Krummhörn Besonders

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Eine Landschaft, die Menschen herausfordert


Menschen, die in der Krummhörn leben oder solche, die sich als Gäste in den Ferienorten wohlfühlen, sehen die Landschaft, die Dörfer, wie sie sich heute darstellen. Die Dorfkirchen, viele mit wunderbaren Orgeln, bilden die Brücke hin zu einer Vergangenheit, über die viel zu berichten ist. Gerade über diese historischen Orgeln ist hier mehr zu erfahren.

Auch das Tief, das zum Dorf hinführt, der nun binnenlands liegende Schlafdeich, die dicht an dicht stehenden Häuser und Höfe auf den Warften, alles das und vieles andere mehr hat seine Geschichte, die heute manchmal sehr verborgen ist. Durch das Erzählen wird Vergangenes wieder gegenwärtig. Wir sind sehr dankbar, dass so viele Menschen in der Krummhörn uns ihre Geschichten, ihre Geschichte erzählt haben. Aufgeschrieben und um manche Einzelheit ergänzt, entstanden Bilder einer Zeit, die zwar lange vorbei ist, aber doch immer noch nachwirken mag bei denjenigen, die heute in der Krummhörn leben oder als Gäste hierher kommen. Deshalb ist dies ein Buch über die Krummhörn, aber auch für die Krummhörn.


Krummhörn.Besonders. Herausgeber Freundeskreis des Krummhörner Orgelfrühlings e.V. Gesamtlayout Auguste Damaske, Titelfoto Otto Damaske, Krummhörn Druck und Einband Druckerei Bretzler Emden, ISBN-Nummer 978-3-00-059331-4

Inhaltsverzeichnis ‚Krummhörn.Besonders.‘ Einleitung Deich und Siel

Karl Bockelmann

Dörfer bauen Kirchen Karin Bockelmann, Karl Bockelmann Die Krummhörn und die Orgelkultur der Marschen Konrad Küster Die ‚gotische‘ Renaissance-Orgel in Westerhusen Jürgen Ahrend

„Mit Canälen, sowohl natürlichen als auch künstlichen, ist kein Amt reichlicher versehen wie das Pewsumer“ Loog- und Torfschiffahrt in der Krummhörn

Karin Bockelmann

Früher war’s geselliger Landwirtschaftliches Arbeiten in der Krummhörn

Karin Bockelmann

Helpen musst du immer in Huus Mädchen und Frauen in der Krummhörn

Karin Bockelmann

Weggehen und Ankommen Auswanderer und neu Ankommende in der Krummhörn

Karin Bockelmann

Bei Interesse daran, ein Buch gegen eine Spende zu erhalten, wenden Sie sich doch bitte an die untenstehende Telefonnummer bzw. Mailadresse.

Dr. Karin Bockelmann (1. Vorsitzende) Klaus Funck (stellvertr. Vorsitzender) Auguste Damaske (Schriftführerin) Rolf Weber (Schatzmeister) 26160 Bad Zwischenahn Eyhauser Ring 53 Tel.: 04403 - 939 632 / 0173 60 88 583 mail: drkarinbockelmann@web.de


Hier finden sich nun Ausschnitte aus allen im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Texten. Ausschnitt: Deich und Siel (Karl Bockelmann) Mit dem Bau der Warften waren zwar die einzelnen Siedlungsplätze gegen Hochwasser geschützt, nicht aber die tiefer liegenden Weide- und Ackerflächen. Als erste Schutzmaßnahmen gegen das Hochwasser in den Sommermonaten wurden zwischen den einzelnen Warften kleinere Wälle um die eigenen Acker- und Weideflächen errichtet, die dann später gemeinschaftlich zu Ringdeichen um größere Flächen verlängert wurden. Weil die für Ackerbau und Weide genutzte Fläche unter der Höhe des Meeresspiegels lag, musste das anfallende Niederschlagswasser in ausgedehnten Grabensystemen gesammelt und durch breitere Gräben, sogenannte Tiefs, jeweils zentral zur Deichlinie und dann über Siele in die Nordsee geleitet werden. …. Auf den so entwässerten und damit trockener liegenden Flächen konnten wesentlich höhere Erträge erwirtschaftet werden, mehr als doppelt so hoch wie auf dem Geestland. Als die Erträge zunehmend über den bäuerlichen Eigenbedarf hinausgingen, wurde die Marsch zum Exportland für Vieh und Getreide. Aber auch weitere Produkte aus der Marsch waren begehrt; Großabnehmer der schweren, vor allem für das Heer nachgefragten Wollmäntel waren z. B. der Hof Karls des Großen und das Kloster Fulda, das jährlich etwa 700 bis 800 Mäntel aus dem friesischen Raum bezog. Auch Wolltuche für andere Zwecke, Felle, Leder, Käse, getrockneter Fisch, Meersalz und aus Knochen und Horn hergestellte handwerkliche Produkte wurden ausgeführt. Für die küstennahen Handelswege wurden flachgehende Holzschiffe eingesetzt, die direkt an den großen Rund- und Langwarften wie Emden, Groothusen, Rysum oder Pewsum be- und entladen werden konnten.

Ausschnitt Dörfer bauen Kirchen (Karin und Karl Bockelmann) „Inzwischen ist so viel Schill gesammelt worden, dass mit dem Brennen begonnen werden kann. Wie das geht, haben einige Dorfleute sich an anderer Stelle beim Bau von Kirchen und Klöstern in der Umgebung schon abgucken können. Sie haben das nötige Brennmaterial herbeigeschafft, vor allem Grautorf von den Niedermooren am Geestrand. Nun gilt es die Muschelschalen mit genügend Torf dazwischen aufzuschichten, dann muss mit Grassoden außen gut abgedichtet werden. In den Abzugsschacht in der Mitte wird


das Feuer gelegt; das geht gut mit trockenem Reisig, der schnell brennt. Über den Schacht kann auch Torf nachgeschoben werden. Das alles muss mit großer Umsicht vor sich gehen, es darf auf keinen Fall zu viel Hitze erzeugt werden. Deshalb wechseln sich diejenigen, die schon bewandert sind mit dem Brennen, dabei ab, den Vorgang zu beobachten und einzugreifen, wenn es nötig erscheint. Es dauert mehrere Tage, bis der Schill gar ist, wie die Leute sagen, dann muss der Haufen nochmal einen Tag abkühlen, bevor die Soden entfernt werden. Jetzt haben sie den Muschelkalk, der später mit Wasser abgelöscht und wenn nötig mit Sand angereichert werden wird, und damit den Mörtel, den sie zum Mauern brauchen. Mit einem Mal ist es natürlich nicht getan, sie werden noch öfters Schill sammeln und brennen müssen, damit ihre Kirche so gebaut werden kann, wie es mit den Bauleuten überlegt werden wird. Solche Bauleute gibt es in der Krummhörn nicht, sie kommen aus südlicheren Gegenden, wo man schon viel länger Steine brannte oder aus dem benachbarten Groninger Land, wo es auch schon mehr Erfahrungen damit gibt, wie man Backsteine brennt und wie damit gebaut wird. Es ist gelungen, einen Ziegler mit seinen beiden Gehilfen ins Dorf zu holen; er kann die nötigen Anleitungen zur Herstellung der Backsteine geben und die Arbeit beaufsichtigen. Schon im letzten Herbst haben die Dorfleute tiefer liegende Kleierde freigelegt, abgegraben und gelagert. Jetzt soll mit dem Brennen begonnen werden; auch dafür ist einiges an Vorbereitung nötig. Meister Johannes, wie sie den Ziegler nennen, zeigt ihnen, wie sie die für die Steine vorgesehene Erde gründlich zerkleinern und vor allem durchmischen müssen. Das geht am besten, wenn der Kleiboden mit den Füßen getreten und durchgeknetet wird, wieder und wieder. Alle, die kräftig genug sind, können dabei helfen. Meister Johannes hat ein gutes Gefühl dafür, wieviel Sand noch zugefügt werden muss, auch wieviel Wasser, damit die Mischung die richtige Beschaffenheit hat für das Formen und Brennen. Sie darf nicht zu fett sein – der reine Kleiboden würde beim Brennen rissig werden und sich verformen – aber auch nicht zu sehr mit Sand abgemagert, dann würden die Steine nicht die notwendige Festigkeit haben.“ … Die Geschichte, die hier erzählt wird, könnte sich vielleicht so oder so ähnlich in einem der vielen Krummhörner Dörfer abgespielt haben, möglicherweise so um 1280, also vor ungefähr 750 Jahren. Manches ist bekannt, erforscht aus dieser Zeit, als der Kirchenbau in der Krummhörn Hochkonjunktur hatte; manches können wir uns dazu denken und ahnen doch, dass wir die ganze Vielfalt und vielleicht auch Kompliziertheit des Geschehens bei einem damaligen Kirchenbau nicht werden ausloten können. Wir wissen einiges über die Zeit


damals, über die Motive der Menschen in ihrem dörflichen Umfeld; rechtliche Ordnung, wirtschaftliche Verhältnisse und Handel und Wandel, geographische Gegebenheiten – vieles ist aufgezeichnet worden. Daraus lässt sich auch erschließen, wie und worin sich die friesischen Lande von ihren sächsischen und fränkischen Nachbargebieten unterschieden, ja unterscheiden wollten. Und natürlich sind es die Kirchen selber, die davon zeugen, dass Friesen in jener Zeit sich etwas vornahmen mit dem Kirchenbau, ihre Vorstellungen davon hatten, warum sie diese Kirche gerade an dieser Stelle haben wollten. Sie unternahmen dafür große Anstrengungen, gingen mancherlei Verpflichtungen ein, um ihr Ziel – die eigene Kirche im Dorf – zu erreichen. Deshalb handelt der eine Teil dieses Textes davon, wie es möglicherweise zugegangen sein könnte in der Zeit des Backsteinkirchenbaus in den Dörfern der Krummhörn, wie Menschen mit verschiedenen Voraussetzungen und Aufgaben, Talenten und Qualifikationen, Vorstellungen und Wünschen sich einer solch großen Aufgabe zugewandt und sie gemeistert haben mögen. Der andere, immer wieder dazwischengeschobene Teil des Textes zeichnet auf der Grundlage wissenschaftlicher Arbeiten einschließlich archäologischer Untersuchungen nach, was an Beschreibungen und Forschungsergebnissen überdiese Zeit zur Verfügung steht, wovon wir also wissen können. Klar: Mit einer solchen Art der Erschließung eines weit zurückliegenden Geschehens fordern wir Leserinnen und Leser heraus, sich mit uns auf einen ungewöhnlichen und ungewohnten Weg zu begeben. Es ist nicht ohne Risiko, so eine Form der Darstellung zu versuchen, aber eben auch reizvoll, sich soweit möglich in Menschen und ihr Handeln in ihrer Zeit hineinzudenken, in dieser Weise auf die damals Lebenden zu blicken, sie als Friesen in ihren zeitgenössischen Bedingungen wahrzunehmen. In ihrer Gemeinschaft – sei es im kleinen Rahmen der Dorfwarft, im größeren der Landesgemeinde oder darüber hinausreichend im Verbund aller friesischen Lande – haben sie die starken Grundlagen ihres Handelns hervorgebracht und bewahrt. Es sind nicht zuletzt ihre Kirchen, die sie uns deshalb hinterlassen konnten.

Ausschnitt: Die Krummhörn und die Orgelkultur der Marschen (Konrad Küster) Jahr für Jahr lockt die Krummhörn musikinteressierte Besucher an. Sie kommen entweder wegen der historischen Orgeln im Allgemeinen, die es in der Landschaft zu sehen und zu hören gibt, oder im Besonderen wegen derjenigen in Rysum. Denn die Orgel dort ist sozusagen ganz direkt ein Meilenstein der Musikgeschichte. Und so kann die Beschreibung dieser Orgelregion von diesem


Instrument ausgehen. Rysum erhielt schon vor der Mitte des 15. Jahrhunderts seine Orgel, und zwar tatsächlich die, die bis heute in der Kirche steht. Die Die Veranlassung für die Anschaffung gab die örtliche Einwohnerschaft, nicht also eine kirchliche Obrigkeit; dass sowohl der Pastor als auch der örtliche „Häuptling“ aktiv daran beteiligt waren, ist kaum anders zu erwarten, doch dafür, was sich in dem Baudatum spiegelt, ist diese Mitwirkung letztlich nicht elementar. Denn die Rysumer Orgel belegt ein Breiteninteresse an kunstvoller Musik, das in jener Zeit entfacht wurde, und zwar zumeist in den Städten (Italien, Deutschland, Niederlande). Dass dieses Interesse auf gleichem Niveau auch in den dörflichen Rahmen vordrang, wirkt erstaunlich. Doch, noch erstaunlicher: Rysum ist damit kein Einzelfall; die dortige Orgel ist weder der erste Beleg für dieses Interesse noch der einzige im Nordseeraum. So zeichnet sich ab, welche Geschichte hier zu erzählen ist. …. Obendrein aber liegt Orgelbau an den Ufern der Nordsee im buchstäblichen Sinne gar nicht nahe. Alles Material, das man für den Bau benötigt, musste über weite Strecken herangeschafft werden. Das gilt nicht nur für Zinn, das es nur in Cornwall gab, oder für Blei, das im Harz gefördert wurde. Auch das Eichenholz, das für Orgelbau geeignet war (knotenfrei, gerader Wuchs), hatte weite Wege zurückgelegt, in der Regel aus den Urwäldern im heute polnischweißrussischen Grenzgebiet. Aus der Region vor der jeweiligen Haustür stammten bestenfalls die Tierhäute (Leder), die für die Blasebälge und zum Abdichten der Windkanäle benutzt wurde. Schon die Gewichte, die man für die Präzisionssteuerung der Blasebälge benötigte, hatten ein Stück Weges hinter sich: Wem dafür behauene Feldsteine ausreichten, musste sie mindestens aus dem Geschiebe eiszeitlicher Moränen beschaffen (das es in den Marschen nicht gibt). Und nicht zuletzt: Orgeln sind Präzisionsinstrumente. Alles Holz und alles Metall, das man schließlich verarbeitete, musste dem Dauerangriff des Seeklimas gewachsen sein. Und zu den Folgen des Seeklimas gehört im weiteren Sinne auch der alljährliche Reparaturbedarf an den Blasebälgen, der durch Rattenfraß verursacht wurde.

Ausschnitt: Die ‚gotische‘ Renaissanceorgel des Jost Sieburg zu Westerhusen (Jürgen Ahrend) Im Untergehäuse wurde eine sehr alte Pedalklaviatur aufbewahrt, und zwar eine Oktave umfassend, jedoch mit 9 Tasten, also sogenannter kurzer Oktave, und wohl von Jost Sieborg stammend. Sie ist bewahrt geblieben und im Organeum in Weener zu sehen. Die Windanlage ließ wegen Undichtigkeiten


lautes Zischen hören. Ebenso undicht war die Windlade und entsprechend beklagenswert der Klang des Pfeifenwerkes. Die Einzelregister, für die noch ausreichend Wind vorhanden war, zeigten dagegen farbige Klänge. Der Blick in das Gehäuseoberteil ließ aus Blei gefertigte Pfeifenreihen erkennen. Zahlreiche Pfeifen waren in einem erbärmlichen Zustand. Der überwiegende Anteil des Pfeifenwerks schien aus der Vorgängerorgel zu stammen: Die Oxidschicht sah dunkler aus. Für uns war das alles sehr spannend – da kam etwas auf uns zu, was wir nicht kannten.

Ausschnitt: „Mit Canälen, sowohl natürlich als auch künstlichen, ist kein Amt reichlicher versehen, wie das Pewsumer.“ Zur Geschichte der Dorfschiffer und Torfschiffer (Karin Bockelmann) Wieviel die Fracht nach Emden und zurück kosten durfte, wann und wie oft der ‚Loogschipper‘ fahren musste, wie der Treidelpfad zu unterhalten war und von wem, wann in Emden Torfmarkt stattfand, wie das Torfmessen vor sich zu gehen hatte, was der Magistrat in Emden an Gebühren nahm, was für Pflichten die Anlieger der Tiefs hatten: Für so gut wie alles, was mit dem Transport von Gütern und Menschen zusammenhing, gab es in der Krummhörn erprobte Regeln, oft schon lange in Geltung, denn hier hing buchstäblich alles an den Wasserwegen und daran, dass es damit seine Ordnung hatte! Warum – das wird noch zu entdecken sein! Jede Gemeinde, jedes Kirchspiel in der Krummhörn hatte ein eigenes Regelwerk, an das sich bei Strafe alle zu halten hatten; darauf hatten die Schüttmeister zu achten, Gemeindevorsteher der damaligen Zeit. In den ‚Rollen‘ der Krummhörner Bauerschaften waren durchweg auch Bestimmungen und Vorgaben für die Schiffer aufgeführt, die ‚Loogschipper‘: „Bold jede Loog haar sien egen Schipper,“ so heißt es auf Platt, meist jedes Dorf hatte seinen eigenen Schiffer, manchmal sogar mehr als einen. … Warum die zahllosen Wasserwege überlebenswichtig waren für die Bewohner der Marsch, hing auch mit dem Zustand der Wege zwischen den Dörfern und zu den außerhalb gelegenen Hammrichhöfen zusammen: Von schlechten, in regnerischen Zeiten völlig ungangbaren Landwegen wird berichtet, der Kleiboden wurde bei Nässe weich und zäh und dann war kein Durchkommen mehr, schon gar nicht mit schwer beladenen Wagen. Friedrich Arends, mit den Verhältnissen in der Krummhörn aus eigener Anschauung und Erfahrung bestens vertraut, schrieb 1818 in ‚Ostfriesland und Jever, I‘ „…dass selbst in


trockenen Sommern manche Wege der Marsch schlecht sind. In feuchten Sommern, wie den beiden vorigen, ist die Unterhaltung sehr lästig und mehr mal muss dieselbe Arbeit wiederholt werden, da ein etwas anhaltender Regen sie gleich verdirbt. Im Winter ist auf der Marsch kaum fortzukommen, außer zu Wasser.“ Wenn der Boden nicht gefroren war, konnte man in der Regel von Oktober bis Mai Wagentransporte aus der Krummhörn nach Emden schlichtweg vergessen. …

Ausschnitt: ‚Früher war’s geselliger‘ - Landwirtschaft in früheren Zeiten! (Karin Bockelmann) Für die anfallenden Arbeiten im Haus, auf dem Hof, für Gemüsegarten und Küche - oft einschließlich der Verköstigung von zeitweise dazukommenden Arbeitskräften – waren die groot Maid und die lüttje Maid zuständig, auch die ein Mädchen, das gerade aus der Schule gekommen war. Wenn die Jungen oder Mädchen in Stellung gingen, bekamen sie eine Kleiderkiste mit Wäsche, Kleidungsstücken und anderen Dingen als Aussteuer von zuhause mit; ihre Kleidung wurde aber weiterhin im Elternhaus gewaschen. … Die auf dem Hof tätigen Landarbeiter kamen erst nach der ersten Mahlzeit des Tages, sie waren vor allem für das zuständig, was sich aus Landbestellung und – pflege, später im Jahr dann Erntearbeit an unterschiedlichsten Aufgaben und Tätigkeiten ergab. Zu Beginn des Arbeitstages – von sechs bis sechs war dessen Maß - lief es üblicherweise so ab: Der Baas gab vor, was gemacht werden sollte und wann. Und das galt dann! Der große Knecht teilte die Landarbeiter so ein, dass die Arbeit erledigt wurde und setzte wenn erforderlich auch die anderen Knecht und die Mägde vom Hof mit ein. Und er wusste auch, wie die Arbeiten durchzuführen waren und konnte die anderen anleiten. Viel Verstand und Erfahrung der Menschen, die dieses Land bearbeiten, wurde gebraucht und daran hat sich nichts geändert, das ist immer noch so. Dazu gehörte aber auch der Respekt voreinander und vor den Kenntnissen und der Arbeitsleistung der Menschen, den man aber nicht einfach einfordern konnte, sondern der sich im täglichen Umgang entwickeln und erhalten musste. … Das Dreschen war Winterarbeit in der Krummhörn, immer schon, so lange man zurückdenken konnte. Und je reicher die Getreideernte war auf dem fruchtbaren Land, desto mehr gab es damit im Winter zu tun. Diese Arbeit wird so beschrieben, dass sich die Dreschflegel fein überschwingen und auch alle nach dem Takt hintereinander. Gedroschen wurde auf der


Diele, auch schon mal mit dem Göpel, der von Pferden angetrieben wurde. Das war Brot und Lohn für die Landarbeiter, die im übrigen Jahr mit der Landbestellung und der Ernte beschäftigt waren. Sie waren es gewohnt, die Getreidesäcke auf dem Nacken nach oben auf den Kornboden zu tragen, wo das der Inhalt ausgebreitet und luftig gehalten werden musste, damit Schimmel und Ungeziefer vermieden wurden. … Erfahrene Drescher wussten mit den verschiedenen Getreidearten gut umzugehen; es wird berichtet, dass sie den Dreschflegel unterschiedlich führten, je nachdem, welches Getreide zu dreschen war und welchen Trocknungszustand es hatte. Und einer alleine konnte das schlecht machen, es brauchte immer mehrere. Geselligkeit war sozusagen inbegriffen. Weizen wurde exportiert, oft oft per Schiff nach Westfalen, Hafer nach Holland und Westfalen, blieb aber auch in Ostfriesland; dies galt ebenso Hackfrucht und Gemüse. Ostfriesland war immer Schwarzbrotland, deshalb wurde auch der Roggen hier verbraucht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dann vieles anders. Man kann sich gut vorstellen, wie groß die Aufregung überall war, als 1888 in Campen die erste Dreschmaschine in ein Krummhörner Dorf kam. 1851 bei der Weltausstellung in London war zuerst eine mit einer Dampfmaschine angetriebene Dreschmaschine zu sehen gewesen; 1867 hatte man sie schon bei einer Landwirtschaftsausstellung in Aurich besichtigen können, aber dass nun wirklich so ein Ungetüm – von mindestens vier kräftigen Pferden gezogen – auf einem der Plaatsen im Dorf aufgebaut wurde, das ließ viele staunen, manch einen wohl auch den Kopf schütteln. Es hatte seine Zeit gebraucht, bis sich Interessenten für diese ganz und gar neue Art des Dreschens zusammenfanden, bis geregelt war, wer die Maschine anschaffte und ihren Einsatz bestimmte und auch, wie sie zu bedienen war und wer das machen sollte oder konnte. In Campen hatten sich drei Bauern zusammengetan, um die Dreschmaschinen samt Lokomobil, einer fahrbaren Dampfmaschine, gemeinschaftlich zu erwerben und zu nutzen. Ausschnitt: Weggehen und Ankommen (Karin Bockelmann)

Innerhalb weniger Jahrzehnte verließ ungefähr ein Viertel der dort lebenden Menschen die Krummhörn – so wird angenommen, weil genaue Zahlen nicht verbürgt sind – darunter viele Landarbeiter, ebenso Bauernsöhne, Handwerker, Schiffer, ganze Familien mit ihrer Kinderschar, Alte und Junge, arme Schlucker und Begüterte, Wagemutige und Verzweifelte, solche, denen es mit der Abreise nicht schnell genug gehen konnte und solche, denen das Heimweh bald schrecklich zusetzte. Alle musste den Schritt wagen, sich entscheiden, gewiss von ihren ganz eigenen Vorstellungen getrieben, wie denn in dem fernen Land Amerika das Glück zu machen sei, das Leben besser werden könne als in der


Heimat; alle mussten sie mit neuen Herausforderungen fertig werden, hatten sich manches vielleicht auch anders vorgestellt. Und so mögen sie gedacht und gehofft haben: Ein junger Knecht „Hier wird es nichts mit mir, auch wenn ich mich noch so sehr darum mühe. Sicher, mit Pferden kann ich gut umgehen, weiß schon Bescheid über viele Aufgaben auf dem Plaats, über Saat und Ernte, kann was reißen bei der Arbeit. Aber was nützt mir das; es gibt für einen wie mich, dessen Familie immer nur Knechte, Mägde, Landarbeiter hervorgebracht hat, keine Aussicht, dass sich was ändert. Im Dorf erzählen sie, dass das in Amerika alles ganz anders ist. Da gibt es Land, gutes Land; wer es bis dahin schafft, der kann siedeln, kann es zu was bringen, kann eine Familie gründen und ernähren; das sagen die, deren Söhne und Brüder schon dort sind. Du kannst dich verpflichten als Kontraktknecht, wenn du kein Geld hast, damit du die Schiffspassage bezahlt kriegst und dann ist es erstmal hart, du schuftest, du quälst dich. Aber du bist in einem freien Land und wenn dein Dienst dann doch mal zu Ende ist, bist du selber auch frei, kannst gehen, wohin du willst. Und wenn du mutig und tüchtig bist, dann wirst du es zu was bringen wie so viele vor dir! Die Gedanken daran gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, ich mach das, kann gar nicht anders. Der Vater sieht es mir an, die Mutter sagt nichts, aber sie kennt mich so gut, ahnt schon, was ich mir vorgenommen habe. Ich muss raus hier aus der Enge, was wagen! Es wird wohl ein Abschied für immer sein, aber da muss ich durch, wenn ich weiterkommen will, weiter als hier auf jeden Fall.“ Ein Handwerker „Schlecht geht es mir nicht, ich bin im Dorf als Stellmacher doch wohl gut angesehen, es gibt viel Arbeit für mich; eine Braut hab‘ ich auch schon. Immerhin war ja auch mein Vater schon Stellmacher und davor sein Vater, einer in der Familie hat das Handwerk immer weitergeführt. Mit dem, was das Grabeland an Kartoffeln und Gemüse hergibt, mit Speck und Fleisch von den beiden Schweinen, die wir jedes Jahr schlachten, hat Mutter uns noch immer so einigermaßen satt gekriegt. Hungern mussten wir wohl nicht in unserer Familie. Aber nun kommen hier im Dorf Briefe aus Amerika an und einer, der mit mir die Schulbank gedrückt hat, schreibt: Leute wie du werden hier gebraucht! Glaub man, du hast ganz andere Möglichkeiten, was aus dir zu machen. Richtige Handwerker, auf die man sich verlassen kann, sind noch Mangelware in diesem Land und überall in den neuen Ansiedlungen brauchen die Farmer gute Wagen, die was aushalten. Es sind auch viele Trecks mit Planwagen unterwegs, immer weiter nach Westen; sie können den langen und gefährlichen Weg nur schaffen, wenn ihre Wagen durchhalten. Da kannst du mitziehen, reparieren, was unterwegs kaputt geht, später in der neuen Ansiedlung mit deinem Können ein gemachter Mann werden! Das alles geht mir immerzu durch den Kopf und ich stelle mir vor, wie es sein könnte in diesem fernen Land. Wenn nur auch meine Braut mitgeht! Wir haben oft darüber gesprochen, was in den Briefen steht und sie weiß, was sie will, ist tüchtig und vor allem hat sie den Mut, was zu wagen. Ich rede noch mal mit ihr, ob sie nun wirklich mit mir auswandern will. Wenn sie ja sagt, dann mache ich den Plan wahr! Die Eltern


werden verstehen, was ich vorhabe. Hier in der Familie und in der Werkstatt geht es ja weiter, mein jüngerer Bruder arbeitet schon mit dem Vater und mir zusammen, der kann bald meinen Platz einnehmen. Er will lieber im Dorf bleiben; die anderen Geschwister sind auch noch da, hier und im Nachbardorf verheiratet, so dass die Eltern im Alter nicht allein dastehen.“

… und Ankommen Wie nahmen Menschen einander wahr in dieser ersten Nachkriegszeit? Fünfzig Jahre nach der großen Flüchtlingswelle hat der Historiker Bernhard Parisius die Lebens- und Arbeitssituation der ‚Dütsken‘ in ihrer neuen Um-gebung umfänglich erforscht hat. Er hat u. a. ein in der Krummhörn ansässiges Ehepaar befragt zu dessen Erfahrungen mit den `Dütsken‘. Die beiden waren Kinder damals und auch fünfzig Jahre später immer noch beeindruckt: „Es war für uns eine gänzlich neue Welt. Erstmal, dass überhaupt Flüchtlinge da waren; und die Flüchtlinge, die waren auch viel weltoffener, die waren ganz anders als die Ostfriesen.“ Erwachsene sahen das oft nicht so, aber auch das sollte sich ändern. Man lernte einander besser kennen, junge Leute fanden Gefallen aneinander und die ersten Hochzeiten zwischen einheimischen und Flüchtlingen ließen nicht lange auf sich warten. Die Kinder gingen in dieselbe oft völlig überfüllte Dorfschule. Krummhörner Kinder wunderten sich über das Hochdeutsch der Fremden, die wiederum lernten oft schneller Platt als man es ihnen zugetraut hätte. „Dat scheelde en Bült – das machte viel aus“, so sehen es heute die Kinder von damals. Nicht lange und man konnte an der Sprache die einheimischen nicht von den meisten ‚dütsken‘ Kindern unterscheiden. Im Rückblick nimmt sich das Ankommen und Bleiben in der Krummhörn so aus: Es war kein freiwilliges Kommen und ein freiwilliges Aufnehmen war auch eher die Ausnahme. Das Leben hatte mehr Härten als Hilfen für die Neuen im Dorf. Aber es gab Arbeit auf den Höfen und wer mit anpackte, galt bald was. Wenn das Essen dazugehörte, auch für die Kinder, war das für‘s Überleben fast noch wichtiger als das wenige Geld, das es für die Feldarbeit gab. „West watt, du büst de flietigste Frau hier in’t Dörp!“ Daraus sprach die verdiente Anerkennung für die so Angesprochene, auch wenn für sie das Platt der Krummhörner ungewohnt blieb. Das eigene durch den Heimatdialekt gefärbte Deutsch beibehalten, die vertrauten Lieder weiter singen, die bald auch im Dorf ebenso beliebt waren wie der hier vorher nicht bekannte Mohnkuchen, aber auch ein neues Gefühl des Dazugehörens entdecken, das sich langsam entwickelte und gestärkt wurde durch gemeinsames Arbeiten und Feiern im Dorf mit Osterfeuer, Maibaum und all den anderen Festen, die Lust am Leben behalten trotz aller Beschwernisse – alles das machte doch


auch wieder Mut. Und es trug dazu bei, dass die Erinnerung an das, was man hatte aufgeben müssen, allmählich verblasste. Was die Generation der Kinder angeht, die oft gleich mit Platt aufwuchs, war es dann im Dorf klar: „Du hörst daarto!“ Und heute? Die Heimat von früher gibt es nicht mehr. Und auch das hat diese Erkenntnis besiegelt: Das Dorf, die Menschen, die vielen Gemeinsamkeiten – zuhause ist jetzt in der Krummhörn.

Ausschnitt: Helpen musst du immer in Huus (Karin Bockelmann) Da sitzen sie in einem der Krummhörner Dörfer in der Sonne, die kleinen Mädchen; so um die achtzig Jahre ist das wohl her. Sie spielen mit ihren Puppen, von der Mutter oder vielleicht auch der großen Schwester selbst gemacht aus Stoff, mit Haaren aus Wolle und aufgemalten Gesichtern. Sie reden eifrig auf die Puppen ein, wiegen sie auf dem Schoß, ziehen ihnen die Kleidchen an und aus; auch die sind selbst genäht aus ‚Pupplappen‘, kleinen Stoffresten, die beim Nähen der Kleider im Haus übrig waren. Im Dorf, ‚in’t Laug‘, geht es nun im Frühjahr wieder los mit dem gemeinsamen Spiel der Kinder auf der Straße: Hinkjebaan spielen, also eine Scherbe mit dem Fuß durch verschiedene Felder schieben, knickern mit selbst gemachten und bemalten Knickern, aus Ton oder extra schön klein und metallisch glänzend, mit drei Bällen jonglieren, mit einem Ball ‚von eins bis zehn‘ an die Wand werfen, ‚haupeln‘, also ein Rad mit dem Stock auf der Straße treiben, Tau springen, ‚Haske dör’t Laug‘, wobei die Kinder entweder Jäger oder Hasen sind, Kriegen mit ‚Anschlag bi’t Klocktoorn‘, ‚Schlootje springen‘, ‚Dreeangel’, ‚mit Tüntje dör’t Laug‘, einem kegelförmigen Holz, das mit einer Schnur geschickt getrieben wird; für die gemeinsamen Spiele gibt es genaue Regeln, die kennen alle Kinder. Und alle spielen zusammen, die Kinder aus dem Dorf, auch die von den größeren Höfen, aber nur, bis die Bauernkinder auf die ‚hohe Schule‘ kommen. Dann ist es mit dem gemeinsamen Spielen vorbei, es scheint, dass sich das nun nicht mehr so recht schickt. … Nach Ostern geht es auch für die Sechsjährigen in die Schule. Die Einschulung und die ersten sechs Wochen in der Schule werden mit getrockneten Pflaumen versüßt; dafür geht der Lehrer auf den Dachboden, um ‚den Pflaumenbaum zu schütteln’, wie er sagte. Die Kinder glauben ihm das, wie sie ihm überhaupt so ziemlich alles glauben. Dass die Pflaumen ein Lockmittel sind, damit sie auch bestimmt am nächsten Tag wiederkommen, werden sie erst viel später verstehen. Dabei sind auch hier die Regeln klar: Die Mütter bringen dem Lehrer bei der Einschulung eine Tüte mit getrockneten Pflaumen mit, damit die neu


eingeschulten Kinder dann am Ende jedes Schulvormittags ein paar davon bekommen können. Aber das wissen die Kleinen noch nicht, sollen es auch nicht wissen. Sie kommen mit Tafel, Griffel, Schwamm und Tafellappen in die Schule; es wird natürlich kontrolliert, ob alles ordentlich und sauber ist. Beim Schreiben führen die Großen den Erstklässlern die Hand, damit die Buchstaben richtig und schön auf die Schiefertafel kommen. Und auch daran müssen die Kleinen sich gewöhnen: In der Schule wird hochdeutsch gesprochen und es wird auch verlangt, dass man ‚Herr Lehrer‘ sagt und ‚Sie‘. Zu Hause sprechen die Kinder selbstverständlich weiter Plattdeutsch. Bevor es um acht mit der Schule losgeht, stellen sich alle in Reih und Glied vor dem Schulhaus auf. Dann geht es hinein; die Sitzordnung ist festgelegt. Vorne sitzen die Mädchen, hinten die Jungen, die jüngeren jeweils in den Bänken vor den älteren. Der Schultag beginnt und endet mit dem Schulgebet, wobei das Morgengebet jeweils von einzelnen Schulkindern im täglichen Wechsel vorgetragen wird. Auch Jahrzehnte später werden sie es noch auswendig hersagen können: „Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie sanft hab ich geschlafen die Nacht. Hab Dank, Du Vater im Himmel mein, dass Du auch werdest bei uns sein. Amen.“


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