Der Weg

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inspiriert und gewidmet VPW

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Sein Herz pochte. Schweiß lief über die linke Augenbraue. Mit einer kurzen Handbewegung wischte er über sein Gesicht und schleuderte die Hand kräftig zur Seite, so, dass Schweißtropfen von den Fingern spritzten. Mit derselben Bewegung drehte er sein Handgelenk zur Seite und blickte auf die schwarze Armbanduhr. Er atmete laut und kräftig durch den Mund. „178“ dachte er bei sich, „viel zu viel.“ Er war die Anhöhe zu schnell hinauf gelaufen.

Der Weg schlängelte sich sanft durch grüne Wiesen. Kein Strauch oder Baum, der die Sicht beeinträchtigte. In einer lang gestreckten Rechtskurve führte er vorbei an einem steinernen Wegkreuz mit einer Sitzbank für müde Wanderer hinauf auf einen kleinen Hügel, fiel anschließend etwas ab und schmiegte sich in der Folge an einen lichten Buchenwald. Als der Läufer in der Talsohle das Wegkreuz passierte, überholte er eine Familie mit Hund und Kinderwagen, die den ganzen Weg für sich beanspruchte. Für einen Moment musste er auf das nasse Grün am Wegesrand ausweichen, um nicht mit dem Kinderwagen zu kollidieren. „Typisch Frau“, hatte er sich gedacht.

Als die Spaziergänger seine Schritte auf dem nassen Asphalt gehört hatten und die mollige Frau von ihrem Mann mit ei-

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nem kurzen „Vorsicht“ gewarnt wurde, fing sie samt Kinderwagen an in unkoordinierten Schlangenlinien zu laufen. Erst an den Rand des Weges, dann in die Mitte und schließlich wieder zurück. Im letzten Moment konnte er durch einen beherzten Sprung den Zusammenstoss vermeiden. „Typisch dicke Frauen“, dachte er noch einmal, wobei er sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob er sich diese Bemerkung nur gedacht hatte. Er begann schneller zu laufen. Er wusste natürlich nicht, ob die Wanderer ihm nachblickten, dennoch lief er besonders aufrecht und zügig, einfach nur um zu zeigen, „Seht her, mir macht das alles nichts aus.“

Jetzt hatte er die Anhöhe überwunden und verschwand aus dem Blickwinkel der Familie. Nicht nur seine Pulsuhr hatte ihm gezeigt, dass er zu schnell gewesen war. Er begann laut mit kurzen Luftstößen aus seinem Mund auszuatmen und wurde allmählich etwas langsamer. Er erlangte Kontrolle über seinen Körper. Atmung, Puls und das Laufen waren wieder im Gleichgewicht.

Aus den Wiesen um ihn herum stiegen silbergraue Nebelschwaden und der Asphalt war vom Regen dunkel gefärbt. Ein starker Wolkenbruch hatte die angenehmen spätherbstlichen Temperaturen vertrieben und ein lang ersehntes Nass gebracht. Schwer und grau hingen die Wolken tief am Him-

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mel. Kühle Luft durchströmte bei jedem Atemzug seine Lungen und ließ beim Ausatmen einen sanften Wasserdampf erscheinen.

„Typisch Frau“, dachte er nun wieder. Aber diesmal ging es ihm nicht um die dicke Frau vom Wegrand. Die war bereits eine von vielen Erinnerungen ohne Gesicht und Namen. Nein, er dachte an seine eigene Frau, wie sie ihm vorwurfsvoll ohne Gruß die Türe vor der Nase zugezogen hatte. „Das kann sie gut“, dachte er, „ohne Worte anklagen.“ Bei diesem Gedanken kniff er seinen Mund und seine Augen zusammen um die aufkommende Wut ein wenig zu unterdrücken. Wieder fiel sein Blick auf seine Uhr. Puls 163.

Seine Frau wusste, wie wichtig ihm das Laufen war. Er hatte gesagt, dass er nicht mit zum Essen zu seinen Schwiegereltern kommen würde. Am Abend wäre es kein Problem gewesen, aber ausgerechnet zum Mittagessen. Sein Schwiegervater, mit dem er sich ohnehin nicht besonders verstand, weil dieser zu jeder Gelegenheit ihn wie einen Versager aussehen ließ, bestand darauf immer pünktlich zu essen. Seine Frau würde ihrer Mutter bei den Vorbereitungen helfen und bereits früh am Vormittag vor Ort sein wollen. Ihm blieb dann meist nichts anderes übrig als mit seinem Schwiegervater einen Aperitif zu trinken. Er hasste Aperitife und er hasste

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die Vorträge, die sein Schwiegervater zu dieser Gelegenheit von sich gab. Also hatte er versucht sich zu entschuldigen und hoffte zumindest bei seiner Frau auf Verständnis. Immerhin arbeitete er die ganze Woche bis spät in die Abendstunden und er brauchte das Laufen am Wochenende als Ausgleich. Während er lief schüttelte er den Kopf. Nein, im Grunde genommen wusste er, dass sie es nicht verstand. Aber vielleicht war es auch nicht das Laufen an sich, sondern die Einsamkeit und Stille die man verspürt, wenn man nur für eine Stunde unterwegs und mit seinen Gedanken alleine ist.

Mittlerweile hatte er den Waldrand erreicht. Der starke Regen hatte Laub auf den Weg fallen lassen, das sich trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit noch an den Bäumen festklammerte. Durch einen schmalen Spalt in den Wolken fielen ein paar Sonnenstrahlen und ließen die nassen Blätter golden glänzen. Das Glitzern der Blätter blendete ihn. „Du kommst nach“, hatte seine Frau noch gesagt, kurz bevor sie das Haus verlassen hatte. Ihr Blick und ihr Tonfall verrieten, dass dies eine Drohung war. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er wieder einmal verlieren würde. Sollte er nachkommen, würden seine Frau und sein Schwiegervater ihn wie ein rohes Ei behandeln. Seine Schwiegermutter würde den Rest des Tages mit Seufzern in der Stimme unnachahmlich bemerken, wie gut doch das Essen gewesen und wie schade es war, dass

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er es verpasst hatte. Aufgewärmt schmecke es nur halb so gut und ihre Enttäuschung über sein Fernbleiben wäre in jedem ihrer Worte körperlich spürbar. Sollte er nicht nachkommen, würde seine Frau ihn das ohnehin viele Tage spüren lassen. „Das kann sie wirklich gut, “ durchfuhr ihn es erneut, „anklagen ohne Worte.“

Wieder wurde er ärgerlich, aber diesmal weil er verpasst hatte seine Zeit zu kontrollieren. Es gab nur wenige Wegmarken auf seiner Laufstrecke. Das Erreichen des Waldes zu seiner Rechten war eine dieser Wegmarken. Normalerweise brauchte er eine halbe Stunde bis dorthin. Er hatte vergessen auf seine Pulsuhr zu sehen. „Und das wegen diesem blöden Essen“, zischte er und hielt seine linke Hand, zur Faust geballt, vor seine Augen um die Uhr besonders ausgiebig zu betrachten. „38 Minuten zeigte die Uhr und Puls 155“. Er begann in Gedanken zu rechnen. Gefühlt war er viel schneller unterwegs, aber waren wirklich schon 8 Minuten vergangen, seit er den Waldrand erreicht hatte? Irgendwie schien das nicht zusammen zu passen und er ärgerte sich sichtlich darüber. „Blödes Essen und blöder Regen“, dachte er wieder.

Als seine Frau schließlich wortlos die Tür in Schloss gezogen hatte, um mit den Kindern zu ihren Eltern zu fahren, wusste

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er bereits, dass er nach dem Laufen zu seinen Schwiegereltern fahren würde. Manchmal muss man in den sauren Apfel beißen und beim Kaffeetrinken könnte er versuchen zu seiner Schwiegermutter besonders charmant zu sein.

Er hatte bereits seine dunkelblaue Laufkleidung angezogen und wollte gerade den Pulsgurt anlegen, als plötzlich der Himmel seine Schleusen öffnete und ein heftiger Wolkenbruch hernieder ging. Normalerweise liebte er es bei Regen zu laufen, doch dieser Platzregen war einfach zu stark. Daher entschloss er sich das Schlimmste abzuwarten und schenkte sich eine Tasse lauwarmen Kaffee ein, der noch vom Frühstück übrig geblieben war. Nach einem etwas ungläubigen Blick aus dem Fenster, setzte er sich an seinen Laptop. Bevor er einschaltete hielt er kurz inne und lauschte. Nichts, absolute Ruhe, nur ein dumpfes Gewittergrollen in weiter Ferne. Sein Ärger legte sich, er nahm einen Schluck Kaffee und begann sein Emails zu lesen. Ein Arbeitskollege hatte ihm einen interessanten Artikel zum Thema persönliches Zeitmanagement geschickt. Gebannt studierte er den Artikel. „Es ist schon unglaublich“, dachte er bei sich, „wie viel Zeit die Menschen seit der Erfindung des Computers dazu gewonnen haben.“ Er klickte sich von Thema zu Thema, lass die neuesten Nachrichten, verfolgte die Sportergebnisse vom Nachmittag und löste das Sudoku-Rätsel der Washington Post.

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Als er wieder aus dem Fenster blickte war der Regen längst vorüber. Es mussten einige Stunden vergangen sein. Ein wenig erschrocken schaltete er seinen Rechner aus. Wo war nur die Zeit geblieben? Was wenn seine Frau bereits von ihren Eltern zurückgekommen wäre und er am PC gesessen hätte? Nicht zum Essen zu kommen und nicht gelaufen zu sein, wäre ein bisschen zuviel gewesen. Selbst für den Kaffee bei seinen Schwiegereltern war es jetzt zu spät. „Blödes Zeitmanagement“, dachte er bei sich, während er so schnell es ging seine Schuhe schnürte. Rasch rückte er die Mütze zu Recht, prüfte seinen Pulsgurt und verließ das Haus. Bevor er auf die Straße trat vergewisserte er sich, dass nicht in diesem Augenblick das Auto von seiner Frau um die Ecke bog. Ein wenig erleichtert lief er los. Nach nur wenigen hundert Metern erreichte er den Stadtrand und lief hinaus aufs freie Feld.

Die Wolkendecke hatte sich weiter gelichtet. Die tief stehende Sonne schien ihm warm und angenehm in das Gesicht und er schloss beim Laufen für einen Moment die Augen. Seine Atmung ging ruhig und gleichmäßig und alles was er hörte waren seine Schritte auf dem feuchten Asphalt. Wieder blickte er kurz auf seine Uhr, aber diesmal nahm er gar nicht wahr, was darauf zu lesen war. Vielmehr dachte er darüber

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nach, dass er gleich an eine Abzweigung kam. Es führte ein Weg nach rechts durch den Wald. Es war viel angenehmer auf diesem Waldweg zu laufen, allerdings wäre der Weg länger und der Regen hatte sicher den Boden aufgeweicht. Im Sommer lief er fast immer diesen Waldweg, wenn die Tage jedoch kürzer wurden oder das Wetter schlecht war, blieb er meist auf dem asphaltierten Weg. Diesmal wurde ihm die Entscheidung ungewollt abgenommen. Kurz bevor er den Abzweig erreichte, sah er vor sich zwei Spaziergänger. Eigentlich sah er weniger die Spaziergänger, als vielmehr die beiden riesigen schwarzen Hunde, die unangeleint auf dem Weg herumtollten. Nicht das er Angst vor Hunden hatte, aber irgendwie waren sie ihm nicht geheuer. Gerade noch rechtzeitig erreichte er die Abzweigung und lief zügig in den Wald, ganz so als ob er nie etwas anderes vor gehabt hätte.

Fast unmerklich hatte er seine Schritte beschleunigt und er versuchte zu hören, ob die beiden Hunde ihn verfolgten. Aber hinter ihm blieb es ruhig und er atmete tief durch. Er musste lächeln. Niemals kam es ihm in den Sinn sich umzudrehen. „Egal was passiert, das macht man einfach nicht.“,

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sagte er laut vor sich hin, als handele es sich um ein ungeschriebenes Gesetz. Selbst als er einmal in der Dämmerung mitten im Wald das Gefühl hatte verfolgt zu werden, drehte er sich nicht um. Einige Minuten lang lief er schneller und schneller. Doch so schnell er auch lief, die Schritte verfolgten ihn und jeden Moment rechnete er damit von hinten umgerissen zu werden. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und krampfhaft suchte sein Blick am Wegesrand nach einem Stein oder Stock, den er als Waffe hätte verwenden können. Jedoch vergeblich. Selbst als sein Herz ihm bis zum Halse schlug, vermied er es mit einem Blick nach hinten seine Ehre zu verlieren. Als auch nach weiteren quälenden Augenblicken nichts geschah, bemerkte er, dass es seine eigenen Schritte waren, die auf dem gefrorenen Laub ungewöhnliche Geräusche machten. Erleichtert hatte er seinen Weg fortgesetzt, stolz darüber, nicht nach hinten geblickt zu haben.

Als er sicher war, dass die Hunde ihm nicht folgten, verlangsamte er seine Schritte und prüfte erneut seinen Puls. „146 und fast 52 Minuten“, alles ist gut. Im Wald war es deutlich dunkler als noch auf dem freien Feld und zwischen den Bäumen schwebten Nebelschwaden, die allmählich dichter wurden. Es war auch kühler geworden. Er lief nicht mehr gleichmäßig, denn immer wieder versuchte er großen Pfützen auszuweichen. Es war wie befürchtet. Der starke Regen hatte

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dem Weg zugesetzt und er spürte wie seine Füße feucht und ein wenig kühl wurden. „Blöde Hunde, blöder Regen und blödes Essen“, dachte er bei sich und doch wusste er, dass er an den Hunden hätte vorbeilaufen können, ohne dass irgendetwas geschehen wäre.

Als er einem herunter gefallen Ast ausweichte, begann er zu stutzen. Der Wald war an dieser Stelle ungewöhnlich dicht und erschien im ganz und gar unbekannt. Auch der Weg war scheinbar schmäler als sonst. Wahrscheinlich schien das nur so. Die aufkommende Dämmerung und die Nässe ließen den Wald in einem anderen Licht erscheinen. Aber der Gedanke biss sich fest. „Das ist nicht mein Weg“, murmelte er vor sich hin, als er über eine große Wasserpfütze sprang. Während er weiterlief versuchte er nachzudenken. Es war eigentlich unmöglich. Es gab nur eine einzige Abzweigung und nur einen Waldweg. Er kannte die Gegend und die Wege seit vielen Jahren. Man konnte nicht falsch abbiegen. Oder etwa doch? Noch sträubte er sich gegen diesen Gedanken, aber die Zweifel begannen zu wachsen. Es fiel ihm immer sehr schwer zuzugeben, wenn er sich irrte. Normalerweise rannte er lieber in die falsche Richtung, bevor er einen Fehler eingestehen würde.

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Die aufkommende Dunkelheit und die klammen Füße schmälerten jedoch seinen Stolz. „Mist“, schrie er und machte nach ein paar Minuten das, was für jeden Läufer die Höchststrafe war - sofern man vom Zurückblicken einmal absieht. Er blieb stehen. Damit war das ganze Training dahin, nein, der ganze Tag war dahin. Der Eintrag in sein Lauftagebuch wäre immer mit einem Makel versehen. Außerdem wusste er, dass es schwer werden würde wieder einen Rhythmus zu finden, sobald man weiterlief. „Blöder Tag“, fauchte er kurz und ärgerte sich mehr über diesen Umstand, als sich darüber Sorgen zu machen, sich eventuell verlaufen zu haben. „Was jetzt?“, schrie er ärgerlich in den Wald hinein, ganz so als erwartete er eine Antwort aus dem Unterholz. Es blieb jedoch still. Er war sich immer noch sicher, dass es nur einen Weg in den Wald gab und das es unmöglich war falsch abzubiegen.

Dennoch entschied er sich dafür umzudrehen und den Weg zurück zu laufen.

Er blickte auf seine Uhr. Wie lange war er falsch gelaufen? Wie viel Zeit ist seit der Begegnung mit den Hunden vergangen? Wieder begann er zu rechnen, vielleicht war noch etwas zu retten. Die Uhr zeigte ihm, dass er seit mehr als 58 Minuten unterwegs war. Also ungefähr nur 6 Minuten seit dem er

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in den Wald abgebogen war, vielleicht ein wenig mehr, so richtig fiel es ihm nicht ein. Er ärgerte sich darüber, nicht besser auf den Weg geachtet zu haben und suchte in seiner Erinnerung nach einem Fehler. Wenn er lief war er immer sehr in Gedanken. Manchmal dachte er auch an gar nichts. Dann lief er wie in Trance. Erneut sprang er über den herunter gefallen Ast. Manchmal löste er beim Laufen auch die großen Probleme der Zeit und hielt imaginäre Ansprachen vor den Wichtigen dieser Welt.

Im Frühjahr musste er eine Rede für die Firma vorbereiten. Sein Chef hatte ihn darum gebeten. In Gedanken probte er bei jedem Lauf diese glühende Ansprache zu halten und natürlich wurde er zum Dank jedes Mal vom Fleck weg befördert. Er machte dabei staatstragende Handbewegungen und war sich meist nicht sicher, ob er nur in Gedanken oder tatsächlich laut vor sich hin sinnierte. Dass seine Rede in der Firma schließlich ins Wasser fiel, weil der Mitarbeiter, dem er vor versammelter Abteilung zum Jubiläum gratulieren sollte, kurz vorher gekündigt hatte, war letztlich nur eine Randnotiz. Er musste lächeln und dankte seinem ehemaligen Kollegen für die Kündigung, denn dadurch war der Kelch der Rede an ihm vorbeigegangen. Er hatte großen Respekt vor diesem Kollegen, der einfach von heute auf morgen alles hingeworfen hatte.

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In den darauf folgenden Wochen, durchlief er im wahrsten Sinne des Wortes unzählige Male seine eigene Kündigung. Mal ganz leise und mal ganz theatralisch und doch wusste er, dass er für diesen Schritt in Wirklichkeit viel zu feige war. Der Nebel war dichter geworden und die Dämmerung senkte sich zusehends. Ein wenig irritiert blickte er abermals auf seine Uhr. Er hätte die Straße längst wieder erreichen müssen. Er rechnete die Zeit laut nach, nein, mehr als 10 Minuten hatte er seit seinem Umdrehen zurückgelegt und trotzdem war er immer noch nicht zur Abzweigung zurückgekommen. Zum ersten Mal machte er sich Sorgen. Wieder war er in Gedanken abgeschweift und hatte nicht auf den Weg geachtet. Er nahm sich vor aufmerksamer weiterzulaufen. Er prüfte den Puls. „113... Mist“. Viel zu wenig und überhaupt würde er diesen Lauf nicht in sein Tagebuch eintragen. Wäre er doch bloß mit zum Essen gegangen.

Jetzt achtete er stärker auf den Untergrund, da es fast dunkel war und er nicht über eine Wurzel stolpern oder im Schlamm ausrutschen wollte. „Wo bin ich nur falsch gelaufen?“, sagte er laut vor sich hin und versuchte sich vorzustellen, wo er sein konnte. Die Orientierung im Wald fiel ihm natürlich schwer, aber er war sich fast sicher in Richtung Süden zu laufen. Die Stadt musste unmittelbar vor ihm liegen.

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Es war unmöglich an ihr vorbei zu laufen. Wieder begann er zu rechnen, „Es waren nur ein paar Minuten nach Norden… im Wald… ungefähr eineinhalb Kilometer und jetzt 10 Minuten zurück…“. Er war überzeugt, nach einigen Augenblicken das freie Feld zu erreichen und kurz darauf die Lichter der Stadt sehen zu können. „Blödes Essen…“, dachte er bei sich. Ohne die Einladung hätte es den Streit mit seiner Frau nicht gegeben und er wäre nicht alleine am PC gesessen und er hätte sich nicht verlaufen. „Blöder Tag….“.

Mit jedem zusätzlichen Schritt, wich der Ärger langsam einer sanften Traurigkeit. Er bedauerte den Streit und wünschte sich, dass er seine Frau zum Abschied zumindest noch einmal in den Arm genommen hätte.

Als er schließlich nach kurzer Zeit den Waldrand erreichte, war es dunkel geworden. Von der Abzweigung, der Straße oder irgendwelchen Lichtern einer Stadt war weit und breit nichts zu sehen. Stille umgab ihn. Er hatte keine Ahnung wo er war.

Vor ihm lag eine lang gestreckte Anhöhe. Der helle Kies des Weges zeichnete sich schwach wie ein dünner Faden von den dunklen Wiesen ab. Er führte geradeaus bis zum Horizont.

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Der vergehende Tag verabschiedete sich mit einem schmalen Silberstreifen und die ersten Sterne funkelten am Firmament.

Er blieb stehen und atmete diesen Augenblick. Er zog seine Pulsuhr aus, steckte sie in seine Jackentasche und lächelte. Er fühlte sich frei. Vielleicht würde er eines Tages seiner Frau alles erklären können.

Dann atmete er noch einmal tief ein, blickte hinauf zu den Sternen und lief los.

Fast schien es, als liefe er direkt in den Nachthimmel.

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Der Weg

[…] Mit jedem zusätzlichen Schritt, wich der Ärger langsam einer sanften Traurigkeit. Er bedauerte den Streit und wünschte sich, dass er seine Frau zum Abschied zumindest noch einmal in den Arm genommen hätte. […]

Eine Kurzgeschichte über das Laufen Lars-Henrik Walther ©2012 | mawazo.de

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