Wege als ein duales Währungssystem, doch ich habe sie bisher noch nicht gefun¬ den.

Abb. 26 zeigt die Anzahl der Komplementärwährungen, die bisher in einigen Ländern verwendet werden. Die Tatsache, daß die Zahl der praktizierten Komplementärwährungssysteme des Yin-Typs innerhalb von 16 Jahren von null auf etwa 2500 anstieg, ist daher mehr als eine bloße Kuriosität. Sie zeigt, daß die kulturell Kreati¬ ven diejenigen sind, die derartige Yin-Währungen in Gang brin¬ gen. Intuitiv spüren viele kulturell Kreative, daß für sie mit den konventionellen Landeswährungen »etwas nicht stimmt«. Da sie die aktivste der drei Subkulturen sind, unternehmen sie etwas dagegen. 300


Komplementärwährungen und die Schaffung von Reichtum (Eine Randnotiz für Wirtschaftsexperten) Als Immobilien noch die Hauptform des Reichtums darstellten, verlie¬ hen Banken Geld fast ausschließlich gegen Sicherheiten in Form von Land oder Gebäuden. In den letzten 50 Jahren wurden allmählich neue Formen des Reichtums erkannt und als Sicherheit verwendet. So kann man heute in einigen Ländern beispielsweise einen Kredit aufnehmen, um sein Universitätsstudium zu finanzieren, und das höhere Einkom¬ men, das der Universitätsabsolvent dann später hoffentlich einmal ha¬ ben wird, dient dabei als Sicherheit. Zu beachten ist hier, daß selbst aus traditioneller wirtschaftswissenschaftlicher Sicht bei diesem Vor¬ gang ein zusätzlicherfinanzieller Reichtum geschaffen wird. Das Geld, das aufgrund einer zukünftigen Sicherheit verliehen wird, ermöglicht Geschäfte (d. h. wirtschaftliche Aktivität) und Investitionen (in die Aus¬ bildung), zu denen es sonst nicht käme. Stellen Sie sich den Rückgang der Vermögensbasis vor, wenn geistiges Eigentum keine Anerkennung fände, falls wir beispielsweise zu der Idee zurückkehrten, daß Geld nur an Menschen verliehen werden könne, die bereits ein Haus besitzen. Komplementärwährungen ermöglichen ein ähnliches Verfahren zur Schaffung von zusätzlichem Vermögen: Die Anerkennung einer ande¬ ren Form des Kapitals (soziales Kapital) ist die Grundlage für wechsel¬ seitige Kreditsysteme. Das ermöglicht wiederum Geschäfte, die an¬ sonsten nicht zustande kämen. Wieder wird also Vermögen geschaf¬ fen, dieses Mal finanzielles und soziales Vermögen. Mit gut geplanten Komplementärwährungen übt man dabei nicht einmal inflationären Druck auf die Landeswährung aus. Die wirtschaftliche Entwicklung läßt sich als Fähigkeit definieren, Res¬ sourcen in Kapital zu verwandeln. In diesem Sinne könnten Komple¬ mentärwährungen eine wichtige Form der Entwicklung werden.

Die oben aufgeführte Analyse zeigt allerdings auch eine Tatsache, die von den kulturell Kreativen manchmal übersehen wird. Es könnte kontraproduktiv sein, wenn man versuchte, die offiziellen Währungen durch die Yin- Währungen zu ersetzen. Beide Wäh¬ rungsformen sind notwendig, um alle fünf Archetypen zu aktivie¬ ren. Andererseits läßt sich die Überzeugung der Modernisten, daß ein Monopol der Landeswährungen gewährleistet sein müsse, 301


3000 2500-

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Abb. 26: Zahl der komplementären Währungssysteme des Yin-Typs, die in einem guten Dutzend Länder Anwendung finden (1984-ÿ2000)

»weil es effektiver ist«, ebensowenig rechtfertigen. Wer die Ver¬ wendung von Yin-Währungen verbietet oder behindert, müßte auch die Verantwortung für die Lösung der sozialen Probleme übernehmen, die ein Monopol der Bankgeld-Währungen mit sich bringt. Das alles könnte ohnehin nur eine Frage der Zeit sein. Falls Jean Gebser recht damit hat, daß das integrative Bewußtsein die nächsthöhere Entwicklungsstufe der Menschheit ist, dann wird es auch zu einem Ansatz kommen, der die Yin-Energien stärkt. Das Auftreten der Yin- als Komplementärwährungen (ähnlich wie es »von selbst« im mittelalterlichen Europa und im alten Ägypten da¬ zu kam, als der Archetyp der Großen Mutter geehrt wurde) gilt da¬ bei nur als eines von vielen Anzeichen für diesen Prozeß. Oder wenn man es in den Worten Antoine de Saint-Exuperys sagen möchte »Die Wahrheit ist nicht demonstrierbar. Die Wahrheit ist unabwendbar.«

302


Die Bedeutung unserer Krise Richard Tarnas beschrieb die »patriarchale Verengung des westli¬ chen Denkens während der letzten 5000 Jahre als Geburtskanal der Großen Mutter«.38” Seiner Ansicht nach war die gesamte Kntwicklung zum »dominatorischen Prinzip« die notwendige Vorbe¬ reitung für die Große Mutter und die Rückkehr zum vollen Be¬ wußtsein (s. Kasten).

Die Bedeutung der patriarchalen Krise »Ich würde ... die unverzichtbaren Ideale bestätigen, die von den An¬ hängern feministischer, ökologischer, archaischer und anderer gegenund multikultureller Perspektiven vorgetragen werden. Ich möchte aber auch die Ideale bekräftigen, die die westliche Tradition aufgewer¬ tet und erhalten haben, denn ich bin der Ansicht, daß diese Tradition - die gesamte Entwicklung von den Dichtern der griechischen Epen und den hebräischen Propheten, der langen intellektuellen und spiri¬ tuellen Auseinandersetzung von Sokrates, Plato, Paulus, Augustinus, Galileo, Descartes bis zu Kant und Freud -, daß diese enorme Kultur¬ leistung des Westens als ein notwendiger und edler Teil einer großar¬ tigen Dialektik betrachtet und nicht einfach als imperialistisch-chauvi¬ nistische Verschwörung abgelehnt werden sollte. Diese Tradition er¬ reichte nicht nur die fundamentale Differenzierung und Autonomie des Menschen, die allein die Möglichkeit für eine größere Synthese schaffen kann, sondern bereitete auch gewissenhaft den Boden für ih¬ re eigene Selbst-Transzendenz ... Jede Perspektive, ob männlich oder weiblich, wird hier bestätigt und transzendiert. Sie wird als Teil eines größeren Ganzen erkannt, denn jede Polarität benötigt die andere für ihre Erfüllung. Und ihre Synthese führt über sie selbst hinaus, sie bringt eine unerwartete Öffnung zu einer höheren Realität, die vorher nicht verstanden werden kann, denn diese neue Realität ist selbst ein kreati¬ ver Akt. Aber warum steht uns das alles durchdringende männliche Wesen der westlichen Tradition plötzlich so deutlich vor Augen, ob¬ wohl es doch für fast jede vorherige Generation unsichtbar war? Ich denke, weil, wie Hegel sagte, eine Kultur sich selbst nicht bewußt wer¬ den kann, ihre eigene Bedeutung nicht erkennen kann, bis sie so reif ist, daß sie kurz vor ihrem eigenen Tod steht.«389

303


Zusammenfassend möchte ich sagen, daß die begonnene Ent¬ wicklung den Wandel von einem Modell der Dominanz/Kontrolle zu einem Modell der Wechselseitigkeit/Partnerschaft darstellt. Die gute Nachricht dabei lautet, daß der allgemeine Pessimismus, der die öffentliche Diskussion und die Medien im Westen durchzieht, möglicherweise ungerechtfertigt ist. Die nächste Kultur hat viel¬ leicht schon Wurzeln geschlagen, man muß nur wissen, wo man danach suchen soll. Sie könnte den Raum bieten, in dem jede Sub¬ kultur ihren spezifischen Beitrag zum Gesamten leistet: •die Traditionalisten den Beitrag, daß man sich für seine Werte einsetzen muß und daß das Wissen vergangener Zeiten ein wichtiger Beitrag für die Zukunft ist, •die Modernisten die Beiträge der Innovationen sowie einer wah¬ ren Universalität und •von den kulturell Kreativen die Beiträge der Nachhaltigkeit und der Gemeinschaft.

304


Kapitel 9

Unsere Zukunft, unser Geld

»Wir sind keine menschlichen Wesen mit spiritueller Erfahrung. Wir sind spirituelle Wesen mit menschli¬ cher Erfahrung.«390 Teilhard de Chardin »Was ich bin, ist gut genug, Wenn ich es nur offen täte.«

Carl Rogers

»Wie wenig wissen wir von dem, was wir sind! Und wieviel weniger von dem, was wir sein werden!« Lord Byron

Die Zukunft unserer Gesellschaft verändert sich. Wenn wir uns dem Tabu des Geldes stellen können, bieten sich uns heute außer¬ gewöhnliche Möglichkeiten. Ihnen allen liegt zum erstenmal seit vielen Jahrhunderten ein bedeutender archetypischer Wandel zu¬ grunde, der sich in der westlichen Welt vollzieht. »Es ist alles eine Frage der Geschichten. Wir befinden uns jetzt in Schwierigkeiten, weil wir keine gute Geschichte haben. Wir stehen zwischen den Geschichten. Die alte Geschichte funktioniert nicht mehr richtig, und die neue kennen wir noch nicht.«391 Ich will daher dieses Buch abschließen, indem ich die weitere Ge¬ schichte des Geldes auf verschiedene Weise erzähle, um eine mög¬ lichst komplexe Vorstellung davon zu vermitteln. Ich werde zwi¬ schen sachlicher und phantastischer Sprache wechseln, um zu ver¬ meiden, daß sie jemand für »real« hält. Eine vielschichtige Per¬ spektive soll einen Schutz vor dieser Illusion bieten. Jede Geschichte wird von einem der fünf Archetypen erzählt. Der Herrscher beispielsweise bewertet den Zustand seines Reichs und legt eine Magna Charta für die Zukunft vor, der Magier hin305


gegen wird das Vokabular des archetypischen Reichs aktualisieren. Der Liebhaber spricht mit der Stimme eines alten Sufi-Poeten und, wenn Sie wollen, auch mit Ihrer eigenen Stimme. Der Beitrag des Kriegers wiederum erfolgt in Form einer aktiven Strategie. Und schließlich werden wir ein Märchen von der Großen Mutter lesen, ihre Zukunftsperspektive also in der Erzählform rezipieren, in der ihre uralten Methoden seit ewigen Zeiten bewahrt wurden.392 Da die Integration ein Schlüssel für unsere Zukunft ist, erscheint es sinnvoll, dem Herrscher das erste Wort zu überlassen, denn auch eine seiner wichtigsten archetypischen Funktionen ist die In¬ tegration.

Die Stimme des Herrschers: Eine Magna Charta für die Zukunft »Als ich keine Flügel zum fliegen hatte, flogst Du zu mir. Als ich kein I.ied zu singen hatte, sangst Du es für mich. Als ich keine Saiten zum Spielen hatte, spieltest Du für mich.«393

Grateful Dead Im Jahre 1215 Unterzeichnete ein Herrscher einen Vertrag, der die Rechte seiner Barone verbriefte, die für »das ganze Volk Englands« zu sprechen Vorgaben:394 Die Magna Charta war ein Spiegel für den Wandel in einer Gesellschaft. Heute zeichnen sich jedoch viel größere Veränderungen ab. Obwohl in den letzten Jahrhunderten auf zahlreichen Gebieten außergewöhnliche Fortschritte erzielt wurden, warten immer noch unfaßbar viele Aufgaben darauf, im 21. Jahrhundert bewäl¬ tigt zu werden. Denn es ist ein ernüchternder Gedanke, daß von 1000 Menschen in meinem Weltreich etwa •990 keine oder nur geringe Sparguthaben besitzen, •800 in unzureichenden Unterkünften wohnen, •600 in Armut leben (weniger als 3 Euro am Tag), •200 chronisch unterernährt sind, •450 unter einem nichtdemokratischen Regime leben,395 306


•330 eine Lebenserwartung unter 40 Jahren und ein Einkommen von weniger als 1 Euro am Tag haben,396

•250 Analphabeten bleiben, •ganze 60 die Hälfte des Vermögens der gesamten Welt besitzen, •lediglich 10 einen Universitätsabschluß vorweisen können und •nur magere 8 Zugang zum Internet und somit zum Informati¬ onszeitalter haben. Die Armen und Minderprivilegierten meines Reichs sind Teil des

kollektiven Schattens, der integriert werden muß, wenn die Menschheit eine nachhaltige Zukunft haben will. Die Kosten dafür, jeden Menschen ausreichend mit Nahrung, Wasser, Bildung und Unterkunft zu versorgen, entsprechen etwa denen, die welt¬ weit alle zwei Wochen für Waffen ausgegeben werden. Die Bedeu¬ tung solcher Verhältnisse wurde bereits vor Tausenden von Jahren erkannt: »... wo die Scheunen ganz leer sind, /aber die Kleidung schmuck und prächtig ist;/wo jeder ein scharfes Schwert im Gür¬ tel trägt;/wo man heikel ist im Essen und Trinken/und Güter im Überfluß sind:/da herrscht Verwirrung, nicht Regierung.«397 Der nachhaltige Wohlstand ist realisierbar. Doch man benötigt die Anstrengung vieler Menschen auf diesem Planeten - etwa so wie damals beim Bau der Kathedralen -, damit er in dieser Welt verwirklicht werden kann. Nur wenn die sog. dritte Welt ohne Zwischen station im Industriezeitalter den Sprung ins Wissenszeit¬ alter schafft, hat dieser Planet die Chance, die Weltbevölkerung auf ihrem derzeitigen Stand zu versorgen. Ich schlage daher als »Kathedralen des 21.Jahrhunderts« folgende Projekte vor: •die ökologische Säuberung und die Anwendung nachhaltiger Prinzipien, • Linderung der Klimaveränderung, •die Restaurierung der Städte, •die Senkung des Analphabetentums weltweit, •Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Bildung und Inspiration für Milliarden Menschen, •die Gelegenheit für alle, zu lernen und sich kreativ zu betätigen. 307


Solange es Aufgaben an solchen »Kathedralen« gibt, haben wir zweifellos auch genügend Arbeit für alle, und das nicht nur in die¬ ser Generation, sondern auch in vielen kommenden. Jeder kann in seiner Heimatstadt, vor der eigenen Haustür damit beginnen, man darf nur nicht vergessen, daß jeder blankpolierte Stein vor der Schwelle zur globalen »Kathedrale« gehört. Eine Utopie? Natürlich. Aber das waren die Magna Charta, die amerikanische Verfassung, die Charta der Vereinten Nationen, das Rote Kreuz, die Menschenrechte oder »amnesty international« ebenfalls. Letztlich wird das Leben der Menschen nur nachhaltiger, wenn viele Einzelpersonen - darunter auch Sie, wenn Sie wollen - bereit sind, die nötige Initiative zu ergreifen. Man redet viel von »ler¬ nenden Organisationen« und davon, daß »Wissen« für die Wirt¬ schafts- und andere Einrichtungen zur bedeutendsten Ressource wird. Der wichtigste Schlüssel für die »Wissensgesellschaft« ist je¬ doch, daß die Menschen lernen, kreativ zu sein. Jahrtausende setz¬ ten wir Autorität und Kontrolle ein, damit sich die Menschen aus Furcht der Konformität fügten und gehorchten. Doch zur Kreativität kann man niemanden zwingen. Wir werden einen anderen Weg brauchen. Aus diesem Grunde habe ich als Herrscher beschlossen, jedem Menschen in meinem Reich die höchste Autorität und Verantwortung für eine Integration zu er¬ teilen. Geld war stets ein Vorrecht des Herrschers. Die Tatsache, daß Konzerne und Gemeinschaften bereits ihre eigenen Währungen herausgeben, bestätigt nur ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Einige tausend Jahre an Erfahrung auf diesem Gebiet haben mich vieles gelehrt, was meiner Meinung nach hier von Bedeutung ist. Von all meinen Machtinstrumenten war Geld am schwierigsten zu handhaben, denn es entwickelt eine Eigendynamik. Wenn je¬ mand ein Gesetz erläßt und ihm dann nicht gefällt, was seine Un¬ tertanen damit anfangen, kann er es zurückziehen oder verändern. Sobald aber jemand Geld emittiert, hat er keinerlei Einfluß darauf, 308


was die Menschen damit anstellen. Geld fließt von Hand zu Hand, vom Geschenk zum Verbrechen, vom Leben zum Tod, und das al¬ les mit völligem Gleichmut und stetem Tempo. Mit der Macht zum Geldschöpfen kommt auch die Verantwor¬ tung, daß man sich bewußt ist, welche Gefühle in der Währung eingebettet sind. Denn sie werden Ihr Königreich länger verzau¬ bern und heimsuchen, als Sie es sich vorstellen können. Ein nach¬ haltiger Wohlstand benötigt als Voraussetzung ein nachhaltiges Währungssystem. Praktisch bedeutet dies, daß die vorherrschende Yang-Währung, die von einer zentralen, hierarchisch gegliederten Kontrolle geschaffen wird, durch Yin-Währungen ergänzt wird, die die Menschen selbst initiieren. Zu den Währungsinnovatio¬ nen, die sich als besonders effektiv erwiesen, gehören: •selbstorganisierte wechselseitige Kreditsysteme, die sicherstel¬ len, daß immer ausreichend Geld in Umlauf ist, •Liegegebühren, die das Horten verhindern und den Austausch fördern. Ich erteile nun meinem treuen Vasallen, dem Magier, das Wort, der den folgenden Bericht vorbereitet hat.

Die Stimme des Magiers: Eine Aktualisierung des archetypischen Vokabulars »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Ge¬ heimnisvolle ... Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot.« Albert Einstein

Auf Anordnung unseres Herrschers: In Anbetracht der Tatsache, daß die bevorstehende Aufgabe die Integration in allen Aspekten der Gesellschaft sein wird, und angesichts dessen, daß die ar¬ chetypischen Bezeichnungen für frühere Zeiten gestaltet wurden, wird hier ein neues Vokabular vorgeschlagen, das sich für die ge¬ genwärtige Übergangsphase besser eignet, wie anhand des Schau309


bilds zu sehen ist (Abb. 27). Dieses neue Schema beschreibt Vor¬ gänge statt Urbilder. Außerdem sind sie alle androgyn, damit für Männer sowie Frauen gleichermaßen zugänglich. Integration (Herrscher)

Seele

Schutz (Krieger) Feuer

Partnerschaft (Liebhaber) Wasser

Wissen und Lehren

(Magier) Luft

Ernähren und Erhalten (Große Mutter) Erde

Abb.27: Ein Schema des Menschen für unsere Zeit der »Homo universalis« und die archetypischen »Elemente«

Die Natur der an den einzelnen Vorgängen beteiligten Energien ist

selbstverständlich immer noch die gleiche wie beim alten arche¬ typischen Menschen (s.Abb. 10). Doch die Wörter »Herrscher«, »Krieger«, »Magier« usw. beziehen sich auf eine soziale Organisati¬ on in einer fernen, von der Landwirtschaft geprägten Vergangen¬ heit. Dieses aktualisierte Schema hebt einige Aspekte der Arche¬ typen hervor, die ansonsten nicht so augenfällig wären. Die vor¬ geschlagene Form ist stärker ganzheitlich angelegt, am Inneren und weniger am Äußeren orientiert, sie basiert auf Verantwortung anstatt auf Gehorsam, und Beziehungen gründen auf Gleichstel¬ lung/Zusammenarbeit im Gegensatz zu dem früheren Gespann Hier-

archie/Kontrolle. Für diejenigen, die gern die archetypischen »Elemente«, wie sie in vielen uralten Überlieferungen Vorkommen, in das Schema ein¬ beziehen würden, sind die Beziehungen im Schaubild vermerkt, 310


d. h. Feuer, Wasser, Luft, Erde und die »Quintessenz« der Seele. Ein Schlüssel zu der notwendigen Veränderung bei meinem wichtig¬ sten Werkzeug - dem Verstand - liegt darin, die Angst vor dem Pa¬ radox zu überwinden, das vor allem von dem hyperrationalen apollinischen Schatten gefürchtet wird. Ein Beispiel für einen Widerspruch, mit dem wir vielleicht zu le¬ ben lernen müssen, ist das Gleichgewicht zwischen den Prioritä¬ ten des einzelnen und der Gemeinschaft. Der Individualismus, das Bewußtsein von der Bedeutung des Individuums, war und ist eine positive Kraft, die wesentlich zur Entwicklung des westlichen Den¬ kens über Jahrtausende beitrug. Sie stand im Gegensatz zum Kol¬ lektivismus, in dem das Individuum unweigerlich dem »Gemein¬ wohl« geopfert wurde. Allerdings hat die moderne Gesellschaft mittlerweile ein Stadium erreicht, das als »unheilbar individuali¬ stisch« bezeichnet wird. Den Ausweg bietet jedoch nicht eine Rückkehr zur Opferung des Individuums für das Gemeinwohl. Statt dessen besteht eine Möglichkeit darin, durch den einzelnen die Verbindung mit dem Ganzen zu sehen. Ein derartiger Durch¬ bruch liegt unserer Wiederentdeckung der Bedeutung von Ge¬ meinschaft als Unterstützung für das Individuum zugrunde. Men¬ schen sind soziale Wesen, sie brauchen die Gemeinschaft als Nah¬ rung für die Seele und um ihren Abenteuern einen Sinn zu geben . Eine passende Metapher für das Individuum wäre der Finger an einer Hand oder eine Welle in einem Ozean. Jeder Finger kann in¬ dividuell handeln, einzigartige Fähigkeiten entwickeln, ganz spe¬ zielle Beiträge leisten. Aber kein Finger vermag unabhängig von der Hand zu leben. Jede Welle ist einmalig, macht ein einzigarti¬ ges Geräusch und Platschen am Strand, gewinnt ihre wahre Be¬ deutung aber erst in Verbindung mit dem Meer. Ein weiteres Paradox ist die Bedeutung der Intersubjektivität bei allem, was uns begegnet. Anstatt immer nur auf die Knoten in je¬ dem System zu schauen - jeden Archetyp, jedes Individuum, Land, akademische Gebiet, jede Idee, jeden Datenschnipsel müssen wir lernen, simultan auf die Verbindungen und Interaktionen zwi¬ schen ihnen zu blicken. Bisher sahen wir in erster Linie die Kno311


ten im Fischernetz. Jetzt müssen wir das ganze Netz als einzigen Gegenstand entdecken - Knoten und Verbindungen. Das ist bei¬ leibe keine einfache Aufgabe, wie etwa der Metalog von Gregory Bateson zeigt (s. Kasten).

Metalog598 Tochter: Ich habe einmal ein Experiment durchgeführt. Vater: Ja?

Tochter: Ich wollte herausfinden, ob ich zwei Gedanken gleichzeitig denken kann. Also dachte ich: »Es ist Sommer«, und ich dachte: »Es ist Winter.« Und ich versuchte, die beiden Gedanken zusammen zu denken. Vater: Ja? Tochter: Aber ich merkte, daß ich gar keine zwei Gedanken hatte. Ich dachte nur einen Gedanken, nämlich daß ich zwei Gedanken hatte.

Metaloge illustrieren auf der Strukturebene den Inhalt einer Geschich¬ te. Zwei Menschen (Polarität männlich-weiblich, alt-jung) führen ein Gespräch darüber, wie aus zwei Ideen eine wird (gr. meta = »inmitten, zwischen, hinter, nach«; logos = »Wort, Vernunft«).

Geld ist eine der Verbindungen, die dem bewußten westlichen Denken bisher verborgen blieben. Für eine Kultur ist Geld wie der DNA-Code für eine Art. Es repliziert Strukturen und Verhaltens¬ muster, die über Zeit und Raum hinweg aktiv blieben. Geld beein¬ flußt jeden Tag Milliarden von individuellen und kollektiven, großen und kleinen Entscheidungen über Investitionen und Kon¬ sum. Die mögliche Synergie zwischen den dominierenden YangWährungen und den komplementären Yin-Währungen erscheint denjenigen, die das Monopol der bekannten Landeswährungen als selbstverständlich betrachten, vielleicht als weiteres Paradoxon. Unsere traditionelle Bankgeldwährung wurde wie die Wirt¬ schaftswissenschaften und der Großteil unseres westlichen Den¬ kens aus einer »Macho«-Yang-Perspektive geschaffen. Bis heute braucht man, unabhängig davon, ob man ein Mann oder eine Frau 312


ist, eine machohafte Denkweise, wenn man in der Wirtschaft Er¬ folg haben möchte. Will man hingegen nachhaltigen Wohlstand

erreichen, muß man genausoviel Gewicht auf eine feminine Per¬ spektive bei Währungssystemen und in der Wirtschaft legen. Nicht daß die männliche Perspektive an sich falsch wäre. Im Ge¬ genteil, sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil. Doch es wird pro¬ blematisch, wenn ihr Schatten bei der Interpretation und Lenkung des menschlichen Handelns das Monopol hat. Abb.28 verdeut¬ licht diesen Punkt, indem sie die direkte Beziehung zwischen dem universalen Menschen und den Yin- und Yang-Währungssyste¬ men zeigt. Integration (Herrscher)

Schutz (Krieger) Landeswährungen

Komplementär¬ währungssysteme (kooperativ, ausreichend)

(wettbewerbsfordemd,

knapp)

Ya-.g- Wirtschaft

Partnerschaft (Liebhaber)

1

Yin-Wirtschaft

\

/ Wissen und Lehren

(Magier)

Ernähren und Erhalten (Große Mutter)

Abb.28: Beziehungen zwischen dem universalen Menschen und den Yin- und Yang-Wirtschaftskreisläufen

Am Ende hatte Jean-Luc Picard, der berühmte Captain aus der Fernsehserie »Star Trek«, vielleicht doch recht, wenn er behaupte¬ te: »Geld existiert im 24. Jahrhundert nicht. Die Anhäufung von Reichtum ist nicht mehr länger die treibende Kraft; wir arbeiten daran, uns selbst und die Menschheit zu bessern.« Allerdings brauchen wir heute noch Krücken, wenn wir diesen Weg einschlagen wollen. Meiner Ansicht nach bietet in der der313


zeitigen Übergangsphase im frühen 21. Jahrhundert die Aktivie¬ rung von komplementären und nachhaltigen Währungen eine wichtige Ergänzung zu unseren anderen sozialen Instrumenten. Wenn wir uns erst einmal an ein ausgeglichenes Leben im YinYang-Stil gewöhnt haben, können wir es uns vielleicht leisten, die Krücken einer dualen Währung wegzuwerfen. Aber all das hängt letzten Endes von euch Menschen ab, von eu¬ rer Fähigkeit zur Innovation und der Bereitschaft, bei diesem Pro¬ zeß die eigenen Talente einzubringen.

Die Stimme des Liebhabers: Eine Einladung »Nur diese alte Liebe, die den heiligen schwarzen Stein des Nichts umkreist. Wo der Liebhaber der Geliebte ist, der Horizont und alles, was er um¬ faßt ... Ist die, die ich liebe, überall?«399

Jelaluddin Rumi Diese Stimme wird Ihre eigene sein, wenn Sie es wünschen. Es ist die Stimme, die aus Ihnen spricht, wenn Sie in Kontakt zu Ihrer Leidenschaft stehen; wenn Sie, wie Joseph Campbell es formulier¬

te, »Ihrer Wonne folgen«. Für die Handlungen des Menschen gibt es im Grunde nur zwei Motivationen: Liebe und Angst. Die Wahl liegt bei Ihnen. Ich lerne darauf zu vertrauen, daß, wenn das Abenteuer Mensch¬

heit überhaupt eine Bedeutung hat und wenn wir alle daran ar¬ beiten, unseren Talenten und Leidenschaften freien Lauf zu lassen, sich alles andere irgendwie irgendwann fügen wird. Rumi, der per¬ sische Poet und Sufi -Meister des 13. Jahrhunderts, drückte das wunderbar aus: »Ich habe einen kleinen Wissenstropfen in meiner Seele. / Laß ihn sich in deinem Ozean auflösen.«400 Wenn Sie gern beschützen, dann werden alle neuen Ideen Füh¬ rung, Organisation und Mobilisierung brauchen, damit etwas ge¬ schieht. - »Beginne ein großes, verrücktes Projekt wie Noah. / Es 314


macht absolut keinen Unterschied, was die Menschen über dich denken.«401 Finden Sie Partner. Sie halten genauso eifrig nach Ihnen Aus¬ schau. Der Weg muß nicht einsam sein. - »Freund, das ist deine Nähe:/Fühle mich überall, wo du deinen Fuß hinsetzt, / In dem si¬ cheren Grund unter dir.«402 Wenn Sie das Wissen und die Lehre bevorzugen, schaffen und len¬ ken Sie die Systeme, Werkzeuge, Ideen, die unseren Planten zu ei¬ ner Zukunft des nachhaltigen Wohlstands führen. Wenn Ihre Lei¬ denschaft in diesem Bereich liegt, können Sie einen völlig einzig¬ artigen Beitrag leisten. - »Sag mir. Ich bin verwirrt. / Wer ist der Lehrer?«403 Geht es hier nicht um Integration ? Geht es bei den ökologischen Problemen nicht darum, die übrige Welt in unser Bewußtsein mit einzubeziehen? Gehört dazu unter anderem nicht auch, daß wir unsere individuellen und kollektiven Schatten integrieren? Den¬ ken Sie daran: Das, was wir uns nicht bewußtmachen, manifestiert sich uns als Schicksal. - »Deine reine Trauer, die Hilfe braucht, ist der geheime Kelch. / Wir sind der Spiegel und das Gesicht. / Wir sind Schmerz und Linderung. / Wir sind das süße kalte Wasser und die Kanne, aus der es fließt.«404 Und wenn Sie schließlich in der Hege und Pflege Inspiration fin¬ den, können Sie Ihre eigene Geschichte darüber erzählen, was Sie für sich selbst und Ihre Lieben schaffen wollen. - »Ich schließe meinen Mund / In der Hoffnung, daß du den deinen öffnest.«405 »Genug der Ratschläge. / Laß dich leise ziehen / Von dem star¬ ken Gefühl / Zu dem, was du wirklich liebst.«406

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Die Stimme des Kriegers: 2020VISA »Es sollte bei Männern und Frauen nie darum gehen, wie man das Machtstreben beseitigt. Wichtig ist, es so zu lenken, daß ... lebenspendende und aufbauende Moore und Gillette Handlungen daraus entstehen.«407

Die nächste Stimme ist der vorherigen diametral entgegengesetzt.

Der Krieger macht nur wenig Worte, die knapp und präzise sind. Er wird Ihnen einen für diesen Archetyp charakteristischen Plan vorstellen. Seien Sie nicht überrascht, wenn er Sie an ein Memo oder einen Schlachtplan erinnert. Auf archetypischer Ebene ist er genau das.

VIRTUAL INSTITUTE FOR SUSTAINABLE ABUNDANCE408 (2020VISA)

Ziele: 2020VISA ist ein Übergangsmechanismus, der Menschen und Organisationen einen Bündnisschluß ermöglicht, mit dem sie eine Welt schaffen können, in der sich Nachhaltigkeit und Wohl¬ stand gegenseitig bedingen. 2020VISA bietet seinen Partnern die effektivsten Mittel, um diese Zielsetzungen innerhalb einer Gene¬ ration umsetzen zu können (angepeilter Termin: das Jahr 2020).

Konzepte: Nachhaltigkeit wird als Kennzeichen einer Gesellschaft definiert, die »ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Aussichten zukünftiger Generationen zu schmälern« (Worldwatch Institute), und gleichzeitig die Bedürfnisse und Vielfalt anderer Lebensfor¬ men akzeptiert. Wohlstand wird als Zustand definiert, der so vielen Menschen wie möglich im materiellen Bereich, aber auch bei den emotiona¬ len, kreativen und spirituellen Aspekten des Lebens eine freie Ent¬ scheidung ermöglicht. Nach der fernöstlichen Philosophie zählt Nachhaltigkeit zu Yin, die Schaffung von Wohlstand dagegen zu Yang. Durch die Kon316


zentration auf Tätigkeiten, bei denen Yin-Yang harmonieren, för¬ dert 2020VISA die Synergie, die aus der Integration entsteht.

Einzigartigkeit: Es gibt viele Organisationen, die sich Nachhaltig¬ keit oder die Schaffung von Wohlstand zum Ziel setzen, doch in der Praxis behindern sie sich oft gegenseitig. Die Öko-Bewegung ver¬ folgt das Prinzip der Nachhaltigkeit, wendet sich aber gegen den Wohlstand, weil ihre Anhänger davon ausgehen, daß dieser mit ei¬ nem unbeirrbaren Wachstumsbestreben identisch ist, das sie als Hauptursache für die Umweltzerstörung betrachten. Umgekehrt halten viele Organisationen, die die Schaffung von Wohlstand ver¬ folgen (d. h. Unternehmen), das Prinzip der Nachhaltigkeit ent¬ weder für unbedeutend, ärgerlich oder hindernd. 2020V1SA unterstützt die Gebiete und Projekte, bei denen sich Nachhaltigkeit und Wohlstand gegenseitig bestärken, und er¬ leichtert ihre erfolgreiche Entwicklung.

Organisation: 2020VISA ist als Netzwerk aus Netzwerken organi¬ siert, die die Zusammenarbeit unter ihren Partnern bei Projekten zur Förderung des nachhaltigen Wohlstands erleichtern. Die Or¬ ganisationsstruktur orientiert sich an Dee Hocks »Chaord-Prinzip« ( Chaos und Ordnung), das er bei der Gründung des Kreditkarten¬ unternehmens VISA verwendete. Bei solchen Strukturen bleibt die Macht an der Peripherie, anstatt sich im Zentrum zu konzentrie¬ ren, so daß sie an die Partner weitergegeben werden kann. Im Fal¬ le von 2020VISA würde das Zentrum drei Bestandteile aufweisen: den Raum (überwiegend virtuell im Internet mit gelegentlichen Meetings), die virtuelle Kommunikationstechnologie für Teams und ein gemeinsames Anliegen. Dadurch können die Partner frei handeln und produktiv gemeinsame Projekte zur Schaffung eines nachhaltigen Wohlstandes entwickeln. Nahziele: Bisher wurden drei Gebiete identifiziert, für die bereits Technologien und Ansätze zur Schaffung einer Welt des nachhal¬ tigen Wohlstandes vorhanden sind: 317


1. Informationstechnologien zugänglich machen: Die technolo¬ gische Revolution, die bereits auf dem besten Wege ist, bietet für eine wachsende Zahl von Menschen beispiellose Wachs¬ tumsmöglichkeiten im Bereich des Wissens. 2. Neue Geldsysteme kreieren: Eine Währung ist nicht mehr als eine Übereinkunft innerhalb einer Gesellschaft, etwas als Tauschmittel zu verwenden. 3. Dafür sorgen, daß die kulturell Kreativen sich ihrer Zahl und ih¬ rer Rolle bewußt werden: Dies ist eine »Subkultur«, die Wert¬ maßstäbe für den nächsten Entwicklungsschub der Zivilisation

erschafft. Diese drei Phänomene könnten gemeinsam unsere Welt revolu¬ tionieren. Eine Synergie zwischen ihnen hat das Potential, uns in ein neues Weltsystem hineinzukatapultieren, in dem Nachhaltig¬ keit und Wohlstand gleichzeitig gedeihen können.

Vorgeschlagene Aktivitäten: Das Projekt 2020VISA bietet seinen Partnern im einzelnen die folgenden Möglichkeiten: •Ein Expertengremium ermöglicht es den Partnern von 2020VISA, auf die Ideen von Spezialisten aus den verschiedensten Berei¬ chen zurückzugreifen. Eines der Netzwerke von 2020VISA be¬ steht aus Wissenschaftlern, Schriftstellern, Zukunftsforschern und anderen Intellektuellen, die ihre Kreativität und ihr zu¬ kunftsorientiertes Denken wiederholt unter Beweis gestellt ha¬ ben. 2020V1SA organisiert Online-Konferenzen zu wichtigen Schlüsselfragen, bei denen die Teilnehmer Beiträge und Diskus¬ sionsansätze bieten. •Zugang zu einer Investment-Bank, damit für die vielverspre¬ chendsten Technologien auch ausreichend Kapital zur Verfügung steht. Grundlage dafür ist eine Mindestbeteiligung von 5 bis 10 Prozent an der 2020VISA Foundation, die es 2020V1SA ermögli¬ chen würde, nach wenigen Jahren finanziell eigenständig zu sein. •Das Grüne-W-Programm (W für Wohlstand) zeichnet Unter¬ nehmen und/oder Produkte aus, die mindestens 5 oder 10 Pro318


zent ihrer Produktion bedürftigen Menschen oder gemeinnützi¬ gen Organisationen spenden. Ein derartiges Programm ist durch¬ aus sinnvoll, denn in vielen Bereichen sind die Kosten für eine zusätzliche Produktion gering oder liegen bei null (z. B. bei Soft¬ ware). Die Marke mit dem »Grünen W« könnte von den Marke¬ tingabteilungen der Firmen als Zeichen dafür genutzt werden, daß sie zur Schaffung einer nachhaltigeren, wohlhabenderen Welt beitragen. Nächster Schritt: Der erste Schritt für Interessenten, die an diesem Projekt teilnehmen möchten, wäre, den Interessenten-Fragebogen auszufüllen (s. nächste Seite).

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SUSTAINABLE ABUNDANCE VIRTUAL INSTITUTE (2020VISA)

Interessenten-Fragebogen

Interessengebiet (Mehrfachankreuzungen möglich) Nur Neuerungen Gesamtkonzept _ Expertengremium Kommunikation Grünes-W-Programm Finanzierung Sonstiges (bitte erläutern)

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Bemerkungen

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Was ich von 2020VISA erwarte:

Was ich 2020 VISA an bieten kann:

Fragen und Anregungen (falls nötig, bitte ein weiteres Blatt hinzufügen):

Name: Adresse:

Tel.:

Fax:

E-Mail:

Unterschrift:

Bitte senden Sie den ausgefüllten Fragebogen an folgende Adresse:

2020 VISA 20 Sunnyside Ave. Suite A421 Mill Valley, CA94941

USA Alle Daten und Informationen werden streng vertraulich behandelt, sie dienen nur dem internen Cebrauch.

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Die Stimme der Großen Mutter: Ein Märchen aus der Zukunft »Es war einmal, vor langer Zeit ...« Die Große Mutter

Die Große Mutter wußte schon immer um Wohlstand und Nach¬ haltigkeit. Sie hat für die Übermittlung ein eigenes Medium: das Märchen. Unseres heißt »Die Goldene Göttin«:

An einem frühen Morgen mitten im Winter ging die Goldene Göt¬ tin in den Bergen spazieren. Sie war in ihrem Kristallpalast, dessen Einrichtung aus purem Gold bestand, sehr einsam. Gesellschaft leistete ihr nur eine schneeweiße Eule, die sie auch jetzt in der luf¬ tigen Stille begleitete. Die Göttin kam zu einem zugefrorenen See und ließ sich am Fuße einer knorrigen Eiche nieder, deren mit Eis¬ zapfen behängte Zweige über der Göttin einen Baldachin aus strahlender Spitze bildeten. Mit einer anmutigen Geste ihrer gol¬ denen Hand streifte sie ihre goldenen Pantoffeln von den golde¬ nen Füßen und malte damit verträumt Kreise auf dem Eis des Sees.

Diese Bronze aus dem hundert zeigt die »Geschichten¬ erzählerin« mit dem charakteristi¬ schen Symbol der Gans. (Derzeit im Museum Liebieghaus, Frank¬ furt am Main.) In der deutschen Tradition ist die assoziative Ver¬ bindung zwischen Großer Mut¬

ter, Geschichtenerzählerin und Gans kaum noch vorhanden, in anderen Ländern dagegen noch sehr lebendig (z. B. in den franzö¬ sischen »Contes de la Mere Oie« oder in den englischen »Stories of Mother Goose«).

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In einer großen Höhle tief unter der Erde schürte der Magier ein gigantisches Feuer unter einem riesigen Kessel. Seine Begleiterin, eine prächtige schwarze Schlange mit dem bezaubernden Namen Sofie, schlängelte sich um seine Füße, um die Aufmerksamkeit des Magiers zu gewinnen. Aber dieser reagierte ungeduldig: »Siehst du nicht, daß ich sehr beschäftigt bin? Ich habe jetzt keine Zeit für Spielereien. Du weißt doch, daß mit dem Ritter nicht zu scherzen ist, wenn er einen Auf¬ trag erteilt hat. Wir machen lieber voran - je schneller wir fertig sind, desto besser.« »Aber«, zischelte Sofie, »genau wegen dieses Auftrags muß ich dir etwas erzählen.« »Was willst du mir schon darüber erzählen, wie man alles Gold der Welt zum Schmelzen bringt?« Einen Augenblick lang war Sofie versucht, sich schmollend in eine Ecke zurückzuziehen, doch sie konnte ihre Aufregung über die Entdeckung, die sie gemacht hatte, einfach nicht zügeln. Da¬ her stieß sie die Neuigkeit förmlich heraus: »Ich komme gerade vom hinteren Teil der Höhle, du weißt schon, dort, wo das große Oberlicht ist. Und stell dir vor, darauf liegt ein riesiger Klumpen aus reinstem Gold.« »Gold? Auf dem Oberlicht?« Der Ton des Magiers klang halb spottend, halb ungläubig. »Ja, Gold. Gestern war cs noch nicht da, jetzt aber schon. Du mußt mitkommen und es dir ansehen.« Der Magier folgte Sofie durch die blauvioletten Galerien aus Ame¬ thyst, die zu der Halle mit dem Oberlicht führten. Dort angekom¬ men, blieb er einfach stumm. Tatsächlich, Sofie hatte recht. Direkt am Rand des Oberlichts glänzte etwas, das wie ein beeindrucken¬ der Goldklumpen aussah. Er kletterte an der Höhlenwand nach oben, um sich das Ding genauer zu betrachten. Beim Näherkom¬ men bemerkte er, daß es kein Goldklumpen war - es war ein gol¬ dener Pantoffel inmitten von merkwürdigen milchigen Spiralen. Am nächsten Tag flog die Eule, so schnell sie nur konnte, zum Kristallpalast der Göttin. Sie hatte alarmierende Neuigkeiten für 322


ihre Herrin. Etwas, das noch nie vorgekommen war, solange die Eule denken konnte: »Beim großen Eissee ist ungeheurer Lärm, und im Eis sind Sprünge zu sehen. Komm und sieh es dir an! Dort stimmt etwas ganz und gar nicht!« krächzte sie, sobald sie die Göt¬ tin in der Ferne sah. Gemeinsam eilten sie zu der großen Eiche am Rande des Sees. Tatsächlich, unter dem Eis drangen Geräusche hervor. Etwas be¬ wegte sich sogar. Kurz entschlossen streckte die Goldene Göttin ihren warmen Arm durch das Eis, und siehe da, plötzlich spürte sie, daß sich ihr ein anderer Arm entgegenstreckte. Nun, wir werden wohl nie erfahren, wer von den beiden mehr überrascht war, die Goldene Göttin oder der Magier, als sie sich plötzlich gegenüberstanden. Der Magier war von der Schönheit der Goldenen Göttin überwältigt und stand mit offenem Mund einfach nur da. Nachdem sie sich von der ersten Überraschung er¬ holt hatte, freute sich die Goldene Göttin so sehr darüber, nach all der langen allein verbrachten Zeit jemandem zu begegnen, daß sie den Magier in ihren Kristallpalast einlud. Dieser stolperte hinter ihr her und blinzelte immer wieder geblendet von der glitzernden weißen Landschaft. Im Palast angekommen, war der Magier von der Pracht der goldenen Einrichtung so überwältigt, daß es ihm die Sprache verschlug. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht viel anbieten kann. Es ist schon so lange her, daß ich Gäste hatte«, begann die Göttin, um das Schweigen zu brechen. »Selbst hier sind 5000 Jahre eine lange Zeit ...« »Gold! Das ist pures Gold!« stammelte der Magier und strich vor¬ sichtig über die Blätter einer goldenen Rose in einer anmutigen goldenen Vase auf einer Kommode aus massivem Gold. »Woraus sonst könnte es bestehen?« fragte die Göttin lächelnd. »Nun, Holz oder Stein oder etwas anderes, aber doch nicht Gold!« »Aber Gold ist in meiner Welt das gebräuchlichste Material.« »Gebräuchlich? Wie kann das sein?« fragte der Magier überrascht. »Alles, was ich liebe, kann sich in Gold verwandeln ...«, erklärte die Goldene Göttin. 323


»Alles?« »Nun, natürlich muß auch der Gegenstand wünschen, sich zu verändern. Aber warum ist das denn wichtig?« »Sie verstehen das nicht ...«, begann der Magier und schüttelte völlig ungläubig den Kopf. Dann schwieg er, wie hypnotisiert von dem Golddekor. Plötzlich wurde sein Gesicht starr vor Schreck, als ihm etwas be¬ wußt wurde: »Aber ... aber ... das bedeutet, daß ich in Schwierig¬ keiten bin. ln großen Schwierigkeiten ...«, stammelte er. »Warum denn?« fragte die Göttin, zusehends verwirrt von den merkwürdigen Sorgen ihres Besuchers. »Nun werde ich die Anordnung des Ritters nie ausführen kön¬ nen«, seufzte der Magier. »Von wem? Welcher Ritter? Welche Anordnung?« »Sie wissen wirklich nichts über meine Welt, nicht wahr?« erwi¬ derte der Magier. »Warum erzählen Sie nicht alles von Anfang an?« »Nun, sehen Sie, der Ritter ist in meiner Gegend der Herr. Und letzte Woche befahl er, alles Gold der Welt einzuschmelzen.« »Warum verlangt er von Ihnen, daß Sie das Gold einschmelzen?« »Das weiß ich selbst nicht. Aber er sagte mir, er handle auf An¬ ordnung unseres obersten Herrn.« »Der oberste Herr?« »Ja, der König, derjenige, der über die ganze Welt herrscht .« »Sie scheinen in einer komplizierten Welt zu leben«, meinte die Göttin nachdenklich. »Viel komplizierter, als Sie es sich vorstellen können.« Eine Minute lang herrschte zwischen den beiden peinliches Schweigen. Dann machte die Göttin einen neuen Vorschlag: »Warum nehmen Sie mich nicht mit in Ihre Welt? Ich bin wirklich neugierig, um was es hier eigentlich geht.« Tatsächlich war sie weit mehr als nur neugierig; sie würde die Gelegenheit, all diese neuen Menschen zu treffen, auf keinen Fall versäumen. Nicht, nachdem sie so lange allein gelebt hatte ... Und so geschah es. Die beiden gaben ein merkwürdiges Paar ab: 324


ein Magier und eine Göttin, die durch ein Loch in einem Eissee

kletterten. Der weißen Eule gefiel das Ganze überhaupt nicht. Vom unter¬ sten Ast der Eiche aus wiederholte sie immer wieder: »Ich werde hierbleiben und alles im Auge behalten.« In Wirklichkeit aber hoffte sie, daß die Herrin ihre Meinung noch ändern und auf ei¬ nen so gefährlichen Ausflug verzichten würde. Doch mit einem letzten Winken verschwand die goldene Hand durch das Loch in die ungewisse Dunkelheit. Die Reise zur Burg des Ritters war lang und erwies sich als ent¬ täuschend. Der Ritter gab zu, daß auch er den Grund für die An¬ ordnung des Königs nicht kannte. Daher entschieden sie, gemein¬ sam zum Schloß des Königs zu ziehen. Obwohl der Ritter nicht sehr gesprächig war und sein großes Schwert an seiner Seite bei jedem Schritt gegen seine schimmernde Rüstung klapperte, fühl¬ te sich die Göttin mit diesem schneidigen Recken an der Seite si¬ cherer. Und der Ritter erwies sich auch als sehr nützlich, während sie vom Kammerherrn des Königs am Schloßtor angehalten wur¬ den. »Goldene Göttin? Den Namen habe ich nicht auf meiner Gäste¬ liste«, verkündete der Kammerherr des Königs und blickte sie über den Rand seiner Lesebrille an, nachdem er das Buch des Torhüters sorgfältig studiert hatte. »Und Sie haben ebenfalls keine Audienz«, fügte er mit Blick auf die beiden anderen Reisenden verächtlich hinzu. Er wollte schon Weggehen, als ihn der Ritter einfach beim Kragen packte und hoch hob. »Sicher kann man eine Ausnahme machen«, knurrte der Ritter mit zusammengebissenen Zähnen. Zitternd antwortete der Kammerherr: »Ich werde seinen Termin¬ kalender sofort persönlich überprüfen! Der König wird selbst ent¬ scheiden! Aber könnten Sie mich bitte zuerst wieder herunterlas¬ sen?« Sobald seine Füße den Boden berührten, trippelte er davon wie eine verängstigte Maus. Sie mußten etwa 15 bis 20 Minuten warten. Der Ritter ging die ganze Zeit über ungeduldig auf und ab. Endlich zeigte sich der 325


Kammerherr wieder vorsichtig am Ende der Eingangshalle und winkte sie herein. »Es wird nur eine kurze Audienz«, erklärte er, als sie ihn erreich¬ ten, »aber ich konnte Sie zwischendurch einschieben.« In Wirklichkeit war der König genauso neugierig auf die Begeg¬ nung mit der Goldenen Göttin wie sie auf ihn. Doch der Kammer¬ herr hütete sich natürlich, ihr das zu sagen. Sie durchwanderten ei¬ nen Raum nach dem anderen, bis sie schließlich den Thronsaal er¬ reichten, den siebten und größten Raum des Palastes. Der Saal war mit farbenprächtigen Teppichen geschmückt, und an der Rück¬ wand stand in der Mitte ein mächtiger Thron aus geschnitztem Holz, der bis in die kleinsten Ritzen mit Goldfarbe überzogen war. Dem König verschlug es angesichts der Schönheit der Göttin den Atem, doch es gelang ihm, das vor den anderen zu verbergen. Nach einer Minute gewichtigen Schweigens fragte er: »Ihr wolltet mich sehen?« Nach kurzem Zögern sprach der Magier als erster: »Nun, Eure Majestät, ich lernte diese Dame kennen, die behauptet, sie habe außergewöhnliche Fähigkeiten.« Mit diesen Worten deutete er re¬ spektvoll auf die Göttin. »Außergewöhnliche Fähigkeiten?« »Ja, sie sagt, sie kann alles in Gold verwandeln.« »In Gold?« »Ja, Majestät, und außerdem in das reinste Gold.« »Massives Gold?« »Genau, Majestät. Ich selbst habe einen Teil davon gesehen.« »Na, das glaube ich erst, wenn ich es selbst sehe«, erwiderte der Kö¬ nig. »Warum gibt sie uns nicht eine kleine Probe ihres Könnens?« »Ich werde Euch diese Probe gerne geben«, schaltete sich die Göt¬ tin mit einem flüchtigen Lächeln ein, »aber ich habe eine Bedin¬

gung.« »Eine Bedingung?« fragte der König stirnrunzelnd, denn er war es nicht gewöhnt, daß man auf seine Bitten so reagierte. »Ja, die Bedingung, daß Ihr uns sagen werdet, warum Ihr das ganze Gold der Welt einschmelzen lassen müßt.«

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Der König dachte eine Minute lang nach, ob hinter dieser Be¬ dingung eine Falle steckte, doch da er keine fand, verkündete er: »Das sei dir gewährt. Nun zeige dein Können.« Die Goldene Göttin ging zur Mitte des Thronsaales und setzte sich auf einen roten Teppich inmitten all der anderen bunten Tep¬ piche. Anmutig schlug sie ihre goldenen Beine wie eine Lotusblume übereinander und schloß ihre goldenen Augenlider für genau drei Minuten. Als sie die Augen wieder öffnete, brandete eine Wel¬ le von Gold durch den Saal. Alle Teppiche, alle Wände und sogar die Decke hatten sich in strahlendes Gold verwandelt. Der König fühlte sogar, wie von dem Thron unter ihm die goldene Farbe ab¬ blätterte und darunter das massive Edelmetall zum Vorschein kam. Mit einem Mal wurde ihm ein wenig unbehaglich, wie er so in¬ mitten eines Kreises aus vergoldeten Farbsplittern saß, und er nitschte unruhig hin und her. Dann erhob er sich von seinem Thron und erteilte dem Magier sowie dem Ritter einen königli¬ chen Befehl: »Sagt mir, ob das echtes Gold ist!« Der Magier und der Ritter näherten sich dem Thron und ver¬ suchten, etwas von dem Gold abzureiben. Der Ritter zog sein großes Schwert aus der Scheide und stieß es mit einem lauten »Humpf« in die Thronseite. Eine tiefe Kerbe entstand. Alle beug¬ ten sich in verwundertem Staunen über die Kerbe. Schließlich sprach der Magier: »Dieses Gold ist so echt wie all das andere Gold, das ich kenne, Eure Majestät.« In diesem Augenblick stürmte der Kammerherr in den Thronsaal und rief atemlos: »Majestät, Majestät, habt Ihr gesehen, was draußen passiert ist?« Die Gruppe um den Thron stürmte zu den Fenstern. »Beim Jupiter ...!« brachte der König nur noch über die Lippen. Der gesamte Palast hatte sich in ein Gebäude aus massivem Gold verwandelt und thronte jetzt auf einem riesigen Goldklumpen et¬ wa 300 Meter oberhalb der übrigen Umgebung. »Jetzt hätte ich gern die Antwort auf meine Frage«, sprach die Göttin, als sie sich der Gruppe näherte. »Warum wollt Ihr alles Gold einschmelzen?« 327


Der König brauchte freilich einige Minuten, bis er seine Gedan¬ ken wieder geordnet hatte. Doch er versuchte immer noch, sich nichts anmerken zu lassen. »Nun, das sollte eigentlich offensichtlich sein«, antwortete er und ließ sich wieder auf seinem Thron nieder. »Alle Menschen in meinem Reich brauchen für den Handel untereinander Gold¬ münzen, und es gibt einfach nicht genügend. Ich will sie glücklich sehen, daher befahl ich, daß alles Gold, das wir finden können, eingeschmolzen wird, um daraus mehr Goldmünzen für die Men¬ schen zu machen.« Jetzt hatte es der Göttin die Sprache verschlagen. »Ihr meint ...«, und plötzlich fing sie an zu lachen, ihr Lachen hallte wie kristall¬ klares Glockenläuten durch den goldenen Saal. Der König runzelte mißbilligend die Stirn und dachte sich, daß diese Dame für das Leben bei Hofe nicht sehr geeignet war. Er unterbrach sie: »Würdest du bitte erklären, was daran so komisch ist.« Aber die Göttin hatte Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken. Nach einer Weile gelang es ihr, sich zu sammeln, und sie erklärte: »Wißt Ihr Menschen denn nicht, daß Gold eine Form des Seins ist, nicht des Habens? Jeder kann das lernen, es ist nur eine Frage der Übung. Ich könnte es Euch gleich beibringen, dann könnt Ihr es allen Menschen in Eurem Reich erklären.« Und so geschah es. Es gab nun so viel Gold im ganzen König¬ reich, daß die Menschen erkannten: Gold ist nur eine Möglichkeit, Geld zu schaffen. Sie verstanden, daß Geld nie wieder ihren Han¬ del einschränken würde. Sie lernten einfach, wie man selbst Geld schafft, wann immer es als Ergänzung zu den Goldmünzen des Kö¬ nigs gebraucht wurde. Schließlich begriffen die Menschen, daß der wahre Reichtum in dem Vertrauen lag, das sie durch den täglichen

Umgang miteinander entwickelten. Und so wurde das Königreich wohlhabender, als es je zuvor gewesen war. Wie es schon in einem der ältesten Texte überhaupt heißt: »Sie alle erreichen Vollkommenheit, wenn sie Freude in ihrer Arbeit finden.«409 328


Die Goldene Göttin kehrte in ihren Kristallpalast zurück, weil sie auch ihrer weißen Rule die große weite Welt zeigen wollte. Doch als sie durch die Höhle des Magiers ging und die Amethyst-Galerie erreichte, erkannte sie, daß sich auch in ihrer Welt alles verändert hatte. Der große Kissee war geschmolzen und hatte eine breite Öff¬ nung hinterlassen, die beide Welten miteinander verband. Die weiße Rule hockte immer noch geduldig auf dem niedrigsten Ast der Eiche, doch an dem Ast zeigten sich nun grüne Knospen. Die Luft in der Welt der Göttin war sanft, voll Blumenduft und Schmetterlingen. In ihrer Welt brach zum ersten Mal nach Tau¬ senden von Jahren der Frühling an. Die Integration der Reiche der Göttin und des Königs hatte bereits begonnen. Noch etwas anderes begann. Habe ich eigentlich erzählt, daß die weiße Eule Sophos hieß? Nun, obwohl Sofie und Sophos ähnliche Namen hatten, verstanden sich die beiden nicht so gut wie ihre Herren. Was konnte eine schwarze Schlange schon mit einer weißen Eule gemeinsam haben? Daher stritten die beiden über al¬ les mögliche. Aber als ich die zwei neulich sah, redeten sie doch tatsächlich miteinander. Es war zumindest ein Anfang. Doch es ist der Anfang einer anderen Geschichte.

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A.

Mysterium Geld Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus

Aus dem Amerikanischen von Heike Schlauerer, VerlagsService Mihr

Riemann


Epilog

»Im Fall der Glocke wollen wir alle ein Klöppel sein. Wir wollen nicht der Körper sein. Doch der Körper macht den Ton.« Dianne Linden

Die Tonalität dieser verschiedenen Geschichten des 9. Kapitels va¬ riiert stark, aus jeder sollte aber die Meta-Botschaft erkennbar sein, um die es in diesem Buch geht: Wir haben die Gelegenheit, be¬ wußt unsere Währungssysteme zu wählen, die sicherstellen wer¬ den, daß wir uns dem Ziel des nachhaltigen Wohlstands nähern. Außerdem läßt sich in unserer Gesellschaft eine Veränderung be¬ obachten, die so noch nie aufgetreten ist. Wir erleben eine neue Wertschätzung des weiblichen Archetyps. Man könnte diese Ent¬ wicklung als ein Wiedererwachen des »Yin «-Paradigmas bezeich¬ nen, denn sie umfaßt »weibliche Belange« wie die Emanzipation der Frau und die Gleichberechtigung der Geschlechter, geht je¬ doch auch weit darüber hinaus. So bietet beispielsweise die Cha¬ ostheorie in der Physik, der »härtesten« aller Naturwissenschaften, neue, nichtlineare, nichtkausale Interpretationen der physikali¬ schen Realität. Hierarchische Strukturen werden durch unbe¬ grenzte, unkontrollierbare, sich unendlich weiterentwickelnde Netzwerke ersetzt, von denen das Internet das bekannteste ist. Die traditionellen Kontroll- und Kommandostrukturen im Wirtschafts¬ leben weichen lernenden und virtuellen Organisationsformen. Ganzheitliche Heilpraktiken bieten eine weniger mechanistische Sichtweise des menschlichen Körpers und seiner Funktionen. Auch das wachsende Bewußtsein für eine ökologische Nachhaltig¬ keit ist Teil dieser neuen Entwicklung. 331


All die Trends, die auf den ersten Blick keinerlei Zusammenhang aufweisen, haben die Hinwendung zur Yin-Perspektive als ge¬ meinsamen Nenner. Sie sind ebenso ein Zeichen für die wachsen¬ de Bedeutung der kulturell Kreativen, die auf verschiedenen Ge¬ bieten aktiv sind. Dies ist der Zusammenhang, angesichts dessen das Erscheinen von lokalen Yin-Währungen am besten als ein wei¬ teres Zeichen für den Wertewandel verstanden werden kann. Im großen und ganzen betrachtet, zeigt sich, daß eine Verände¬ rung der Beziehungen hin zu weiblichen Archetypen einen Wan¬ del in unserem Währungssystem umfaßt. Wenn das Yin-Paradigma mehr in den Mittelpunkt rückt, scheinen die Menschen spon¬ tan ein Tauschmittel schaffen zu wollen, das sich mit den Werten deckt, die zu dieser Weitsicht gehören. Mit der zunehmenden Ver¬ fügbarkeit der Informationstechnologie wird dies immer leichter möglich. Bei einem derartigen Zusammentreffen von neuen Wer¬ ten und Möglichkeiten kommt es unweigerlich zu größeren Ver¬ änderungen. Das erklärt auch die explosionsartige Vermehrung von weit über 2500 lokalen Yin-Währungsexperimenten auf der ganzen Welt, die ausführlich in meinem Buch Das Geld der Zukunft vorgestellt wurden. Darüber hinaus vermittelt die »Karte der Archetypen« einige zugegeben unvollständige - Einsichten in die Beziehung zwischen weiblichem Bewußtsein und Geld. Sie bietet auch Einblick in an¬ dere wichtige finanztechnische Fragen. Wir können damit erken¬ nen, warum »irrationale« Boom-und-Bust-Zyklen immer wieder selbst bei den fundiertesten Finanzmärkten auftreten. Angesichts der dramatischen Finanzinstabilität in der heutigen Welt und ih¬ rer Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wohl und Wehe ganzer Kontinente ist diese Frage nicht nur von akademischem Interesse. Wie viele finanzielle Krisen müssen wir noch durchmachen, bevor wir zugeben können, daß etwas Systematisches dahintersteckt, daß wir grundsätzlich einmal den blinden Fleck in unserer Wahr¬ nehmung des Geldes betrachten müssen? Geld ist wie ein Eisberg, lediglich die Spitze ist sichtbar, und wir glauben oft, daß es nur den sichtbaren Teil gibt. Ich hoffe, ich ha332


be ein Bewußtsein für die Existenz und Bedeutung der tieferen Schichten geschaffen, auf denen alles ruht, und eine Sprache vor¬ geschlagen, die es uns ermöglicht, darüber zu reden. Die psychologischen und mythologischen Gebiete, die wir er¬ kundet haben, empfanden Sie vielleicht als überraschend oder gar verwirrend, denn dieser Teil des Themas Geld war so lange unter Wasser - um im Bild zu bleiben daß uns selbst seine Natur als Vereinbarung zwischen Menschen nicht mehr bewußt ist. Lassen Sie mich noch einmal an den Zweck dieser ungewöhnli¬ chen Erkundung erinnern. Wir haben in der Geschichte viele Ver¬ änderungen erlebt, doch unsere Auffassung von Geld blieb dabei bemerkenswert unberührt. Wenn wir als Gesellschaft an einen un¬ bekannten Ort reisen wollen, müssen neue Wege erkundet wer¬ den. Die bewußte Wahl der Währungsform, die wir untereinander verwenden wollen, könnte sich als das mächtigste Werkzeug für die Übergangsphase erweisen, die wir gerade durchlaufen. Die Mit¬ tel sind also vorhanden, was Sie nun damit machen wollen, hängt von Ihrer Kreativität und Arbeit ab: Unser Geld ist unser Spiegel. Es kann mehr als nur unsere Schatten widerspiegeln. Es ist ein Spiegel unserer Seele.

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A.

Mysterium Geld Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus

Aus dem Amerikanischen von Heike Schlauerer, VerlagsService Mihr

Riemann


Anhang A

Ein kurzes Glossar

Bei einigen Stichwörtern dieses Glossars ist in Klammern das Kapi¬ tel angegeben, in dem Sie mehr Informationen zum l'hema finden.

»Anti-Hortungs-Gebühr«: siehe »Liegegebühr«. Archetyp: ein ererbtes wiederkehrendes (Ur)bild, Symbol, das die Gefühle und das Verhalten des Menschen strukturiert und sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen beobachten läßt; Kompo¬ nente des kollektiven Unbewußten nach C.G. Jung (Kapitel 1). Barter: direkter Austausch von Gütern oder Dienstleistungen ohne Beteiligung eines Tauschmittels. Demurrage: siehe »Liegegebühr«. Emanzipation: die Befreiung von repressiven Restriktionen auf¬ grund des Geschlechts oder anderer Kriterien, derentwegen Dis¬ kriminierung besteht. Die Emanzipation der Frau bezieht sich auf die Befreiung aus paternalistischer Dominanz. Der Sinn des Begriffs ist ursprünglich im römischen Patriarchat begründet (lat. emancipare = »[einen erwachsenen Sohn bzw. einen Skla¬ ven] in die Selbständigkeit entlassen«), Emanzipation umfaßt Selbstbestimmung und Autonomie. Selbstbestimmung heißt, über das eigene Schicksal oder die soziale Rolle selbst entschei¬ den zu können, wie z.B. die Freiheit, seinen eigenen Lebensstil zu wählen, solange er anderen nicht schadet. Autonomie be¬ deutet, sich seinen eigenen Status zu schaffen, einschließlich der finanziellen Unabhängigkeit, und nicht darin »hineingebo¬ ren« zu sein oder »hineinzuheiraten«. Gerda Lerner weist darauf hin, daß diese Begriffe die Situation der Frauen besser beschrei¬ ben als die Bezeichnung »Frauenbefreiung«.410

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»Fiat «-Währung: Währung, die durch die Macht einer Autorität aus dem Nichts geschaffen wird. So sind all unsere konventio¬ nellen Landeswährungen (auch der Euro) »Fi at«-Währungen (Kapitel 7 in diesem Buch und Kapitel 1 von Das Geld der Zu¬ kunft). Geld: eine Vereinbarung innerhalb einer Gemeinschaft, etwas als Zahlungsmittel zu verwenden. Ich, Bewußtes und Unbewußtes: Eine anschauliche Metapher für die¬ se Konzepte aus der Psychologie stammt von einem Mythologen: Joseph Campbell. Er verwendet die folgende graphische De¬ finition (s. Abb. 29):411 Die Psyche ist ein Kreis, der sich um ein Zentrum gebildet hat. Dieses Zentrum macht die Seele aus, von der unsere ganze Energie stammt. Die waagerechte Linie stellt die Trennung zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten dar. Das Unbewußte ist der Teil des Theaters, in dem Archetypen und Schatten ihre bevorzugten Stücke aufführen. Das Unbe¬ wußte besteht aus zwei Schichten: dem persönlichen und dem kollektiven Unbewußten. Das Ich ist der Aspekt unseres Be¬ wußtseins, den wir als unser Zentrum wahrnehmen. Tatsächlich liegt das Ich aber weit vom Zentrum entfernt. Wir glauben, das Ich stehe allein auf der Bühne, dabei ist es nur einer von vielen Schauspielern in unserem Theater. Ich

Bewußtes

Psyche

persönliches Unbewußtes

Seele

kollektives Unbewußtes

Abb.29: Seele, Ich, Bewußtes und Unbewußtes (nach Campbell)

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Individuation: ein Konzept, das ursprünglich von C. G. Jung einge¬ führt wurde. Es bezieht sich auf die bewußte Wahrnehmung der eigenen einzigartigen psychischen Realität, einschließlich der eigenen Stärken und Schwächen. Die individuation wäre das Endergebnis einer Integration der Schatten aller fünf Archety¬ pen. Zum jetzigen Stand unserer Entwicklung ist eine vollstän¬

dige Individuation selten. Integration und vor allem Integration eines Archetyps: Prozeß, bei dem man die Angst vor den zwei Schatten eines Archetyps überwin¬ det und diese annimmt. Dadurch wird das Ich frei und kann sich in Richtung auf eine Integration des Urbilds entwickeln, bis es sich mit dem Archetyp selbst deckt und seine volle Energie ak¬ zeptiert, indem es sich darin auflöst (Kapitel 1). Integrierte Wirtschaft: ein Wirtschaftssystem, das ein Gleichgewicht zwischen den Yin- und Yang-Wirtschaftskreisläufen gefunden hat und so soziales und finanzielles Kapital schafft und ver¬ mehrt. Die integrierte Wirtschaft gilt als unverzichtbar, wenn ei¬ ne Gesellschaft sich am Prinzip der Nachhaltigkeit orientieren will. Eine Möglichkeit zur Schaffung der integrierten Wirtschaft ist die Verwendung von Yin- und Yang-Währungen als duale Komplementärwährungssysteme. Die integrierte Wirtschaft un¬ terstützt die spirituelle menschliche Entwicklung in Hinblick auf Integration und Individuation in einer Art und Weise, die ei¬ ne reine Yang-Wirtschaft nicht erreichen kann (Kapitel 9). Liegegebühr: eine zeitgebundene Gebühr auf Geldguthaben. Die Folge ist, daß das Horten von Geld eingeschränkt wird, wodurch man seine Funktion als Zahlungsmittel von seiner Funktion als Wertaufbewahrung trennt (»Anti-Hortungs-Gebühr«, »Demur¬ rage«). So wird oft auch die Wahrnehmung zeitlicher Prioritäten in Richtung auf ein langfristigeres Denken bei Investitionen ge¬ lenkt (Kapitel 5 und 6 in diesem Buch, Kapitel 5 und 8 in Das Geld der Zukunft). Matriarchat: Das offizielle Herrschaftssystem wird von Frauen do¬ miniert. Matrifokal bedeutet, daß in der Mythologie und im Sy¬ stem der Belohnung und Anerkennung einer Gesellschaft das 337


Weibliche geehrt wird. Diese beiden Konzepte überschneiden sich manchmal gegenseitig, sie sind aber nicht gleich. So waren beispielsweise einige altsteinzeitliche Gesellschaften vielleicht matriarchalisch und matrifokal, da im Herrschaftssystem, in der Mythologie und bei der gesellschaftlichen Anerkennung Frauen bevorzugt wurden. Das alte Ägypten war dagegen nicht matri¬ archalisch (vor allem nicht bei den öffentlichen Machtpositio¬ nen), aber sowohl in seiner Mythologie als auch in seinem Sy¬ stem der sozialen Belohnung wurde das Weibliche geehrt (wie in Kapitel 6 gezeigt wurde), was die Bezeichnung »matrifokale Gesellschaft« rechtfertigt. Matrifokal: siehe »Matriarchat«. Participation mystique: Begriff, der von dem französischen Soziolo¬ gen und Ethnologen Lucien Levy-Bruhl geprägt wurde. Er be¬ zeichnet damit eine ursprüngliche psychische Verbindung zwi¬ schen der Innenwelt mit der Außenwelt. Dies ist eine Wissens¬ form des »Yin-Typs«, die von der modernen Gesellschaft als ty¬ pisches Kennzeichen einer »primitiven« Form des Denkens abgetan wird. Patriarchat: »Manifestation und Institutionalisierung der Herr¬ schaft der Männer über Frauen und Kinder innerhalb der Fami¬ lie und die Ausdehnung der männlichen Dominanz über Frau¬ en auf die Gesellschaft insgesamt. Der Begriff impliziert, daß die Männer in allen wichtigen gesellschaftlichen Institutionen eine beherrschende Macht ausüben und daß den Frauen der Zugang zu diesen Machtpositionen verwehrt ist.«412 Schatten: Manifestation eines Archetyps, wenn er unterdrückt wird. Er kann bei einer Person verdrängt werden, wodurch ein persönlicher Schatten entsteht, oder kollektiv, wodurch es zur Bildung eines Schattens in der Gemeinschaft kommt. Er ist stets durch eine permanent verinnerlichte Angst gekennzeichnet (Kapitel 1). Wechselseitige Kreditwährungen: Währungen, die durch die gleich¬ zeitige Schaffung von »Soll« und »Haben« direkt durch die Be¬ teiligten bei einer Transaktion entstehen. Zu den zeitgenössi338


sehen Beispielen für wechselseitige Kreditsysteme zählen Time Dollars und LETS (Einführung zu Teil III in diesem Buch und in Das Geld der Zukunft Kapitel 5, 6 und 7). Yin-Yang: taoistisches Konzept der Beziehung zwischen Polaritä¬ ten. Abb. 8 enthält eine Liste der für die Untersuchung von Währungssystemen wichtigsten Polaritäten. Yang-Währung, -Wirtschaft: Bei einer Yang-Währung basiert die Geldschöpfung auf einer Hierarchie. Sie fördert das Sparen in Form von Geld und schafft im allgemeinen eine Konkurrenzsi¬ tuation zwischen den Beteiligten. Alle konventionellen Landes¬ währungen sind Yang-Währungen, da sie über jegliche dieser Ei¬ genschaften verfügen. Daher wird das wettbewerbsorientierte Wirtschaftssystem, das sie vorantreiben, als »Yang-Wirtschaft« bezeichnet. Die Yang-Wirtschaft fördert normalerweise den Auf¬ bau von finanziellem Kapital. Yin-Währung, -Wirtschaft: Bei einer Yin-Währung basiert die Geld¬ schöpfung auf dem Prinzip der Gleichheit. Dadurch wird das Horten der Währung eingeschränkt, die Zusammenarbeit unter den Benutzern dagegen gefördert. Gut geplante KomplementärWährungen aktivieren eine kooperative »Yin-Wirtschaft«. Die Yin-Wirtschaft fördert den Aufbau von sozialem Kapital. Zahlungsmittel im Unterschied zum Tauschmittel: Die Funktion des »Zahlungsmittels« umfaßt mehr und schließt die des »Tausch¬ mittels« mit ein. Jonathan Williams413 zeigt, daß nur im westli¬ chen Kulturkreis Geld ausschließlich als Tauschmittel bei kom¬ merziellen Transaktionen verwendet wird. In den meisten an¬ deren Kulturen wird Geld zusätzlich bei gemeinschaftsfördern¬ den Ritualen benutzt.

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Anhang B

Anmerkungen

1 Lietaer, Bernard A.: Das Geld der Zukunft, München 1999. 2 The Nag Hamadi Library in English, Leiden 1984, Thomas-F.vangelium, Vers 3. 3 Der Begriff »materiell« leitet sich von dem lateinischen Wort water (= »Mut¬ ter«) ab. 4 Buchanan, James: Frozen Desire: The Meaning of Money, New York 1997, S. 4. 5 Hillman, James: A Blue Fire, New York 1989, S. 174. 6 S.u.a. Hillman, James: Revisioning Psychology, New York 1976; A Blue Fire, a.a.O.; Selbstmord und seelische Wandlung: Eine Auseinandersetzung, Zürich, Stuttgart 1966; The Soul's Code, New York 1996. 7 Vor allem müssen wir nicht die Sichtweise akzeptieren, daß Archetypen feste Komponenten unseres genetisch bestimmten psychischen Systems sind oder daß Archetypen ein Eigenleben besitzen. Meine Definition ist daher weniger anspruchsvoll als die Jungs. Dennoch werde ich gelegent¬ lich auf das typische Jungsche Kürzel zurückgreifen, das einem Archety¬ pus ein Eigenleben zu geben scheint, um sperrige Formulierungen wie et¬ wa »Dieses Benehmen tritt auf, als ob dieser oder jener Archetypus dazu anregen würde« zu vermeiden. 8 Hillman, James: Revisioning Psychology, a.a.O., S.xix. 9 Jung, C. G.: Gesammelte Werke Band 10: Zivilisation im Übergang, S.213L 10 Jung, C. G.: »Ober die Archetypen des kollektiven Unbewußten« (1935), in: Gesammelte Werke Band 9: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte, S. 39. 11 Jung führt diese lakonische Bemerkung näher aus: »ln dem Maße, wie die Archetypen bei der Gestaltung der Bewußtseinsinhalte durch Regulie¬ rung, Veränderung und Motivation mitwirken, verhalten sie sich wie die Instinkte.« Jung, C. G.: »Instinkt und Unbewußtes«, in: Gesammelte Wer¬ ke Band 8: Die Dynamik des Unbewußten. 12 Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt 1999. 13 Jung, C. G.: Der Mensch und seine Symbole, Freiburg 1986, S. 110. 14 Jung, C. G.: »Die Struktur der Seele« (1928), in: Gesammelte Werke Band 8: Die Dynamik des Unbewußten, S. 182.

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15 Jung, C. G.: Erinnerungen, Träume, Gedanken, aufgezeichnct und hg. von Anicla Jaffe, Zürich und Stuttgart 1 962.

16 Zu den konventionelleren Definitionen gehört z. B.: »Der Schatten ent¬ spricht einer negativen Ichpersönlichkeit, umschließt also alle jene Ei¬ genschaften, deren Existenz peinlich und bedauerlich ist.« Jung, C. G.: Gesammelte Werke Band 12: Psychologie und Alchemie, S. 209 in der Fußno¬ te. Erich Neumann definiert den Schatten als »unbewußten, negativen Teil der Persönlichkeit«. »... die Begegnung mit der anderen Seite, dem negativen Teil«, wird von Neumann als erschütternd für den einzelnen bezeichnet, denn er sei mit der Notwendigkeit konfrontiert, einzusehen, daß die andere Seite trotz ihres ichfeindlichen und ichfremden Charak¬ ters Teil der eigenen Persönlichkeit ist. Neumann, Erich: Tiefenpsychologie und neue Ethik, München 1964, S. 7 Iff. Eine klinische Definition für den Schatten lautet: »ein autonomer Komplex, der häufig aus einem Kind¬ heitstrauma resultiert, eines Aspektes unserer selbst, den wir nicht akzep¬ tieren können«. 17 Dieses Schema des dualen Schattens wird oft in die »negativen« und »po¬ sitiven« Pole des Schattens aufgeteilt, beispielsweise bei Sandner, Dieter, u. Beebe, J.: »Psychopathology and Analysis«, in: Stein, Murray: fungian Analysis, Boston 1984, S. 294-334. Die hier verwendete Version wurde ur¬ sprünglich von den jungianischen Psychoanalytikern Robert Moore und Douglas Gillette entwickelt, die insgesamt fünf Bücher über die Archety¬ pen des Königs, Kriegers, Liebhabers und Magiers verfaßten. Dieses Quaternio dient uns als Grundlage für das Modell des archetypischen Men¬ schen, das später vorgestellt wird. 18 Moore, Robert, u. Gillette, Douglas: The King Within, New York 1992, S. 40. 19 Jung, C. G.: Der Mensch und seine Symbole, a.a.O., S. 93. 20 Das folgende drückt nur aus, was Jung selbst wahrscheinlich implizierte. »Das, was hier >Selbst< genannt wird, ist nicht nur in mir, sondern in al¬ len ... wie das Tao. Es ist die psychische Totalität.«Jung, C. G.: Gesammelte Werke Band 10: Zivilisation im Übergang, S. 505. In seiner Arbeit zu Myste¬ rium Coniunctionis: Untersuchungen über die Trennung und Zusammenset¬ zung seelischer Gegensätze in der Alchemie verwendet Jung das alchemistische Modell der »chemischen Verbindung«, was nur eine weitere Meta¬ pher für die Verbindung und das Gleichgewicht von Yin und Yang ist; s. a. Rosen, David: The Tao of Jung, New York 1997. 21 Adaption der alten Sufi-Geschichte bei Zweig, Connie, u. Wolf, Steve: Ro¬ mancing the Shadow: How to Access the Power Hidden in Our Dark Side, Lon¬ don 1997, S.18ff.

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22 Shinoda Bolen, Jean: Götter in jedem Mann: Besser verstehen, wie Männer le¬ ben und lieben, Basel 1991; u. Göttinnen in jeder Frau: Psychologie einer neu¬ en Weiblichkeit, Basel 1986. 23 Moore und Gillette entwickelten ihr Quaternio-Schema in fünf Büchern, eines für jeden Archetyp und eine Zusammenfassung. König, Krieger, Ma¬ gier, Liebhaber: Die Stärken des Mannes, München 1992; Der Magier im Mann: Wege zum inneren Schamanen, Solothurn, Düsseldorf 1995; The King Within, New York 1991; The Warrior Within, New York 1992; The Lover Within, New York 1993. Das Schema sollte ursprünglich die Psyche des

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»gereiften Mannes« erfassen. Ich nahm daher verschiedene Änderungen vor, die auch die weibliche Seite mit einbeziehen. So verwende ich bei¬ spielsweise die Figur des Herrschers (König und Königin) anstelle des Kö¬ nigs. Für unsere Zwecke habe ich auch einige Attribute der Schatten geän¬ dert (die Schatten des Magiers beispielsweise bezeichne ich als »hyperra¬ tional apollinisch« und »willkürlich dionysisch« anstelle von »Alleswis¬ ser« und »Tölpel«). Es wäre zu mühsam, jede Veränderung im Text zu kennzeichnen, daher belasse ich es bei der Feststellung, daß das von mir vorgestellte System Elemente der beiden Autoren und von mir enthält. Außerdem werde ich noch einen zusätzlichen Archetyp einführen, den der Großen Mutter/Ernährerin. Er ist der fünfte, der unser Schema des ar¬ chetypischen Menschen vervollständigt (Kapitel 2: »Der Fall des ver¬ schwundenen Archetyps«). Die Theorie des Jagens ist die klassiche anthropologische Interpretation, die des Gejagtwerdens wurde erst kürzlich von Barbara Ehrenreich ent¬ wickelt. Ehrenreich, Barbara: Blutrituale: Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg, München 1997. Die Bezeichnung »Co-Abhängigkeit« stammt aus der Suchttherapie von Alkoholkranken. Alle Familienmitglieder eines Alkoholikers werden als »Co-Abhängige« bezeichnet, weil sie einen Teil der Verantwortung über¬ nehmen, die eigentlich der Abhängige selbst übernehmen müßte. Der Begriff bezeichnet aber auch eine regelrechte Beziehungssucht, wobei der oder die Co-Abhängige so gut wie alles tut, um eine Beziehung aufrecht¬ zuerhalten, egal, wie zerstörerisch sie ist. Einen anregenden Überblick bietet Anne Wilson Schaef in ihrem Buch Im Zeitalter der Sucht: Wege aus der Abhängigkeit, Hamburg 1989. Ebenda, S. 18f. Zwischen der englischen und der deutschen Ausgabe bestehen erhebliche Unterschiede. Die deutsche Version von Richard Wilhelm (Laotse: Tao te king, München 1978, S. 46 [Nr. 6]) lautet: »Das Tor des dunklen Weibs, /das


heißt die Wurzel von Himmel und Erde./Ununterbrochen wie beharrend/ wirkt es ohne Mühe.« (Anm. d. Ü.) 29 Konferenz in Sausalito, Kalifornien, 12. 6. 1998.

30 Beispielsweise Lynn Meskell in »Twin Peaks« u. Joan Goodnick Westen¬ holz in »Goddesses of the Ancient Near East 3000-1000 BC«, beide in: Goodison, Lucy, u. Morris, Christine: Ancient Goddesses, London 1998, S. 63. Meskell und Westenholz kritisieren die Interpretation von Mellaart

und Gimbutas zu Figuren, die in Gatal Hüyük gefunden wurden. 31 Gimbutas, Marija: The Language of the Goddess, London 1989, S. 321. 32 Yaiom, Marilyn: Eine Geschichte der Brust, Düsseldorf 1998. 33 Starhawk: Wilde Kräfte. Sex und Magie für eine erfüllte Welt, Freiburg 1987. 34 Baring, Anne, u. Cashford, Jules: The Myth of the Goddess: Evolution of an Image, London 1993; Gadon, Elinor: The Once and Future Goddess, New York 1990. Aktuellere Funde für Abbilder der Großen Mutter im alten Eu¬ ropa (6500-3500 v.Chr.) werden bei Gimbutas beschrieben. Gimbutas, Marija. The Goddesses and Gods of Old Europe, Berkeley 1989. 35 Gimbutas, Marija: The Language of the Goddess, a.a.O. 36 Keynes, John Maynard: Vom Gelde, München 1932, S. 11. 37 Einzig, Paul: Primitive Money, Oxford 1966. 38 Toynbee, Arnold: Der Gang der Weltgeschichte: Aufstieg und Verfall der Kul¬ turen. Kulturen im Übergang, Zürich 1979, Kapitel 3. 39 Williams, Jonathan: Money: A History, New York 1 997, S. 207. 40 Ebenda, S. 209. 41 Der Titel stammt von einem Abschnitt über Viehwährung bei Davies, Glyn: A History of Money from Ancient Times to the Present Day, Cardiff 1994. 42 Homer: Ilias, Buch VI, Vers 236. 43 Denselben Ursprung hat auch das engl. Wort capital punishment (= »To¬ desstrafe«). Es bezog sich ursprünglich auf das Abschlagen des Kopfes. 44 Parson, Neglcy: Der gottverlassene Kontinent, Zürich 1944. 45 Westenholz, Joan Goodnick: »Goddesses of the Ancient Near East 3000-1000 BC«, a.a.O., S. 73. 46 Jacobsen, Thorkild: The Treasures of Darkness: A History ofMesopotamian Re¬ ligion, New Haven 1976, S. 138. 47 Demetra, George: Mysteries of the Dark Moon, San Francisco 1992, S. 162. 48 Hassan, Fekri A.: »The Earliest Goddesses of Egypt«, in: Goodison, Lucy, u. Morris, Christine: Ancient Goddesses, a.a.O., S. 101. 49 Ebenda, S. 102-105. 50 8. bis 6. Jahrtausend v. Chr., 52 Kilometer südöstlich von Konya, Türkei.

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51 Gadon, Elinor: The Once and Future Goddess, New York 1990, Einleitung,

S. xvi. 52 Wokstein, Diane, u. Kramer, Samuel Noah: lnatma: Queen of Heaven and Earth, New York 1983, S. 127. 53 Als Schaubild 9, »Schwangere Frau mit Stier«, in: Gadon, Elinor: The Once and Future Goddess, a.a.O., S. 11. 54 Marshack, Alexander: Roots of Civilisation, New York 1972, S.286. 55 Davies, Glyn: A History of Money from Ancient Times to the Present Day, Car¬ diff 1994, S.35. 56 Cribb, J.: »The Far East«, in: Price, M. J. (Hg.): Coins from 650 BC to the Pre¬ sent Day, London 1980. 57 Fazzioli, Edoardo: Gemalte Wörter, Bergisch Gladbach 1987, S. 177. 58 Chevalier, Jean, u. Gheerbrant, Alain: Dictionnaire des Syrnboles, Paris 1982, S. 283. 59 Abbe Breuil, zitiert bei Servier, J.: L'homme et Finvisible, Paris 1964, S. 37f. 60 Williams, C. A. S.: Outlines of Chinese Sytnbolism and Art Motives: An Al¬ phabetical Compendium of Antique Legends and Beliefs, as Reflected in the Manners and Customs of the Chinese, London 1932, S. 72. 61 Stone, Merlin: Ancient Mirrors of Womanhood, Boston 1990, S.25. 62 Guthrie, W. K. C.: The Greeks and Their Gods, Boston 1950. 63 Williams, Jonathan: Money: A History, New York 1997, S.24. 64 Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 1973, S. 126. 65 Qualls-Corbet, Nancy: The Sacred Prostitute: Eternal Aspects of the Feminine, Toronto 1988; auch Metzger, Deena: »Re-Vamping the World: on the Re¬ turn of the Holy Prostitute«, in: Critique, P. O. Box 91980, Vancouver, B. C.# V7V 4S4. 66 Monaghan, Patricia: The Book of Goddesses and Heroines, St. Paul 1990, S. 185. 67 »Matriarchalisch« bedeutet, daß sich die Herrschaftsstrukturen in der Hand von Frauen befinden. »Matrifokal« weist auf einen kulturellen Kon¬ text hin, in dem der Archetyp des Weiblichen geehrt wird, was aber nicht unbedingt zu einer entsprechenden Herrschaftsorganisation führen mußte. Unsere gegenwärtige Kultur ist überwiegend patriarchalisch und patrifokal geprägt. 68 Williamson, John: The Oak King, the Holly King and the Unicorn: The Myths and Symbolism of the Unicorn Papistries, New York 1986, S. 146. 69 Paris, Ginette: Pagan Grace: Dionysos, Hermes and Goddess Memory in Daily Life, Dallas 1991, S. 29.

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70 Aus Quigley, Carol: The Evolution

of Civilizations: An Introduction to Histo¬

rical Analysis, Indianapolis 1979, S.83. 71 Tamas, Richard: The Passion of the Western Mind: Understanding the Ideas that Have Shaped Our World View, New York 1991, S. 441f.

72 Beide Gimbutas-Zitate aus: Gimbutas, Marija: »Women Culture in God¬ dess-Orientated Old Europe«, in: Plaskow, J., u. Christ, C. (Hg.): Weaving the Visions: New Patterns in Feminist Spirituality, San Francisco 1989, S.6.3. 73 Georges Dumezil widmete seine 40jährige Lehrzeit am College de France völlig der Erforschung der gemeinsamen Strukturen in allen Formen der indogermanischen Mythologie. Eine seiner Hauptthesen lautet, daß es drei offizielle Kasten gab: die Priester, aus deren Mitte ein König erwählt wurde, die Krieger und die Versorger. Diese Dreiteilung läßt sich in der Mythologie, Theologie sowie den politisch-sozialen und wirtschaftlichen Organisationsstrukturen zurückverfolgen. Dumezil, Georges: Mythos und Epos: Die Ideologie der drei Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völ¬ ker, Frankfurt 1989 (mit Bd. 1 Erscheinen eingestellt). 74 Dumezil, Georges: Mythes de Dieux des Tndo-Europeens, Paris 1992. 75 Diese grausame Tradition wurde in mesopotamischcn Kriegen und vielen späteren Invasionen üblich. Das Vorgehen wird explizit in der Bibel ge¬ nannt: »Du sollst nicht töten« und »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib« - es sei denn im Krieg. Dann heißt es nämlich: »So sollst du alles, was männlich darin ist, mit der Schärfe des Schwerts erschlagen. Nur die Frauen ... sollst du unter dir austeilen« (5. Mose 20,13-14). 76 Dieses und das folgende Zitat: Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriar¬ chats, Frankfurt 1991, S.25f. 77 Westenholz, Joan Goodnick: »Goddesses of the Ancient Near East 3000-1000 BC«, a.a.O., S.71. 78 Lemer, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, a.a.O., S.268. Hervorhe¬ bungen durch den Autor. 79 Die griechische Mythologie ist beispielsweise das Ergebnis eines solchen Wandels. Der Tempel der Großen Mutter in Delphi, in dem die Priesterinnen seit Urdenken Orakel sprachen, wurde durch den Apollo-Tempel ersetzt, in dem die Pythia nur als »Seherin« fungierte. Die Interpretation der Botschaften blieb dagegen den männlichen Priestern überlassen ... Apollo übernahm auch andere alte Attribute der Großen Mutter, etwa Im Bereich der Künste und der Musik. Nur die vergleichsweise zweitrangige

Rolle der Musen erinnert noch an die weibliche Vorreiterschaft in diesen Bereichen. Eine architektonische und archäologische Analyse dieses Vorgangs bietet

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Scully, Vincent: The Earth, the Temple and the Cuds: Greek Sacred Architec¬ ture, New Haven u. London 1979. 80 Joseph Campbell in einer Vortragsreihe über Mythen (Vortrag Nr. 3). 81 Das engl. Wort für »opfern«, to sacrifice (im Deutschen noch im Fremd¬ wort »Sacrificium« erhalten), bedeutet wörtlich »heilig machen«, denn es läßt sich vom lateinischen sacer (= »heilig«) facere (= »machen«) ableiten. Aus jüdischer Sicht besteht der Bund mit dem gesamten hebräischen Volk. Doch die Beschneidung als Zeichen des Bundes ist nur bei Männern möglich. 82 Dodson Gray, Elisabeth: Patriarchy as a Conceptual Trap, Wellesley 1982, S.26. 83 Grant, Michael: Das Heilige Land: Geschichte des Alten Israel, Bergisch Glad¬ bach 1988. 84 Davies, Steve: »The Canaanite-Hebrew Goddess«, in: Olson, Carl: The Book of the Goddess: Past and Present, New York 1983, S. 72. 85 Patai, Raphael: The Hebrew Goddess, New York 1967, S.37. 86 Ebenda. 87 Hadley, J. M.: »The Khirbet el-Qom Inscription«, in: Vetus Testamentum 37 (1987). 88 Van der Toorn, Karel: »Goddesses in Early Israelite Religion«, in: Goodison, Lucy, u. Morris, Christine: Ancient Goddesses, a.a.O., S.89. 89 Grant, Michael: Das Heilige Land: Geschichte des Alten Israel, a.a.O., S. 62f. 90 Pagels, Elaine: Adam, Eva und die Schlange: Die Geschichte der Sünde, Rein¬ bek 1994. 91 Warner, Marina: Maria: Geburt, Triumph, Niedergang - Rückkehr eines My¬ thos?, München 1982, S.59L 92 Kristeva, Julia: »Stabat Mater«, in: Suleiman, Susan Rubin: The Female Bo¬ dy in Western Culture, Cambridge, Mass., 1986, S. 101. 93 Warner, Marina: Maria: Geburt, Triumph, Niedergang ..., a.a.O., S. 89. 94 Pagels, Elaine: Satans Ursprung, Berlin 1996. Pagels bietet eine fundierte Untersuchung, wie die Verteufelung des »anderen« im Christentum zur Zeit der römischen Besatzung in Israel ihren Anfang nahm. 95 Baring, Anne, u. Cashford, Jules: The Myth of the Goddess: Evolution of an Image, London 1993, S. 557f. 96 1m Proto-Evangel i um, auch als Buch des Jakob bekannt, das vermutlich auf das 2.Jahrhundert zurückgeht. 97 Rossiaud, Jacques: Dame Venus: Prostitution im Mittelalter, München 1989. 98 Male, Louis, zitiert bei Gadon, Elinor: The Once and Future Goddess, New York 1990, S.221.

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99 Griffin, Susan: Frau und Natur: Das Brüllen in ihr, Frankfurt 1987, S. 27f.

100 Ebenda, S. 124f. 101 Rich, Adrienne: Von Frauen geboren: Mutterschaß als Erfahrung und Institu¬ tion, München 1979, S.275. 102 Mazis, Glen: The Trickster, Magician and the Grieving Man, Santa Fe 1993, S. 44. 103 Dames, Michael: The Silbury Treasure: The Great Goddess Rediscovered, Lon¬ don 1976.

104 Groenewegen-Frankfort, H. A.: Arrest and Movement, S. 186. 105 Yalom, Marilyn: Eine Geschichte der Brust, a.a.O. 106 Kerenyi, Karl: Die Mysterien von Eleusis, Zürich 1962. 107 Begg, Ean: Die unheilige Jungfrau: Das Rätsel der Schwarzen Madonna, Bad Münstereifel 1989; Gordon, Pierre: Essais sur les Vierges Noires, Neuillysur-Seine 1983. 108 Ein Beispiel für die Verwechslung der Begriffe »natürlich« und »normal«

ist Smith' Beschreibung der Gesellschaftsordnung: »Weise hat die Natur erkannt, daß die Rangeinteilung, der Friede und die Ordnung der Gesell¬

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schaft sicherer auf dem klaren und handgreiflichen Unterschied der Ge¬ burt und des Vermögens als auf dem unsichtbaren und oft unsicheren Unterschied der Weisheit und Tugend ruhen würden ... In der Ordnung all dieser Bevorzugungen ist die wohlwollende Weisheit der Natur gleich offenkundig.« Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle (Theory of Moral Sentiments), ursprüngliches Erscheinungsjahr 1759. Das war Smith' erstes Buch, das er in seiner Zeit als Professor für Moralphilosophie an der Uni¬ versität von Glasgow verfaßte. Das Zitat stammt aus einer deutschen Übersetzung, erschienen in Hamburg 1994, S. 384. Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen (Wealth of Nations), München 1974, S.354. Zitiert bei Davy, Marie Madeleine: Un Traite de la Vie Solitaire: Lettre aux Freres du Mont-Dieu, 2 Bde., Paris 1946, S. 170. Goethe, Johann Wolfgang von: Maskenzüge (1818), Verse 618f. Anonymus: Gauwain und der grüne Ritter, Stuttgart 1992, S.40f. In der deutschen Übersetzung von Richard Wilhelm (Laotse: Tao te king, a.a.O., S. 85 [Nr. 42]): »Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle/und stre¬ ben nach dem Licht/Und die strömende Kraft gibt ihnen Hannon ie.« (Anm. d. Ü.) C. G. Jung entwickelte diese Idee als die notwendige Integration des Ani¬ mus (männliche Energie, die bewußt im Mann und unbewußt in der Frau vorhanden ist) und der Anima (weibliche Energie, die der Frau bewußt

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und dem Mann nicht bewußt ist). Die Individuation wird als völlige In¬

tegration beider Energien definiert.

115 Shinoda Bolen, Jean: Göttinnen in jeder Frau: Psychologie einer neuen Weib¬ lichkeit, a.a.O., S.337. 116 Chevalier, Jean, u. Gheerbrant, Alain: Dictionnaire des Symboles, a.a.O., S.258; Gobert, M. H.: Les Nombres Sucres et l'Origine des Religions, Paris 1982, S.69. 117 Die Informationen zu China stammen aus Eberhard, Wolfram: Lexikon chinesischer Symbole: Geheime Sinnbilder in Kunst und Literatur, Leben und Denken der Chinesen, Köln 1983. 118 Iamblichos: Leben des Pythagoras, Stuttgart 1964; s. Kapitel 5 von Schnei¬ der, Michael S.: A Beginner's Guide to Constructing the Universe: the Mathe¬ matical Archetypes of Nature, Art and Science, New York 1994. 119 Auszug aus World Scientists Warning to Humanity, The Union of Concerned Scientists, www.ucsusa.org. 120 Shinoda Bolen, Jean: Götter in jedem Mann: Besser verstehen, wie Männer le¬ ben und lieben, a.a.O., S. 17. 121 Kindleberger, Charles: Manias, Panics and Crashes: A History of Financial Crises, New York, 3. Aufl. 1996, S. 1. 122 Bagehot, Walter: »Essay on Edward Gibbon«, 1873. 123 Zitiert bei Brooks, John: The Go-Go-Years, 1972. 124 Mackay, Charles: Zeichen und Wunder: Aus den Annalen des Wahns, Frank¬ furt 1992, S. 358. 125 Zu den besten Untersuchungen über Finanzhystcrien gehören: Charles Kindleberger: Manias, Panics and Crashes, Milton Friedman: Geld regiert die Welt, Eugene White: Crashes and Panics: the Lessons from History, und John Kenneth Galbraith: Der große Crash von 1929. 126 Van Vleck, George: The Panic of 1857: An Analytical Study, New York 1953, S.31. 127 Philippe, Raymond: Un point d'histoire: Le drame financier de 1924-29. 128 Ebenda. 129 Enzyklopädisches Lexikon des Geld-, Bank- und Börsenwesens, Frankfurt, 4. Aufl. 1999. 130 Le Bon, Gustave: Psychologie der Masse, Frankfurt, 14. Aufl. 1973. 131 Mitchell, Wesley Clair: »Analysis of Economic Theory«, in: American Eco¬ nomic Review 15, März 1925, S. 1-12. 132 Zu den besseren Versuchen, Finanzhysterien zu leugnen, zählen: Garber, Peter M.: »Who Put the Mania in the Tulipmania?«, u. Neal, Larry D.: »How the South Sea Bubble Was Blown up and Burst: A New Look at Old

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Data«, beide in: White, Eugene N.: Crashes and Panics: the Lessons from Hi¬

story, Homewood 1990, S.3-56. Kindleberger, Charles: Manias, Panics and Crashes, a.a.O., S.202. Ebenda, S.20f., 23. Ebenda, S. 44. Ebenda.

133 134 135 136 137 Die Analyse der Wall-Street-Fauna stammt von Passy, Stanley: The Imagina¬ tion of Wall Street, unveröffentlichte Dissertation, University of Texas, 1987. 138 Elias, Christopher: Fleecing the Lambs, Chicago 1971. 139 Prüden, Henry: »I.ife Cycle Model of Crowd Behavior«, in: Technical Ana¬ lysis of Stocks and Commodities, San Francisco 1999, S. 77; s.a. »Behavioral Finance: What is it?«, in: Market Technicians Associations Newsletter and MTA Journal, September 1996. 1 40 Soros, George: Die Krise des globalen Kapitalismus: Offene Gesellschaft in Ge¬ fahr, Berlin 1998, S. 33f. 141 Baruch, Bernard: Vorwort zu Charles Mackays Zeichen und Wimder ..., a.a.O., Hervorhebung durch den Autor. 142 Baruch, Bernard: The Public Years, New York, S. 228, Hervorhebung durch den Autor. 143 Jung, C. G.: »Die Struktur der Seele« (1928), in: Gesammelte Werke Band 8: Die Dynamik des Unbewußten, S. 182. 144 Bernstein, Peter: Vorwort zu Kindleberger, Charles. Manias, Panics and a.a.O., S.xvi, Hervorhebung durch den Autor. Crashes 145 Campbell, Joseph: Myths to Live by, London 1993, S. 13. 146 Dodds, Eric R.: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970. 147 Campbell, Joseph: Mythologie der Urvölker (Die Masken Gottes Bd. 1), Basel 1991, S.24f. 148 Die Quellen für diese Mythologie stammen aus (wenn nicht anders ange¬ geben): Grant, Michael, u. Hazel, John: Lexikon der antiken Mythen und Ge¬ stalten, München 1980; Shinoda Bolen, Jean: Götter in jedem Mann ..., a.a.O.; Guthrie, W. K. C.: The Greeks and Their Gods, Boston 1 950; Otto, Walter F.: Die Götter Griechenlands: Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Frankfurt 1987; Otto, Walter F.: Dionysos: Mythos und Kultus, Frankfurt 1939; Mayerson, Philip: Classical Mythology in Literature, Art and Music, New York 1983; F'ontenrose, Joseph: Python: A Study of Del¬ phic Myth and Its Origins, Berkeley 1980. 149 Shinoda Bolen, Jean: Götter in Jedem Mann ..., a.a.O., S. 145. Andere hier genannte Eigenschaften von Apollo und Dionysos finden sich ebenfalls in diesem Buch.

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1 50 Scully, Vincent: The Earth, the Temple and the Gods: Greek Sacred Architectu¬

re, New Haven 1962, S. 100. 151 Shinoda Rolen, Jean: Götter in jedem Mann ..., a.a.O., S. 149. 152 Otto, Walter K: Die Götter Griechenlands: Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Frankfurt 1987, S. 77. 153 Paris, Ginette: Pagan Grace: Dionysos, Hennes and Goddess Memory in Daily Life, Dallas 1991, S. 5, 8. 154 Ebenda, S. 6, 8. 155 Stichwort Anandasidhi's bei Chaudhury, Haridas: »Yogic Potentials or Sidhis in Hindu and Buddhist Psychology«, San Francisco, unveröffent¬ lichter Artikel, vermittelt von Michael Murphy, 1978. 156 Von Franz, Marie-Louise: Der ewige Jüngling: Der Puer aetemus und der krea¬ tive Genius im Erwachsenen, Zürich 1970. 157 Kerenyi, Karl: Die Mysterien von Eleusis, Zürich 1962, S.69ff. 158 Otto, Walter E: Dionysos: Mythus und Kultus, Frankfurt 1939, S. 160. 159 Ovid: Metamorphosen IV, 18-20. 160 Plato, zitiert bei Hillman, James (Hg.): Puer Papers, Irving 1979, S. 113. 161 Sobel, Robert: Inside Wall Street, New York 1977, S.274. 162 Nietzsche, Friedrich: Die Gehurt der Tragödie oder: Griechenthum und Pessi¬ mismus, Stuttgart 1996. 163 Durand, Gilbert: Les Structures Anthropologiques de I 'lmaginaire: Introduction ä l'Archeotypologie Generale, Paris 1979. 164 Paris, Ginette: Pagan Grace ..., a.a.O., S. 10. 165 Shinoda Bolen, Jane: Götter in jedem Mann ..., a.a.O., S. 149. 166 Kerenyi, zitiert bei Hillman, James (Hg.): Facing the Gods, Dallas 1980, S. 160, Hervorhebung durch den Autor. 167 Der Ausdruck »Treppe zu den Sternen« wurde übrigens von Granville be¬ nutzt, einem der erfolgreichsten Spekulanten in den 70er und 80er Jah¬ ren. Er beschrieb damit die Seifenblasen auf dem Aktienmarkt. Mit dieser Wendung bezeichnet man auch den Puer-Charakter. Die Beziehung zwi¬ schen Apollo, Puer und dem reifen Dionysos wurde erstmals von Stanley Passy erkannt: Passy, Stanley: The Imagination of Wall Street, unveröffent¬ lichte Dissertation an der University of Texas, 1987. a.a.O., S. 194f. 168 Kindleberger, Charles: Manias, Panics and Crashes 169 Etwa: »Je mehr sich etwas ändert, desto mehr bleibt es dasselbe.« 170 Hillman, James: Loose Ends, Zürich 1979, S.50. 171 Passy, Stanley: The Imagination of Wall Street, a.a.O., S. 115. 172 Auszug aus der New York Times vom 6. 9. 1998, S.4, Hervorhebungen durch den Autor.

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173 Galland, China: Grüne Tara und Schwarze Madonna: Abenteuerliche Suche nach dem weiblichen Antlitz Gottes, Solothurn 1 993. 174 Quotable Woman, London 1991. 175 Gesell, Silvio: Gesammelte Werke, Münden 1988-1997, 18 Bände, Nach¬ druck der Originalausgaben 1891-1928. 176 Wie in Kapitel 5 meines Buches Das Geld der Zukunft, a.a.O., dargestellt wurde. 1 77 »Das Ausmaß der Kontrolle über die Münzprägung nach der Reform Karls des Großen zeigt sich anhand der Einheitlichkeit der Münzen im ganzen Reich. Dies steht in erheblichem Kontrast zu der Vielfalt an Münzen, die zu Beginn von Karls Herrschaft existierte. Die frühen Denare erkannten zwar die Hoheit des Königs an, waren jedoch grob gefertigt. Sie vermit¬ teln den Eindruck, daß sie vor Ort nach dem Geschmack eines lokalen Herren entworfen wurden und je nach dem Geschick des Schmiedes, der den Prägestempel fertigte, unterschiedlich ausfielen. Die schweren Dena¬ re nach der Reform sind sorgfältig gestaltet. Die Stempel wurden offen¬ sichtlich zentral angefertigt und unterscheiden sich von Münzstätte zu Münzstätte nur durch den Ortsnamen. Denare, die in Arles oder Italien geschlagen wurden, weisen zusätzlich den Titel >König der Lombarden< auf. Für kurze Zeit verfolgte man sogar die Idee einer weiteren Zentrali¬ sierung, indem alle Münzen von einer einzigen kaiserlichen Münzstätte in Aachen gefertigt werden sollten.« Spuffard, Peter: Money and its Use in Medieval Europe, Cambridge 1988, S.43; u. Grierson, Philipp: »Money and Coinage under Charlemagne«, in: Braunfels, W. (Hg.): Karl der Große: Le¬ benswerk und Nachleben, Düsseldorf 1965, S. 525. 1 78 Spuffard, Peter: Money and its Use in Medieval Europe, a.a.O., S. 57. 179 Petersen, H., u. Bertil, A.: Anglo Saxon Currency: King Edward's Reform to the Norman Conquest, Lund 1969. 180 Spuffard, Peter: Money and its Use in Medieval Europe, a.a.O., S. 302. 181 Wichtig ist dabei, daß die Währungen zwar mit einer Liegegebühr bela¬ stet waren, sie jedoch nicht abgewertet wurden. Wir werden noch feststellcn, daß erst die inflationäre Geldentwertungspolitik Philipps IV. von Frankreich Ende des 13. und Anfang des 14.Jahrhunderts das Ende der »guten Jahrhunderte« im mittelalterlichen Frankreich einläuteten. 182 Der Begriff »bracteat« wurde bereits in der ersten systematischen Unter¬ suchung dieser Währungen von Jacob von Mellen aus Lübeck verwendet, die 1678 erschien. 183 Berger, Frank: Die mittelalterlichen Bräkteaten im Kestner-Museum Hannover, Hannover 1993, S. 14.

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1 84 Prcisigke, Friedrich: Girowesen im griechischen Ägypten enthaltend Komgiro,

Geldgiro, Girobanknotariat mit Einschluß des Archivwesens, Straßburg 1910. 185 Wichtig sind in diesem Zusammenhang drei Fehler. Die ersten beiden sind die Willkür bei Abstand und Umfang der Demurrage. Sie führten zu Mißbrauch, der gegen Ende des Kapitels in dem Abschnitt »Wie alles ein Ende fand« beschrieben wird. Der dritte Fehler bestand darin, daß für die Münzen der »Renovatio Monetae« oder die Braktcatcn Silber verwendet wurde, ein Metall, das gehortet und auch im Fernhandel als Währung (in Form einer Yang-Währung) benutzt wurde. Nur durch Regulierung konn¬ te man ein Horten der hochmittelalterlichen Währungen unterbinden, wodurch sie zu einer Yin-Währung wurden. Manche Menschen versuch¬ ten natürlich, die Vorschriften und die Besteuerung zu umgehen, und horteten die Münzen als Barren, was beispielsweise bei den »BrakteatenFünden« der Fall war. Das erklärt auch, warum einige wenige BrakteatenMünzschätze gefunden wurden. - Die ägyptischen Ostraka waren dage¬ gen an sich wertlos, und da die Liegegebühren an tatsächliche Lagerhal¬ tungskosten gekoppelt waren, wurden Willkür bei Abstand und Ausmaß der Erhebung der Gebühr vermieden. Daher war das ägyptische System aus theoretischer Sicht eine bedeutend »bessere« Yin-Währung als das Sy¬ stem im Hochmittelalter, denn es gab keinerlei Anreiz, diese Währung zu horten. - Trotz dieser Fehler bot das mittelalterliche System immer noch ausreichend Anreiz, die Münzen auszugeben, anstatt sie aufzubewahren. Das führte zu einem dramatischen Wirtschaftsaufschwung. Die aus mei¬ ner Sicht beste Untersuchung zu den genauen Bestimmungen für mittel¬ alterliche Währungen stammt von Hävcrnick, Walter: Der Kölner Pfennig im 12. und 13. Jahrhundert: Periode der territorialen Pfennigmiinze, Stuttgart 1930. 186 Graves, Robert: Mammon and the Great Goddess, London 1964, zitiert bei Begg, Ean: Die unheilige Jungfrau: Das Rätsel der Schwarzen Madonna, Bad Münstereifel 1989. 187 Galland, China: Grüne Tara und Schwarze Madonna a.a.O., S.40. 188 Pagels, Elaine: Versuchung durch Erkenntnis: Die gnostischen Evangelien, Frankfurt 1987, S.xvi. 189 »Exoterisch« bezieht sich etymologisch auf lat. exterior (= »außen, öffent¬ lich«), »esoterisch« dagegen auf interior (= »innen, versteckt«); Riffard, Pierre A.: L'Esoterisme: Anthologie de VEsoterisme Occidental, Paris 1990. 1 90 Begg, Ean: Die unheilige Jungfrau ..., a.a.O., S. 41f. 191 Huynen, Jacques: L'enigme des Vierges Noires, Paris 1972, S. 116f. 192 Man schätzt, daß sich auf dem Höhepunkt der Wallfahrten jedes Jahr

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ungefähr 500000 Menschen auf Pilgerfahrt begaben; Marks, Claude: Pil¬ grims, Heretics and Lovers, New York 1975, S. 111. 193 Huynen, Jacques: L'enigme des Vierges Noires, a.a.O. 1 94 Mit ein Grund für die Aufstellung in der Krypta (gr. kryptein = »verbergen, verstecken«) könnte eine Verbindung zu den Initiationshöhlen der Großen Mutter in der Altsteinzeit sein. Weitere Gründe bei Bonvin, Jac¬ ques: Vierges Noires: La Reponse vient de la terre, Paris 1988. 195 lcher, Francois: Les Ouvriers des Cathedrales, Paris 1998, S. 14. a.a.O., S. 11. 196 Begg, Ean: Die unheilige Jungfrau 1 97 Huynen, Jacques: L 'enigme des Vierges Noires, a.a.O. 198 Alle drei Beispiele bei Monaghan, Patricia: The Rook of Goddesses and Heroines, St. Paul 1990. 199 Die deutsche Version von Richard Wilhelm (Laotse: Tao te king, a.a.O., S.41 [Nr. 1]) lautet: »Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis/ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.« (Anm. d. Ü.) 200 Neumann, Erich: Die Große Mutter: Eine Phänomenologie der weiblichen Ge¬ staltungen des Unbewußten, Olten und Freiburg, 9. Auf]. 1989, S.312. 201 Williamson, John: The Oak King, the Holly King and the Unicom: The Myths and Symbolism of the Unicom Tapistries, New York 1986. Der Autor ist der Gestalter der mittelalterlichen Gärten bei The Cloisters, New York. 202 Das zog sich bis ins 18.Jahrhundert. Mehrere »Klassiker« der Alchemie wurden von Don Pernety verfaßt, einem Benediktinermönch aus St-Maur bei Paris. Siehe auch Pernetty, Antoine-Joseph: Les Fabkes fgyptiennes et Grecques Devoilees et Reduitcs au merne Principe, Paris 1706. 203 Jung, C. G.: Gesammelte Werke Band 14: Mysterium Coniunctionis, Par. 44, Fußnote 72. 204 Siehe beispielsweise Dürers berühmten Kupferstich Melencolia; gr. melas = »schwarz«, chole = »Galle«. 205 Die Idee, daß der weibliche Weg zur Initiation als ersten Schritt einen Ver¬ zicht auf alle ichzentrierten Attribute erfordert, wird von Sylvia Brinton Pereira dargelegt. Brinton Pereira, Sylvia: Der Weg zur Göttin der Tiefe, Frankfurt 1985. 206 Ringvortrag zum Thema »Depressionen« in Santa Barbara, Kalifornien, 1997. 207 Hillman, James: Revisioning Psychology, San Francisco 1992, S.98. 208 »Spirit of the Age«, in: The Economist, 19. 12. 1998/1. 1. 1999, S. 115. 209 Die Daten basieren auf der Altersgruppe von 26 bis 64, Journal of American Medical Association 276, Nr. 4. a.a.O., S.36. 210 Begg, Ean: Die unheilige Jungfrau

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211 S. u. a. Tuchman, Barbara: Der feme Spiegel: Das dramatische 14. Jahrhundert, Düsseldorf 1980. 212 Fourquin, Guy: Histoire Economique de I'Occident medieval, Paris 1969, S.215, Hervorhebung durch den Autor.

213 Icher, Francois: Les Ouvriers des Cathedrales, Paris 1998, S.20. 214 Damaschke, Adolf: Geschichte der Nationalökonomie, Gustav Fischer Verlag, 4. Aufl. 1910. 215 Fourquin, Guy: Histoire Economique de iOccident medieval, a.a.O., S. 192. 216 Ebenda, S. 142. 217 Dieser Ertrag ist das Verhältnis aus dem Gewicht des geernteten Getreides zu seinem Gewicht bei der Aussaat. 218 Gies, Joseph: Cathedral, Forges and Waterwheel: Technology and Invention in the Middle Ages, New York 1995, S. 80. 219 Cantor, Norman F.: The Civilization of the Middle Ages, New York 1993, S. 229. 220 Delort, Robert: La Vie en Moyen Age, Lausanne 1982, S. 127. 221 Reynolds, Robert: Europe Emerges: Transition Toward an Industrial World-wi¬ de Society, 600-1750, Madison 1967, S. 185f. 222 Gies, Joseph: Cathedral, Forges and Waterwheel ..., a.a.O., S. 119 für WebStühle, S. 176 für Wollkämme, S. 177 für Krempier. 223 Fourquin, Guy: Histoire ßconomique de I'Occident medieval, a.a.O., S. 215. 224 Delort, Robert: La Vie en Moyen Age, a.a.O., S. 45. 225 Gies, Joseph: Cathedral, Forges and Waterwheel ..., a.a.O., S. 107. 226 Ebenda, S. 148-153. 227 Aries, Philippe, u. Duby, Georges (Hg.): Geschichte des privaten Lebens Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance, Frankfurt 1990. 228 Delort, Robert: La Vie en Moyen Age, a.a.O., S. 36. 229 Yalom, Marilyn: Eine Geschichte der Bmst, Düsseldorf 1998, S. 173. 230 Montaigne, Michel de: Die Essais, Stuttgart 1969, Erstes Buch. 231 Delort, Robert: La Vie en Moyen Age, a.a.O., S. 36f. 232 Aries, Philippe, u. Duby, Georges (Hg.): Geschichte des privaten Lebens Bd. 2 ..., a.a.O., S. 481. 233 Von Lippmann, Dr. Friedrich: Zeichnungen von Albrecht Dürer, Berlin 1888. 234 Jardine, Lisa: Worldly Goods: A New History of the Renaissance, New York 1996, S. 12. 235 Schwartz, Fritz: »Sechs-Stunden-Tag im Mittelalter«, in: Vorwärts zur Kauf¬ kraft des Geldes und zur zinsfreien Wirtschaft, 1931. 236 Zitiert bei Pack, Hugo R.: The Gothic 1150-1450, San Antonio, Hervorhe¬ bung durch den Autor.

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237 Herlihy, David: Women, Family and Society in Medieval Europe: Historical Es¬ says, 1978-1991, Oxford 1995, S.33.

238 Kelly-Gadol, Joan: »Did Women Have a Renaissance?«, in: Bridendahl, Re¬ nate, u. Koonz, Claudia: (Hg.): Becoming Visible: Women in European Hi¬

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story, Boston 1977. Kelly-Gadol machte Jacob Burckhardts klassische Ein¬ schätzung von einem Fortschritt für Frauen zunichte. Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien: Ein Versuch, 1 860. Uitz, Erika: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt, Leipzig 1988, S. 10. Der Satz »Stadtluft macht frei« wurde allerdings erst im 19. Jahrhundert formuliert. Uitz, Erika: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt, Leipzig 1 988, S. 11. Herlihy, David: Women, Family and Society in Medieval Europe: Historical Es¬ says, 1978-1991, Oxford 1995, S.68. Turgot, Anne-Robert Jacques: Reflexions sur la formation et la distribution des richcsses, 1776.

244 Uitz, Erika: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt, a.a.O., S. 84. 245 Herlihy, David: Women, Family and Society in Medieval Europe ..., a.a.O., S. 71.

246 Ebenda, S. 71. 247 Ebenda, S. 51. Diese Regel war sogar in Hinkmars von Reims Buch über die Palastordnung De Ordine Palatii (882) festgehalten. 248 Pernoud, Regine: Leben der Frauen im Hochmittelalter, Pfaffen weder 1991, S. 87. 249 Dhuoda: Manuel pour mon fils (hg. von Pierre Riehe), Paris 1975. 250 De Rougemont, Denis: Die Liebe und das Abendland, Köln, Berlin 1966. 251 Pernoud, Regine: Leben der Frauen im Hochmittelalter, a.a.O., S. 137. 252 Marks, Claude: Pilgrims, Heretics and Lovers, New York 1975, S. x. 253 Lewis, C. S.: The Allegory of Love, Cambridge 1965, S. 101. 254 Bogin, Meg: The Women Troubadours, New York, London 1980, S. 12. 255 Ebenda. Das Werk der weiblichen Troubadoure war in Vergessenheit ge¬ raten, bis Oscar Schultz-Gora sie wiederentdeckte und Ende des vorigen Jahrhunderts eine kleine Monographie darüber veröffentlichte. SchultzGora, Oscar: Die provenzalischen Dichterinnen, Leipzig 1878. Meg Bogin bietet die einzige andere vollständige Übersetzung der Gedichte. Die be¬ ste Interpretation ihrer Musik findet sich bei Chansons des Troubadours: Lieder und Spielmusik aus dem 12. Jahrhundert vom Studio der frühen Mu¬ sik bei Telefunken, das Alte Werk (SAWT 95673). Einen weiteren Eindruck von Musik und Liedern der Amour Courtois bietet die CD »Love's Illusion«, eingespielt von den Anonymous 4 und produziert von Harmonia Mundi (HMU 907109).

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256 Bogin, Meg: The Women Troubadours, a.a.O. 257 Ebenda, S. 65. 258 Ebenda, S. 74. 259 Ebenda, S. 75. 260 Ebenda, S. 133. 261 Pernoud, Regine: Alienor d 'Aquitaine, Paris 1965. 262 Pernoud, Regine: I.eben der Frauen im Hochmittelalter, Pfaffen weiler 1991. 263 Heinrich, Sr. Mary P.: The Cannonesses and Education in the Early Middle Axes, Washington, D. C, 1924, S.82f. 264 Herlihy, David: Women, Family and Society in Medieval Europe: Historical Es¬ says, 1978-1991, Oxford 1995. S.61. 265 Delort, Robert: La Vie en Moyen Age, a.a.O., S. 21 If. 266 Abteien bilden allerdings eine Ausnahme: Sie wurden von dem Orden er¬ baut, der sie bewohnte, und blieben auch in dessen Besitz. Der Großteil der Finanzierung der Abteien basierte auf Stiftungen des Adels in Form von Land oder anderen Gütern. 267 Delort, Robert: La Vic en Moyen Age, a.a.O., S.212. 268 Icher, Francois: Les üuvriers des Cathedrales, Paris 1998, S.50, 150. 269 Schock-Werner, Barbara: »Le Chantier de la cathedralc de Strasbourg«, in: Chantiers Medievaux, Paris 1995. 270 Eine wichtige Ausnahme war in Frankreich die königliche Kathedrale von St-Dcnis, die offiziell ein Bauvorhaben des Königs war. Aufgrund von Sugers Berichten besitzen wir zahlreiche Informationen über die Kathedra¬ le. Sie war jedoch eines von 300 Heiligtümern, die in dieser Zeit erbaut wurden. Eine andere Ausnahme findet sich in der aktiven Rolle der Fa¬ milie Plantagenct in England. 271 Dyer, Christopher: Standards of Living in the Later Middle Ages: Social Change in England 1200-1520, Cambridge 1994, S. 101. 272 Morris, R.: Cathedrals and Abbeys of England and Wales, London 1979, S. 180. 273 Lemer, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt 1991, Kapitel 10 zur Unterdrückung der Großen Mutter in Mesopotamien. 274 Herlihy, David: Women, Family and Society in Medieval Europe: Historical Es¬ says, 1978-1991, Oxford 1995, S.20. 275 Yalom, Marilyn: Eine Geschichte der Brust, a.a.O., S. 63. 276 Holländer, Anne: Seeing through Clothes, New York 1978, S. 187. 277 Yalom, Marilyn: Eine Geschichte der Brust, a.a.O., S. 51f. 278 Keen, Maurice: The Pelican History of Medieval England, London 1969, S. 82. 279 Dyer, Christopher: Standards of Living in the Later Middle Ages: Social Chan-

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ge in England 1200-1520, a.a.O., Schaubild 1 auf S. 4. Die Daten, die Dyer zusammenstellte, erfassen die Schätzungen von J. Hatcher, E. A. Wriglcy und R. S. Schofield. 280 Fourquin, Guy: Histoire tconomique de l'Ocddent medieval, Paris 1969, S. 175. 281 Lucas, H. S.: »The Great European Famine of 1315-1316«, in: Speculum 15 (1930).

282 Harvey, Barbara: »The Crisis of the Early Fourteenth Century«, in: Camp¬ bell, Bmcc M. S.: Before the Black Death: Studies in the »Crisis« of the Early Fourteenth Century, Manchester 1992, S.2. 283 Georges Duby, zitiert bei Fourquin, Guy: Histoire Economique de l'Ocddent medieval, a.a.O., S. 176. 284 Spuffard, Peter: Money and its Use in Medieval Europe, a.a.O., S. 93. 285 Dieser Vorgang wurde später als Greshams Gesetz definiert. 286 Diese Logik sollte nicht bis zum Äußersten getrieben werden. Im Mittelalter wurden Goldmünzen eindeutig häufiger gebraucht, allerdings über¬ wiegend für relativ seltene und hohe Zahlungen - wie z.B. bei einer Mit¬ gift, beim Brautgeld oder Landkauf. Derartige hohe Einzelsummen könn¬ ten einer der Gründe sein, wamm die Münzen gehortet wurden. Ein an¬ derer Verwendungszweck für Goldmünzen war das sog. »Danegeld«, die Summen, die an Wikinger und andere Räuber bezahlt wurden, die Gei¬ seln nahmen und sie gegen Edelmetall freiließen. 287 Übrigens zeigt der inflationsbedingte Wertverlust aller Landeswähmngen im 20.Jahrhundert, daß die gleichen Versuchungen immer noch beste¬ hen: Selbst die Deutsche Mark, die »beste« Landeswährung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, erlitt aufgrund der Inflation im letzten Vier¬ tel des Jahrhunderts eine Wertminderung von 50 Prozent. 288 Genauer gesagt handelte es sich bei der Neuerung, die KarlVill. nutzte, um ein Transportsystem für die eisernen Kanonen. 289 Davidson, James Dale, u. Rees-Mogg, William: The Great Reckoning, Lon¬ don 1992, S. 74. 290 Die »Umlaufgeschwindigkeit des Geldes« bezieht sich auf die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Währung innerhalb eines Jahres zirkuliert. Irving Fisher entdeckte in den 30er Jahren die einfache, aber sehr wichtige Be¬ ziehung zwischen Geldmenge (Q), der Umlaufgeschwindigkeit (V) und wirtschaftlicher Aktivität (E): E = Q x V. Einfach ausgedrückt, die wirt¬ schaftliche Aktivität hängt in gleichem Maße von der Menge wie der Um¬ laufgeschwindigkeit des Geldes ab. 291 Gresham formulierte daraus ein Gesetz: Währungen, die die Menschen

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nicht horten wollen, zirkulieren schneller als die Währungen, die gehor¬

tet werden. Er formulierte es allerdings als »Gutes Geld verdrängt schlech¬ tes Geld«, wobei sich »gut« eher auf die Funktion des Geldes als Wertauf¬

bewahrungsmittel bezieht, nicht auf seine Funktion als Tauschmittel. 292 Spuffard, Peter: Money and its Use in Medieval Europe, a.a.O., S. 267. 293 Colon, Cristobal: Textos y Documentus Completos, hg. von C. Varela, Ma¬ drid 1982, S. 32. 294 Spuffard, Peter: Money and its Use in Medieval Europe, a.a.O., S. 389. 295 Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan, 1819. 296 Williams, Jonathan: Money: A History, a.a.O., S.22. 297 Finley, M. I.: Die antike Wirtschaft, München, 3., erw. Aufl. 1993. 298 Ebenda, S. 189. 299 Chevalier, Jean, u. Gheerbrant, Alain: Dictionnaire des Syrnboles, a.a.O., S. 524. 300 Neumann, Erich: Die Große Mutter: Eine Phänomenologie der weiblichen Ge¬ staltungen des Unbewußten, Olten, 9. Aufl. 1989, S.213. 301 Posener, Georges: Dictionnaire de la civilisation tgyptienne, Paris 1959, S. 140. 302 Baring, Anne, u. Cashford, Jules: The Myth of the Goddess: Evolution of an Image, London 1993, S.250. 303 »Isis war ursprünglich der personifizierte Thron ... Der Thron manife¬ stierte göttliche Macht, die einen von mehreren Prinzen zu einem regie¬ rungsfähigen König machte. Die Ehrfurcht, die gegenüber dieser Macht¬ bezeugung empfunden wurde, kam in der Bewunderung für die Mutter¬ göttin zum Ausdruck.« Frankfort, Henry: Ancient Egyptian Religion, New York 1961, S. 17. Interessant ist daran, daß dieses wichtige Thronsymbol der Isis in Form der cathedra auf die mittelalterliche Schwarze Madonna überging und zu einem ihrer 13 einzigartigen Kennzeichen wurde. 304 Briffault, Robert R.: The Mothers, New York 1924, S. 384. 305 Robins, Gay: Frauenleben im Alten Ägypten, München 1996. 306 Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, a.a.O., S. 150. 307 Epstein, Louis M.: Sex Laws and Customs in Judaism, New York 1948, S. 148. 308 Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, a.a.O., S. 152. 309 Ellis, Peter Beresford: Celtic Women, Grand Rapids 1995, S. 99. 310 Eine gelungene Übersetzung ägyptischer Liebeslyrik findet sich bei SäveSöderbcrg, Torgny: Pharaohs and Mortals, New York 1961, vor allem das Kapitel »In the Shade of the Sycomores: Of Perfumes and Love«. 311 Stone, Merlin: When God was A Woman, San Diego 1976, S. 35-38. 312 Johnson, Janet: »The Legal Status of Women in Ancient Egypt«, in: Mistress

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of the House, Mistress of Heavens: Women in Ancient Egypt, New York 1996, S. 183.

313 Papyrus, British Museum, London, 10593, beschrieben bei Thompson, H.: A Family Archive from Siut, 1934. 314 Johnson, Janet: »The Legal Status of Women in Ancient Egypt«, a.a.O., S. 181. 315 Papyms, British Museum, London, 10591, beschrieben bei Thompson, H.: A Family Archive from Siut, 1934. 316 Johnson, Janet: »The Legal Status of Women in Ancient Egypt«, a.a.O., S. 183.

317 318 319 320

Ebenda, S. 185. Ebenda, S. 175. Robins, Gay: Frauenleben Im Alten Ägypten, a.a.O., S. 177f.

Ebenda, S. 26.

321 Bryan, Betsy M.: »In Women Good and Bad Fortune are on Earth: Status and Roles of Women in Egyptian Culture«, in: Mistress of the House, Mistress of Heavens a.a.O., S.25. 322 Zitiert bei Gardiner, Alan H.: Geschichte des Alten Ägypten: Eine Einfiihrung, Stuttgart 1965, S.431. 323 Ilabachi: Annales du Service des Antiquites de l'fgypte, 1952, S. 464f., pl. 52. 324 Wenn keine anderen Angaben genannt werden, stammen die Daten in diesem Abschnitt aus Roehigm, Catharine H.: »Women's Work: Some Oc¬ cupation of Nonroyal Women as Depicted in Ancient Egyptian Art«, in: Mistress of the House, Mistress of Heavens ..., a.a.O., S. 13-24. 325 Fischer, Henry: »Administrative Titles of Women in the Old and Middle Kingdom«, in: Egyptian Studies; Ward, William: »Non-Royal Women and Their Occupations in the Middle Kingdom«, in: Lesko (Ilg.): Women's Ear¬ liest Records; Robins, Gay: Frauenleben im Alten ÄgyptetJ, a.a.O., S. 125-128. 326 Robins, Gay: Frauenleben im Alten Ägypten, a.a.O., S. 134. 327 Johnson, Janet: »The Legal Status of Women in Ancient Egypt«, a.a.O., S. 185. 328 Robins, Gay: Frauenlebm im Alten Ägypten, a.a.O., S.97. 329 Lichtheim, Miriam: Ancient Egyptian Literature, Berkeley, Los Angeles, Lon¬ don 1976, Bd. 3, S. 192.

330 Winlock, H. E.: Excavations at Deir el-Bahri 1911-1931, New York 1942, S. 226. 331 Finley, M. L: Die antike Wirtschaft, a.a.O. 332 Harman, Willis: Bewußt-Sein im Wandel, Freiburg 1989, S. 188. 333 Einzig, Paul: Primitive Money, Oxford, 2. Aufl. 1966.

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334 Baien, Miura: »Reply to Taga Bokkei« (Teil 4), übersetzt ins Englische durch Mercer, Rosemary: Deep Words: Miura Baien 's System of Natural Phi¬ losophy, Leiden, www.oec-net.or.jp/~iwata/e-baien04.htm. Mein Interesse

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für diese Fallstudie weckte Eiicho Morino in einem privaten Gespräch, September 1999. Suhr, Dieter: Capitalism at Its Best: The Equalisation of Money's Marginal Costs and Benefits, Augsburg 1989. Reis, Patricia: Through the Goddess: a Woman's Way of Healing, New York 1990, S.37. Drucker, Peter: Post-Capitalist Society, New York 1993, letzter Satz des Bu¬ ches, S.218. LETS: Local Exchange Trading System (= »Lokales Tausch- und Handels¬ system«). WIR ist die Abkürzung von »Wirtschaftsring-Genossenschaft«, gleichzei¬ tig aber auch eine Anspielung auf das Personalpronomen »wir«. Vgl. I.ietaer, Bernard A.: Das Geld der Zukunft, a.a.O., S. 407-410. Ebenda, S.37L Davies, Glyn: A History of Money from Ancient Times to the Present Day, Car¬ diff 1994, S.27. Eine ausführliche Beschreibung dieses Vorgangs findet sich in meinem Buch Das Geld der Zukunft, a.a.O., Kapitel 1 u. 2. Greider, William: The Secrets of the Temple, New York 1987. Vgl. Lietaer, Bernard A.: Das Geld der Zukunft, a.a.O. Geld ist unser ältestes Informationssystem. Sogar die Schrift wurde in Su¬ mer vermutlich erfunden, um finanzielle Transaktionen festzuhalten, wie früheste Schrifttafeln zeigen. Maturana, Humberto: »The Organization of the Living: A Theory of the Living Organization«, in: Journal of Machine Studies 7 (1975), S.313L; zi¬ tiert bei Eisler, Riane: Kelch und Schwert: Von der Herrschaft zur Partner¬ schaft. Weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte, München 1989,

S. 155. Vortrag beim State of the World Forum, San Francisco, November 1997, Hervorhebung im Original. Jung, C. G.: »Kommentar zu >Das Geheimnis der Goldenen Blüte<«, in: Ge¬ sammelte Werke Band 13: Studien über alchemistische Vorstellungen, S. 19. Der Begriff wurde von Riane Eisler geprägt. Eisler, Riane: Kelch und Schwert: Von der Herrschaft zur Partnerschaft. Weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte, a.a.O. Ebenda, S. 156f.


352 Norman, Ondine: Healing the Empty Self: Narcissm and the Cultural Shift from Dominance to Mutualty, Pacifica, unveröffentlichte Arbeit beim Paci¬ fica Graduate Institute, 1997, S.5, 16. 353 Ebenda, S. 38. 354 Lash, C.: The Culture of Narcissm, New York 1979, S.91. 355 Ebenda, S. 84. 356 Jacoby, M.: Individuation and Narcissms: The Psychology of Self in Jung and Kohut, New York 1990, S. 1 74. 357 Williams, Jonathan: Money: A History, New York 1997, S.216L 358 Allein das Ausmaß und die Qualität der Publikationen, die über den der¬ zeitigen gesellschaftlichen Wandel erschienen sind, ist beeindruckend. Dazu gehören: Karl Jasper: Die geistige Situation der Zeit (1931), Piritim Sorokin: Die Krise unserer Zeit (1941), Lancelat Law Whyte: The Next De¬ velopment in Man (1944), Vance Packard: The Hidden (1957) u. The Sexual Wilderness ( 1 968), Barbara Ward: The Rich Nations and the Poor Nations (1962) u. The Home of Man (1976), Richard Buckminster Fuller: Utopia or Oblivion (1969), Gunnar Myrdal: The Challenge of World Poverty (1970), William Irvin Thompson: At the Edge of History (1971), Barry Commoner: The Closing Circle (1971), Gordon Rattray Taylor: Rethink (1972), Konrad T.orenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit ( 1973), Alvin Toffler: Die Zukunftschance (1970) u. Die dritte Welle (1980), Theodore Roszak: Mensch und Erde auf dem Weg zur Einheit (1978), Herman Bryant Maynard u. Susan Mehrten: The Fourth Wave (1993), Gregory Stock: Metaman (1993), Mihaly Csikszentmihalyi: The Evolving Self (1993), Ken Wilber: Sex, Ecology, Spirituality: The Spirit of Evolution (1995), Michael Murphy: The Future of the Body, Barbara Marx Hubbard: Conscious Evolution (1998). 359 Obwohl Erich Neumanns Ursprungsgeschichte des Bewußtseins 1953, also im selben Jahr wie Gebsers Ursprung und Gegenwart, erschien. 360 Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, 2 Bde., Zürich 1949-1953. Das Werk stellt hohe Anforderungen an den Leser. Eine Einführung gibt Feuerstein, Georg: Structures of Consciousness: The Genius of Jean Gebser, Eigen verlag 1987, P.O. Box 1030, Lower Lake, CA 95457, USA. 361 Das Schaubild stammt aus dem Buch von Kamenetzky, Mario: The Invisi¬ ble Player: Consciousness as the Soul of Economic, Social and Political Life, Ro¬ chester 1998. Ich schulde Mario Kamenetzky meinen Dank, denn er machte mich auf die Bedeutung von Gebsers Werk für die Analyse von Wirtschaftssystemen aufmerksam. 362 Gebser unterscheidet zwischen einer »mentalen« und einer »rationalen« Struktur. Die rationale Struktur bezeichnet er als eine unzulängliche Form

361


der mentalen Bewußtseinsstruktur. Ich folge Kamenetzky und bezeichne

beide Formen als »rational«. Gebsers »unzulängliche Form« werde ich je¬ doch als »hyperrational« behandeln, d.h. als Schattenform des Magiers.

363 Gebser nennt dies die »integrale, aperspektivische und arationale« Struk¬ tur, ich ziehe wie Kamenetzky den Begriff »integrativ« vor, da so der Pro¬ zeß und nicht ein statisches Ergebnis beschrieben wird. Wie noch zu zei¬ gen ist, bin ich der Ansicht, daß wir dabei sind, die »integrative« Be¬ wußtseinsform zu schaffen. Es könnte jedoch sein, daß wir eine voll in¬ tegrierte Struktur nie ei reichen werden. 364 Drucker, Peter: Post-Capitalist Society, a.a.O., u. The New Realities: In Govern¬ ment and Politics, in Economics and Business, in Society and World View, New York 1995. 365 Schaef, Anne Wilson: Im Zeitalter der Sucht: Wege aus der Abhängigkeit, a.a.O., S. 18f. 366 Swimme, Brian: The Hidden Heart of the Cosmos, Maryknoll 1998. 367 Die ältesten Funde sind etwa 40000 Jahre alt. 368 Vgl. z. B. Chavaillon, Jean: L 'Äge d'Or de l'Humanite, Paris 1 996. 369 Athena: Mensuel du developpement technologiijue (Belgien), Nr. 137, Januar 1998, S. 220f. 370 Den besten Überblick bietet Dumezil, Georges: Mythos und Epos: Die Ideo¬ logie der drei Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völker, Frankfurt 1989. Eine Zusammenfassung (frz.) findet sich in: Mylhes de Dieux des Indo-Europeetts, Paris 1992. Zu zwei von Dumözils »Funktionen« (die unse¬ ren Archetypen des Kriegers und des Herrschers entsprechen) sind Ein¬ zelbände erschienen: Les Dieux Souverains des Indo-Europeens, Paris 1986, u. Heur et Malheur du Cuerrier, Paris 1985. Außerdem gibt es verschiedene Bände zu bestimmten geographischen Regionen. Die germanische und nordische Mythologie wird beispielsweise in Du Mythe au Roman: la Saga de Hadingus, Paris 1 986, behandelt, die kaukasische Mythologie in Romans de Scythie et d'Alentour, Paris 1988, die römische Religion in La Religion Romaine Archaique, Paris 1987. 371 Barker, Joel: Paradigms: The Business of Discovering the Future, New York 1993. 372 Vgl. das Kapitel »Drei Entwicklungen hin zu einem nachhaltigen Wohl¬ stand« in meinem Buch Das Geld der Zukunft, a.a.O., S. 410-417. Dort fin¬ den Sie auch die wesentlichen Aussagen, die wir hier noch einmal im neu entwickelten Zusammenhang betrachten. 373 Ray, Paul, u. Anderson, Sherry Ruth: The Cultural Creatives, New York 1999, Kapitel 1, S.llf.

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374 Ray, Paul: »The Emerging Culture«, in: American Demographics, Ithaca

1997, S. 5.

375 Ray, Paul: The Integral Culture Survey: A Study of Ike Emergence of Transfor¬ mational Value in America, Forschung finanziert vom Petzer Institute und Institute of Noetic Sciences, 1996, S. 5. 376 Harman, Willis: Bewußt-Sein im Wandel, a.a.O., Einleitung, S. 15, und letz¬ ter Satz, S. 188, Hervorhebung im Original. 377 Mumford, Lewis: Transformations of Man, New York 1956. 378 Williams, Paul: Das Energi, Entwhistle 1983. 379 Ray, Paul, u. Anderson, Sherry Ruth: The Cultural Creatives, a.a.O., S.36. 380 Elgin, Duane, u. LeDrew, Coleen: Global Paradigm Change: Is a Shift Un¬ derway?, San Francisco, State of the World Forum, 2. bis 6. 10. 1996), S. 20. 381 Langone, John: »Alternative Therapies Challenging Mainstream«, in: Time, Sonderheft Herbst 1996, S. 40. 382 Ray, Paul, u. Anderson, Sherry Ruth: The Cultural Creatives, a.a.O., S. 11. 383 Vgl. z. B. Lovelock, James: Unsere Erde wird überleben, München 1982 (engl. Titel des Buches: Gaid). 384 Die Idee zur Konzeption des Schaubildes verdanke ich Gesprächen mit Paul Ray. 385 Zitiert in Greider, William: The Secrets of the Temple, a.a.O., S.230. 386 Die globale Referenzwährung, die ich in Kapitel 8 meines Buches Das Geld der Zukunft, a.a.O., vorschlage, wäre eine solche Währung. 387 Lietaer, Bernard A.: The Rising Importance of Electronic Money: A Challenge to the European Union?, Brussel u. Sevilla, Bericht für die Europäische Kom¬ mission, Abteilung für Wissenschaft und Forschung, Brüssel, u. Instituto de Prospectiva Tecnolögica Sevilla, Spanien, Februar 1997. 388 Mitgeteilt in einem persönlichen Gespräch 1998. 389 Tamas, Richard: The Passion of the Western Mind: Understanding the Ideas that Have Shaped Our World View, New York 1991, S. 444f. 390 Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos, München 1988. 391 Berry, Thomas: The New Story, Teilhard Studies Nr. 1, Winter 1978, S. 1. 392 Von Franz, Marie-Louise: L 'Interpretation des Contes de Fees, Paris 1980, La voie de /'Individuation dans les Contes de Fees, Paris 1978, L'Ombre et le Mal dans les Contes de Fees, Paris 1980. 393 »In the Attic of my Life«, Song von Grateful Dead. 394 Die Magna C(h)arta (libertatum) (= »Große Urkunde [der Freiheiten]«) ist ein am 1 5./19. 6. 1215 auf der Wiese von Runnymede (bei Staines/Surrey) zwischen König Johann ohne Land sowie Vertretern der aufständischen Barone sowie der Kirche abgeschlossener Vergleich. Der König mußte

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dem Adel darin grundlegende Freiheiten garantieren. Sie ist im Prinzip ei¬

ne Bestätigung geltenden Lehnsrechts, wurde aber schon früh zum Do¬ kument des entstehenden Parlamentarismus umgedeutet. Die Magna Charta wirkte in die Zukunft hinein, indem durch sie ein Machtausgleich

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zwischen König und Adel erreicht wurde. Das politische Kräftespiel stand nun unter der Kategorie des Rechts, und auch der Gedanke der Reprä¬ sentation ist hier aufgegriffen. (Doch selbst da, wo es um die Rechtssi¬ cherheit nichtfeudaler Gruppen wie etwa der Kaufleute ging, war dies meist mit einem Eigeninteresse der Barone verknüpft.) Freedom in the World 1995-96, New York (Freedom House) 1996, S.5. Meyers, Norman: The Gain Atlas of the Future World, San Francisco 1993. Laotse: Taoteking, a.a.O., S.96 (Nr. 53). Bateson, Gregory: Metalogues, S. 1, zitiert bei Flemons, Douglas: Complete Distinctions, Boston 1991. Dschalaluddin Rumi, ins Englische übersetzt von Barks, Coleman: The Illuminated Rumi, New York 1997, S.88, 112f. Ebenda, S. 120. Ebenda, S. 81. Ebenda, S. 117. Ebenda, S.88. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 20f. Moore, Robert, u. Gillette, Douglas: The Warrior Within, New York 1992, S.9. Etwa »Virtuelles Institut für nachhaltigen Wohlstand«. The Bagavad Gita, übersetzt von Juan Mascaro, Middlesex 1962, S. 119. Ausführlichere Darstellung bei Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriar¬ chats, Frankfurt 1991, Definitionen im Anhang, S. 285-300. Campbell, Joseph, u. Moyers, Bill: Die Kraft der Mythen: Bilder der Seele im Leben des Menschen, Zürich 1989. Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, a.a.O., S. 295. Williams, Jonathan: Money: A History, a.a.O.


Bildnachweis Archiv für Kunst und Geschichte Berlin: S. 35 (rechts), 37 (links), 59, 65, 72, 75, 85, 114, 131, 157, 161 (links oben), 231

Ashmolean Museum, Oxford: S. 236 Bildarchiv Foto Marburg: S. 321 Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (bpk): S. 180 The British Museum London: S. 54 (links und rechts), 55 (ünks oben und un¬ ten, rechts oben und unten), 106, 150, 151 (links und rechts), 217 (oben), 220, 237, 239 (links und rechts oben), 253 (oben und unten), 254 (oben, un¬ ten links und rechts), 255, 256 Corbis/Bettmann/UPI: S. 37 (rechts) dpa: S. 116 Landeshauptstadt Hannover, Kestner-Museum: S. 108, 161 (rechts oben), 218 The Metropolitan Museum of Art, New York: S. 219 (15.5.19b), 221 (15.5.19e; Ausschnitt)

Helmut Reitz: S. 107 (links und rechts), 152 (oben und unten) Moreno Tomasetig: S. 24, 35 (links), 41, 44, 45, 48 (rechts), 49, 52, 83, 84, 125, 133, 143, 191 (links), 204, 222, 223 Trotz großer Anstrengung konnten nicht alle Bildqucllen ermittelt werden. Sollte noch ein Rechteinhaber eines hier verwendeten Bildes bekannt werden, bitten wir um Mitteilung.

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