Sinfoniekonzert: 1923 I Komische Oper Berlin

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1923

E I N D O K U M E N TA R I S C H E S S I N F O N I E KO N Z E R T




inhalt PROGRAMM

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DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

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1923 – MUSIK IN EINEM JAHR DER EXTREME von Tobias Bleek

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BIOGRAFIEN

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In a nutshell

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L’essentiel

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Özet bilgi

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GLOSSAR

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IMPRESSUM

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VORSCHAU

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F R E I TA G , 8. D E Z E M B E R 2 02 3

EIN DOKUMENTARISCHES SINFONIEKONZERT

1923 DIRIGENT

James Gaffigan KO N Z E R T I N S Z E N I E R U N G U N D C O N F É R E N C I E R

Iñigo Giner Miranda SOPRAN

Mirka Wagner S C H AT T E N S P I E L U N D S P R E C H E R I N N E N

Cathrin Romeis, Vera Kardos V I O L I N E Christina Brabetz K L AV I E R Mark McNeill

V I O L O N C E L L O Felix Nickel

D R A M AT U R G I E Maximilian Hagemeyer

S C H AT T E N B A U U N D L AT E R N A M A G I C A Àngela Riviera

Es s p i e lt d a s Orc h e st e r d e r Ko m i sc h e n Oper Berl in .

Einführungsgespräch 45 min vor Beginn im Foyer Dauer: ca. 90 min keine Pause #KOBSiKo


PROGRAMM

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PROGRAMM O T T O R E U T T E R [1870 –1931] »Es geht vorwärts« G A B R I E L FA U R É [18 45 –19 24] Alleg r o ma n on trop p o aus dem Trio d-Mo l l fü r Vi o l i n e , Vi o lo n cel l o und Kl avier, op. 1 2 0 D A R I U S M I L H A U D [18 9 2 –19 74] La Cr éation d u mon d e R O B E R T S E I D L [18 6 5 –19 2 7 ] »Wi r v ersaufen unsrer Oma ihr kl ein Häu sc he n « K U R T W E I L L [190 0 –1950 ] Anda nt e n on trop p o – Allegro molto aus d e m Qu o d l i b e t WA LT E R KO L L O [187 8–1940 ] »Wa s e ine Frau im Frühl ing träumt« au s d e r Op e re t t e Ma ri e t t a H U G O H I R S C H [18 8 4–19 61] »Wer w ird denn w einen, w enn man ause i n a n d e r g e ht « G E R M A I N E TA I L L E F E R R E [18 9 2 –1983] Pa v a n e aus Le Marc h an d d ’oiseaux D M I T R I S C H O S TA KO W I T S C H [19 06–19 7 5] Anda nt e aus dem Trio Nr. 1 c-Mol l für Vi o l i n e , Vi o l o n c e l l o un d Klavier, op. 8 B É L A B A R T Ó K [1881–1945] Ta n z-Suite Sz 7 7

Lassen Sie de n Konze rta be nd im Ansch lu ss im Fo y er m it L iv em u sik aus den 1920 e r Ja hre n a u sklinge n! Es spielen Dan iela Br au n ( Vi o l i ne), Ra lf Te m plin (Gita rre), Arn u lf Ballh o r n (Ko nt r abass) u n d Fr an k Schulte (Kla vie r).


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• Mit dem heutigen Sinfoniekonzert widmet sich das Orchester der Komischen Oper Berlin ganz dem Musikjahr 1923. In der Konzertinszenierung von Iñigo Giner Miranda verschmelzen die verschiedensten musikalischen Ausprägungen dieses Jahres mit historischen Schilderungen des alltäglichen Lebens: von Tagebucheinträgen über Zeitungsreportagen bis zur ersten Radiosendung! • Den musikalischen Rahmen unter der Leitung von Generalmusikdirektor James Gaffigan spannen die zwei umfangreichsten Orchesterwerke des Abends, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Darius Milhauds jazz-aufgeladene La Création du monde zu Beginn sowie Béla Bartóks opulente Tanz-Suite als Abschluss. Zwischen diesen beiden Werken entspinnt sich eine musikalische Momentaufnahme, die von Kurt Weills und Dmitri Schostakowitschs Frühwerken über Gabriel Faurés letztes Werk bis hin zu unbekannten Entdeckungen etwa von Germaine Tailleferre reichen. Von großer Sinfonik über Kammermusik bis zum Gassenhauer. • Nachdem bereits 1922 als Krisenjahr wahrgenommen wurde, lagen in der deutschen Bevölkerung alle Hoffnungen auf einem besseren Jahr 1923. Doch sie wurden schwer enttäuscht: Inflation, Ruhrbesetzung und Putschversuch sollten später das kollektive Gedächtnis prägen, »ein deutsches Trauma«, wie es der Historiker Mark Jones rückblickend nennt. • Doch wie immer im Schatten von großen politischen Krisen, gibt es auch einen Alltag in der Bevölkerung dahinter, der sich seinen Weg bahnt. Seien es diffuse Zukunftsängste, inflationsbedingte horrende Lebensmittelpreise und ein unrentables Konzertleben, das selbst Aufführungen von Spitzenorchestern zu Kassengift werden lässt. • Genauso zerrissen wie die politische und gesellschaftliche Situation stellt sich das musikalische Jahr 1923 dar: Die transatlantischen Verbindungen lassen Einflüsse aus Nord- und Südamerika in das europäische Musikleben schwappen, große Romantik hat genauso ihren Platz wie kühne Moderne, klassizistische Rückbesinnungen neben fetziger Unterhaltungsmusik. Es gibt nicht den einen roten Faden im Musikjahr 1923, sondern das panoptische* Nebeneinander von Stilen und Richtungen bildet den Klang des beginnenden 20. Jahrhunderts.

* Lost in translation? Mehr dazu im Glossar auf S. 24

RU D AB S RWI KI C _G HET N I GRSET E I N K Ü R Z E

Das wichtigste in Kürze


1923 – M U S I K I N E I N E M J A H R D E R E X T R E M E

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1923 Musik i n e i n e m Jah r der E xt re m e von Tobias Bleek

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as für ein Jahr! Am 31. Dezember 1922 notiert die passionierte Tagebuchschreiberin Hedwig Pringsheim: »Möge 1923 besser werden, als dies nach jeder Richtung schlimmste 1922. Amen!« 365 Tage später resümierte sie lapidar: »Adieu 1923; du warst nicht schön« und setzte danach zwei lange Gedankenstriche. Zwischen Pringsheims emotionsgeladenem Stoßgebet und ihrem lakonischen Rückblick liegt eine Zeit multipler Krisen, in der Deutschland an den Rand des Abgrunds geriet. Ein Jahr der Extreme, das sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt hat und das zugleich eindrucksvoll vor Augen führt, dass Musik keine weltentrückte Kunst ist, sondern eine ästhetische, kulturelle und soziale Praxis, in der sich die Erschütterungen der Zeit auf vielfältige Weise widerspiegeln. Im Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, und Musik wurde im Rahmen des sogenannten »passiven Widerstands« zu einem wirksamen Mittel des politischen Kampfes. Im Zuge der Hyperinflation löste sich das Geld gleichsam in Luft auf. Die gesellschaftliche Ordnung kam ins Wanken, und auch das deutsche Musikleben befand sich schon bald im Ausnahmezustand. In Bayreuth machte der 34-jährige Adolf Hitler wenige Wochen vor seinem gescheiterten Putschversuch der Familie Wagner seine erste Aufwartung. Und in Berlin begann auf dem Höhepunkt der politischen und wirtschaftlichen Krise am 29. Oktober mit der ersten Funkstunden-Sendung das Zeitalter des öffentlichen Rundfunks. Aber auch außerhalb Deutschlands gerieten die Musik und das kulturelle Leben in den frühen 1920er Jahren ins Taumeln: zwischen Krise und Aufbruch, Abschottung und Austausch, dem sehnsüchtigen Blick zurück und neuer Dynamik. In den USA spielten afroamerikanische Musiker:innen wie Bessie Smith oder King Oliver’s Creole Jazz-Band unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Rassentrennung ihre ersten Platten ein. In Budapest setzte Béla Bartók mit einem Orchesterwerk ein musikalisches Zeichen gegen den Nationalismus der Nachkriegsjahre. In Paris rührte Igor Strawinsky mit einem Ballett über altrussische Hochzeitsrituale die russische Exilgemeinde zu Tränen und schockierte Teile der Avantgarde wenig später mit einem neoklassizistischen Bläseroktett. In Wien vollendete


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DIE ZEIT AUF DIE MELODIE GEBRACHT »Die deutsche Reichsmark tanzt: wir tanzen mit! Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin.« Im Alter von 16 Jahren hatte Klaus Mann aus der privilegierten Perspektive einer hochangesehenen Bürgerfamilie beobachtet, wie die Welt zunehmend »aus den Fugen« geriet. Knapp zwei Jahrzehnte später blickte der Enkel von Hedwig Pringsheim aus dem amerikanischen Exil auf den »makabren Jux der Inflation« zurück und konstatierte: »Ein geschlagenes, verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz.« Der Berliner Schriftsteller und Kulturhistoriker Hans Ostwald hat die Musik, die das Tanzfieber befeuerte, in seiner Sittengeschichte der Inflation (1931) eindrücklich beschrieben. Für ihn stand fest, dass die Schlager und Tanzlieder der frühen 1920er Jahre das spezifische Lebensgefühl dieser verrückten Zeit unmittelbar zum Ausdruck bringen: »Nichts kann ein besseres Bild vom Wesen und der Verfassung der Tänzerinnen und Tänzer und damit auch der Gesamtbevölkerung geben, als die Lieder, die in den Sälen […] Bars und den Kaffeehäusern von den Jazzkapellen [gespielt], in der Küche von den Dienstmädchen beim Abwaschen mitgesungen und auf der Straße von den Jungen gepfiffen werden.« Tatsächlich gab es eine Vielzahl von Liedern, die in unterschiedlichen Registern direkt auf das Zeitgeschehen Bezug nahmen. Die Palette reichte dabei von satirischen Chansons bis zum vulgären Trinklied. Im berühmten Kabarett Nachtlicht in Berlin-Mitte und auf Schallplatte trug der gefeierte Komiker und Chansonier Otto Reutter seine Lieder über die Absurditäten des Alltags in Zeiten der exponentiellen Geldentwertung vor. »Es geht vorwärts – es geht vorwärts« lautete der ironische Refrain einer seiner beliebtesten Nummern. Eine weitere Hymne der Inflationszeit war »Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen … und die erste und die zweite Hypothek«. In einer ebenso

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Arnold Schönberg seine ersten Zwölftonwerke und setzte sich gegen den wachsenden Antisemitismus zur Wehr … Eine Liste, die sich beliebig fortsetzen ließe und die vor Augen führt, wie vielgestaltig die musikalische Welt im Jahr 1923 war. Bereits die Zeitgenossen sahen in dieser »Vielfalt und Verzweigtheit« ein charakteristisches Merkmal der Epoche. So prognostizierte der Komponist und Musikwissenschaftler Egon Wellesz 1924, »späteren Generationen« werde die jüngste Vergangenheit als »eine der merkwürdigsten, wenn nicht reichsten Epochen« erscheinen, »[d]enn man kennt kaum eine andere in dem ganzen Verlauf der abendländischen Musik, in der so viele, scheinbar disparate und auf verschiedene Voraussetzungen beruhende Werke entstanden sind«. Im heutigen Sinfoniekonzert lässt sich diese »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« unmittelbar erleben: die Mannigfaltigkeit der Strömungen, das Nebeneinander unterschiedlicher Stile, aber auch die offensichtlichen oder verborgenen Verbindungen zwischen verschiedenen Musiken.


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scharfsinnigen wie ironischen Interpretation des ursprünglich für den Kölner Karneval verfassten Gassenhauers bemerkte Kurt Tucholsky in der Weltbühne: »Das kleine Lied enthält klipp und klar die augenblickliche volkswirtschaftliche Lage: Wir leben von der Substanz.« Gesungen, gegrölt, geträllert oder geschmettert wurde das Stimmungslied laut Hans Ostwald nicht nur in Kneipen und auf Straßen, sondern auch von »würdigen Gästen auf Silberhochzeiten« oder von Eltern und Kindern »bei der abendlichen Heimkehr von sonntäglichen Familienausflügen«. Die wohl größte Gruppe bildeten jedoch jene Schlager, die um die Liebe in Zeiten wirtschaftlicher, politischer und mentaler Instabilität kreisten. Hierunter fielen Operettenhits wie »Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht, / Wenn an der nächsten Ecke schon ein anderer steht?« aus dem »Schwank« Die Scheidungsreise (1919) von Hugo Hirsch (Musik) und Leo Walther Stein (Texte) oder die Nummer »Und zum Schluss … schuf der liebe Gott den Kuss« aus Hirschs im Februar 1923 in Berlin uraufgeführter Erfolgsoperette Der Fürst von Pappenheim. »Sollte auch die Erde beben, unsre Mädels küssen eben«, heißt es dort voller Zuversicht. Auf den Punkt gebracht wurden damit Erfahrungen, die Sebastian Haffner in seinen eindrucksvollen Erinnerungen Geschichte eines Deutschen mit der Formel eines »neuen Realismus der Liebe« beschrieben hat: »Überall war jeder mit der Liebe beschäftigt mit Hast und Lust. Ja, die Liebe selbst hatte einen inflationären Charakter angenommen. Die Gelegenheit musste ergriffen werden.« Ein romantischeres Liebeskonzept vermittelte die Operette Marietta mit Musik von Walter Kollo. Auch wenn es im Verlauf der »Weihnachtsneuheit des Metropol-Theaters«, die am 22. Dezember 1923 im Vorgängerbau der Komischen Oper Berlin in der Behrenstraße uraufgeführt wurde, zu allerlei Verwechslungen kam, fanden sich am Ende die richtigen Paare. Mit der Nummer »Was eine Frau im Frühling träumt, ist ach so dumm und ungereimt« landeten der 45-jährige Komponist und sein 19-jähriger Sohn, der den Text verfasst hatte, einen Hit. Und die Berliner Börsen-Zeitung bemerkte in der Uraufführungskritik lapidar, dass »die Operette nun endgültig die herrschende Theatergattung geworden« sei. GLEICHZEITIGKEIT DES UNGLEICHZEITIGEN I: ZWEI KLAVIERTRIOS Wie vielgestaltig die musikalischen Welten des Jahres 1923 waren, lässt sich auch innerhalb einer Gattung beobachten. Am 12. Mai 1923 feierte man in Paris den 78. Geburtstag von Gabriel Fauré mit einem Hommage-Konzert. Auf dem Programm stand die Uraufführung des Klaviertrios in d-Moll – eine kammermusikalische Besetzung, für die der berühmte französische Komponist zuvor noch nicht geschrieben hatte. Für Fauré war die Arbeit an seinem vorletzten Werk eine enorme Herausforderung. Fast ertaubt und halb erblindet, hatte er sich aus der Welt immer weiter zurückgezogen, litt an Depressionen und kämpfte zugleich auch mit einem Nachlassen seiner


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GLEICHZEITIGKEIT DES UNGLEICHZEITIGEN II: KOMPONIEREN IM JAZZ-AGE In ganz anderen musikalischen Welten bewegte sich am Jahresanfang Darius Milhaud. Mit einem 160 Meter langen Ozeandampfer war der 30-Jährige in die USA gereist, um dort neue französische Musik zu präsentieren und das amerikanische Publikum für seine eigenen Werke zu begeistern. Doch schon kurz nach der Ankunft machte der jazzbegeisterte Komponist eine überraschende Entdeckung. Im New Yorker Stadtteil Harlem hörte er eine Musik, die ihn fesselte und dazu veranlasste, sein Schlafpensum drastisch zu reduzieren. Wann immer er konnte, brach er abends nach Harlem auf,

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Schaffenskraft. »So nimmt man Abschied, Stück um Stück«, bemerkte er in einem Brief an seinen Sohn wehmütig. Und seinem Verleger, der ihn Anfang 1922 zur Komposition eines Klaviertrios angeregt hatte, schrieb er nach einigen Monaten resigniert: »Ich habe in all der Zeit hier noch keine zwei brauchbaren Noten geschrieben … Ich tue nichts als ein wenig lesen, Besuche empfangen – und von früh bis spät meine schöne Nachbarin, das Mittelmeer betrachten.« Erst im Verlauf des Sommers löste sich der Knoten und Fauré gelang es, in den französischen Alpen und in Paris die drei Sätze seines Klaviertrios zu schreiben. »Die Diskretion der verwendeten Mittel und das Maß in der Lyrik verhindern, dass seine Stimme altert«, schrieb Darius Milhaud nach Faurés Tod im November 1924 bewundernd über dessen Spätwerk: »Er behält die gleiche Jugendlichkeit und Zärtlichkeit, aber reiner und schlichter.« Rund 2.700 Kilometer nordöstlich von Paris versuchte sich der um sechs Jahrzehnte jüngere Dmitri Schostakowitsch im Herbst 1923 in derselben Gattung. Unter extrem schwierigen Bedingungen – der Vater war im vorangegangenen Jahr gestorben, die wirtschaftliche Lage desolat und die politische Situation katastrophal – studierte der hochbegabte Musiker am Petersburger Konservatorium und nahm zugleich allerlei Gelegenheitsarbeiten an, um zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen. In seinem ersten Kammermusikwerk, dem einsätzigen Klaviertrio op. 8 in c-Moll, scheint der 17-Jährige eine Gegenwelt zu diesen prekären Zeit- und Lebensumständen zu entwerfen. So sind die Bezüge zur Ton- und Ausdruckssprache des 19. Jahrhunderts in vielen Passagen unüberhörbar. Schaut man allerdings etwas genauer hin, zeigt sich die Originalität des hochexpressiven Werks. So erinnern die abrupten Einschnitte und das collageartige Nebeneinanderstellen verschiedener musikalischer Szenen an filmische Schnitttechniken. (Während seiner Studienzeit arbeitete Schostakowitsch zeitweilig auch als Stummfilmpianist.) Zugleich klingt im Trio bereits jene Doppelbödigkeit an, die schon bald zu einem Markenzeichen seiner Musik werden sollte: das Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Ausdruckscharaktere und das Spiel mit Ironie, Überzeichnung und parodistischen Elementen.


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durchstreifte dort zum Teil bis 5 Uhr morgens »Bistrots«, in denen afroamerikanische Bluessängerinnen auftraten und besuchte Clubs, in denen sich Mitglieder schwarzer Bands nach ihren Auftritten versammelten, um in Jam-Sessions gemeinsam zu spielen. »Es ist unerhört«, berichtete er am 9. Januar 1923 einem jazzbegeisterten Freund nach Paris: »Geschminkte schwarze Bluessängerinnen singen mit metallischer Stimme, und die Jazz-Improvisationen sind einfach wundervoll. Ich träume davon!« Dass diese Erfahrungen auch für Milhauds Schaffen nicht folgenlos blieben, zeigte sich schon bald nach seiner Rückkehr. Gemeinsam mit dem Poeten Blaise Cendrars und dem kubistischen Maler und Bildhauer Fernand Léger schuf er das Ballett La Création du monde. Die Grundlage des knapp 20-minütigen Bühnenwerks bilden afrikanische Schöpfungsmythen. Verarbeitet werden sie von drei europäischen Künstlern, die wie viele ihrer Zeitgenossen von kolonialen Denkmustern und stereoptypen Afrikabildern beeinflusst waren. Bei der ungewöhnlichen Besetzung des Werks – 17 Soloinstrumente, darunter ein Altsaxophon sowie Schlagzeug – ließ sich Milhaud vom Orchester des afroamerikanischen Broadwaymusicals Liza inspirieren, das er in New York gehört hatte. Musikalisch verbindet das Werk die Jazzbegeisterung des Komponisten mit seiner Liebe zu Bach und schlägt so eine Brücke zwischen ganz unterschiedlichen musikalischen Welten. Deutlich zu hören ist dies in der energiegeladenen Jazz-Fuge, die auf den getragenen Werkanfang folgt. Kurt Weill hätte Milhauds Bezugnahme auf Jazz damals vermutlich äußerst skeptisch beäugt. Der Komponist der Dreigroschenoper und zahlreicher Erfolgsmusicals stand in den frühen 1920er Jahren noch ganz unter dem Einfluss Ferruccio Busonis und bewegte sich in dessen elitärem Schülerkreis. Im Juni bemerkte der 23-Jährige in einem Brief an den verehrten Meister über die Jazzbegeisterung eines anderen Kollegen naserümpfend: »Ich fürchte, dass Hindemith schon etwas zu tief ins Land des Foxtrotts hineingetanzt ist.« Zur selben Zeit wurde Weills Orchestersuite Quodlibet in Dessau uraufgeführt. Das Werk ist eine Konzertfassung des Balletts Zaubernacht, einer märchenhaften Kinderpantomime, die den phantasievollen Umgang des jungen Komponisten mit dem Klangmedium des Orchesters eindrucksvoll demonstriert und zugleich als Hommage an Busoni verstanden werden kann. EIN TANZ UM REPRÄSENTANZ Im August 1923 veranstaltete die Internationale Gesellschaft für Neue Musik in Salzburg ihr erstes Kammermusikfest. Ziel der im Vorjahr gegründeten Initiative war die Förderung »zeitgenössischer Musik aller ästhetischer Richtungen und Tendenzen« und zwar »ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder politische Ansichten ihrer Mitglieder.« Ein mutiges Programm in einer Zeit, in der die Erblasten des Ersten Weltkriegs das Leben und Denken der Menschen in vielen Teilen Europas maßgeblich prägten und das Gift eines übersteigerten Nationalismus im Musikbetrieb


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KOMPONIEREN UND KULTURELLER AUSTAUSCH IN ZEITEN DES NATIONALISMUS Während sich in Deutschland im November 1923 die Ereignisse überschlugen, feierte man in Ungarn den 50. Jahrestag der Vereinigung der Städte Buda und Pest zur Haupt- und Residenzstadt Budapest. Ein willkommener Anlass zur nationalen Selbstvergewisserung, denn die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren auch in Ungarn Krisenzeiten. Nach dem Untergang der Habsburger Doppelmonarchie hatte der einstige Vielvölkerstaat zwei Drittel seines Territoriums und 13 Millionen Einwohner:innen verloren. Die wirtschaftliche und politische Situation war instabil, die Gesellschaft gespalten und die Lebensbedingungen vieler Menschen desaströs. Für das Festkonzert zum Stadtjubiläum sollte Béla Bartók auf Wunsch des »ultra-christlich-nationalen« Stadtrats ein neues Stück schreiben – eine »pikante Geschichte«, wie der internationalistisch eingestellte und mit linken Strömungen sympathisierende Komponist in einer privaten Mitteilung erklärte. Bartók machte gute Miene zum bösen Spiel und nahm den Auftrag an. Mit der Tanz-Suite schrieb er allerdings ein Stück, das die kulturpolitischen Absichten der Auftraggeber auf geniale Weise durchkreuzte. In der nationalen Presse wurde das Orchesterwerk als »Offenbarung der ungarischen Seele« gefeiert: »Das Lächeln, die Lautheit und das Berührende

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nach wie vor sein Unwesen trieb. Schaut man allerdings etwas genauer hin, so fällt auf, dass die angestrebte Pluralität und Gleichberechtigung nicht auf allen Ebenen existierte. So traten Frauen auf dem von Männern organisierten Festival nur als Interpretinnen in Erscheinungen. Von 36 Werken, die in sechs Konzerten aufgeführt wurden, stammte kein einziges von einer Frau. Dabei hätte es durchaus Kandidatinnen gegeben. In Großbritannien brachte die 65-jährige Ethel Smyth Anfang Juni ihre Ballettoper Fête Galante zur Aufführung – zunächst in Birmingham, dann im berühmten Londoner Opernhaus Covent Garden. In den USA hatte die einflussreiche Mäzenin Elizabeth Sprague Coolidge erstmals einen Kompositionsauftrag an eine Frau vergeben und Rebecca Clarke dazu animiert, eine Rhapsody für Cello und Klavier zu schreiben. Und in Paris präsentierte die 31-jährige Germaine Tailleferre Ende Mai 1923 ihr neues Ballett Le Marchand d’oiseaux bei einem Tanzabend der Ballets Suédois, einer der bedeutendsten Kompanien der Zeit. Mit ihrem ersten vollgültigen Ballett erlangte Tailleferre in der Kulturmetropole Paris einen durchschlagenden Erfolg. Sie erhielt einen weiteren lukrativen Kompositionsauftrag. Der berühmte Impressario Sergei Djagilew verwendete die Ouvertüre in einer Produktion der Ballets Russes. Und die Ballets Suédois brachten das Stück bis zu ihrer Auflösung 1925 fast 100-mal zur Aufführung. In den darauffolgenden Jahrzehnten erging es Tailleferres neoklassizistischer Ballettmusik allerdings wie den meisten Werken von Komponistinnen der 1920er Jahre. Sie geriet weitgehend in Vergessenheit und ist bis heute nur selten zu hören.


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des ungarischen Volkes offenbart sich in ihm.« Tatsächlich ist die Tanz-Suite jedoch ein musikalisches Plädoyer für die produktiven Kräfte des kulturellen Austausches in Zeiten eines übersteigerten Nationalismus. So nimmt Bartók in den verschiedenen stilisierten Tänzen nicht nur auf ungarische Volksmusik Bezug, sondern auch auf Musik aus dem rumänischen, slowakischen und arabischen Kulturraum. Wie weit er dabei ging, zeigt sich bereits am Werkbeginn: Der Rhythmus des ersten Tanzes erinnert an einen ungarischen Schweinehirtentanz. Die Melodik hingegen weist typische Merkmale arabischer Musik auf, die der passionierte Musikethnologe auf einer Forschungsreise nach Algerien studiert hatte. Erst Jahre nach der Uraufführung legte der Komponist das eigentliche Programm seiner Tanz-Suite in privatem Rahmen offen. Im Angesicht eines immer aggressiver werdenden Nationalismus schrieb er 1931 an einen befreundeten rumänischen Musikethnologen: »Meine eigentliche Idee aber, derer ich – seitdem ich mich als Komponist gefunden habe – vollkommen bewusst bin, ist die Verbrüderung der Völker, eine Verbrüderung trotz allem Krieg und Hader. Dieser Idee versuche ich – soweit es meine Kräfte gestatten – in meiner Musik zu dienen; deshalb entziehe ich mich keinem Einfluss, mag er auch slowakischer, rumänischer, arabischer oder sonst irgendeiner Quelle entstammen.« Tobias Bleek ist Honorarprofessor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste, leitet seit 2007 das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr und arbeitet als Autor und Vermittler u. a. für die Berliner Philharmoniker. Sein Buch Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme (Bärenreiter/Metzler 2023) porträtiert zentrale Ereignisse dieser Zeit und lenkt den Blick auf Entwicklungen und Debatten, die uns bis heute beschäftigen.



BIOGRAFIEN

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James Gaffigan Der amerikanische Dirigent James Gaffigan, der für seine Leichtigkeit und seinen außergewöhnlichen kollaborativen Arbeitsgeist bekannt ist, hat als Dirigent von Sinfonieorchestern und Opern internationales Aufsehen erregt. Gaffigan ist in der einzigartigen Position, Musikdirektor an zwei internationalen Opernhäusern zu sein. Seit der Spielzeit 2023/24 ist er Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin und bereits in seiner zweiten Saison als Musikdirektor des Palau de les Arts Reina Sofía in Valencia. Außerdem ist er Musikdirektor des Verbier Festival Junior Orchestra, wo er sich für die Ausbildung vielversprechender junger Musiker:innen einsetzt. Gaffigan ist als Gastdirigent bei führenden Orchestern und Opernhäusern in Nordamerika und Europa sehr gefragt. In der Saison 2023/24 kehrt er zum Chicago Symphony Orchestra und Civic Orchestra of Chicago, dem Cincinnati Symphony Orchestra, dem Pittsburgh Symphony Orchestra und dem St. Louis Symphony Orchestra zurück, wo er eine konzertante Produktion von Cavalleria Rusticana leitet. Im Sommer 2023 leitete Gaffigan die Produktion La Bohème an der Metropolitan Opera sowie das Orchestre de Paris mit dem Jazz at Lincoln Center Orchestra und dem Verbier Festival Junior Orchestra. In seiner ersten Saison als Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin wird Gaffigan Produktionen von Jewgeni Onegin, Der goldene Hahn, Der fliegende Holländer und Le nozze di Figaro leiten. Gaffigan legt Wert darauf, insbesondere auch junges Publikum anzusprechen und wird an der Komische Oper Berlin auch Kinderkonzerte und weitere Angebote für Kinder leiten. Zuletzt trat er mit dem London Symphony Orchestra, Royal Concertgebouw Orchestra, Orchestre de Paris, Wiener Symphoniker, Münchner Philharmoniker, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Norske Opera and Ballet, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Staatskapelle Berlin, Tschechische Philharmonie und dem Luzerner Symphonieorchester auf. In Nordamerika arbeitet Gaffigan regelmäßig mit dem New York Philharmonic, dem Cleveland Orchestra, dem Philadelphia Orchestra, dem San Francisco Symphony, dem National Symphony Orchestra, dem Los Angeles Philharmonic, dem Detroit Symphony Orchestra und dem Toronto Symphony Orchestra zusammen. Gaffigan, der sich leidenschaftlich für die musikalische Nachwuchsförderung einsetzt, wuchs in New York City auf und besuchte die LaGuardia High School of Music & Art and Performing Arts, bevor er sein Dirigierstudium begann.



BIOGRAFIEN

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Iñigo Giner Miranda Iñigo Giner Miranda ist an vielen Orten zu Hause – nicht nur geographisch, sondern auch künstlerisch: Als ausgebildeter Pianist und Komponist ist er regelmäßig als Konzertgestalter, Komponist oder Musiker/Performer in Konzerthäusern und Theatern im ganzen europäischen Raum zu sehen. So arbeitet er als musikalischer Leiter und Performer für Regisseur:innen wie Barbara Frey, Ruedi Häusermann, Matthias Rebstock oder Rafael Sánchez unter anderem am Schauspielhaus Zürich, Teatro Real Madrid, Schauspielhaus Köln oder HAU Berlin. Er ist Gründungsmitglied des Musiktheater-Ensembles DieOrdnungDerDinge, mit dem er szenische Konzertabende gestaltet, die u. a. im Guggenheim Museum, im Haus der Kulturen der Welt Berlin, de Doelen Rotterdam oder Trafo Budapest zu erleben waren. Als Komponist und Konzertgestalter wurde er ins Programm der Bundeskulturstiftung #bebeethoven aufgenommen, um zusammen mit der Tonhalle Zürich über drei Jahre an der Inszenierung von Orchesterkonzerten zu arbeiten. Er arbeitet seit 2014 beim PODIUM Festival Esslingen als Konzertgestalter, wo er Produktionen entwickelt hat, die auch im Lucerne Festival, im Pierre Boulez Saal oder im Radialsystem Berlin gezeigt wurden. Er arbeitet auch mit Solist:innen und Ensembles an der Konzeption szenischer Abende, z. B. an der Münchener Biennale 2012, L’auditori Barcelona oder Gare du Nord Basel. Als Pädagoge hat er Kurse, Seminare, Workshops und Vorträge über alternative Konzertformen und szenische Arbeit in der Musik gehalten, u. a. am Budapest Music Center, an der »Musikene« Hochschule für Musik des Baskenlands, an der Humboldt-Universität zu Berlin und bei der Electronic Visualisation & the Arts conference London.


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Mirka Wagner begann ihre sängerische Laufbahn im Kinderchor der Hamburgischen Staatsoper. Nach diesen ersten musikalischen Schritten folgten ein Studium an der Musikhochschule »Hanns Eisler« in Berlin als Schülerin von Norma Sharp und Snežana Brzaković und diverse Meisterkurse unter anderem bei Thomas Quasthoff, Julia Varady und Wolfram Rieger. Erfahrungen im Bereich Neue Musik sammelte sie schon 2003 an der Kammeroper Schloss Rheinsberg in der Uraufführung von Jörn Arneckes Drei Helden. Mit der Uraufführung von Detelv Glanerts Solaris bei den Bregenzer Festspielen 2012 erweiterte sie ihr Repertoire der modernen Musik. Nach dem Gesangsdiplom ergänzte sie ihr Studium mit dem Konzertexamen an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«. Schon während des Studiums war sie ständiger Gast an der Komischen Oper Berlin und sang dort u. a. in der Regie von Andreas Homoki die Titelpartie in Der goldene Hahn, die Modistin in Der Rosenkavalier sowie die Priesterin in Barrie Koskys Inszenierung Iphigenie auf Tauris. Im Dezember 2006 gewann sie den 2. Preis beim Bundeswettbewerb Gesang und erhielt daraufhin an der Komischen Oper Berlin die Möglichkeit, in den Rollen der Berta in Der Barbier von Sevilla, Ninetta in Die Liebe zu drei Orangen und der Ersten Dame in Die Zauberflöte in der Regie von Hans Neuenfels ihr Können unter Beweis zu stellen. Nach diversen Gastspielen, unter anderem am Theater Regensburg, am Gärtnerplatztheater in München und an der Staatsoperette Dresden, war sie von 2009 bis 2011 Mitglied im Opernstudio der Komischen Oper Berlin. Seit 2012 ist sie Ensemblemitglied der Komischen Oper Berlin und war hier u. a. als Gretel, Eliza Doolitle, Despina sowie in Frühlingsstürme, Der Jahrmarkt von Sorotschinzy, Œdipe und zahlreichen weiteren Produktionen zu erleben. In dieser Saison steht sie u. a. wieder als Erste Dame (Die Zauberflöte), Karen Nilsson/Lillemoor (Nils Holgerssons wundersame Abenteuer) sowie als Venus (Orpheus in der Unterwelt) auf der Bühne der Komischen Oper Berlin.

BIOGRAFIEN

Mirka Wagner



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Zur Komischen Oper Berlin gehört von Anbeginn das eigene Orchester: Die Eröffnung des Hauses 1947 war auch die Geburtsstunde dieses neu gegründeten Klangkörpers, mit dem Walter Felsenstein seine Auffassung von Musiktheater verwirklichen wollte. Von Anfang an profilierte sich das Orchester durch einen Konzertzyklus. Dirigenten wie Otto Klemperer, Václav Neumann, Robert Hanell und Kurt Masur prägten das Orchester dabei maßgeblich sowohl in Opernproduktionen als auch im Konzertbereich. Zahlreiche Aufnahmen zeugen von der schon damals erreichten Ausstrahlung des Orchesters, die von späteren Generalmusikdirektoren wie Rolf Reuter, Yakov Kreizberg, Kirill Petrenko und Henrik Nánási noch intensiviert wurde. Viele bedeutende Gastdirigent:innen haben das künstlerische Spektrum erweitert, unter ihnen Rudolf Kempe, Hartmut Haenchen, Rudolf Barschai, Lothar Zagrosek, Fabio Luisi, Neville Marriner, Roger Norrington, Vladimir Jurowski, Simone Young und Dennis Russell Davies. Ein besonderes Gewicht wurde und wird auch der zeitgenössischen Musik beigemessen. So hat das Orchester der Komischen Oper Berlin viele Uraufführungen in Zusammenarbeit mit Komponist:innen wie Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Giuseppe Manzoni, Siegfried Matthus, Aribert Reimann, Krzysztof Penderecki, Hans Zender und Christian Jost erarbeitet. Auch die Liste international renommierter Gastsolist:innen aus dem Inund Ausland spiegelt die große Bandbreite musikalischer Stile und Genres in der Arbeit des Orchesters: Es sangen, musizierten und rezitierten gemeinsam mit dem Orchester so unterschiedliche Künstler:innen wie Rudolf Buchbinder, Gidon Kremer, Barbara Hendricks, Gabriela Montero, Maria Farantouri, Dominique Horwitz, Lars Vogt, Daniel Hope, Till Brönner und viele andere. Das Repertoire spiegelt die ganze Vielfalt der Musikgeschichte wider: von Monteverdi über Händel und Mozart, die großen romantischen Komponist:innen des 19. Jahrhunderts bis hin zur frühen Moderne und dem Musikschaffen unserer Zeit. In Kammerkonzerten in unterschiedlichsten Formationen setzen sich die Mitglieder des 112 Musiker:innen umfassenden Orchesters zudem für die Kammermusik ein. Einen wichtigen Schwerpunkt legt das Orchester der Komischen Oper Berlin auf Konzerte für Kinder und Jugendliche, die die pädagogische Verantwortung und den Wunsch unterstreichen, neue und junge Publikumsgenerationen für klassische Musik zu begeistern. Seit der Spielzeit 2023/24 ist der US-amerikanische Dirigent James Gaffigan neuer Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin.

ORCHESTER

Orchester der Komischen Oper Berlin


IN A NUTSHELL

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IN A NUTSHELL • Today’s symphony concert sees the orchestra of the Komische Oper Berlin devoting itself entirely to the musical year 1923. In Iñigo Giner Miranda’s concert production, the most diverse musical manifestations of that year blend with historical descriptions of everyday life: from diary entries and newspaper reports to the first radio broadcast! • The two most extensive orchestral works of the evening create the musical framework under the baton of General Music Director James Gaffigan, and they could hardly be more contrasting: Darius Milhaud’s jazz-charged La Création du monde at the beginning and Béla Bartók’s opulent Dance Suite at the end. A musical snapshot unfolds between these two works, ranging from Kurt Weill’s and Dmitri Shostakovich’s early works to Gabriel Fauré’s last work and unknown discoveries, such as by Germaine Tailleferre. From great symphonies to chamber music and popular hits. • After 1922 had already been perceived as a year of crisis, the German population had high hopes for a kinder 1923, but they were sorely disappointed: inflation, the occupation of the Ruhr and the attempted coup would later shape the collective memory, »a German trauma«, as historian Mark Jones calls it in retrospect. • As is always the case in the wake of major political crises, everyday life in the population slowly mirrors its path. Here it is characterized by diffuse fears about the future, horrendous food prices due to inflation and an unprofitable concert life that turns even performances by top orchestras into box-office poison. • The musical year 1923 was just as torn as the political and social situation: The transatlantic connections allow influences from North and South America to spill over into European musical life, great romanticism has its place alongside bold modernism, classical recollections alongside groovy popular music. There is no single common thread in the musical year 1923, but this panoptic juxtaposition of styles and directions is the sound of the early 20th century.


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• Dans le concert symphonique d’aujourd’hui, l’orchestre de l’Opéra comique de Berlin rend hommage à l’année 1923. La mise en scène d’Iñigo Giner Miranda mêle les très diverses influences musicales qui ont marqué cette année-là à des témoignages de la vie quotidienne : extraits de journaux intimes, articles de journaux ainsi que la première émission de radio ! • Sous la direction du chef James Gaffigan, la soirée s’articule entre deux œuvres orchestrales qui ne sauraient être plus différentes : en ouverture La Création du monde, composition de Darius Milhaud inspirée par le jazz, et pour finir l’opulente Suite de danses de Béla Bartók. Entre les deux, on entendra les premières compositions de Kurt Weill et de Dmitri D. Chostakovitch, mais aussi la dernière œuvre de Gabriel Fauré et des compositions méconnues de Germaine Tailleferre. Le spectre va de la musique symphonique à la musique de chambre en passant par la chanson populaire. • 1922 fut une année de crise, si bien que la population allemande mit tous ses espoirs dans l’année 1923. La déception fut de taille : l’inflation, l’occupation de la Ruhr et la tentative de putsch marqueraient pour longtemps la mémoire collective, « un traumatisme allemand », estime rétrospectivement l’historien Mark Jones • Comme toujours, dans l’ombre des grandes crises politiques, il y a une population qui lutte pour s’adapter au quotidien. Ce dernier est marqué par une peur diffuse de l’avenir, des prix alimentaires exorbitants à cause de l’inflation et une vie difficile pour les musiciens, les meilleurs orchestres peinant eux-mêmes à remplir les caisses. • D’un point de vue musical, l’année 1923 est aussi tumultueuse que la situation politique et sociale : les liaisons transatlantiques font entrer des influences d’Amérique du Nord et du Sud dans la vie musicale européenne, le grand romantisme a autant sa place que l’avant-garde moderne, les retours au classicisme sont aussi prisés que la musique légère la plus tonitruante. L’année musicale 1923 ne se laisse pas résumer à l’aide d’un seul fil conducteur, mais voit se juxtaposer les styles et les tendances, dont la multitude formera le son du début du 20e siècle.

L’ E S S E N T I E L E N B R E F

L’ESSENTIEL EN BREF


ÖZET BILGI

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ÖZET BILGI • Komische Oper Berlin’in orkestrası bugünkü senfoni konserinde kendini tamamen 1923 müzik yılına adıyor. Iñigo Giner Miranda’nın konser uyarlamasında, bu yılın en çeşitli müzikal örnekleri, günlük kayıtları ve gazete haberlerinden ilk radyo yayınına kadar günlük yaşamın tarihsel betimlemeleriyle birleşiyor! • Genel Müzik Direktörü James Gaffigan’ın yönetimindeki müzikal çerçeve, gecenin en kapsamlı iki orkestra eserini içeriyor ki bunlar birbirinden daha zıt olamazdı: Darius Milhaud’un caz dolu La Création du monde başlangıçta, ardından Béla Bartók’ın zengin Dans Süiti. Bu iki eser arasında, Kurt Weill’in ve Dmitri D. Shostakovich’in erken dönem eserlerinden Gabriel Fauré’ün son eserine kadar Germaine Tailleferre gibi bilinmeyen keşiflere kadar geniş bir müziksel anlık yaşanır. Büyük senfoniden oda müziğine, popüler melodilere kadar. • 1922 zaten bir kriz yılı olarak algılandıktan sonra Alman toplumu daha iyi bir 1923 için büyük umutlar beslemişti, ancak büyük bir hayal kırıklığına uğradılar: enflasyon, Ruhr’un işgali ve darbe girişimi daha sonra kolektif hafızaya damgasını vuracaktı. Tarihçi Mark Jones’un geriye dönüp baktığında adlandırdığı gibi »bir Alman travması«. • Büyük siyasi krizlerin gölgesinde her zaman olduğu gibi, bu krizlerin ardında da kendi yolunu çizen bir gündelik hayat var. Gelecekle ilgili yaygın korkular, enflasyon nedeniyle korkunç gıda fiyatları ve en iyi orkestraların performanslarını bile nakit zehri haline getiren kârsız bir konser hayatı ile karakterize edilebilir. • 1923 müzik yılı da en az siyasi ve sosyal durum kadar çalkantılıydı: Transatlantik bağlantılar Kuzey ve Güney Amerika’dan gelen etkilerin Avrupa müzik yaşamına yansımasına neden olur, büyük romantizm iddialı modernizmin yanında yerini alır, klasik hatıralar hareketli müzik tarzıyla yan yana gelir. 1923’ün müzikal yılında belirgin bir ortak nokta yoktur, ancak tarzların ve yönlerin panoptik yan yana gelişi 20. yüzyılın başlarının sesidir.



GLOSSAR

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Glossar NEOKLASSIZISMUS bezeichnet unter anderem eine musikalische Stilrichtung, die seit 1920 die europäische Kultur prägte. Der Neoklassizismus grenzt sich insofern von der romantischen Ästhetik ab, als dass nun einfachere und klarere musikalische Strukturen im Fokus stehen. Es werden teilweise musikalische Formen und Satztechniken des Spätbarocks und der Frühklassik aufgegriffen. Zudem wird häufig erweiterte Tonalität verwendet. OUVERTÜRE (frz. = Eröffnung) Rein instrumentales Einleitungsstück, das am Beginn eines Bühnen- oder Instrumentalwerks steht. PANOPTISCH (von griech. pān = »alles« und optikó = »zum Sehen gehörend«) Ein Panopticon ist ein vom britischen Philosophen Jeremy Bentham stammendes Konzept zum Bau von Gefängnissen und ähnlichen Anstalten, aber auch von Fabriken, das die gleichzeitige Überwachung vieler Menschen durch eine einzelne überwachende Person ermöglicht. Die Ableitung »panoptisch« meint daher, dass alles gleichzeitig sichtbar ist. PANTOMIME Darbietung, bei der die Darsteller:innen ohne Worte, nur mit Mimik und Gestik, einen Inhalt vermitteln und sich somit über Sprachgrenzen hinweg verständlich machen können. Als musikalische Form verbreitete sich die Pantomime im 18. Jahrhundert als getanztes Gegenstück zum höfischen Ballett. REFRAIN In einem Rondo das immer wieder kehrende Hauptthema im Wechsel mit kontrastierenden Abschnitten, in Liedern der sich wiederholende Textteil in Abgrenzung zur Strophe. RHAPSODIE (von gr. Rhapsōdós = Rhapsode, Zusammensetzer) war ursprünglich eine von griechischen Wandersänger:innen vorgetragene Dichtung. Heute ist Rhapsodie ein Vokal- oder Instrumentalwerk mit flüchtigen, bisweilen unzusammenhängenden Motiven ohne feste musikalische Form. ZWÖLFTONTECHNIK (auch Dodekaphonie) ist eine Methode des Komponierens atonaler Musik mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen, die in Reihen und deren Ableitungen angeordnet werden.


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IMPRESSUM Herausgeberin

Komische Oper Berlin @Schillertheater Dramaturgie Bismarckstraße 110, 10625 Berlin www.komische-oper-berlin.de

Intendanz Generalmusikdirektor

Susanne Moser, Philip Bröking James Gaffigan

Redaktion Lektorat Layoutkonzept Gestaltung Druck

Maximilian Hagemeyer Theresa Rose, Jakob Robert Schepers www.STUDIO.jetzt Berlin Hanka Biebl Druckhaus Sportflieger

Quellen

Der Text von Tobias Bleek ist ein Originalbeitrag für dieses Heft. Übersetzungen von Saskya Jain (Englisch), Yasmina Ikkene (Französisch) und Kemal Doğan (Türkisch).

Bilder

S. 13 Kostümentwurf für La Création du monde von Fernand Léger (1923) S. 15, 18: Jan Windszus Photography S. 23: Fotografie aus den 1920er Jahren

Redaktionsschluss

30. November 2O23 Änderungen vorbehalten


26 VORSCHAU

Vorschau VON SINFONISCHEN TÄNZEN

HUDSON, SEINE UND

UND MASKERADEN

BOSPORUS

MASKENBALL!

NEUJAHRSKONZERT / YENI YIL KONSERI MIT FAZIL SAY & CEM ADRIAN

TERMIN Sa, 4. Nov 2023

20 Uhr

Sinfoniekonzert mit Marzena Diakun

SINFONISCHE ZEITEN-REISE

GO EAST! TERMIN Fr, 12. Apr 2024

20 Uhr

Sinfoniekonzert mit James Gaffigan, Danae Dörken und Alma Sadé @Konzerthaus Berlin

@Konzerthaus Berlin TERMIN Mo, 1. Jan 2024

18 Uhr

EIN LITERARISCH-SINFONISCHER CHOR-ABEND

EIN DOKUMENTARISCHES SINFONIEKONZERT

1923

Sinfoniekonzert mit James Gaffigan, Fazıl Say und Cem Adrian

ANTIGONE

@Schillertheater

Fr, 3. Mai 2024

TERMIN

Sinfoniekonzert mit David Cavelius

TERMIN Fr, 8. Dez 2023

19:30 Uhr

19:30 Uhr

Sinfoniekonzert mit James Gaffigan und Iñigo Giner Miranda

@Schillertheater

DAS TANZENDE SINFONIE-

@Schillertheater SINFONIEKONZERT

KONZERT

MIT SCHALL UND RAUSCH

BOWIE MEETS BRUCKNER TERMIN Sa, 10. Feb 2024

FLOTTE SOHLE Sinfoniekonzert mit Erina Yashima TERMINE

18 Uhr

Fr, 14. Juni 2024

19:30 Uhr

@Zelt am Roten Rathaus

Sinfoniekonzert mit James Gaffigan

Di, 18. Juni 2024 @Ernst-Reuter-Saal

@Vollgutlager

19:30 Uhr


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