Die fabelhafte Welt des Lenormand

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Über dieses Buch

„Alles ist mit allem verbunden“. Warum dieser Leitsatz auch für das Lenormand gültig ist und wie sich die kosmische Ordnung in den Karten auf geheimnisvolle Weise abbildet, erklärt dieses Buch. Im Vordergrund stehen nicht nur die spirituellen und psychologischen Aspekte der Karten, sondern vor allem ihre Verbindung zu anderen esoterischen Konzepten wie Numerologie, Astrologie oder Tarot. Der Blick auf eine bislang unentdeckte Matrix bringt weitreichende Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen den Zahlen und Symbolen der Lenormandkarten. Die erweiterte Sichtweise führt tief in die Welt der Märchen und Sagen und nicht zuletzt bis zu den Wurzeln der Menschheit. Dieses Buch eröffnet eine neue Dimension des Lenormand, in der das alte Wissen über den universellen Geist mit modernen, lebensnahen Deutungsansichten vereint wird.

Über die Autorin

Kathleen Bergmann, 1976 in Nürnberg geboren und in München aufgewachsen, absolvierte eine Banklehre und studierte Betriebswirtschaft. Heute lebt sie auf dem Land in der Nähe von Ulm. Seit einigen Jahren arbeitet die Astrologin und Expertin für Lenormand und Tarot hauptberuflich als Lebensberaterin und Autorin. Sie verfasste Fachartikel und gab Radiointerviews im gesamten deutschsprachigen Raum. Ab 2009 folgte die Veröffentlichung ihrer drei Lehrwerke Der Lenormandkarten-Lehrgang. Zudem bietet Kathleen Bergmann Seminare und Workshops an. Ihr Wissen über die Kartomantie gibt sie auch auf ihrem Blog weiter. Außerdem widmet sie sich auch der fotografischen Kunst sowie der kreativen Gestaltung von Kalendern und Printpublikationen. Ein Teil ihrer Bilder und Illustrationen wurde in diesem Werk verwendet. Informationen zu Lebensberatung, Seminaren, Workshops (auch zum Lenormand) und Büchern: www.reichdersterne.de Übungsmaterial, Anleitungen und Erklärungen zur Deutung der Lenormandkarten: www.reichdersterne.de/lenormandblog/ Fotokunst, Kalender und weitere kreative Publikationen: www.reichdernatur.de


Kathleen Bergmann

Die fabelhafte Welt des

Lenormand


Die in diesem Buch enthaltenen Informationen und Ratschläge wurden von der Autorin sorgfältig recherchiert und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Die Informationen und Ratschläge sind außerdem nicht dazu gedacht, die Beratung durch einen Arzt oder Therapeuten zu ersetzen, sofern eine solche angezeigt ist. Eine Haftung der Autorin oder des Verlags ist ausgeschlossen. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Texte und Abbildungen in diesem Buch sind urheberrechtlich geschützt (soweit bei den Bildquellen auf S. 397 f. nicht anders angeben). Kein Teil dieses Buchs darf ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag reproduziert oder in irgendeiner Weise weiterverwendet werden; das gilt besonders auch für eine Verwendung im Internet. Ausgenommen sind kurze Zitate oder kleine Buchausschnitte innerhalb von Besprechungen dieses Buchs.

Originalausgabe Krummwisch bei Kiel 2014 © 2014 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH D-24796 Krummwisch www.koenigsfurt-urania.com – www.tarotworld.com

Umschlagdesign: Antje Betken, Oldenbüttel, unter Verwendung folgender Motive: Nicolas-Jean- Baptiste Raguenet, A View of Paris with the Ile de la Cite, 1763, sowie Lenormandkarten »Blaue Eule« Kartenabbildungen: Rider-Waite-Tarot, © U.S. Games Systems und AGM-Urania. – Universal-WaiteTarot, © U.S. Games Systems, Stamford /CT, USA. – Lenormandkarten »Blaue Eule«, © AGM-Urania, Krummwisch b. Kiel, Deutschland Weitere Abbildungen: Bildnachweis auf S. 397 Project Management: Antje Betken, Oldenbüttel Korrektur: Redaktionsbüro Carlson Reinhard Satz und Layout: Antje und Hermann Betken, Oldenbüttel Druck und Bindung: Finidr s.r.o. Printed in EU ISBN 978-3-86826-758-7


Inhalt

Vorwort – Über die Entstehung dieses Buches  ...................................... 7 Die geheime Matrix – Das magische Weltbild des Lenormand  ........ 13 Numerologie  ......................................................................................... 15 Psychologie  ............................................................................................ 24 Mythologie  ............................................................................................ 27 Esoterik und Spiritualität  .................................................................... 30 Tarot  ....................................................................................................... 33 Astrologie  .............................................................................................. 39 Weltreligionen  ....................................................................................... 44 Märchen, Mythen und Symbolsprache  .............................................. 50

Die 36 Karten des Lenormand 1 Reiter  ........................ 65 2 Klee  ........................... 75 3 Schiff  ........................ 83 4 Haus  ......................... 93 5 Baum  ...................... 103 6 Wolken  ................... 113 7 Schlange  ................. 123 8 Sarg  ......................... 133 9 Blumen  ................... 143 10 Sense  .................... 151 11 Ruten  .................... 161 12 Eulen  .................... 169 13 Kind  ...................... 179 14 Fuchs  .................... 189 15 Bär  ........................ 197 16 Sterne  ................... 207 17 Störche  ................. 217 18 Hund  .................... 225

19 Turm  .................... 20 Park  ...................... 21 Berg  ...................... 22 Wege  ..................... 23 Mäuse  ................... 24 Herz  ...................... 25 Ring  ...................... 26 Buch  ..................... 27 Brief  ...................... 28 Herr  ...................... 29 Dame  .................... 30 Lilien  .................... 31 Sonne  ................... 32 Mond  ................... 33 Schlüssel  .............. 34 Fische  ................... 35 Anker  ................... 36 Kreuz  ....................

233 243 253 263 271 281 289 299 309 317 325 333 341 349 359 369 379 387

Literatur und Quellen  ............................................................................... 394 Bildnachweise  ............................................................................................ 397


6  Vorwort


Vorwort Über die Entstehung dieses Buches

Nach einer längeren Schreibpause begann ich im Sommer 2012 hochmotiviert, mir über das Konzept meines vierten Buches Gedanken zu machen. Natürlich sollte sich wieder alles um die für mich so faszinierenden Lenormandkarten drehen. Meine ersten Ideen hatten viel mit Deutungskonzepten zu tun, die ich gerne erweitern und spezialisieren wollte. Durch die Konzentration auf praktische Arbeitsmethoden sollte die Interpretation der Karten noch feiner strukturiert werden. Unterschiedlichste Konstellationen und Muster schwirrten wochenlang durch meinen Kopf, lösten sich auf und setzten sich wieder neu zusammen. Mein ganzes Bemühen zielte auf anwendungsfreundliche Erklärungen und bewährte Herangehensweisen ab, so wie ich das als ordnungsliebende Jungfrau-Geborene gerne mag. Solides Handwerk ist nun mal eine wesentliche Grundlage, um seine Arbeit richtig und gut zu machen. Aus meiner Sicht gilt das für die divinatorische Kunst genauso wie für alles andere Erlernbare auch. Ein Maler kann nur dann seinen kreativen und intuitiven Spielraum ausschöpfen, wenn er den Pinsel exakt zu führen weiß, seine Materialien und Techniken in- und auswendig kennt. Im Zuge meiner intensiven Vorbereitungsphase auf dieses Buch stellte sich jedoch heraus, dass ich mich nicht erneut an rein pragmatischen, grundlagenbezogenen Ansätzen orientieren würde. Kein Entwurf hielt der noch ziellosen, aber unaufhörlichen Suche meines Geistes länger als 30 bis 40 Seiten stand. Der strebte nach etwas ganz anderem, für mich bis dahin Un(be-)greifbarem, das im Kern des Lenormand verborgen liegt. Plötzlich tauchten während meiner Recherche immer mehr bedeutungsvolle Zusammenhänge zwischen den Lenormand-Symbolen und anderen geistigen Lehren auf, die ich in dieser Dimen­sion gar nicht erwartet hätte und noch nicht richtig einzuordnen wusste. Wie kam es dazu, dass Mythen und Märchen, Zahlenmystik, Tarot und verschiedene Religionen so viele eindeutige Spuren in den Sinnbildern des Lenormand hinterlassen haben? All diese ungelösten Rätsel stifteten Verwirrung in meinem Kopf. Würde sich das Bild, das bislang Bild links: Edouard Bisson (1856 – 1939) – Frage an die Karten, 1889

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vom Lenormand existierte, durch dieses Wissen auf einmal grundlegend wandeln, vielleicht sogar um ein Vielfaches vergrößern lassen? Von dem Zitat des Schweizer Psychoanalytikers C. G. Jung »Der Mensch ist erwacht in einer Welt, die er nicht verstand. Seither versucht er, sie zu deuten.« fühlte ich mich treffend angesprochen, als mir klar wurde, dass ich erst in die konzeptionelle Leere abgleiten musste, damit sich der geistige Raum mit den neuen, erkenntnisreichen Vorstellungen füllen konnte. Wenn etwas nicht so funktioniert, wie man sich das ausgedacht hat, sollte man sich mit etwas anderem beschäftigen. Ich ließ alle Gedanken an das Buch zunächst fallen. Neben meiner Beratungstätigkeit widmete ich mich verstärkt der Fotografie, die mir herrliche Muße verschaffte. Auf den Streifzügen entdeckte ich immer wieder Motive, die mich stark an die Symbolik des Lenormand erinnerten. Eines Tages fand ich an einem Seeufer einen delphinblauen Stein mit einer ganz besonderen Prägung in Form eines weißen, mineralisierten Ringes, der sich wie ein Band um den gesamten Stein legte. Plötzlich tauchten vor meinem inneren Auge zwei Lenormandsymbole auf, deren Plätze sich in der Großen Tafel nach der 4 x-9-Legeweise (siehe S. 18) sogar direkt gegenüber liegen: der Ring und der Berg. Ich nahm diesen besonderen Stein in die Hand, um ihn zu erspüren. Sein bedeutungsvoller Anblick machte mir erneut bewusst, dass in diesem Kosmos alles mit allem verbunden ist und durch die ewigen Kreisläufe des Lebens eine gemeinsame Geschichte besitzt. So wie der Stein von dem Ring umschlungen war, so musste es auch etwas geben, das alle Symbole des Lenormand miteinander verband. Etwas, das sie wie ein großes, festes Netz miteinander verflechten und in die universelle Ganzheit einbinden würde. Brennend hätte mich interessiert, wie der Stein, den ich nicht mehr loslassen konnte, genau dort seinen Platz gefunden hatte, wo ich ihn entdeckte, und was er auf seiner Reise alles erlebte hatte. Ich würde es nie erfahren. Den Fragen nach der Geschichte des Lenormand und der Entstehung seiner Sinnbilder konnte ich jedoch weiter nachgehen. Wo liegen die Wurzeln der Symbole, und welche Merkmale der Zeitgeschichte tragen sie in sich? Welche Rolle spielen dabei Mystik und Mythologie? Folgt die Nummerierung des Kartenwerks einer höheren Ordnung? Welchen Einfluss könnten die Grimm’schen Märchen, die zu Lebzeiten Mme Lenormands niedergeschrieben wurden, auf die symbolische Bedeutung der Karten genommen haben? Wie lässt sich die alte Weltsicht des Lenormand auf eine zeitgemäße Interpretation übertragen? Und würden sich meine Vermutungen in Bezug auf den universellen Geist des Lenormand überhaupt bestätigen?

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All diese elementaren Fragen drängten sich mir unmittelbar auf. Neugierig auf die Antworten machte ich mich schließlich auf den Weg. Ich war bereit, die Reise anzutreten. Immerhin konnte ich nun eine klare Richtung verfolgen. Doch noch stand ich im Niemandsland. Neben der Vision, die fabelhafte Welt des Lenormands zu erforschen, trug ich gedanklich einen schweren Koffer mit mir, der prall gefüllt war mit ebendiesen geheimnisvollen und wild durcheinander springenden Fragezeichen. Einerseits fühlte ich mich in meiner Aufbruchsstimmung ein wenig wie Wagners Parsifal, der laut Legende auf der Suche nach dem Heiligen Gral einen ungeahnten Entwicklungsweg zurücklegte und dem Menschsein in all seinen Formen und Facetten begegnete. Anderseits fühlte ich mich auch wie der Narr auf der ersten Karte des Tarot, der als Lernender einen für ihn ganz neuen Weg der Erkenntnis beschreitet und dabei voller Neugier, aber mit großer Ungewissheit dem Abenteuer entgegenschreitet. Mit dem Sinnbild des Narren im Kopf tat sich direkt eine neue Frage auf, denn er ähnelt mit seiner Wesensnatur stark dem Reiter, der das Lenormand eröffnet: Welche Parallelen würden sich vom Tarot zum Lenormand ziehen lassen?

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Je mehr ich in die verschiedenen Ebenen der Symbolwelten eintauchte, desto häufiger erlebte ich sogenannte Synchronizitäten. Man sagt, dies sei ein Hinweis darauf, sich auf dem richtigen Weg zu befinden. Ich fühlte mich in meinem Schaffen bestärkt und bestätigt, das von nun an immer weitere Kreise durch die verschiedenen Einflussgebiete des Lenormand zog. Sobald ich begann, mich mit einer bestimmten Karte innerlich intensiver zu beschäftigen, wurden die passenden Erlebnisse und Erfahrungen wie von selbst auf den Plan gerufen. Während ich über die Eulen schrieb, wünschte ich mir, eine aus der Nähe sehen zu können. Ich wohne zwar neben einem Wald, aber Eulen zeigen sich dort den Spaziergängern eher selten. Als ich einen großen Herbstmarkt besuchte, lief mir dafür ein Falkner über den Weg, auf dessen Arm ein Kauz saß. Wir kamen ins Gespräch, und ich durfte dem zahmen Vogel sogar nahekommen. Die dabei entstandenen Eulenporträts sind im Kapitel Eulen zu sehen. Es kam zu weiteren Begebenheiten, die ich als günstiges Omen für meine Recherchearbeit verstand. Durch meine Arbeit als Astrologin beschäftige ich mich sehr viel mit den Sternen. Eine klare Sternennacht beobachten zu können, hat eher Seltenheitswert. In dem Zeitraum, in dem ich über die symbolische Bedeutung der Sterne philosophierte, lagen die Sternschnuppentage, die in lauen Sommernächten etwas geradezu Magisches an sich haben. Hier auf dem Land ist bei nahezu totaler Finsternis die Sicht wirklich phänomenal und das seltene Spektakel ein berauschendes Erlebnis. Zum ersten Mal erblickte ich in diesen Nächten die Milchstraße. Dabei fühlte ich ein zutiefst berührendes All-Eins-Bewusstsein, das es mir leicht machte, auch noch Tage später die einprägsamen Sinneseindrücke von den Sphären der Sterne in dieses Buch einfließen zu lassen. Im Hinblick auf die Kausalitäten zwischen meinem inneren Fokus und dem äußeren Erleben erstaunte mich folgendes Ereignis am meisten: Als ich mich mit der Karte Buch auseinandersetzte, bekam ich unerwartet meine alte Märchenbuchsammlung zurück, die seit 25 Jahren auf einem Dachboden schlummerte und eigentlich als verloren galt. Doch zum Glück tauchte sie genau in dem Moment wieder auf, als ich mich intensiv mit dem Sinngehalt alter Mythen und Legenden beschäftigte. Tief berührt von all diesen Synchronizitäten, die sich bei etlichen Karten einstellten, spürte ich, dass der »Spirit« des Lenormand lebendiger und fassbarer in mein Leben getreten war als je zuvor. Niemals hätte ich geahnt, dass ich auf meiner Entdeckungsreise so tief in die Quellen zur Schöpfung des Lenormand eintauchen würde. Schon eine ganze Weile vorher fragte ich mich, ob das Grundprinzip des Lenormands lediglich ein Produkt des Zufalls war. Sollte es vergleichbar sein mit der Erfindung

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eines Kartenspiels? Ganz sicher nicht. Die Auswahl der einzelnen Symbole erfolgte keineswegs willkürlich. Die Abfolge der Karten sowie ihre Zuordnung zu den Zahlen war keine beliebige Würfelei. Je mehr ich mich mit dem Lenormand beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass es einen tieferen Zusammenhang zwischen den Symbolen und der zahlenmäßigen Ordnung geben musste. Somit erschloss ich nach und nach die Lehren von der Numerologie über die Mythologie bis hin zur Religionsgeschichte, die verblüffende Antworten und bahnbrechende Erkenntnisse lieferten, gleichzeitig aber immer mehr Fragen nach wesentlichen Details aufwarfen. Ich stand vor einer Menge kleiner und großer Rätsel, zum Beispiel, was die Schlange mit der Zahl Sieben verbindet, welche Botschaft Dornröschens Stich an der Spindel für Symbole wie die Sense bereithält und welches Geheimnis hinter der Reihenfolge von Fische, Anker und Kreuz steckt. Meine Reise durch diesen faszinierenden Symbolkosmos führte mich zu einem riesigen Wissensschatz, von dessen Dimensionen ich bislang keine Vorstellung hatte. Allmählich tat sich ein Tor nach dem anderen auf, durch das mir auf meinem Weg zunehmend spannendere Einblicke in ein schier grenzenloses Spektrum an magischen Zusammenhängen, mystischen Zeichen und Zahlen gewährt wurden. Ich war bewegt, berührt, begeistert und in Bann gezogen. Es gab so viel zu entdecken, dass ich mit dem Schreiben meines »Reiseberichtes« kaum hinterherkam. Nun ging es darum, alle breit verstreuten Aufzeichnungen, Buchvermerke, Gedanken, die in mehrere Themengebiete gleichzeitig verstrickt waren, sowie einen Berg durchgeführter Internetrecherchen in eine überschaubare Struktur zu bringen. An dieser Stelle wurde es der Jungfrau in mir allmählich doch zu chaotisch. Sie verlangte nach Übersicht und einem soliden Konzept. »So ganz ohne meine geliebte Ordnung geht es wohl doch nicht!«, flüsterte sie mir süffisant ins Ohr. Und ich musste darüber schmunzeln, wie recht sie mal wieder hatte. Im Folgenden erhalten Sie einen Überblick über alle Lehren und Wissensgebiete, welche das Lenormand in sich vereint. Es umfasst ein magisches Weltbild, ein Kaleidoskop des universellen Geistes, das erstmalig aus ganzheitlicher Sicht ergründet wird. Damit gewinnt das Lenormand in seiner neu entdeckten Ganzheit nicht nur an kulturgeschichtlichem Wert, sondern auch an Aussagekraft für eine moderne und tiefsinnige Lebensdeutung. Das Ergebnis dieser Forschungsarbeit halten Sie jetzt in Ihren Händen, und ich hoffe, es wird Sie genauso begeistern wie mich. Ihre Kathleen Bergmann

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Die geheime Matrix Das magische Weltbild des Lenormand

Das Lenormand entstand in einer Zeit, die stark durchdrungen war von Geheimlehren, Alchemie, Spiritismus, Mythologie und Symbolsprache. Der Ausgangspunkt meiner Überlegung war, dass das Lenormand eine verborgene Matrix enthält, die entschlüsselt werden könnte. Darin müsste ein universelles Wissen zu finden sein, das vom Geist der Mystiker und Magier jener Epoche geprägt wurde. Wenn man diesem Rätsel auf die Spur käme, könnte man das Lenormand in seiner ganzen Tiefe durchleuchten und damit alle ihm zugrundeliegenden Bedeutungen ans Licht bringen. Daraus würde sich ein ganz neues, weit gefasstes Deutungsbild ergeben, das noch unbekannte Sichtweisen und einzigartige Interpretationsmöglichkeiten hervorbringt. Erst wenn man die einstigen Prägungen und Einflüsse des Lenormand erkennt und in einen größeren Kontext einbindet, erhält man ein fundiertes Verständnis für sein vielschichtiges Wesen. Auf dieser Grundlage lässt sich eine moderne Charakteristik entwickeln, die vor allem die psychologische und spirituelle Bedeutung der Karten für den heutigen Gebrauch zugänglich macht. Die Numerologie durchzieht das Lenormand als roter Faden, an dem sich die Symbole wie Perlen aufreihen. Eine geheime Matrix, die die Bedeutung der Karten vom Reiter bis zum Kreuz nach der Zahlenmystik ordnet. Die moderne Psychologie ist neben der Spiritualität Leitthema des Buches. Sie basiert auf der Symbolsprache des Unterbewusstseins und damit auf archetypischen Bildern, wie sie uns auch aus dem Lenormand bekannt sind. Die Mythologie mächtiger Kulturkreise von Skandinavien bis zu den indianischen Schamanen bildet die Wurzel der Symbolgeschichte. Bild links: Collage aus u. a. Margarete Petersen – Der Stern + Abb. aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry + Tarotkarten des Universal Waite Tarots. – Collage von Hermann Betken

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Die Esoterik und Spiritualität oder die Frage, was Mensch und Kosmos im Innersten vereint, ist ein Kernthema für jeden, der die Symbolkraft aus der Tiefe heraus verstehen möchte. Das Tarot als »Spiegel der Seele« ist eine universelle Lebensschule. Lenormand und Tarot haben ihrem Wesen nach mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Doch sie reflektieren und ergänzen sich gegenseitig. Die Astrologie wird zur Symbolik des Lenormand neu in Beziehung gesetzt. Jede Lenormandkarte ist die versinnbildlichte Lehre von Sternzeichen, Planeten und Häusern. Die Weltreligionen wie das Christentum spielen eine bedeutende Rolle für den ursprünglichen Symbolgehalt der Lenormandkarten. Die Symbolsprache als Brücke zwischen Bewusstem und Unbewusstem bildet die Deutungs­ grundlage von Träumen und Märchen. Auch in Orakelsystemen wie dem Lenormand dient sie zum vertieften Verständnis für die inneren und äußeren Lebensprozesse. Die Märchen und ihre reiche Zahlen- und Symbolmystik spiegeln sich in den Symbolen des Lenormand wider. John Everett Millais (1829 – 1896) – Mariana, 1850

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Numerologie Ihre Geschichte und Bedeutung für das Lenormand

Die Numerologie lehrt die mystische Bedeutung der Zahlen. Wie ein Symbol verfügt auch eine Zahl über eine eigene Qualität. Die Energie der Zahlen steht in Resonanz zur intelligenten Ordnung des Universums. Damit versteht die Numerologie sich als die Kunst, den spirituellen Zusammenhang zwischen den Zahlenprinzipien und der kosmischen Schwingung zu erkennen. Ihre Ursprünge als eine der ältesten Geheimwissenschaften reichen bis zum Anfang der Menschheitsgeschichte zurück. Es gab keine Kultur, die sich nicht mit der Mystik der Zahlen beschäftigte. Dadurch wurde die Weisheit der Zahlen zu einem wesentlichen Bestandteil aller heiligen Schriften. Seit Urgedenken weiß man, dass das ganze Universum auf der Macht der Zahlen aufbaut. Die Bewegung der Himmelskörper folgt einer mathematisch fassbaren Gesetzmäßigkeit. Stimmt ein elementarer Faktor nicht, geht die Gleichung des Universums nicht mehr auf, und alles zerfällt. Es wäre kein Leben mehr möglich. Unsere Welt ist nicht nur Teil einer höheren, alles umfassenden Matrix, auch aus sich heraus hat sie bis in die kleinste Einheit hinein physikalische und soziologische Ordnungen erschaffen: die Zeitrechnung, das Geldsystem, die Wissenschaften, die Politik und die Religionen. Überall sind Zahlen das Maß aller Dinge, so dass sie in unserem normalen Leben allgegenwärtig sind. Sei es zum Beispiel beim Klingeln des Weckers, beim Eintippen diverser Nummern, beim Verwenden der Küchenwaage, beim Abzählen des Kleingeldes, beim Umblättern der Buchseiten, beim Blick auf den Tacho und beim Zählen der Wiederholungen während einer Trainingseinheit. Wenn wir davon ausgehen, dass alles im Universum aus Energie besteht und miteinander verbunden ist, müssen wir annehmen, dass auch Zahlen über eine eigene Schwingung verfügen, mit der wir tagtäglich in Berührung sind. Die Lehre des Mathematikers Pythagoras erklärte die Zahlen schon vor etwa 2500 Jahren zum Urgrund alles Existierenden. »Alles im Universum ist nach Zahl und Maß geordnet«, wusste er bereits in der Antike über die fest vorgegeben Strukturen der Existenz. Jedoch hielt erst im 20. Jahrhundert die Numerologie durch den Psychoanalytiker C. G. Jung wieder Einzug in das öffentliche Bewusstsein. Seinem Verständnis nach hatten Zahlen nicht nur eine quantitative sondern auch eine qualitative Bedeutung. Davon abgesehen gab es schon seit jeher einen populären Zahlenkult. Bestimmte Zahlen wie die 13 sind im kollektiven Unterbewusstsein negativ besetzt. Jedoch ist

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die Ursache dafür zum Teil gar nicht numerologische Natur, sondern rührt von altem Aberglauben und Legenden her. Die Macht des Zahlenmythos hat sich über die Jahrtausende bis in unser modernes Zeitalter hinein überall verbreitet. So gibt es kein Flugzeug oder kein Kreuzfahrtschiff mit einer 13. Reihe oder einem 13. Deck. In Krankenhäusern verzichtet man auf das Zimmer 13. In China gilt die Vier als Unglückszahl, weil ihre Aussprache so ähnlich wie das Wort für »Tod« klingt. Demzufolge würde man nirgendwo ein Hotelzimmer mit dieser Ziffer buchen können. Das Zweifache der Vier, die Acht, gilt dagegen in China als große Glückszahl. Wenn wir uns wiederum die Zahl Acht nach Gesichtspunkten der westlichen Numerologie und Astro­logie betrachten, ist sie eine weniger beliebte Zahl, die in ihrem qualitativen Wesen mit tiefschürfenden Themen wie Macht, Karma und Transformation behaftet ist. Ein Mensch, der zum Beispiel im 8. Haus seines Horoskops starke Planetenkonstellationen aufweist, folgt oft dem Drang, den geheimnisvollen Sinn des ­Lebens und Sterbens zu ergründen. Und auch im Lenormand finden wir die Acht dem Sarg zugeordnet, der das gleiche Themenbild beinhaltet. Nicht nur die empirischen Wissenschaften sondern auch die esoterischen beruhen auf einer zahlenbasierten Ordnung, ganz gleich ob das Tarot, die Astrologie, das Feng Shui, das Enneagramm, die Geomantie oder die Alchemie. Sie alle liegen ihrer Erklärung und Bedeutung nach einem mathematischen System zugrunde. Nun ist es an der Zeit, bei der Erforschung des Lenormands folgenden Fragen nachzugehen: Warum sollte ausgerechnet das Lenormand die Qualität der Zahlensymbolik unberücksichtigt lassen? Kann es wirklich sein, dass jedes Symbol allein nach dem Zufallsprinzip einer Ziffer zugeordnet wurde? Wenn doch schon signifikante Zusammenhänge zwischen den Lenormandbildern und der Astrologie, Mythologie sowie der Religionslehre zu erkennen sind, so müsste doch auch eine ausgeprägte Verbindung zur Numerologie vorhanden sein? Während meiner Recherche nach der Urbasis des Lenormand kristallisierte sich die Numerologie tatsächlich als zentrale Säule der symbolischen Gesamtheit he-

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3 3Schiff Schiff In sämtlichen mythologischen Erzählungen sind Schiffe oder Boote Symbolträger für die Reise ins Leben hinein und aus ihm heraus. So pendelte das Seelenschiff in der ägyptischen Mythologie ständig auf dem Fluss zwischen Diesseits und Jenseits und vermittelte zwischen den Reichen. Der bedeutendste Gott der alten Ägypter, Sonnengott Ra, fuhr jeden Tag auf einer Sonnenbarke über den Himmel und nachts durch die Unterwelt. In den Glaubensvorstellungen der Kelten gab es Boote, mit denen man vom Ufer des Irdischen zum unsichtbaren Ufer der Anderswelt übersetzen konnte. Ihrem Weltbild nach war es auch Menschen möglich, das Land des Jenseits zu besuchen. Der Mystik-Roman Die Nebel von Avalon erzählt davon. Menschen, die Heilung und weisen Rat suchten, wurden auf einer Barke über die See in jene andere, durch einen dichten Nebel verborgene Welt der Priesterinnen gebracht. Da das Schiff für die symbolische Verbindung zwischen Leben und Tod eine buchstäblich tragende Rolle spielte, kann es als das Symbol für die Seele betrachtet werden. Im bildlichen Sinne trägt es die Seele in seinem großen Bauch hinaus in die stürmischen Gewässer und die endlosen Weiten. Unsere Seele ist durch ihre körperliche Hülle zwar an das Irdische gebunden, doch sie kann alle äußeren Grenzen mühelos überschreiten. Ganz gleich, wie hoch die Wellen schlagen und das wilde Wasser aufbraust, unser Seelenschiff bietet auf dem Gezeitenstrom des Lebens inneren Schutz und Geborgenheit. Es ist unser sicheres Zuhause, wie weit auch immer wir uns von unseren Wurzeln entfernen und in die Welt hinaustragen lassen. Die Seele ist die einzige Heimat, die wir wirklich haben.

Das Schiff - die verborgene Macht des Weiblichen

In den Kulturbildern auf dem gesamten Globus ist das Schiff ein Symbol des Weiblichen. Die bauchigen Rundungen des Schiffskörpers regen seit Menschengedenken zu diesen Assoziationen an. Früher wurden Segelschiffe am Bugspriet häufig mit Galionsfiguren in Form einer Frauengestalt geschmückt. Boote auf einen Frauennamen Bild links: Caspar David Friedrich (1774 – 1840) – Auf dem Segler, 1818/20

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zu taufen, hat eine ebenso lange Tradition. Der Ursprung der weiblichen Macht, die sich bis auf die hohe See ausdehnte, liegt in den frühen Gesellschaftsformen, in denen lange Zeit ein Matriarchat herrschte. Hochangesehene Frauen, die auf Regierungsebene das Sagen hatten, waren in Hochkulturen durchaus üblich. Die Geschichte der gottesgleichen Herrscherinnen, die wie Kleopatra über riesige Reiche regierten, ruft jedoch selbst bei heutigen Vorstellungen von Emanzipation und Gleichheit noch Bewunderung hervor. Auch bei den Wikingern gab es Heeresführerinnen, die mit ihrer Flotte in den Krieg zogen. Die Region um das Schwarze Meer war von den Amazonen besiedelt, die ohne Männer lebten und über eine weithin gefürchtete, äußerst ausgefeilte Kampfkunst verfügten. In vielen Teilen der Erde wurde das Meer zur Domäne des Weiblichen auserkoren. Im Französischen tönt die Verbindung zwischen den Frauen und dem Meer besonders schön: La mer und la mère klingen fast gleich. Da wundert es kaum, dass Schiffe ihrer mythologischen Herkunft nach noch immer als weibliche Hoheiten der Weltmeere gelten, auch wenn sich an der überwiegend männlichen Besatzung der Marine bis heute nicht viel geändert hat. Die im Geiste verankerte matriarchalische Urkraft der Schiffe bildet seit jeher auf symbolische Weise ein Pendant zur Vorherrschaft der Männer im echten Leben auf hoher See. Aus Mythen und Geschichten, die von der Seefahrt und dem Leben mit dem Meer handeln, ist die weibliche Schutzmacht nicht wegzudenken. Daran wird wieder einmal sichtbar: Das Männliche kann nicht ohne das Weibliche existieren und umgekehrt. Nicht umsonst heißt es: Hinter jedem mächtigen Mann, steht eine starke Frau. Dennoch war es für die Kraft des Weiblichen schon immer schwer, sich gegen die patriarchalisch dominierte Welt zu behaupten. Diese breitete sich besonders stark über den Schiffsverkehr auf den Weltmeeren aus, wo Kriege, Handel, Eroberungen und Fischfang fast ausschließlich in Männerhand waren. Wenn schon real Frauen

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macht- und rechtlos wurden, so herrschten sie wenigstens in den überall verbreiteten Glaubensvorstellungen als Göttinnen und weibliche Sagengestalten weiter. Hier griff man die Domäne der Frauen kaum an. Waren sie doch zu heilig, um sie vom Thron zu stürzen. Zahlreich erscheinen in alten Mythen Frauenfiguren, die im Hintergrund über die Geschicke und Schicksale des thronenden Männervolkes wachten und entschieden. Unter ihnen waren die Sirenen besonders gefährlich für Helden der See, die ihretwegen um den Verstand gebracht wurden. Es war der becircende Anblick ihrer entblößten Frauenkörper und ein betörender Gesang, der die Männer reihenweise in die Tiefe riss.

Raue See - Symbol für die Erweckung unserer Stärken

Im Hafen ist ein Schiff sicher, aber für einen langen Aufenthalt an diesem Ort ist es nicht gedacht. Es braucht die unendlich scheinende Weite, das Tosen und Rauschen des Gewässers. Egal, wohin es geht: Der Weg ist das Ziel, und dieser ist häufig geprägt von einer tiefen Sehnsucht, etwas zu finden, das uns »ganz« macht. Wir hoffen, neue, noch verschlossene Türen zu öffnen, die den Blick freilegen auf unentdeckte oder verschüttete Potenziale, die schon lange in uns schlummern. Auch wenn sie nur einen Schritt weit entfernt liegen, braucht es oftmals einen weiten Weg, um sich ihnen anzunähern und sie wie eine sich offenbarende Schatztruhe in Besitz zu nehmen. Glauben wir möglicherweise, nur die Gabe sei etwas wert, die unter höchstem Einsatz aller Kräfte erworben wurde? Die meisten Schiffe tragen schwere Last und müssen sich härtesten Bedingungen stellen, um ihren Hafen zu erreichen. Und nur auf den wenigstens wird eine gemütliche Kreuzfahrt mit Freizeitangebot und Rundum-Sorglos-Paket geboten. Auf den kleinen und großen Frachtern erwartet die Seemänner monatelange mühselige und schweißtreibende Arbeit. Ein alter Seemannsspruch lautet: »Eine ruhige See bringt niemals einen guten Seemann hervor.« Übertragen auf die Entwicklung unserer eigenen Stärken ist diese Lebensweisheit von Bedeutung. Die Menschen wissen ihre Fähigkeiten erst dann zu schätzen und zu nutzen, wenn sie gleichsam eine beschwerliche Reise auf sich nehmen, die ihnen seelisch, körperlich und geistig alles abverlangt. Wer nach ausgedehnten Strapazen das Ziel erreicht, hat das Gefühl, seinen Erfolg dann richtig verdient zu haben. Wenn es um die Wahrnehmung und Würdigung der eigenen Stärken geht, ziehen wir die Herausforderungen auf einem unbequemen Segelschiff der Reise an Bord eines komfortablen Passagierschiffes vor. Lieber trotzen wir den widerspenstigen Kräften der

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Weltmeere mit Leibeskräften als entspannt am sonnigen Schiffsdeck zu flanieren. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, den Weg des größten Widerstandes zu wählen, wenn er seine Visionen verwirklichen und seine Talente ausleben möchte. Immer wieder erlegen wir uns dazu die unterschiedlichsten Prüfungen auf. Die der Schlüsselzahl Drei zugeordneten Eulen und Berg sind dem Schiff in dieser Hinsicht gleich. Genau wie dieses beschreiben sie den erforderlichen Kampf um ein höheres Ziel. Alle drei Symbole überschreiten imaginäre und reale Grenzen. Sie öffnen die Tore in eine neue, machtvolle Welt. Das Schiff symbolisiert die seelische Stärke, mit der wir alles erreichen, wenn wir nur wollen und unserer inneren Führung folgen. Die Eulen stehen für die bewegende Revolution, die zunächst im Geiste stattfinden muss, bevor wir die Welt mit unseren Händen verändern können. Sie regen an, alte Denkstrukturen aufzubrechen und überholte Ansichten einem radikalen Wandel zu unterziehen. Der Berg, der als nächste Karte in der senkrechten Reihe dem Schiff und den Eulen folgt (siehe S. 18), verlangt den ultimativen Abbau mentaler Schranken, da er sonst nicht bezwingbar ist. Alle drei Karten fordern auf, unsere selbstgesteckten Grenzen zu hinterfragen, sie zu überwinden, um Neuland zu betreten. Die gemeinsame Maxime dieser symbolischen Trilogie lautet: Nur wenn wir uns in dieser Welt an etwas Höheres wagen, das die aktuelle Sicht erweitert, gehört sie uns.

Die Heiligkeit und Magie der Drei

Sowohl in den Religionen als auch in den Mythen sämtlicher Kulturen von Skandinavien bis in den Orient ist die Drei eine heilige Zahl von höchster Bedeutung. Dabei gibt es ein archaisches Grundprinzip für die Drei, das Göttlichkeit darstellt. Im Hinduismus ist Brahma der Schöpfer, Vishnu der Erhalter und Shiva der Zerstörer. In der nordischen Mythologie gibt es die drei Schicksalsfrauen, die sogenannten Nornen, die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit verkörpern. Aus dem Christentum kennen wir die patriarchalisch geprägte Dreifaltigkeit Vater, Sohn und Heiliger Geist. Auch im Märchen kommt die Zahl Drei besonders häufig vor. In bekannten Schlüsselszenen führt stets die Drei zu den größten Spannungsmomenten und den magischen Augenblicken, wenn die Handlung des Protagonisten zu einer Wende führt. Auf Schneewittchen verübt die Stiefmutter drei Mordanschläge, ehe ihr das Handwerk gelegt wird. Ebenso wird Goldmarie von Frau Holle dreifach geprüft, bevor sie wieder auf die Erde zurückkehren darf. Im Märchen vom Rumpelstilzchen

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muss die Müllertochter binnen drei Tage ihre Aufgabe lösen, um ihr Kind behalten zu dürfen. Immer wieder läutet die Magie der Zahl Drei entscheidende Entwicklungsprozesse ein, welche die Lebenssituation des Menschen deutlich verbessern und ihn nicht nur im weltlichen, sondern vor allem im geistigen und seelischen Sinne weiter aufsteigen lassen. Bevor der Auserwählte im Märchen die drei Stufen seiner Reifeprüfung antritt, erscheint er alles andere als heldenhaft. Im Gegenteil, er befindet sich zunächst in der Rolle des typischen Versagers. Im Märchen Die drei Federn – Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm – wird der Antiheld, einer der drei Söhne eines Königs, zu Unrecht als Dümmling bezeichnet. Keiner glaubt daran, dass gerade er die Prüfung des Vaters bestehen könnte, um dessen Erbe anzutreten. Trotzdem wird er – ebenso wie seine Brüder – mit drei Aufgaben betraut. Dabei wendet ausgerechnet der Dümmste die schlaueste Methode an, um dem König das herbeizubringen, was er zu haben wünscht. Er handelt dabei im Gegensatz zu den anderen beiden Mitbewerbern völlig intuitiv. Er steigt ohne zu zögern durch eine sich öffnende Tür in die Erde hinab. An dieser Stelle finden wir das Motiv der Grenzauflösung, das in der Zahlenmystik typisch für die Zahl Drei ist. Allerdings kann diese nur stattfinden, weil der Held bereit ist, sich auf das Abenteuer einzulassen und das Feld der Möglichkeiten nicht schon im Voraus zu eng abzustecken. Im Vertrauen darauf, dass alles gut wird, lässt er sich auf das Neue ein und wird für seinen couragierten Einsatz belohnt. Was alle Märchenfiguren in ihrem noch kindlichen Wesen eint, ist der Idealismus, mit dem sie sich der Aufgaben annehmen, einhergehend mit der Hoffnung auf eine bessere und friedlichere Welt. Diese beiden heldenhaften Attribute stehen im Einklang mit dem Wesen des Schiffsymbols. Der Abstieg des Jünglings ins Erdinnere gleicht einer Begegnung mit seiner eigenen Innenwelt, in der er die Kraft des Weiblichen, die Intuition, entdeckt. Hätte er auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, was er gerade anstellt, wäre er vermutlich zurückgeschreckt. Doch er vertraut seinem Bauchgefühl. Sein beherztes Handeln und seine Risikobereitschaft zahlen sich aus. Im Erdreich angekommen, erscheint dem jungen Mann eine Kröte, die sich als freundliche Erfüllungsgehilfin erweist und ihm in allen drei Prüfungssituationen genau das übergibt, was der König verlangt. Auch wir treffen im wahren Leben immer wieder auf glückliche Umstände, die uns im entscheidenden Moment einen Schritt weiter bringen und uns im Extremfall sogar Leib und Leben retten. Wer oder was auch immer dieses Helferwesen sein

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mag, es zeigt sich nur dann, wenn wir bereit sind, uns mutig und entschlossen der Situation zu stellen. Übertragen auf die Botschaft des Schiffes, heißt das: Wir sollen die Chance beim Schopf ergreifen, wenn sie sich bietet. Mit den Aufgaben wächst auch die seelische Kraft, sie zu bewältigen und zu einem oft unerwartet guten Ende zu führen. Zurück zu unserem jungen Helden: Es gelingt ihm, sich vor den Augen seines Vaters zu bewähren. Seine Brüder haben sich weitaus weniger geschickt angestellt, weil sie die Aufgaben mit dem Kopf lösen wollten und nicht bereit waren, für die Belohnung Risiken in Kauf zu nehmen. Zu guter Letzt wird der erweckte weibliche Teil im angehenden Sieger gestärkt durch die schönste Frau, die ihm sein Helfertier an die Seite stellt. Es ist beinahe vollbracht. Der frisch gebackene Thronfolger wird ein letztes Mal von seinen neidischen Brüdern herausgefordert: Sie fordern, dass die jungen Frauen durch einen im Saal aufgehängten Ring springen sollen. Die plumpen Bauerntöchter scheitern, während die Schöne die Aufgabe behände meistert. Denn die beiden machtgierigen Königssöhne wussten mit der weiblichen Kraft nicht umzugehen, geschweige denn, sie als ergänzende Macht zu verinnerlichen. Ihnen fehlte nicht nur dieser Anteil an ihrer Persönlichkeit, sondern wieder einmal Mut und Vertrauen. Solch eine innere Unausgewogenheit musste zwangsläufig zum gnadenlosen Scheitern führen. Dem anfänglich Schwächsten gelang es dagegen, seine eigene Entwicklung anzukurbeln, indem er sich über seine Grenzen hinauswagte und sich der weiblichen Kraft auf eine zuversichtliche, unvoreingenommene Weise näherte. Der Sprung durch den Reif ist im spirituellen Sinne nichts anderes als der Abschluss eines Transformationsprozesses (siehe Kapitel Ring). Die Persönlichkeit des Helden ist nun ausgeformt. Die Reife als errungene Eigenschaft des Helden und der Reif als Hilfsmittel zum Bezeugen seiner gewonnen Stärke haben hier sogar dieselbe Wortsherkunft. Alles wird ausgeglichen, da der Märchenheld bewiesen hat, dass zu jeder guten männlichen Macht auch ein entsprechender Anteil weiblicher Kraft gehört. Viele Märchen kreisen um das Thema Weiblichkeit. Doch in kaum einem wie Die drei Federn wird so deutlich, dass auch die männliche Kraft immer nur so stark sein kann, wie ihre weibliche Quelle. Nur wenn der Mann sie zulässt, kann sie ihn ausreichend nähren, um ihn sein volles Potenzial ausschöpfen zu lassen. Gleichermaßen kann das Schiff mit der Schüsselzahl Drei bekräftigen, dass uns die aus eigenen Antrieb produzierte Schaffenskraft weit nach vorne bringt. Ähnlich den Märchenfiguren, die für ihren mutigen Einsatz belohnt werden, erreichen wir eine neue Ebene. Demzufolge steht das Schiff für einen

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entscheidenden Meilenstein einer bestimmten Lebensphase oder eines Lebens­ themas. An diesem Punkt entsteht wie im Märchen eine beeinflussbare Situation, die uns die Chance eröffnet, durch selbst initiiertes Handeln dem eigenen Schicksal eine Wendung in die passende Richtung zu geben.

Auf zu neuen Ufern – Volle Kraft voraus! Wer die Reise auf einem Schiff antritt und so die große, weite Welt entdecken möchte, wird angetrieben von Abenteuerlust, kulturellem Interesse und Unternehmungsgeist. Oft wollen Schiffsreisende ihren Horizont erweitern. Man kann sich aber auch auf innere Reisen begeben und auf diesem Weg grenzüberschreitende Erfahrungen zur Weiterentwicklung suchen. Immer wieder geht es dabei um Sinnsuche, um das außergewöhnliche Erleben und Entdecken schwer zugänglicher Bereiche abseits des logisch Fassbaren. Seelenwanderung oder Astralreisen bieten eine Möglichkeit, sich diese verborgenen Aspekte mehr und mehr zu erschließen. Wer seinen Horizont erweitern möchte – auf welche Art auch immer – gewinnt neue Eindrücke und Erkenntnisse und lernt gleichzeitig sich selbst besser kennen und verstehen. Ein Schiff muss immer wieder bekanntes Terrain verlassen und ins Ungewisse aufbrechen. Früher stand

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eine Wiederkehr oft nur in den Sternen. Den Zurückgebliebenen blieb allein die Hoffnung, dass alle Ausgesandten heil zurückkommen sollten. Übertragen auf unser Leben heißt das: Ein schmerzender Abschied kann dazu führen, dass wir uns in eine gänzlich neue, unvorhergesehene Richtung bewegen. Wir begeben uns auf eine Suche und machen uns auf zu neuen Ufern. Sobald wir dann erst einmal unterwegs sind, spüren wir, dass alles von allein in Fluss kommt. Nach einer Weile laden sich unsere leeren Batterien wieder auf, die Energie schießt durch unsere Lebensadern. Wir surfen auf der richtigen Welle. Erschließen neue innere und äußere Welten. Das Schiff ist eine pure Energiekarte. Im Lenormand gibt es kein anderes Symbol, das eine ähnliche Kraft und Größe besitzt wie das Schiff. Wir müssen sie nur richtig zu nutzen wissen, damit sie uns zugutekommt. Die Botschaft, die uns das Schiff mit auf den Reise gibt, lautet: Du bist der Kapitän deines Schiffes und entscheidest selbst, wie du es am besten durchs Leben navigierst. Folge deinem inneren Kompass. Nutze den Wind in den Segeln, um dein Boot voranzubringen. Lass dich von den Wellen auf und ab tragen. Manches lernt man nur im Sturm des aufbrausenden Meeres. Wer sich auf der Sinnsuche oder auf einer Entdeckungsreise befindet, möchte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der Mensch lernt durch seine Weitsicht Zusammenhänge zu erkennen und sinnvolle Erklärungen zu finden. Liegt das Schiff in einer Kombination zwischen zwei Karten, besteht die Möglichkeit, einen Zusammenhang zwischen den Themen vor und nach dem Schiff herzustellen. Nach dieser Deutungsweise fungiert das Schiff als Brücke. Gerade im psychologischen Kontext treffen häufig zwei Themen aufeinander, die sich überlagern oder ineinandergreifen.

Numerologische und astrologische Aspekte

Die 3 kann ihrem Wesen nach sehr gut mit dem Planeten Jupiter verglichen werden, der sich ständig neue Räume erschließen will. Die Expansionslust treibt ihn über alle Grenzen in die weite Welt hinaus. Das Wachstum, das aus der 3 hervorgeht, basiert auf der Einheit von der Initiativkraft der Eins und der Fruchtbarkeit der 2. Folglich beschreibt die 3 die daraus entstehende Erweiterung unseres Horizonts, den Blick auf das Universelle und damit die heilige Verbindung zwischen Natur, Mensch und Kosmos.

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Planeten in Widder, Zwillinge, Schütze und Wassermann, 5. und 9. Haus ✷ Konstellationen von Sonne-Mond, Sonne-Merkur, Sonne-Jupiter, Sonne-Uranus, Mond-Mars, Mond-Uranus, Merkur-Jupiter, Merkur-Uranus, Mars-Jupiter, Mars-Uranus ✷ Jupiter oder Uranus am AC → Die Energien beider Planeten streben nach Expansion und einem neuen Erfahrungshorizont. Die Hoffnung auf eine bessere Welt lässt sie immer wieder Grenzen auflösen, Sinn und Inspiration suchen.

Das Schiff im Spiegel des Tarot

Herrscherin (# 3): Wachstum, Inspiration, Weiblichkeit Im Tarot wird die Ziffer Drei von einer äußerst weiblichen Figur repräsentiert, die Herrscherin. In der Historie des Schiffes treten immer wieder betont feminine Aspekte auf, die von der sinnlich schönen Herrscherin vollendet zum Ausdruck gebracht werden. Darüber hinaus allegorisieren beide 3-er Karten neben der Fraulichkeit ähnliche Bedeutungen wie Wachstum, fruchtbare Schöpfungsprozesse und inspirierende Erfahrungen.

Wagen: Freiheit, Weiterentwicklung, Energie, Risikobereitschaft, Stärken Welt: Sinnsuche, Grenzauflösung, Hoffnung, Erfahrung 3 der Stäbe: Abschied, Sehnsucht, Neue Ebene, Weltanschauung

Das Schiff

im Überblick

Themen Abschied und Wiederkehr + Astralreisen + Aufbruch + Austausch + Energie + Erlebnis/ Erfahrung + Feminismus + Freiheit + Grenzauflösung + Hoffnung + Idealismus Inspiration/Impuls + Knotenpunkt + Lebensphilosophie + Mut + Neue Ebene Potential + Quantenheilung + Risikobereitschaft + Schaffenskraft + Seele + Sehnsucht Sinnsuche + Stärken + Suche + Wachstum + Weiblichkeit + Weiterentwicklung Weltanschauung + Zukunft + Zusammenhang Figuren und Sinnbilder Marco Polo + Chistoph Kolumbus + Jane Goddall Abenteurer + Amazone + Energiebündel + Feministin + Freigeist + Globetrotter Herrscherin + Kapitän + Seemann + Suchende + Unternehmerin + Vollweib Weltbürger + Weltenforscher + Fliegender Teppich + Freiheitsstatue + Motor Eigenschaften empfänglich + energetisch + erfahren + freiheitsliebend + inspirierend + interessiert kulturell interessiert + mutig + nach vorne schauend + tolerant + unabhängig unternehmerisch + weiblich + weitgereist + weltoffen + zukünftig

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55 Baum Baum Für die Symphonie der Natur sind Bäume die Dirigenten, die das perfekte Zusammenspiel aller Wesen ermöglichen. Sucht man ganz leise ihre Nähe, erklingt das Rauschen und Raunen des Laubes, als würden die Baumwesen selbst ein Konzert anstimmen. Vielleicht sogar, um uns mit der flüsternden Stimme des Waldes etwas aus ihrer Welt mitzuteilen. Seit Urgedenken stehen die Menschen in innigster Verbundenheit mit diesen kleinen und großen Riesen. Als könnten die hochgewachsenen Gestalten den Himmel berühren, schwingt sich der menschliche Geist in ihrer Gegenwart von selbst nach oben und nimmt Fühlung mit dem Göttlichen auf. Es gibt es seit Jahrtausenden gehütete Kraftorte, heilige Haine und Landschaftsabschnitte, die eine besondere Ausstrahlung auf den Menschen haben. Meist sind solche magischen Orte von Bäumen umgeben oder diese spielen eine zentrale Rolle. Als Quell des Lebens hatte der Baum für die alten Kulturen hinsichtlich Mythologie, Zauberlehre, Heilkunde und Ernährung eine kaum zu ermessende Bedeutung. Auf der ganzen Erde galten Bäume als heilig; sie luden ein zu Versammlung und Verinnerlichung. Geister, welche die Baumstätten bewohnten, wurden von den Völkern um Rat gefragt und um ihren Schutz gebeten. Zudem soll die Anwesenheit der Ahnen und Götter den ältesten Baumgeschöpfen besondere Kräfte und Fähigkeiten verliehen haben. Bei den Germanen und Kelten verfestigte sich das Wissen darüber zu einem überaus intensiven Baumkult, der bis zur Ausmerzung durch die Christianisierung tief verwurzelt blieb. Manche heidnischen Bräuche wie das Aufstellen des Maibaumes haben trotzdem überlebt. Nach der 4 x 9-Legeweise thront das Symbol des Baumes im Mittelpunkt der obersten Reihe (siehe S. 18). Als Spitze der Hauptachse scheint er wie ein beschützender Vater alle anderen Symbole unter seine Fittiche zu nehmen. Auffällig ist darüber hinaus die Parallele zur numerologischen Bedeutung der Fünf. Wie der Baum versinnbildlicht gerade diese Zahl die stärkste Kraft des Lebens, wo alle göttlichen Energien zu einer Einheit gebündelt werden. Dem ursprünglichen Glauben nach stellten Bäume eine Verbindung zwischen den oberen und unteren Gefilden dar. Ihre Bild links: Camille Pissarro (1830 – 1903) – Place du Theatre-Francais, 1898 (Ausschnitt)

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Wurzeln reichten bis in die Unterwelt, während ihre Krone sich durch die Wolken nach dem Reich der Seelen ausstreckte. Dort, wo sie wuchsen, trafen Himmel und Erde aufeinander. Ob der Baum deshalb in der Reihenfolge des Lenormands zwischen das Haus und die Wolken »gepflanzt« wurde? Als Metapher für das Irdische kann die Karte des Hauses betrachtet werden, wohingegen die Karte der Wolken das Überirdische symbolisiert. Als Vermittler zwischen den Sphären tritt der Baum ins Zentrum des universellen Gefüges. Die Vorstellung vom kosmischen Baum wurde selbst noch in der Neuzeit lebendig gehalten. In der Jung’schen Psychologie gilt der Wald als Raum der Begegnung zwischen dem Realen und Irrealen. Da Bäume und Wälder das Tor zu einer anderen Dimension bilden, verschwimmen nicht nur Fiktion und Wirklichkeit. Die unsichtbare Wand zwischen den ätherischen und materiellen Ebenen wird gänzlich aufgehoben.

Im Zauberwald reifen

Im Wald der Grimm-Märchen treffen Menschenkinder wie Schneewittchen, Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel zum ersten Mal auf magischen Wesen in Form von Zwergen, Feen, Hexen und sprechenden Tieren. Nicht immer laufen diese Begegnungen friedlich und harmonisch ab. Zumeist werden die Gefahren, die das Leben mit den Bewohnern des Waldes mit sich bringt, von den noch kindlichen Protagonisten gnadenlos unterschätzt. Angelehnt an das christliche Bild vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen soll es im Märchen ausgerechnet ein Wald sein, indem die Heranwachsenden lernen, beides vonein­ ander zu unterscheiden. Anfänglich gelingt es ihnen natürlich noch nicht, den Versuchungen des Bösen zu widerstehen. Alsbald nimmt das Unheil seinen Lauf bis sich Karl Hartmann (1861 – 1927) – Bei der Waldfrau

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das Schicksal durch gewonnene Einsicht in die Absichten der herrschenden Mächte zugunsten der Betroffenen wendet. Bäume sind die besten Lehrer; sie schicken Zauberwesen unterschiedlichster Art und Gesinnung zu den Menschenkindern, um ihnen durch das Zusammentreffen unvermeidliche Lebenslektionen zu erteilen. Oft müssen sie dabei durch ein regelrechtes Überlebenstraining gehen, denn nicht immer wird ihnen wie im Falle von Schneewittchen auf der Flucht vor der bösen Stiefmutter geholfen. Sodann entwickeln sie mit dem Meistern ihrer Aufgaben zunehmend mehr Erkenntnis und geistige Reife. Dadurch glückt es den jungen Helden aus dem Feld des kindlich Unbewussten heraus in die Welt des erwachsenen Bewusstseins hineinzutreten. Denn der Wald eröffnet eine ganz neue Erfahrungswelt, die ihnen im Schutz des eng gesteckten häuslichen Umfeldes vorenthalten blieb. Im Märchen erleben die jungen Leute mit jeder neuen Station einen Wachstumsprozess, der die Ganzwerdung ihrer Persönlichkeit zum Ziel hat. Um eine höhere Stufe des Bewusstseins zu erlangen, müssen sie die Prüfungen des Schicksals antreten. Dabei lernen die Schützlinge nicht nur Verantwortung zu übernehmen, sondern vor allem sich selbst Vertrauen zu schenken. Somit bringt sie die geschärfte Wahrnehmung auf rettende Einfälle oder richtige Wege. Nach bestandener Feuertaufe sind sie dann ausreichend erfahren und gefestigt, den »Drachen und Dämonen« der realen Welt entgegenzutreten. Im Wald lernen wir Menschen die Allmacht der Natur am besten kennen. Seine größten und ältesten Bewohner – die Bäume – sind strenge, aber weise Lehrmeister. Dennoch beschützen und begleiten sie als Freund und Helfer den Menschen auf seinem Weg durch die geheimnisvollen, zuweilen recht dunklen Reiche der Erdmutter. Wachstum und Weisheit kommen

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nicht von allein, sondern müssen neben besonnenem Handeln durch innere Stärke und Spürsinn erworben werden. Später folgen wir auf leisen Sohlen der Spur des Instinkts eines der tapfersten Helden des Waldes, dem Fuchs, der wie der Baum zur Schlüsselzahl Fünf zählt.

Die Verbindung zu Mutter Erde – das Wichtigste für uns

Biologisch gesehen ist der Baum ein Mikrokosmos, in dem auf winzig kleinen Ebenen von den Wurzeln bis zur Krone eine vielfältige Welt für sich lebt. Bäume sind nahezu die einzigen Wesen, ohne die ein Leben auf dieser Erde ausgeschlossen wäre. Sie liefern die Grundenergie allen Lebens und ermöglichen das Wachstum zahlloser Tier- und Pflanzenarten. So wie seit alters in vielen Kulturen jeder Baumart ein bestimmter Charaktertypus zugeordnet wird, erhalten auch Landschaften, Städte und Straßen durch die Ansiedlung einheimischer Bäume ein unverwechselbares, unnachahmliches Gesicht. Baumkulturen gestalten und prägen unseren Lebensraum grundlegend, vor allem wenn wir ihnen gestatten, ihren natürlichen Kreislauf selbst zu regulieren. Jedoch führt die fortschreitende Zerstörung der Umwelt zu immer abstruseren Auswüchsen. Laut Greenpeace landen in Russland jährlich ca. 15 000 000 Tonnen Erdöl durch auslaufende Pipelines in Böden und Gewässern, was ganze Wälder in der Schlammmasse untergehen lässt. Noch verzeiht der Planet uns viel, aber können wir uns unseren Umgang mit ihm verzeihen? Wir alle brauchen die Verbindung zu Mutter Erde. Sie (er-)trägt uns und sorgt dafür, dass wir genährt werden und verwurzelt bleiben. Längst hat man erkannt, dass der Mensch immer anfälliger für unterschiedlichste Erkrankungen wird, je weiter er sich von einem ursprünglichen Leben im Einklang mit der Natur entfernt. Die heilsame Wirkung von Bäumen und Wäldern auf die Psyche des Menschen ist außerordentlich. Die Nähe zur Natur erhöht nicht nur allgemein die Lebensqualität, sondern schafft ein gesundes Gleichgewicht von Körper, Geist und Seele, schenkt innere Ruhe und Zufriedenheit. Bäume tragen maßgeblich zur Entspannung und Erholung bei, völlig unkompliziert und kostenfrei. Patienten, die von ihrem Krankenbett auf einen Baum schauen können, werden nachweislich schneller gesund. Menschliches Aggressionspotential wird in der Umgebung von Bäumen deutlich gesenkt. Naturverbundenheit macht stressresistenter und robuster. Die Urkraft der Bäume fördert die innere und äußere Heilung und liefert dafür sogar unschätzbar wertvolle Substanzen, die nicht nur in der Heilkunde altbewährt sind.

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Für spirituelle Menschen ist es besonders wichtig, sich immer wieder zu erden. Wer sich viel mit ätherischen Welten beschäftigt, kann leicht den Bodenkontakt verlieren. Erdung stärkt die Fähigkeit, den Alltag zu meistern, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, und doch in jedem Moment bewusst zu leben. Nur wer ausreichend starke Wurzeln hat, kann den Kopf schwindelfrei gen Himmel recken. Was spricht dagegen, mal einen großen Baum zu umarmen? Augenblicklich fallen Ängste und Sorgen von uns ab. Die erquickende Erdenergie durchflutet unser ganzes Wesen. Wenn wir uns dem Geist des Baumes respektvoll nähern, offenbart er uns seine göttliche Urkraft. Diese tiefe Verbundenheit mit unseren eigenen Wurzeln können wir auch über das in uns wohnende Basis-Chakra – auch Wurzelchakra genannt – herstellen.

Die wahren Heiligen – Bäume, Haine und Wälder

Als Wälder und Haine noch heilig waren, wurde alles zu ihrem Schutze getan und gleichzeitig verhindert, dass ihnen etwas durch Menschenhand zustößt. Einen Baum zu fällen, ohne das Einverständnis seines Geistes zu holen, wäre unverzeihlich, ja sogar strafbar gewesen. Denn die tiefe Beziehung zwischen Mensch und Baum, so glaubte man, würde beider Leben, Gesundheit und Wohlergehen direkt voneinander abhängig machen. Ihre Schicksale seien aneinander gebunden. Deshalb pflanzte man zur Geburt eines Kindes traditionell ein Bäumchen. Es sollte ihm dabei helfen, gut zu wachsen. Dieser schöne Brauch hat an vielen Orten bis in unsere Zeit überdauert. Überdies soll es noch immer geheime Zauberbäume mit magischen Kräften geben, von denen man sich erzählt, sie hätten Wunder gesehen und selbst bewirkt. Mag sein, dass sich um die ehrwürdigen Alten zahlreiche Mythen und Legenden ranken, aber wer an ihre besonderen Kräfte glaubt, wird von dem ein oder anderen wundersamen Erlebnis gewiss selbst berichten können. Die Eibe, die mit einem stattlichen Alter von weit über 1000 Jahren, die Ewigkeit verkörperte, galt als heiliger Baum und Stellvertreter für das Reich der Todesgötter. Der römischen Sagenwelt zufolge wurde der Weg in die Unterwelt von Eiben gesäumt. Bei den Germanen gehörte die Eibe den Erdgöttinnen Rinda und Hel, welche die verstorbenen Seelen ans Licht zu führten. Doch auch das Böse sollte die Eibe vertreiben. Ein Amulett aus ihrem Holz wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Abwehr von Dämonen getragen. Ein Zauberspruch dazu lautete: »Vor Eiben kann kein Zauber bleiben.« Obendrein sollen Zauberstäbe aus dem Holz der Eibe gefertigt worden sein. In der Tragödie »Macbeth« von Wil-

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liam Shakespeare werden die magischen Kräfte der Eibe von den Hexen aktiviert, die unter anderem aus ihren Zweigen einen Zaubertrank zubereiten. Im Laufe der Jahrtausende entwickelte sich in Verbindung mit der Zauberkraft der Bäume eine eigene Orakelkultur. Überliefert und belegt ist das keltische Baumalphabet namens Ogham, das auf dem Wissen der Druiden fußt. Aus dem Holz von Buchen, Eichen und Apfelbäumen wurden Runen geschnitzt. Die Wünschelruten bestanden dafür meist aus Zweigen der Esche, die wie die Eibe als ein heiliger Baum angesehen war. Noch heute treten moderne Hexen, Wicca genannt, durch Anwendung alter Rituale in Kontakt mit den Wesen der Bäume, denen man eine heilkräftige und magiereiche Wirkung nachsagt. Trotz der ausgeprägten Mystik, die rund um die Welt der Bäume wuchs und wucherte, blieben sie selbst stets äußerst bodenständige Erdbewohner und nahbare Wesen. Jeder Baum ist ganz bei sich, eingebunden in die naturgewollte Ordnung.

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Ein e­ igensinniger Riese, der den eingeborenen Gesetzen stets treu bleibt. Aus der Symbolik des Baumes lässt sich für die entsprechende Deutung im Lenormand folgendes ableiten: Die Lebenswurzeln des Baumes wachsen auf einem kulturellen »Nährboden« aus Werten und Tradition, die auf das Kultur- und Gedankengut vieler Generationen zurückgehen. Daraus bilden sich charakteristische Grund- und Glaubensmuster, die wir bewusst oder unbewusst durch die sozialen und familiären Prägungen übernehmen. Als Hüter und Bewahrer greift der Baum immer auf das Althergebrachte und Überlieferte zurück. Sein Blick ist nicht in die Zukunft, sondern auf die Vergangenheit gerichtet. Erhalt und Fortführung zählen zu seinen Aufgaben. So weist er auf Themen hin, die in unserem Leben weiterhin bestehen bleiben und noch nicht abgeschlossen werden können. Außerdem ist der Baum Speicher all unserer Erinnerungen und Erlebnisse. Deswegen weist diese Karte im Lenormand häufig auf eine vergangene Erfahrung hin, die sich auf unsere heutige innere oder äußere Situation auswirkt. Erinnern Sie sich an die Bedeutung des Klees? Er bezeichnet im Lenormand nur einen Teil von etwas, einen Ausschnitt aus dem großen Ganzen. Dagegen wird mit dem Baum immer die Ganzheit angesprochen. Sein Symbol bezieht sich also immer auf das Umfassende, wie zum Beispiel eine Problematik oder ein bestimmtes Thema, das sich auf alle Bereiche des Lebens auswirkt und nicht nur partiell wahrgenommen werden sollte. Der weise Rat des Baumes möchte, dass wir eine ganzheitliche Sicht einnehmen und die Essenz eines Themas verstehen. Erst wenn wir etwas im Ganzen betrachten, können wir den wesentlichen Sinn erkennen. In fast allen Kulturen findet man den Baum als Sinnbild für das Prinzip der kosmischen Ordnung. In der jüdischen Kabbala-Lehre ist der Baum des Lebens das Zentrum allen Seins. Er bildet als vollkommene Einheit des Lebens die Bewusstseinsstufen des Menschen ab und macht die kosmischen Gesetzmäßigkeiten anschaulich. Die zehn Energiefelder des Lebensbaumes sollen dem Menschen als Leitfaden für seine spirituelle Entwicklung dienen und ihn durch das Labyrinth des Lebens zum höchsten Bewusstsein führen. Die nordische Mythologie erzählt von der Weltenesche Yggdrasil. Himmel, Erde und Unterwelt werden von dem heiligen Lebensbaum zu einer Einheit verflochten. Im Zentrum der Welt stehend, umschließt er den ganzen Erdball. Auch aus anderen Kulturen kennt man die Vorstellung eines solchen Lebensbaumes, der nicht nur das Universum symbolisieren sollte, sondern vor allem auch den Kreislauf von Werden und Vergehen. Deswegen verband er nach den Vorstellungen der alten Völker genau-

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so die lichten mit den dunklen Bereichen. So reichen die im Weltenbaum lebenden Geschöpfe von den Drachen der Unterwelt bis hin zu den Gottheiten der obersten Sphäre. Die Weltenesche, die alle Reiche miteinander vernetzt und vereint, zeigt uns eine ganz elementare Erkenntnis: Der Mensch ist eins mit der Erde, so wie die Erde und der Mensch eine energetische Einheit mit dem Kosmos bilden. Nicht nur in der Geomantie ist man überzeugt, dass die Erde ein Schwingungsfeld besitzt, das sich über die feinen Erdgitterlinien bemerkbar macht, die unsichtbar unseren Planeten überziehen. Geomanten suchen hauptsächlich Störfelder auf, um die Energiestrukturen des betreffenden Platzes zu harmonisieren. Dank ihrer Arbeit soll an diesem Fleck das Herz von Mutter Erde wieder im gleichen Takt schlagen wie das ihrer Menschenkinder.

Numerologische und astrologische Aspekte

Die 5 steht als hochenergetische Zahl für die Lebenskraft und die göttliche Einheit. Sie beschreibt den Mikrokosmos des Lebens, von dem wir alle ein Teil sind und untrennbar damit verbunden. Ebenso ist der Baum ein Sinnbild für die Schöpfung dieser Erde. Er stellt das weltliche Zentrum dar, von dem die vier Himmelsrichtungen ausgehen (Zentrum plus Richtungen ergeben wieder die 5). In sich geerdet, erstreckt er sich aus seiner Mitte hinaus in die Weite des Raumes. Planeten in Stier, Krebs, Jungfrau, Steinbock, 2., 4., 6. und 10. Haus ✷ Konstellationen von Sonne-Saturn, Mond-Saturn, MerkurSaturn, Mars-Saturn, Saturn-Jupiter ✷ Saturn am AC → Saturn erfüllt ähnliche Aufgaben wie das Haus. Über den Manifestationswillen hinaus geht es beim Baum um die sorgsame Fortführung des Erreichten sowie um die Werte und Traditionen, die sich darauf gründen. Häufig wird in der Literatur zur Numerologie die 5 dem Planeten Merkur zugewiesen. Zwischen Merkur, der überwiegend das Prinzip der Kommunikation und des Lernens vertritt, und der 5 des Baumes sind keine Übereinstimmungen vorhanden. Auch im Wesen der anderen 5er-Karten ist seine Qualität so gut wie gar nicht vertreten. Merkur passt dagegen eindeutig zu den Symbolen Reiter, Ruten, Schlange, Buch und Brief. Die Energie der 5 gemäß ihren alten zahlenmystischen Bedeutung kommt in allen Karten der Schlüsselzahl 5 zum Ausdruck.

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Der Baum im Spiegel des Tarot

Hohepriester (# 5): Wahrheit, Werte, Reife, Glaubensmuster Gut erkennbar ist die Verbindung zwischen dem Baum im Lenormand und dem Hohenpriester des Tarots. Allein die würdevolle und aufrechte Haltung des Hierophanten mit seinem heiligen Antlitz lässt keine Zweifel offen, dass er in seinem Glauben so fest verwurzelt ist wie ein Baum. Beide Bilder zeigen einen spirituellen Meister – einmal als Abgesandter der Menschheit und einmal als Stellvertreter aller pflanzlichen Wesen. Zudem sind beide Anhänger von Moral und traditionellen Werten.

Eremit: Reife, Geduld, Treue zu sich selbst Mäßigkeit: Ruhe, Heilung, Ganzheit, Wohlbefinden 7 der Münzen: Warten, Zufriedenheit, Passivität Ritter der Münzen: Grundlage, Erdung, Verantwortungsbereitschaft 6 der Kelche: Vergangenheit, Erinnerung, Tradition

Der Baum

im Überblick

Themen Baumorakel + Beständigkeit + Entspannung + Erdung + Erinnerung + Fortbestand Ganzheit + Geomantie + Gesundheitsthemen + Grund- und Glaubensmuster Grundlage + Grundmuster + Heilung + Holistische Energiearbeit + Kabbala Kraft + Kraftorte + Naturverbundenheit + Passivität + Reife + Ruhe + Tradition Umwelt + Verantwortungsbereitschaft + Vergangenheit + Wachstum + Wahrheit Warten + Werte + Wohlbefinden + Wurzelchakra + Zufriedenheit Figuren und Sinnbilder Baumgeist + Heilerin + Konfuzius (die Lehre von den geordneten Verhältnissen) Medizinmann + Meister + Mutter Erde + Wicca Apfelbaum + Arche Noah + Erde + fruchtbarer Boden + Ruhepol + Rune + Wald Wartezimmer + Weltenesche Yggdrasil + Wurzeln Eigenschaften abwartend + altmodisch + ganzheitlich + gesund + grundlegend + konservativ konstant + kraftvoll + natürlich + passiv + still + umfassend + universell verwurzelt + wachsend + wahrhaftig

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9 9Blumen Blumen Nachdem wir die Unterwelt verlassen haben, erscheint die lichte Gegenwart der Blumen nahezu wie ein Paradies. Auf blühenden Sommerwiesen genießen wir die sorgenlosen Sonnenseiten des Lebens. Keine Schöpfung dieser Erde könnte die Lebenskunst stilgerechter interpretieren als ein Meer aus Blumen. Ihre Kelche angenehm duftend, ihre filigranen Blütenblätter im Wind wiegend, ihre Farbenpracht betörend schön. Die Blumen im Lenormand sind ein herrliches Sinnbild für die Leichtigkeit des Seins. Doch nehmen wir das mit der Leichtigkeit nicht immer so leicht. In jungen Jahren schien alles so einfach zu sein. Wir fühlten uns wie schwerelos durchs Leben gleitend. Je älter wir werden, umso komplizierter wird es. Oder machen wir uns doch nur selbst das Leben schwer? Wie sagte Oscar Wilde so treffend: »Nicht das Leben ist kompliziert, wir sind es. Das Leben ist einfach, und das Einfache ist das Richtige.« Woran scheitert also der »easy way of life«, von dem wir gerne mehr hätten? An welchem Punkt sind wir von der Schaukel gesprungen und haben es fortan gemieden, von den Schwingen des Lebens sanft getragen zu werden? Fast jeder hatte Zeiten im Leben, die unbeschwert waren. Viele negative Erfahrungen und Einflüsse entfernten uns im Laufe der Zeit immer weiter von unseren Träumen und Wünschen. Wir fingen an, die vielen selbstverständlichen Dinge wie Vertrauen, Freundschaft, Liebe und Selbstwert mehr und mehr in Frage zu stellen. Statt Risiken einzugehen wie früher beim Klettern auf Bäume oder beim Trampen nach Italien, gehen wir heute lieber allem aus dem Weg, was wir nicht im Vorfeld genau abschätzen können. Mit zunehmendem Alter glauben wir weiser zu werden, aber finden trotzdem kein Patentrezept, um das Leben leichter zu nehmen. Kein Wunder also, dass unser Dasein eines Tages nicht nur eintöniger, sondern unter tatkräftigem Einsatz sämtlicher Abwehrstrategien und Schutzmechanismen vor allem schwieriger wird. Meistens nehmen wir uns nämlich die besten Chancen selbst weg und nicht das Leben, das wir gerne verklagen für das, was es uns vorenthält. Wir tun mehr dafür, das Schlechte zu vermeiden als das Gute zuzulassen. Genau deswegen ist das so schwer mit der Leichtigkeit. Bild links: Pierre-Auguste Renoir (1841 – 1919) – Die beidenSchwestern (auf der Terrasse), 1881

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All jene Dinge, die uns immer wieder Glück schenken, finden wir im Lenormand als blühendes Arrangement in den Blumen. Sobald wir sie erblicken, ist es an der Zeit, in unserer Vorstellung auf die wundervolle Sommerwiese zurückzukehren. Glückselig lassen wir uns mittenrein fallen und versinken für eine Weile in der köstlichen Süße des Lebens. Alles andere kann warten. Denn Glück ist keine Frage der Absolutheit, sondern eine des Augenblicks. Wir brauchen dafür keinen Zustand, in dem alles ausschließlich perfekt ist, sondern nur achtsame Wahrnehmung, die das Vollkommene im richtigen Moment erkennt.

Von der Zauberkraft der Blumen

Im Andersen-Märchen Die Schneekönigin sind zwei üppig wuchernde Rosensträucher Sinnbild für die verbindende Kraft zweier Herzen. Ihre Ranken entspringen Blumenkästen, die benachbarte Stadthäuser miteinander verbinden. Für die beiden Nachbarskinder Gretchen und Karl gibt es nichts Schöneres als darunter zu spielen und zu träumen. Eines Tages wird der Junge vom Splitter eines Zauberspiegels getroffen und verwandelt sich in ein kaltes, unnahbares und schimpfendes Wesen, das selbst die schönen Rosensträucher herabwürdigt. Bald darauf wird er von der Schneekönigin entführt und friert in ihrem Eispalast immer weiter ein. Gretchen macht sich auf den Weg, ihren Spielgefährten zu suchen. Dabei verweilt sie für einige Zeit im prächtig blühenden Garten einer weisen Frau; dort wird ihr die Zauberkraft der Blumen (Naturheilkunde) gelehrt. Sie tankt Wärme und Kraft. Das einzige, was an diesem Ort fehlt, sind die Rosen, die sie an ihren Freund erinnert hätten. Intuitiv spürt sie eines Tages deren Abwesenheit und beginnt um sie zu weinen. Plötzlich sprießen Rosen aus dem Boden und gestatten ihr, aus dem Garten zu verschwinden, um ihre Mission fortzusetzen. Schließlich findet sie den geheimen Ort, an dem Karl versteckt gehalten wird. Am Ende sind es ihre Tränen und die alten Lieder, die sein zu Eis erstarrtes Herz erweichen und ihn aus den Fängen der Schneekönigin befreien. Beide kehren – inzwischen erwachsen – in Liebe vereint nach Hause zurück. An diesem Märchen finde ich besonders schön, wie die Heilkraft der Blumen zum Ausdruck gebracht wird. Die Heilkräfte der Pflanzen, insbesondere vieler Blumenarten, sind seit Hildegard von Bingen weit bekannt. Als unterstützende Therapieform werden heutzutage Blütenessenzen wie die Bachblüten immer beliebter. Welches Symbol könnte dieses wundervolle Heilwesen aus dem Garten der Natur besser darstellen als die Blumen selbst?

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Im Garten der weisen Frau ermöglichen die wachsenden Rosen dem Mädchen die Erlösung aus der freiwillig gewählten Gefangenschaft im Zaubergarten. Der Anfang der Geschichte erzählt von Rosenbüschen, die beide Häuser wild wuchernd miteinander verbinden und so auch die Kinder darunter vereinen. Dieses Bild zeigt, wie wichtig und wunderbar es ist, zu teilen und damit etwas Einmaliges gemeinsam zu erleben. Auch die Blumen im Lenormand wollen uns erkennen lassen, was unsere Gemeinsamkeiten sind, eben, was wir mit anderen teilen können. Die Natur geht nahezu verschwenderisch mit ihrer üppigen Blumenpracht um und zeigt uns, dass für alle genug da ist, wenn wir die Fülle annehmen. Gretchen vergaß im Angesicht der Schönheit des Blumengartens für eine Weile, was ihr fehlte. Sie vergaß außerdem die Zeit, die inmitten all dieser wundervollen Wesen scheinbar stehenzubleiben schien. Blumen erinnern uns – wie die Zahl Neun übrigens auch –, dass wir Phasen der mühelosen Gelassenheit brauchen, Dugald Stewart Walker (1883 – 1937) – Die Schneekönigin

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um unsere Seele im Schoße der friedlichen Zeitlosigkeit wachsen zu lassen (dasselbe passiert während der neun Monate im Mutterleib). Wir werden getragen, wenn wir uns fallen lassen. Aus der Mythologie kennt man die neun Musen, von denen jede auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft über bestimmte Talente gebietet. Sie sind die Dienerinnen des Apollon, des Gottes des Lichtes, der Weissagung, der Poesie und Musik. Typische Bedeutungen der numerologischen Neun wie Kreativität, Selbstverwirklichung und Charme zeigen eine verblüffende Übereinstimmung mit der Aussagekraft der Blumen im Lenormand. In einem der schönsten Grimm-Märchen Jorinde und Joringel geht es, ähnlich wie in der Schneekönigin von Andersen, um zwei Liebende, die durch die Entführung der Erzzauberin auseinandergerissen werden. Jorinde wird in eine Nachtigall verwandelt und in einem Korb auf Nimmerwiedersehen ins Schloss der Zauberin gebracht. Joringel macht sich auf den Weg, sein Mädchen zu finden, und es treibt ihn in die Ferne. Erst hütet er sieben Jahre lang Schafe. Die sieben Jahre entsprechen der Phase der Schlange, in welcher die Schlüsselfigur ihren Geist schult und somit der Zauberin dank seiner gewonnenen Weisheit überlegener wird. Eines Tages hat Joringel einen Traum von einer wundersamen roten Blume mit einer Perle darin. Er weiß, er muss sie finden, um seine Liebste erlösen zu können. Nach neun Tagen findet er die besagte Blume endlich. Er kann damit Tür und Tor zum Schloss öffnen, seine Jorinde befreien und auch all die anderen verwunschenen Wesen, die darin gefangen waren. Die erlösende, heilsame Kraft der Blumen kommt in diesem Märchen auf zauberhafte Weise zum Ausdruck. Licht und Liebe können eben Wunder vollbringen.

Die eigenen Möglichkeiten zu voller Entfaltung bringen

Das große Geheimnis der Leichtigkeit liegt zudem in zwei kleinen, oft unterschätzten Schlüsselwörtern verborgen: Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Beide Qualitäten erblühen, wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen und unseren Wünschen und Bedürfnissen genügend Beachtung schenken. Und natürlich, wenn wir gleichzeitig auch das tolerieren und respektieren, was andere tun. Damit holen wir die üppige Sommerweide in unser Leben und laden gleichzeitig andere Menschen dazu ein, auf dieser fantastischen Spielwiese ebenso viel Freude zu haben wie wir selbst. Inspiriert und gestärkt durch die Schöpfungskräfte der Natur, können wir ein wahres Feuerwerk an Entfaltung und Selbstverwirklichung erleben. Der einfachste Weg zur Leichtigkeit führt über Kreativität. Als Teil dieser Schöpfung gestalten wir

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unsere eigene Bühne, auf der wir unsere angeborenen Talente ausleben können. Dabei spielt es keine Rolle, was wir tun. Alles, was zählt, ist die Freude daran und die Fülle, die wir damit in unser Leben bringen. Wer Vergnügen bei einer Sache hat, ist ganz von alleine erfolgreich. Die Früchte unserer Schaffenskraft dürfen wir dabei ruhig auch einmal selbst bewundern. Wer reich an Dankbarkeit für seine Möglichkeiten und Fähigkeiten ist, wird auch reich gesegnet mit Respekt und Anerkennung. Doch zunächst bedarf es unserer eigenen Zustimmung zu unserem Tun, einer echten Bejahung, so sein zu dürfen, wie wir sind. Selbst unsere Ecken und Kanten dürfen in der Schönheit eines selbst erschaffenen Werkes zum Ausdruck kommen. Gerade das Unvollkommene macht es besonders. Wir müssen dafür keine Künstler sein, sondern nur die Kunst verstehen, uns selbst zu leben und die Fähigkeit zum Staunen und zur Begeisterung zu bewahren. Der persönlichen Selbstausdruck folgt dann von ganz allein. Kreativität ist überall dort, wo wir mit Leidenschaft und Lachen dabei sind.

Farben und Fülle genießen

Nirgendwo finden wir im Sommer eine größere Farbenvielfalt als auf einem bunten Blumenfeld oder in einem schönen, altmodischen Bauernblumengarten. Farben senden uns auf unbewusster Ebene Signale, die eine seelische Wirkung erzeugen. In einem Raum, der in einem zarten Pastellton gestrichen ist, fühlen wir uns anders, als in einem Raum mit dunkler Brokattapete. Sogar blinde Menschen spüren die Auswirkung der Farben, wenn sie unterschiedlich gestrichene Räume betreten. Farben üben eine Kraft auf unser Wohlbefinden aus. Darum hat man einstmals in Ägypten Farbtempel zur Therapie von Kranken gebaut. Eine der spirituellen Lehren über die heilenden Botschaften der Far-

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