Ein Koffer voller Märchen

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Ein Koffer voller Märchen MÄRCHEN F ÜR KINDER AB 4 JAHREN


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe Krummwisch bei Kiel 2015 © 2015 by Königfurt Verlags GmbH D-24796 Krummwisch www.koenigsfurt-urania.com Umschlaggestaltung: Jessica Quistorff, Seedorf, unter Verwendung folgender Motive von Fotolia.com: »valigia vintage verde aperta« © Giuseppe Porzani, »romantic forest view« © Kanea und »Girl reading« © Elena Schweitzer Lektorat: Claudia Lazar, Kiel Satz: Stefan Hose, Götheby Druck und Bindung: Finidr s.r.o. Printed in EU ISBN 978-3-86826-057-1


Inhalt Vorwort -9Einleitung - 11 Märchen allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Bedeutung von Märchen für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Inhaltliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kognitive Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Auswahl der Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Und noch ein Wort zum Vortragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Kettenmärchen für den Anfang und immer wieder zwischendurch - 31 Das Rübchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Der Kloß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Das Böhnchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Der Floh und die Ameise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Vom dicken fetten Pfannekuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44


Erste Abenteuer - 47 Der süße Brei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Mascha und der Bär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Die Gänse – die Schwäne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Werlioka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die drei Brüder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Das kleine Halbhähnchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Die Reise des Enteleins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Wenn das scheinbar Kleine sich durchsetzt – vom Fressen und Gefressen-Werden - 71 Die Büffelkuh und das Fischlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Die drei Gänse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Die drei Böcke Brausewind, die zur Alm gehen und sich fett machen wollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Die drei kleinen Hühnchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Die Entstehung der Sterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Ivas’ und die Hexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Piccino spielt mit dem Orco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Die alte Kittelkittelkarre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Sich auf den Weg machen - 95 Schwesterlein Alenuschka und Brüderlein Iwanuschka . . . . 96 Der Brunnen am Ende der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Wie sie es verdient haben, so ist es ihnen auch ergangen . . . 104

Die Hexe im Walde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107


Die Königstochter in der Flammenburg . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Die drei Hunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Löwe, Storch und Ameise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Wir sind alle Königskinder - 121 Chawroschetschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Das Igelpelzchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Der Glasberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Der Stinkkäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Das weiße Kätzchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Das Ziegenkind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Hennenpfösl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Zum Staunen, Lachen, Gruseln, Träumen - 153 Der verwunschene Frosch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Oda und die Schlange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

Das Totenköpflein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

Vom Breikessel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Die Zwergmännchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Die faule Katl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Der blaue Stier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Quellenangaben - 183 -


Kettenmärchen F ÜR DEN ANFANG UND IMMER WIEDER ZWISCHENDURCH


Das Rübchen Großvater hat ein Rübchen gesteckt und spricht zu ihm: »Wachse, mein Rübchen, wachse, werde süß! Wachse, Rübchen, wachse, werde fest!« Das Rübchen ist herangewachsen: süß, fest und groß – riesen­groß. Großvater geht, das Rübchen ausziehn: Er zieht und zieht – kann’s nicht herausziehn. Da ruft der Großvater die Großmutter. Die Großmutter fasst den Großvater, Der Großvater das Rübchen – Sie ziehn und ziehn – und können’s nicht herausziehn. Da ruft die Großmutter das Enkelein. Das Enkelein fasst die Großmutter, Die Großmutter fasst den Großvater, Der Großvater das Rübchen – Sie ziehn und ziehn – und können’s nicht herausziehn. Da ruft das Enkelein das Hündlein. Das Hündlein fasst das Enkelein, Das Enkelein fasst die Großmutter, Die Großmutter fasst den Großvater, Der Großvater das Rübchen – 32


Sie ziehn und ziehn – und können’s nicht herausziehn. Da ruft das Hündelein das Kätzchen. Das Kätzchen fasst das Hündelein, Das Hündlein fasst das Enkelein, Das Enkelein fasst die Großmutter, Die Großmutter fasst den Großvater, Der Großvater das Rübchen – Sie ziehn und ziehn – und können’s nicht herausziehn. Da ruft das Kätzchen das Mäuslein. Das Mäuslein fasst das Kätzchen, Das Kätzchen fasst das Hündelein, Das Hündlein fasst das Enkelein, Das Enkelein fasst die Großmutter, Die Großmutter fasst den Großvater, Der Großvater das Rübchen – Sie ziehn und ziehn – und haben das Rübchen herausgezogen. (Russland)

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Der Kloß

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s war einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Eines Tages sagte der Mann zu der Frau: »Geh, Alte, feg mal im Spind nach und scharre im Kasten. Vielleicht kratzt du noch etwas Mehl für einen Kloß zusammen.« Die Alte nahm ein paar Hühnerfedern. Sie fegte im Spind und scharrte im Kasten und brachte auch wirklich zwei Handvoll Mehl zusammen. Das mischte sie mit Fettmilch an, machte einen Kloß, briet ihn in Rüböl, dass er brutzelte, und stellte ihn schließlich ans Fenster, damit er kühle. Da lag er nun, der Kloß. Und als es ihm zu lange ward, rollte er vom Fenster auf die Bank, von der Bank auf den Fußboden, über den Fußboden hin zur Tür, hops – über die Schwelle und in den Vorraum, vom Vorraum durch die Haustür auf den Hof, über den Hof zum Tor und weiter, weiter die Straße entlang. Und während unser Kloß so rollte, kam ein Hase des Wegs daher. »Kloß, hörst du Kloß, ich fresse dich!« »Friss mich nicht Hase. Ich werd’ dir auch ein Lied vorsingen! Bin ein Kloß, ein schöner Kloß, Weich und rundlich und nicht groß. Aus dem Kasten gewischt, Aus dem Spinde gescharrt, Bin mit Fettmilch gemischt Und in Rüböl verbackt. Stand am Fenster zum Kühlen, Doch sie konnten mich nicht kriegen. Der alte Mann bekam mich nicht, 34


Die alte Frau bekam mich nicht, Und du, Hase, kriegst mich noch lange nicht.« Und er rollte lustig weiter, ehe sich’s der Hase versah. So rollte er, bis ihm ein Wolf begegnete. »Kloß, hörst du Kloß, ich fresse dich!« »Nein, du wirst mich nicht fressen, grauer Wolf. Ich singe dir ein Liedlein vor: Bin ein Kloß, ein schöner Kloß, Weich und rundlich und nicht groß. Aus dem Kasten gewischt, Aus dem Spinde gescharrt, Bin mit Fettmilch gemischt Und in Rüböl verbackt. Stand am Fenster zum Kühlen, Doch sie konnten mich nicht kriegen. Der alte Mann bekam mich nicht, Die alte Frau bekam mich nicht, Der Hase bekam mich nicht, Und du, Wolf, kriegst mich erst recht nicht.« Und ehe der Wolf sich’s versah, war der Kloß weitergerollt. Nach einem Weilchen begegnete ihm ein Bär. »Kloß, hörst du Kloß, ich fresse dich«, brummte der Bär. »Aber nein, Meister Petz, das wirst du nicht! Bin ein Kloß, ein schöner Kloß, Weich und rundlich und nicht groß. Aus dem Kasten gewischt, Aus dem Spinde gescharrt, Bin mit Fettmilch gemischt Und in Rüböl verbackt. 35


Stand am Fenster zum Kühlen, Doch sie konnten mich nicht kriegen. Der alte Mann bekam mich nicht, Die alte Frau bekam mich nicht, Der Hase bekam mich nicht, Der Wolf bekam mich nicht, Und du, Bär, kriegst mich erst recht nicht.« Und wieder rollte der Kloß von dannen, ehe der Bär sich’s versehen hatte. Während er so seines Weges rollte, sah er einen Fuchs. »Kloß, hörst du Kloß, wo rollst du denn hin?«, fragte der Fuchs. »Ich rolle in die weite Welt hinaus.« »Kloß, ach Kloß, sing mir doch ein Liedchen vor.« Und der Kloß sang: »Bin ein Kloß, ein schöner Kloß, Weich und rundlich und nicht groß. Aus dem Kasten gewischt, Aus dem Spinde gescharrt, Bin mit Fettmilch gemischt Und in Rüböl verbackt. Stand am Fenster zum Kühlen, Doch sie konnten mich nicht kriegen. Der alte Mann bekam mich nicht, Die alte Frau bekam mich nicht, Der Hase bekam mich nicht, Der Bär bekam mich nicht, Und auch dir, Fuchs, entwisch’ ich, du kriegst mich nicht.« Der Fuchs sprach: »Wie schön du singst! Leider höre ich nicht ganz gut. Setze dich doch auf meine Schnauze, Kloß, und sing das Lied noch einmal, bloß etwas lauter.« 36


Der Kloß sprang dem Fuchs behänd auf die Schnauze und sang aus voller Kehle. Doch der Fuchs sprach abermals: »Kloß, lieber Kloß, setze dich doch auf meine Zunge und sing dein Lied zum letzten Mal.« Der Kloß sprang dem Fuchs auf die Zunge, der machte »haps« und aß ihn auf. (Russland)

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Das Böhnchen

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s lebten einmal ein Hühnchen und ein Hähnchen. Das Hähnchen fand beim Scharren ein Böhnchen. »Tuk-tuk-tuk mein Hühnchen, komm, schluck das Böhnchen!« »Tuk-tuk-tuk mein Hähnchen, schlucke es nur selber!« Das Hähnchen schluckte das Böhnchen, es blieb ihm aber im Halse stecken. Da rief es seinem Hühnchen zu: »Geh, Hühnchen, hinab zum Flüsschen, bring’ mir etwas Wasser zum Trinken!« Das Hühnchen läuft zum Flüsschen: »Flüsschen, Flüsschen, gib mir etwas Wasser; Hähnchen erstickt an einem Böhnchen!« Das Flüsschen spricht: »Geh zur Linde, bitt’ um ein Blättchen, dann gebe ich dir Wasser.« Das Hühnchen läuft zur Linde: »Linde, Linde, gib mir ein Blättchen! Das Blättchen bring’ ich dem Flüsschen, das Flüsschen gibt mir Wasser zum Trinken fürs Hähnchen; Hähnchen erstickt an einem Böhnchen.« Die Linde spricht: »Geh zum Mädchen, bitt’ um ein Fädchen!« So läuft das Hühnchen weiter: »Mädchen, Mädchen, gib mir ein Fädchen! Das Fädchen bring’ ich der Linde, die Linde gibt mir ein Blättchen, das Blättchen bring’ ich dem Flüsschen, das Flüsschen gibt mir Wasser zum Trinken fürs Hähnchen; Hähnchen erstickt an einem Böhnchen.« Das Mädchen antwortet:

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Löwe, Storch und Ameise

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s war einmal eine arme Witwe, die hatte einen einzigen Sohn. Sie stammte aus einem vornehmen Geschlecht, doch da sie arm war, wohnte sie mit ihrem Sohn still und einsam in einer Hütte im Wald und zog ihn dort groß, so gut sie konnte. Der Knabe hieß Hans, und er machte seiner Mutter viel Freude. Nur eines wollte der Mutter nicht gefallen, und das war seine Reiselust. Bei Tag und Nacht dachte er nur an die Schönheit und Pracht ferner Städte und Schlösser, von denen er gehört hatte. Die Mutter war besorgt darüber, denn sie hatte kein Geld, um ihn in die weite Welt zu schicken. Aber das half alles nichts. Dem Sohn wurde es im Wald immer mehr und mehr zu eng, und es trieb und drängte ihn seine Sehnsucht nach der Fremde. So sagte er schließlich seiner Mutter und der Waldhütte Lebewohl und machte sich auf den Weg in die weite Welt. Wie er so durch den dunklen, dichten Wald ging, hörte er plötzlich ein fürchterliches Geheul. Da dachte er: »Ich muss doch sehen, was es da gibt, vielleicht kann ich helfen.« Er eilte mutig dorthin, wo der Lärm herkam. Als er ein Stück gelaufen war, da sah er vor sich einen Löwen, einen Storch und eine Ameise. Die drei Tiere stritten sich um den Körper eines toten Pferdes und machten deshalb diesen Lärm. Als sie aber Hans bemerkten, da hörten sie auf zu streiten und baten ihn, er möchte ihnen doch helfen und ihren Streit schlichten. Hans besann sich nicht lange und machte sich daran, das Pferd für die drei aufzuteilen. Dem Löwen teilte er das Fleisch zu, dem langschnabeligen Storch überließ er die Gebeine zum Abnagen, und der Ameise gab er den hohlen Kopf, damit sie 117


darin nisten konnte. Die Tiere waren über diese Teilung seelenvergnügt und dankten dem Jüngling. Der Löwe sprach: »Guter Freund, ich will dich belohnen und nicht ohne Dank von dir scheiden. Wenn du sagst: ›Hans, der Löwe‹, so sollst du siebenmal stärker sein als der stärkste Löwe.« Darauf klapperte der Storch: »Guter Freund, ich will dich belohnen und nicht ohne Dank von dir scheiden. Wenn du sagst: ›Hans, der Storch‹, so wirst du siebenmal höher fliegen können als meinesgleichen.« Dann näherte sich die kleine Ameise und wisperte: »Guter Freund, ich will dich belohnen und nicht ohne Dank von dir scheiden. Wenn du sagst: ›Hans, die Ameise‹, so wirst du siebenmal kleiner werden als die kleinste Ameise.« Hans dankte, verabschiedete sich und wanderte weiter durch den Wald. Endlich wurde das Gehölz lichter, und als er aus dem Wald hinaustrat, lag eine große Stadt vor ihm. Hans konnte sich nicht satt daran schauen, dann aber wanderte er schnurstracks auf sie los. Als er in die Stadt kam, waren alle Häuser mit schwarzen Tüchern behangen, alle Einwohner trugen schwarze Kleider. Ganz düster war die Stadt. Hans fragte einen Mann, warum hier alles so düster und schwarz sei. Der Mann antwortete traurig: »Ach, weh uns! Unsere geliebte Königstochter ist in ein fernes Schloss verwunschen worden, und ihre Rettung ist so gut wie unmöglich, denn ein fürchterlicher Drache mit drei Köpfen bewacht sie.« Mit diesen Worten ging der Mann traurig davon. Hans blieb allein stehen und die Prinzessin tat ihm leid. Er wollte sie erlösen, koste es, was es wolle. Er fragte umher, wo denn das Schloss sei, in das sie verwünscht war, und dann machte er sich auf den Weg dorthin. Viele Tage wanderte er, bis er endlich zum Schlossberg kam. Da bemerkte er, dass man nicht zum Schloss hinaufkommen konnte, denn der Berg war steil und so glänzend und schlüpfrig, als wäre er mit Öl über118


gossen. Hans überlegte, wie er hinaufkommen könnte, doch es fiel ihm nichts ein. Mit einem Mal erinnerte er sich an die Tiere und an ihre Geschenke, und er sprach vor sich hin: »Hans, der Storch.« Kaum hatte er es gesagt, da war er auf einmal in einen Storch verwandelt und flog auf den Berg hinauf. Er stand nun vor dem Schloss, doch die Pforte war eisenfest verschlossen, und niemand öffnete sie. Da sprach der Jüngling: »Hans, die Ameise.« Und im Nu war er die allerkleinste Ameise und schlüpfte durch ein Astloch der Tür in den Hofraum. Dort bekam er wieder seine vorige Gestalt und so stand er da und schaute sich um. Wie er so dastand und überlegte, wo wohl die Prinzessin gefangen sei, erschien vor ihm ein altes Männchen. Es war sehr klein, aber es hatte einen ungeheuren Bart, und es fragte: »Bürschchen, was willst du hier?« »Die verwunschene Prinzessin erlösen!« »Das wird schwer gehen, denn sie wird von einem fürchterlichen Drachen bewacht, der auf ihrem Schoß liegt.« Hans verlor durch diese Rede gar nicht den Mut und meinte, es würde schon gehen. Dann fragte er das Männchen: »Wo ist ein Schwert?« Das Männchen sagte: »Geh hinauf in die Rüstungskammer, und dort wirst du ein Schwert finden, das du kaum tragen kannst. Das nimm!« Hans stieg also hinauf in die Rüstungskammer und holte das großmächtige Schwert, das er fast nicht tragen konnte. Dann ging er auf das Zimmer zu, in dem der Drache die Jungfrau bewachte, und sprach: »Hans, der Löwe.« Da wurde er siebenmal stärker als der stärkste Löwe, trat in das Zimmer und schlug dem Drachen alle drei Köpfe mit einem Hieb herunter. Kaum war dies geschehen, so begann es im ganzen Schloss zu poltern und zu donnern, und der Berg senkte sich mehr und mehr in den Boden hinein, bis er ganz verschwunden war. Nun machten sich Hans und die erlöste Königstochter auf den Weg und gingen in die Königsstadt. Ihr könnt euch nicht 119


vorstellen, welch unermesslicher Jubel über die Befreiung der schönen Königstochter ertönte, und es wurde ein Fest nach dem anderen gefeiert. Die Königstochter heiratete ihren Erlöser, und Hans und sie lebten vergnügt und glücklich bis zu ihrem seligen Ende. (Süddeutschland)

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Wir sind alle Kรถnigskinder


Chawroschetschka

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un, ihr wisst, es gibt auf dieser Welt gute Menschen und es gibt weniger gute, und es gibt auch solche, die sind ganz böse. Und zu solchen Leuten kam Chawroschetschka. Sie war ein Waisenkind, hatte keinen Vater und keine Mutter mehr, und diese Leute hatten sie zu sich genommen, großgezogen und bürdeten ihr nur immer mehr Arbeit auf. Sie musste spinnen, weben, das Haus in Ordnung halten und die Tiere versorgen. Alles musste sie tun. Ihre Herrin, die Frau des Hauses, hatte drei eigene Töchter. Die älteste hieß Einäuglein, die zweite Zweiäuglein und die jüngste Dreiäuglein. Die brauchten nichts zu tun als den ganzen Tag vor dem Tor zu sitzen und die Straße hinauf- und hinabzuschauen, und Chawroschetschka machte die Arbeit für sie: Sie nähte, wusch und spann und bekam doch nie ein gutes Wort zu hören. Als es wieder einmal gar zu schlimm war, ging Chawroschetschka hinaus aufs Feld zur buntscheckigen Kuh. Sie umarmt die Kuh, schmiegt sich an ihren Hals und klagt ihr ihr Leid: »Mütterchen Kuh, sie schlagen mich, sie tadeln mich, sie gönnen mir kein Stückchen Brot und dulden doch nicht, dass ich weine. Zu morgen muss ich fünf Pud * Flachs spinnen, weben, bleichen und die Leinwand aufrollen.« Und stellt euch vor, die Kuh antwortet: »Mein schönes Mädchen, schlüpfe mir nur zu dem einen Ohr hinein und zu dem anderen wieder heraus − und alle Arbeit wird getan sein.« Chawroschetschka schlüpft der Kuh zum einen Ohr hi* Pud = ehemaliges russisches Gewichtsmaß, 1 Pud = 16,34 kg; Anm. der Hg.

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