Gruithuisen leseprobe

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Ueber die

Existenz der

Empfindung in den

Köpfen und Rümpfen der Geköpften

und von der Art, sich darüber zu belehren.

Von ISBN-10:1492877956 Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Nationalbibliothek erhältlich. Die Abhandlung erschien erstmals 1808 bei Peter Paul Bolling, Augsburg, und ist seit 1923 gemeinfrei. 1. Auflage in der vorliegenden Form: 2013. Transkription aus der Fraktur, Satz, Kommentar, Vorwort: Lino Wirag. Alle Rechte (auch an der Transkription) vorbehalten. Umschlaggestaltung unter Verwendung des Gemäldes David and Goliath von Tizian. Die im Buchinneren verwendeten Vignetten sowie Gruithuisens Porträt sind gemeinfrei. www.linowirag.de

Franz von Paula Gruithuisen Doktor der Medizin


Lino Wirag Was spürt ein Blasenstein, wenn man ihn köpft?

D

ie präziseste Lebensbeschreibung des Franz von Paula Gruithuisen, die ich kenne, stammt von – wie sollte es auch anders sein – dem vielleicht größten Literatur- und Skurrilitätenexperten deutscher Zunge: Arno Schmidt. »Ein merkwürdiger Mann«, heißt es bei Schmidt über Gruithuisen, »1774 geboren, auf Schloß Haltenberg am Lech. Diente zuerst als blutjunger Feldchirurgus in der österreichischen Armee. Studierte nach diesen Feldzügen gegen die französische Republik von 1789 in Landshut Medizin und Philosophie. Wurde geschätzter Universitätslehrer; 1826 sogar Ordinarius für Astronomie in München; wo er dann auch pensioniert und vergessen, 1852 starb.« Ob Gruithuisen wirklich in den von Schmidt genannten Koalitionskriegen gegen Frankreich kämpfte, ist nicht bekannt, wohl aber seine Beteiligung am trinationalen Russisch-Österreichischen Türkenkrieg (1787-1792). Hat Schmidt, einer der kleinkrämerischsten Rosinenklauber in den Schriften – und vor allem Übersetzungen – anderer Autoren, sich hier etwa geirrt? »Das gehört beiläufig in die kalte Glut!« Da hat der Schwitters eigentlich Recht. Also noch mal zurück auf Start: Zunächst einmal muss der spätere Arzt, Astronom, Physiker, Chemiker, Botaniker, Pathologe und ohnehin schwer umtriebige Allzweckwissenschaftler Gruithuisen wie erwähnt zur Welt kommen, 1774 in Oberbayern nämlich, 40 km westlich von München. Deutschland war immer noch schwer absolutistisch (die französische Revolution würde ja erst in fünfzehn Jahren stattfinden), und in Bayern hielt gerade Maximilian III. Joseph (1727-1777) das Heft in der Hand, der aber bald – aus Gründen eigener Sterblichkeit – von Karl II. Theodor (1724-1799) abgelöst werden sollte; undsoweiter (bis zu Märchenkönig Ludwig II. sollten noch vier weitere bayerische Monarchen kommen und gehen).

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Gruithuisens Vater, trotz des klangvollen Namens nicht von Adel, war ein Falkner aus Herzogenbusch in Nordbrabant, weshalb sich der Nachname von Sohnemann Franz auf Deutsch auch reichlich unbequem, nämlich ungefähr ›Chröthösen‹ ausspricht. Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen, sodass der Junge zunächst nur eine Grundausbildung zum Chirurgen erhielt und schon bald auf den Schlachtfeldern Europas herumschnippelte (oder zumindest dabei assistierte). Erst 1807 (nach anderen Quellen 1808) konnte er mithilfe herrschaftlicher Unterstützung zum Doktor der Medizin promovieren. Im heilenden Gewerbe gelang Gruithuisen denn auch seine bis heute folgenreichste Erfindung: die eines Instruments zum Zermalmen von Blasensteinen (solange sie sich freilich noch in der Blase befinden), wofür ihm die Pariser Akademie den stolzen Preis von 1000 Goldfranken zuerkannte. Wie man sich die schweiß- und harntreibende Tortur vorstellen kann, die Franz von Paula möglich macht, darf man der – im Europa der Neunziger tausendfach verkauften – Medizinalschmonzette Der Schamane (1992) von Noah Gordon entnehmen, in der eine urethrale Behandlung à la Gruithuisen zu ausführlich beschrieben wird (die Handlung des besagten Romans spielt übrigens um 1850). Gordon führt darin Spitzenleistungen subtiler Beschreibungskunst ein: »She grimaced as he inserted a catheder and filled her bladder with water« bzw. »The woman gasped as he slid the instrument in her urethra«; und natürlich: »The stone … Lord, he could tell at once that it was lage! Perhaps the size of this thumb, he estimated as he maneuvered and manipulated the lithotrite ever so slowly and carefully.« Genau dieser Lithotrite, ein frühes chirurgisches Instrument, geht nachweislich auf Gruithuisen zurück, der sich damit seiner Bedeutung für die Medizingeschichte – und natürlich für den Unterhaltungsroman der Gegenwart – vollkommen sicher sein darf. Deutlich umstrittener waren da schon Gruithuisens astronomische Forschungen: Seine mit zahlreichen Argumenten ›be-

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legte‹ Behauptung, auf dem Mond lebten sogenannte ›Seleniten‹ (ergo: Mondbewohner) fand schon zu seiner Zeit keinen Glauben, sondern trug ihm den Spott des damaligen Wissenschaftsbetriebs ein. Gruithuisens lebhafte Phantasie – und ausgesprochen scharfe Augen – hatte ihn dazu verführt, in den regulären Wällen des Mondkraters Schröter außerirdische Städte und Festungen zu erkennen, woraus er zahlreiche Hypothesen über die Mondmännchen und deren Kultur ableitete und sogar Vorschläge dazu machte, wie man mit diesen in Kommunikation treten könnte (nämlich durch den Anbau riesenhafter Weizenschriftzüge in den Weiten Russlands). Seine Abhandlung Entdeckung vieler deutlicher Spuren der Mondbewohner: besonders eines colossalen Kunstgebäudes derselben war zumindest 1824 dermaßen all the rage, dass Humboldt ihn das »Münchner Gräuel« und Schelling eine »traurige Celebrität« schimpfte. Wie sehr man den Armen damals durch den Kakao gezogen haben muss, geht auch aus einem Brief Goethes (mit dem Gruithuisen ebenfalls in Korrespondenz stand) an Christian G. D. Nees von Esenbeck hervor: »Unsere Cölner Fastnachtsfreunde kann ich dießmal nicht loben, das Programm war nicht gut erfunden und viel zu abstract, auch verdient der gute Gruithuisen eine solche Behandlung nicht. Was er gesehen und mittheilt ist aller Ehren werth, und man sollte ihm die Freude lassen, es nach seiner Art zu commentiren und zu erklären. Ein jeder darf ja die Bemühungen des fleißigen Mannes auf eigene Weise benutzen.« Vom Jupiter aus Weimar persönlich in Schutz genommen zu werden – auch nicht schlecht. In jedem Fall darf sich Gruithuisen aus heutiger Sicht nicht nur als Zerstörer des Blasensteins, sondern auch als einer der ersten – wenn auch eher unfreiwilligen – Science-FictionAutoren fühlen. Nun aber endlich zum Knack- und Schnittpunkt des Unterfangens: der hiermit (nach mehr als zwei Jahrhunderten) endlich wieder vorliegenden Abhandlung über das Köpfen bzw. Geradegeköpftwordensein nämlich. Gruithuisens Aufsatz

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Gemeint ist Maria Leopoldine von Österreich-Este (1776-1848), die nach dem Tod ihres ersten Mannes (des wesentlich älteren Kurfürsten Karl Theodor von Bayern, der 1799 gestorben war) im Jahr 1804 Graf Ludwig von Arco geheiratet hatte (deshalb auch das doppelte ›Frau‹). Was sich Gruithuisen [im Folgenden einfach: G.] konkret von der Widmung versprach, ist unbekannt, schließlich hatte Maria Leopoldine zu dieser Zeit keinen entscheidenden politischen Einfluss mehr und kümmerte sich vornehmlich um die Verwaltung ihrer Ländereien (und sollte außerdem im Dezember 1808 zum ersten Mal Mutter werden). Unter dem »etc. etc.« sind die weiteren Titel der Kurfürstenwitwe zu verstehen (Erzherzogin von Österreich-Este u.a.).

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Ihro Durchlaucht der verwittweten Frau Frau Churfürstin von Pfalzbaiern etc. etc. im Gefühle der tiefsten Ehrfurcht und Dankbarkeit gewidmet.

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Gemeint ist Samuel Thomas Soemmerring (1755-1830), ein Anatom, Anthropologe, Paläontologe und Erfinder, der 1778 als erster die Einteilung der zwölf Hirnnerven beschrieb, die bis heute Bestand hat. Soemmering lebte von 1805 bis 1820 in München und war 1808 von Max I. Joseph von Bayern zum Hofrat ernannt wurden. Soemmerring war einer der bedeutendsten deutschen Anatomen und entdeckte u.a. den ›gelben Fleck‹ in der Netzhaut des menschlichen Auges. Er war es auch, der als einer der Ersten (in der französischen Presse) die These vertreten hatte, dass enthauptete Köpfe noch Empfindungen besitzen. Gemeint ist Martin von Troers Hinrichtung in Breslau am 25. Februar 1803. Der deutsche Arzt Johann Wendt (1777-1845) veröffentlichte 1803 die Schriften Über Enthauptung im Allgemeinen und über die Hinrichtung Troers insbesondere: ein Beitrag zur Physiologie und Psychologie sowie nachfolgend Ueber die wahrscheinliche Fortdauer des Bewusstseyns in einem vom Rumpfe getrennten Kopfe. In der erstgenannten Abhandlung heißt es plastisch: »Troer war ein Mann, der mit einer wilden Rohheit seines Charackters eine gewiße Seelengrößc verband [..]. An seiner gemordeten Geliebten hing er [..] mit ungestümer Liebe. [..] Von Eifersucht bethört [..] mordete er sie; krampfhaft zuckend wühlte er in ihrem Herzen wie es die Section bewies. [..] In Gesellschaft mehrerer erwartete ich auf dem Richtplatz den Unglücklichen. Den 25ten Febr. um 9 Uhr 14 Minuten des Morgens trat er nach angehörtem Todesurtheil auf das Schaffot, entkleidete sich hastig [..]. Um 9 Uhr 17 Minuten geschah der tödliche Streich; der Nachrichter hatte zwischen dem dritten und vierten Wirbelbeine den Kopf vom Rumpfe getrennt; auch nicht die geringste Erschütterung [..] fand Statt; sanft wurde [..] der Kopf dem Versuchenden übergeben. [..] Ich faßte das Antlitz des Hingerichteten scharf ins Auge, und war nicht im Stande, die geringste Verzerrung in demselben zu entdecken [..]. Ich reizte mit einem Troikart [ein medizinisches Gerät, das wie eine dolchartige Nadel mit Griff und dreikantiger Spitze aussieht, LW] das durchschnittene Rükkenmark, und ich fand dies [..]. In seinem Gesichte war der Abdruck des Schmcrzens, den kein Raphael lebendiger hätte darstellen können; jeder Muskel in seinem Antlitze zuckte, und seine Lippen wurden verzerrt. [..] so rufte ich mit erhabener Stimme zweymal den Nahmen »Troer« in das Ohr des unglücklichen Kopfes [..]: nach jedem Rufe öffnete der Kopf die sich schliessenden Augen, drehte sie sanft nach der Seite, woher der Schall kam und öffnete dabey einigemal den Mund; [..] ich reizte mit dem Troikart etwas höher das getrennte Rückenmark, und die Aeußerungen in dem Antlitze des Hingerichteten waren so auffallend, daß mehrere Umstehende ausriefen: dies ist Leben! und ich, voll von Ueberzeugung in die Worte ausbrach: wenn dies nicht Leben und Empfindung ist, was soll Leben und Empfindung seyn?«

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Viel und stark ist seit mehreren Jahren über das Bewustseyn in den Köpfen der Enthaupteten gestritten worden; man hat erkannt, daß es von der größten Wichtigkeit in der Criminalgesetzgebung wäre, zu wissen, ob der Mensch im abgeschlagenen Haupte noch Bewustseyn und Empfindung habe oder nicht; um so viel mehr, als man zur Stunde noch mit den Verbrechern so umgeht, als hätten sie keines von beyden. Herr Hofrath Sömmerring bemerkte nicht umsonst, daß der Kopf eines Enthaupteten noch einige Zeit das Bewustseyn behalte: dessen wollten sich die Physiologen überzeugen, und machten Versuche. Herr Dr. Wendt war bekanntlich der Erste, welcher zweifelhafte Resultate mit dem Kopfe des Troer erhielt. Heinrich Maria von Leveling (17661828) lehrte seit 1800 Anatomie, Physiologie und Pathologie in Landshut.

Ehe noch die Versuche des Herrn Dr. Wendt bekannt waren, nahm mich Herr Hofrath H. M. von Leveling Professor an der königlichen Universität zu Landshut, zu einem ähnlichen Versuche mit. Unser Delinquent war ein junger, kleiner, untersetzter, gesunder Bauernbursche; der Gehülfe des Scharfrichters brachte den Kopf seiner Instruction gemäß augenblicklich in das Beichtkämmerchen: ich nahm schnell die Binde herab; da sahen wir die Augenlieder bis auf eine Linie Zwischenraum geschlossen: Herr Hofrath v. Leveling schrie ihm zu: »Forster! kennst du mich?« sogleich that er die Augen auf, und schien sich nach der Seite hin umsehen zu wollen, von woher der Zuruf kam; bald aber traten die Convulsionen im Gesichte und Luftröhrenkopfe ein, worauf weiter kein sicheres Resultat mehr erfolgte. Nachdem ich den Cataver sezirt hatte, fand ich, daß der Schwertstreich etwas schief durch das vierte Halswirbelbein gegangen war. Obwohl sich durch diesen Versuch Herr Hofrath und Professor von Leveling von der Möglichkeit der Behauptung des Herrn

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andern dabey bemerkt, daß die jüngere Thiere derselben Art etwas länger, als die alten zu leben pflegen.

Meint: ein gesondertes, eigenes Leben. G. bezieht sich hier auf Tierarten wie Regenwürmer, von denen man annahm (und im populären Glauben noch annimmt), dass sie verschiedene Lebenszentren besäßen – statt nur eines einzigen wie des menschlichen Gehirns.

Um 1800 nachweisbare Bezeichnung für den Teichfrosch.

Hirnkammern oder -ventrikel sind mit Hirnwasser gefüllte Hohlräume im Gehirn, wie sie auch der Mensch aufweist. Tatsächlich sind Froschhirne denen von Menschen nicht unähnlich. Georges Cuvier (1769-1832) war ein französischer Naturforscher, der die Anatomie verschiedener Lebewesen untersuchte und erstmals systematisch alle Ähnlichkeiten und Unterschiede verglich. 1801–1802 waren die ersten Bände seiner Vorlesungen über vergleichende Anatomie auf Deutsch erschienen. G. beschreibt hier die Hirnanatomie des Frosches mit dem medizinischanatomischen Vokabular seiner Zeit. Begriffe wie Vierhügel, Sonde (i.S. eines ›Fühlers‹), Varolsbrücke usf. bezeichnen verschiedene Gehirnteile und -verbindungen und sind heute zum größeren Teil nicht mehr gebräuchlich.

Am meisten Zeit zur Beobachtung, bey der Untersuchung über Nervenconsens und Gehirnaffection, war daher bey den mehr kaltblütiges Thieren zu gewinnen; doch mußten solche zu Versuchen gewählt werden, welche nicht in jedem Theile ein besonderes Leben besitzen, und ein vollkommen ausgebildetes Hirn haben. Dazu, glaubte ich, seyen nun die Frösche am besten, und zwar der braune Grasfrosch (Rana Temporaria) welcher wegen seiner Munterkeit, und dem besser entwickelten Gehirn der tauglichere zwischen ihm und dem schlauen und muthigen Marxgöter (Rana Esculenta) ist. Die Frösche haben vor den anderen Amphibien und Fischen daher den Vorzug, daß sie vier sehr brauchbare Extremitäten, und ein gut und deutlich ausgebildetes Gehirn haben; ihr grosses Gehirn hat zwey Ventrikeln, und zwischen den beyden Hirnhälften eine Art Balken. Die Sehhügel, worauf sich der Sehnerve ausbreitet, sind vom grossen Gehirne bedeckt; dadurch fast eine dritte Gehirnkammer gebildet wird. Zwischen den Sehhügeln geht der Aditus ad infundibulum hinab, welcher sich unter das einzelne grosse Paar der Vierhügel, (welche Cuvier für die Sehhügel hält,) sehr deutlich als Aquaeductus Silvii fortsetzt, und der eine kleine Sonde erst hinter dem sehr kleinen Kleinengehirne herausführt, mithin das letztere mit dem Paare der Vierhügel genau zusammenhängt. Der kleine sympathische, der Gehörnerve und das fünfte Paar entspringen wie bey anderen Thieren unter dem kleinen Gehirne, da wo die Varolsbrücke zu stehen käme, wenn eine zu bemerken wäre. Der Gehirnanhang ist sehr groß, und der Sehnerve kreuzt sich auf die Art wie bey den Vögeln; auch bemerkt man nicht undeutlich die kleines Zitzenfortsätze der Geruchsnerven ungefähr so wie bey den Vögeln. Um versichert zu sein, daß es das sich übrigens sehr schwer hier

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