Heft 10 - Das 'C' und Europa

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DAS CHRISTENTUM ALS „MOTOR“ DER MODERNE – HEFT 10

Das 'C' und Europa Thomas Jansen


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Das 'C' und Europa Thomas Jansen

„Kompendium der Soziallehre der Kirche“, Kapitel 4 und 8: Verhältnis zwischen Prinzipien und Werten (197) „Werte erfordern „sowohl die praktische Umsetzung der Grundprinzipien des gesellschaftlichen Lebens wie auch die persönliche Übung der Tugend und folglich der den Werten selbst entsprechenden moralischen Einstellungen. (…) Alle sozialen Werte hängen mit der Würde der menschlichen Person zusammen und fördern ihre authentische Entwicklung. Im Wesentlichen handelt es sich um: Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe.“ (205) „Das menschliche Zusammenleben ist geordnet, bringt Gutes hervor und entspricht der Würde des Menschen, wenn es sich auf die Wahrheit gründet; es vollzieht sich in Gerechtigkeit, das heißt im wirklichen Respekt vor den Rechten und in der treuen Erfüllung der jeweiligen Pflichten; es wird in der Freiheit verwirklicht, die ein Teil der Würde des Menschen ist, wenn dieser sich von seiner eigenen rationalen Natur dazu drängen lässt, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen; es wird von der Liebe beseelt, die uns die Bedürfnisse und die Nöte der anderen als unsere eigenen empfinden und die Gemeinschaft der geistigen Werte sowie den Eifer, mit dem wir uns um die materiellen Notwendigkeiten kümmern, immer stärker werden lässt.“ Die Werte und die Demokratie (407) „Ein echte Demokratie ist nicht nur das Ergebnis einer formalen Einhaltung von Regeln, sondern die Frucht einer überzeugten Annahme von Werten, die die demokratische Vorgehensweise inspirieren: die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung der Menschenwürde, die Anerkennung des ‚Gemeinwohls‘ als Ziel und maßgebendes Kriterium des politischen Lebens. Wenn hinsichtlich dieser Werte kein allgemeiner Konsens herrscht, verflüchtigt sich die Bedeutung der Demokratie, und ihre Festigkeit gerät ins Wanken.“

Benedikt XVI., Apostolische Reise in die Tschechische Republik, „Begegnung

mit

den

politischen

Autoritäten

und

den

diplomatischen Korps“ (26.09.2009): „Europa ist mehr als ein Kontinent. Es ist ein Zuhause! Und die Freiheit findet ihren tiefsten Sinn in einer geistigen Heimat. Bei voller Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen dem politischen Bereich und dem Bereich der Religion – was ja die Freiheit der Bürger bewahrt, ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen und danach zu leben –, möchte ich zugleich die unersetzliche Rolle des Christentums für die Bildung des Gewissens einer jeden Generation betonen, wie auch seine Rolle für die Förderung eines grundlegenden ethischen Konsenses, der allen Menschen zugute kommt, die diesen Kontinent ihr ‚Zuhause‘ nennen!“


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„Am gegenwärtigen Scheideweg der Zivilisation, die so oft von einer beunruhigenden Spaltung der Einheit des Guten, der Wahrheit und der Schönheit gekennzeichnet ist – ebenso wie von der sich daraus ergebenden Schwierigkeit, eine Akzeptanz gemeinsamer Werte zu finden –, muß sich jedes Bemühen um den Fortschritt des Menschen vom lebendigen Erbe inspirieren lassen. Europa hat in Treue zu seinen christlichen Wurzeln eine besondere Berufung, diese transzendente Vision in seinen Initiativen im Dienst des Gemeinwohls der einzelnen Menschen, der Gruppen und der Länder zu bewahren.“

Benedikt XVI.: Enzyklika „Caritas in Veritate“, Kapitel 5 und 6: (59) „Entwicklungszusammenarbeit darf nicht die wirtschaftliche Dimension allein betreffen; sie muß eine gute Gelegenheit zur kulturellen und menschlichen Begegnung werden. Wenn die Träger der Kooperation in den wirtschaftlich entwickelten Ländern nicht der eigenen und der fremden kulturellen und auf menschlichen Werten gründenden Identität Rechnung tragen, wie es mitunter geschieht, können sie keinen tiefen Dialog mit den Bürgern der armen Ländern aufnehmen.“ (72) „Auch der Friede läuft mitunter Gefahr, als ein technisches Produkt – lediglich als Ergebnis von Abkommen zwischen Regierungen oder von Initiativen zur Sicherstellung effizienter Wirtschaftshilfen – betrachtet zu werden. Es stimmt, daß der Aufbau des Friedens das ständige Knüpfen diplomatischer Kontakte, wirtschaftlichen und technologischen Austausch, kulturelle Begegnungen, Abkommen über gemeinsame Vorhaben ebenso erfordert wie die Übernahme gemeinsam geteilter Verpflichtungen, um kriegerische Bedrohungen einzudämmen und die regelmäßig wiederkehrenden terroristischen Versuchungen an der Wurzel freizulegen. Damit diese Bemühungen dauerhafte Wirkungen hervorbringen können, müssen sie sich allerdings auf Werte stützen können, die in der Wahrheit des Lebens verwurzelt sind. Das heißt, man muß die Stimme der betreffenden Bevölkerung hören und sich ihre Lage anschauen, um ihre Erwartungen entsprechend zu deuten.“

Die vorliegenden Texte wurden von Katharina Fuchs zusammengestellt.


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Thomas Jansen: Überlegungen zur Zukunft der Europäischen Union

Herausforderungen,

Perspektiven,

Reformen,

Außenbeziehungen

Es ist die Berufung der Europäischen Union, die Völker und Staaten unseres Kontinents im Dienste des Friedens und der Freiheit in einer politischen Aktionseinheit zusammen zu fassen, um die gemeinsamen Probleme und Herausforderungen in gemeinsamen Bemühungen zu bewältigen. Als Rechtsgemeinschaft und als Solidargemeinschaft hat die Europäische Union sich im Laufe ihrer 60jährigen Geschichte eine im Wesentlichen demokratische und föderale Organisation gegeben, deren Verfassung jedoch auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (1. Dezember 2009) unvollendet bleibt. Die Dynamik der Entwicklung ihres politischen Systems zeigt aber ebenso wie die politischen Herausforderungen, vor denen die Europäische Union in ihrem Innern wie insbesondere im Verhältnis

zu ihren Nachbarn und zur Welt

steht, dass sie für die Bereiche ihrer

Verantwortung eine handlungsfähige Regierung braucht.

Die Gestaltung der Union Die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung, der technologischer Fortschritt, der demographische

Wandel,

die

Zuwanderung,

die

Ressourcenverknappung

und

die

Umweltprobleme sowie neue Bedrohungen können ohne gemeinschaftliches europäisches Handeln nicht bewältigt werden. Die Bürger Europas brauchen eine handlungsfähige, auf ein solides Regierungssystem gestützte Europäische Union, die in Zusammenarbeit mit ihren Partnern in der Welt Verantwortung übernimmt Nur ein Europa, das sich auf seine Werte und seine Identität besinnt und dabei die nationalen Egoismen überwindet, kann das Vertrauen seiner Bürger gewinnen. In einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten gilt es hierfür, den inneren Zusammenhalt durch klar definierte innere und äußere Grenzen zu stärken. Der Umgang mit der Erweiterung ist eine Kernfrage für die Zukunft Europas.

Die

sukzessiven Erweiterungen haben dazu beigetragen, die Europäische Union zu dem zu machen, was sie heute ist – eine politische Kraft, die ihren Einfluss in der Welt geltend machen kann. Die Erweiterungsrunden 2004 und 2007 hatten eine historische, politische und strategische Dimension: sie haben Europa geeint. Sie haben der Europäischen Union aber auch die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit gezeigt. Die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union hängt vor allem auch von der Zustimmung und der Integrationsbereitschaft ihrer Bürger sowie von der inneren Kohärenz und der Leistungsfähigkeit ihrer Institutionen ab.


5 Die Mitgliedschaft kann für die Nachbarn der Europäischen Union nicht in jedem Fall die einzige Antwort auf den Wunsch nach einer europäischen Perspektive sein. Im Hinblick auf die Partner der Europäischen Union, die nicht oder noch nicht Mitglieder werden können, ist – als vernünftige Alternative zur Mitgliedschaft – eine Nachbarschaftspolitik der wirtschaftlichen Kooperation, der kulturellen Kommunikation und der politischen Partizipation notwendig. Die Europäische Union kann nur gemeinsam mit ihren Nachbarn den langfristigen Herausforderungen

begegnen.

Dies

gilt

insbesondere

für

die

wirtschaftlichen

Beziehungen, die Energie- und Sicherheitspolitik sowie drängende Fragen der Migration. Die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union muss sich leiten lassen von einem entschiedenen Willen, für eine freiheitliche Entwicklung, die Achtung der Menschenrechte und die innere Stabilität in den betreffenden Ländern einzutreten. Herausforderungen Die politischen

und wirtschaftlichen Machtverhältnisse

haben sich im Laufe der

zurückliegenden Jahrzehnte grundlegend verändert. Die Trennung zwischen nationaler, europäischer

und

globaler

Agenda

wird

zunehmend

aufgehoben.

verstärkten Vernetzung haben regionale, politische, wirtschaftliche

Aufgrund

der

und kulturelle

Dynamiken weltweite Auswirkungen. Sie stellen neue Herausforderungen für die europäische Sicherheit und das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell dar. Weltwirtschaft und Globalisierung: Die Liberalisierung der Weltmärkte bietet die Chance, den Wohlstand durch den Austausch von Kapital, Waren und Dienstleistungen sowie durch den Transfer von Ideen und Wissen zu mehren. Die zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft wird sich weiter verstärken und zu Wachstum aber auch zu mehr Wettbewerb führen. Als Folge wird sich der Trend zur Multipolarität verstärken. Asien wird in seiner Wirtschaftskraft mit dem Westen gleichziehen. Neben der Verflechtung kann diese Entwicklung auch zu einer stärkeren Fragmentierung und mehr Instabilität führen. Die negativen Auswirkungen wirtschaftlicher Anpassungsprozesse, die Zunahme des sozialen Gefälles im globalen Rahmen und kulturelle Überlagerungen stellen ernstzunehmende Risiken dar, indem sie zu einer Verstärkung von politisch, ethnisch, ideologisch und religiös motiviertem Extremismus führen können. Wissenschaft und Technologie: Die wissenschaftliche und technologische Revolution wird sich beschleunigen, vorangetrieben durch Forschung und Entwicklung. Investitionen in Ideen

sowie

deren

entschlossene

Umsetzung

werden

noch

entscheidender

für

Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum. Im globalen Wettbewerb gewinnt die Nutzung des technologischen Fortschritts zunehmend an Bedeutung. Dies kann allerdings u.a. zu neuen ethischen Konflikten führen. Umwelt und Ressourcen: Der Wettbewerb um Ressourcen wird zunehmen und das beschleunigte globale Wirtschaftswachstum wird sich in noch stärkerem Maße negativ auf


6 die Umwelt auswirken. Der Westen wird noch deutlicher mit Asien und Lateinamerika um den

Zugang

zu Ressourcen konkurrieren.

Wachstum

wird

insbesondere

für

die

aufstrebenden Wirtschaftsmächte zukünftig stark von dem effizienten Einsatz von Ressourcen abhängen. Gleichzeitig stellen die Auswirkungen des globalen Klimawandels die

Menschheit

vor

massive

wirtschaftliche,

soziale,

gesundheitliche

und

sicherheitspolitische Herausforderungen. Innere und äußere Sicherheit: Die zunehmende Verflechtung des Handels und der Finanzmärkte wird das Risiko von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den großen Wirtschaftsmächten verringern. Die internationale Gemeinschaft wird jedoch in einer fragmentierten, multipolaren Welt verstärkt mit neuen Konflikten konfrontiert werden. Insbesondere die Entwicklungen im Nahen Osten und in Afrika erscheinen in diesem

Zusammenhang

als

schwer

kalkulierbar.

Die

Proliferation

von

Massenvernichtungswaffen, die Folgen innerstaatlicher und regionaler Konflikte sowie die Bedrohung durch internationalen Terrorismus und organisierte Kriminalität werden die Komplexität der Herausforderungen erhöhen. Demographischer Wandel und Migration: Die Weltbevölkerung wird sich in den nächsten Jahrzehnten

in

der

Gesamtschau

verdoppeln.

Regional

wird

sich

das

Bevölkerungswachstum aber signifikant unterscheiden. Während in Afrika und im Mittleren Osten mit einem starken Bevölkerungswachstum zu rechnen ist, liegt Europa weit unter der für eine stabile Bevölkerungsentwicklung notwendigen Geburtenrate von 2,1 Prozent. Langfristig bedeutet das, dass Europa schrumpft, während Afrika, Indien und die USA wachsen. In Nordafrika stellen bereits heute die unter 14-jährigen mehr als ein Drittel der Bevölkerung; in Deutschland beträgt ihr Anteil nur noch knapp 10 Prozent. Im Jahre 2025 werden die Europäer im Durchschnitt 45 Jahre alt sein und nur noch 6 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Die Altersgruppe der über 65-jährigen ist dann fast genau so stark wie die der zwischen 15- und 64-jährigen. Diese Veränderungen werden drastische Auswirkungen auf Migrationsbewegungen, den europäischen Arbeitsmarkt, die Sozialsysteme, die Familienstruktur, das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, das Verbraucherverhalten und die Innovationsfähigkeit haben. Perspektiven Europa kann auf diese großen Herausforderungen nur gemeinsam Antworten finden. Die Zukunft des Wohlstands, der Sicherheit und Freiheit hängen wesentlich von der Fähigkeit der Verantwortlichen ab, Europa durch Integration und Reformen zu einer „Kraft des Gleichgewichts“

in

der

sich

verändernden

Welt

zu

machen.

Europa

bedeutet

gemeinsames Schicksal und gemeinsame Zukunft. In einer Zeit des Wandels findet „Selbstvergewisserung“ nicht ausschließlich im Rahmen der einzelnen Nationen statt. Fragen der Wertegebundenheit, Verständnis für die eigene Geschichte, Sicherheit und Geborgenheit in kleinen Einheiten, in überschaubaren und


7 vertrauten „Räumen“, d.h. Pflege der eigenen Kultur, Heimat und Brauchtum werden wichtiger; auch Selbstvergewisserung in der eigenen Sprache. Die Europäische Union kann, indem sie die dafür notwendigen Freiräume schafft, ihren Bürgern zusätzliche Identifikationsmöglichkeiten bieten und dadurch zugleich die europäische Identität stärken. Ohne eine Friedensvision ist diese Zukunft nicht vorstellbar. Der Wunsch nach Frieden stand am Beginn des europäischen Integrationsprozesses. Er hat Europa eine in der Geschichte einmalige Ära des Friedens und der Prosperität ermöglicht. Europas Mission ist es, diese Entwicklung auch in anderen Teilen der Welt zu fördern. Der Erfolg Europas beruht auf Werten, die universell anerkannt sind. Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte sind Grundlage für die Solidarität zwischen Nationen und Bürgern. Der kulturelle Konsens Europas, seine wirtschaftlichen Erneuerungskräfte und sein sozialer Zusammenhalt sind Voraussetzungen für seine Fähigkeit, seine Einheit zu organisieren, um dadurch auch die globalen Herausforderungen zu meistern. Die kulturellen Wurzeln Europas liegen in der der griechisch-römischen Antike, im Judentum und vor allem im aufgeklärten Christentum. Aber auch geistig-kulturelle Einflüsse aus der islamischen Welt haben Anteil an der Prägung Europas. Die Offenheit gegenüber Einflüssen von außen und der gleichzeitige Schutz der Vielfalt gehören zu den Stärken Europas. Sie reflektieren sich in der religiösen Toleranz sowie in der Fähigkeit zum Ausgleich und Kompromiss, finden sich aber auch in dem Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv und dem Prinzip der Subsidiarität. Der Wertekonsens, der der europäischen Einigungsbewegung seit 60 Jahren zugrunde liegt, und die europäische Kultur der Vielfalt und Freiheit ergeben sich aus dem christlichen Menschenbild, das sich die Europäer in einem langen Lernprozess zu eigen gemacht haben; es erlaubt, den Glauben an die eigenen Werte mit dem Respekt vor den Werten anderer zu verbinden. Dieses dynamische Prinzip der Gleichzeitigkeit von Wertegebundenheit und Weltoffenheit zeichnet Europa aus; es kann aber nur wirksam sein, solange Festigkeit und Sicherheit in den eigenen Werten besteht. Zur weiteren Entwicklung der Europäischen Union im Sinne einer föderalen und demokratischen Organisation gibt es angesichts der Globalisierung keine Alternative; sie darf nicht an den Bürgen vorbei geschehen, sondern verlangt deren umfassende Information, Beteiligung und Einbindung. Der Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt gehören zum Kernbestand der Werte der Europäischen Union. In einer Welt, in der die Globalisierung zu immer stärkerer Homogenität führt, muss dieser kulturelle Reichtum durch Maßnahmen zur Wahrung der gegenseitigen Achtung über die Grenzen hinweg gewahrt werden. Nur wer Respekt vor seinen eigenen kulturellen Wurzeln hat, kann diesen Respekt auch gegenüber anderen Kulturen aufbringen. Ein zukunftsfähiges Europa wird sich daher


8 stärker auf seine christlichen Wurzeln besinnen und darauf aufbauend in den Dialog mit den drei abrahamitischen Weltreligionen treten. Eigenverantwortung

ist

die

eigenverantwortliche

Bürger

Voraussetzung ist

der

beste

gesellschaftlicher Garant

für

Solidarität.

sozialen

Der

Frieden

und

gesellschaftlichen Zusammenhalt. Nicht der Versorgungsstaat, sondern die aktive Bürgergesellschaft ist das gesellschaftliche Leitbild Europas; es verlangt eine Stärkung der Subsidiarität als dem Gestaltungsprinzip europäischer Politik. Die Aufgabenteilung zwischen den Ebenen der europäischen, der nationalen und der regionalen Verantwortung muss sich konsequent am Prinzip der Subsidiarität orientieren. Das bedeutet, dass die Aufgaben möglichst dort wahrgenommen werden wo sie den Bürger unmittelbar betreffen. Für die Akzeptanz europäischen Handelns ist es wesentlich, dass es sowohl den Notwendigkeiten der Globalisierung wie auch dem Wunsch nach Bürger nach Beteiligung Rechnung trägt. Notwendige Reformen In einer Zeit des globalen Wandels geht es für die Europäische Union darum, die wirtschaftlichen,

technologischen,

gesellschaftlichen

Herausforderungen

umwelt-

und

anzunehmen

sicherheitspolitischen

und

Veränderungen

sowie

positiv

zu

gestalten. Notwendig ist vor allem die Anpassung an den durch die Globalisierung erzwungenen Strukturwandel. Daher sind nationale Reformen die Voraussetzung für die innere Stärkung Europas.


9 Rückgrat des europäischen Wachstums ist der gemeinsame Binnenmarkt, der weiter ausgebaut und vollendet werden muss. Dies betrifft viele Gebiete, insbesondere den Dienstleistungssektor, den Finanzbereich, die Telekommunikation aber auch die Energiepolitik. Wichtig für den Erfolg ist die richtige Mischung aus Freiheit und Sicherheit. Das erfordert neben mehr Flexibilität und Mobilität des Faktors Arbeit auch die Modernisierung der Sozialsysteme, um ein wirksameres Sicherheitsnetz für alle bereitzustellen. Europa braucht marktwirtschaftliche Reformen, um das europäische Sozialmodell zu wahren; es braucht effektive soziale Netze, um die Akzeptanz dieser Reformen zu gewährleisten. Bildung, Forschung und Innovation sind für eine dynamische Wirtschaft und für die Wettbewerbsfähigkeit

Europas

von

entscheidender

Bedeutung.

Wenn

die

europäischen Staaten ihre Fähigkeiten in diesen Bereichen verbinden, können sie im weltweiten Bildungs- und Forschungswettbewerb bestehen und an die Spitze wichtiger Zukunftsmärkte zu gelangen. In vielen Bereichen der Technologie ist die Europäische Union bereits weltweit Spitzenreiter. Aber die europäische Privatwirtschaft sieht sich nicht mehr nur dem Wettbewerb traditioneller Konkurrenten ausgesetzt, sondern auch zunehmend dem Wettbewerb aufstrebender Wirtschaftsmächte. Ihr Ziel sollte es sein, die Ergebnisse der

Forschung

umzusetzen.

und

Entwicklung

Kreative

noch

Produkte,

schneller

qualifizierte

in

marktreife

Menschen

Innovationen

und

moderne

Dienstleistungen brauchen zuverlässige Rahmenbedingungen. Die europäische Politik steht in der Pflicht, die geeigneten rechtlichen Voraussetzungen sowie finanziellen Anreizstrukturen für einen „Innovationsraum Europa“ zu schaffen und auf international einheitliche Spielregeln zu drängen. Entscheidend

ist

die

Stärkung

der

europäischen

Wissensgesellschaft.

Nur

wenn

intellektuelle Ressourcen effizienter genutzt und mehr in Bildung und Ausbildung der Bürger investiert wird, kann der Wohlstand gesichert werden. Eine besonders wichtige Aufgabe ist daher die Schaffung eines konkurrenzfähigen europäischen Hochschulsystems und die Schaffung von europäischen Spitzenforschungszentren. Besonders wichtig wird hierbei auch die enge Verzahnung von öffentlichen Investitionen in Wissen und Forschung und privatwirtschaftlichen Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen sein.


10 Erfolgreiche

Forschungsaktivitäten

zum

Wohle

der

Menschen

sind

nur

unter

Berücksichtigung ethischer Grenzen möglich, die sich aus den gemeinsamen Werten ableiten. Diese umfassen unter anderem den Schutz der Menschenwürde und des menschlichen Lebens, den Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre sowie den Umweltschutz. Ziel ist es, nach innen die Einhaltung der ethischen Grenzen zu gewährleisten und nach außen offensiv für deren Einhaltung einzutreten.

Die Außenbeziehungen der Union Die Europäische Union verfügt über alle Voraussetzungen, um sich mit ihren Ideen und Interessen international zu behaupten und zur Gestaltung der Globalisierung beizutragen. Sie wird eine stärkere außenpolitische Verantwortung übernehmen müssen. Europäische Werte und Ziele werden dabei auch für Europas internationale Verantwortung und Außenpolitik gelten. Globale Verantwortung erfordert neben starken und überzeugenden Werten und Prinzipien auch die Schaffung von Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung. Die überragende Bedeutung des Ausgleichs und des Kompromisses gehört zu den zentralen historischen Lehren Europas, die auch bei der Lösung der globalen Zukunftsprobleme gefragt ist. Die Außenpolitik der Europäischen Union steht vor der Aufgabe, schlüssige Antworten auf die Herausforderungen der „globalen Ordnung“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu finden. Der Aufstieg Asiens, die Auseinandersetzung zwischen Okzident und Orient, der internationale Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder die Konsequenzen aus dem Zerfall staatlicher Ordnungen sind nicht national zu bewältigen. Europa hat nicht die Wahl zwischen einer defensiven und einer offensiven Rolle. Durch die zunehmende Vernetzung ist die Welt im außen- und sicherheitspolitischen Sinne kleiner geworden. Europa wird zunehmend eine aktive außenpolitische Rolle auch mit sicherheitspolitischer Verantwortung übernehmen müssen. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist eine zentrale Aufgabe im Hinblick auf die zukünftige Bedeutung und Rolle Europas in der Welt. Die

Verantwortung

der

Europäischen

Union

wird

vor

allem

in

ihrem

direkten

geographischen Umfeld benötigt. Darüber hinaus wird ein verantwortungsvolles Europa seine Interessen in der Welt sichern und zu Stabilität und Ordnung beitragen. Hierzu gehört insbesondere: Ausbau der nicht-militärischen Instrumente der Krisenprävention und Krisenbewältigung: Die sicherheitspolitische Stärke der Europäischen Union beruht vor allem auf seiner internationalen Anziehungskraft. Eine wichtige

Lektion der letzten Jahre ist, dass es


11 Europa nicht gleichgültig sein kann, wie andere Länder regiert werden. Demokratie und Marktwirtschaft können aber nicht einfach „exportiert“ werden. Die Europäische Union kann durch ihr Beispiel und ihre Unterstützung einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die universellen Prinzipien der menschlichen Freiheit und Sicherheit befolgt und gelebt werden können. Anpassung und Stärkung der militärischen Instrumente der Krisenbewältigung: Ein verantwortungsvolles Europa wird in der Lage sein, je nach Situation der defensiven oder offensiven Option den Vorrang zu geben. Die Begründung einer konkreten europäischen Sicherheitsstrategie

sowie

einer

operativen

Politik

ist

hierfür

notwendige

Voraussetzungen. Eintreten für einen effektiven Multilateralismus und aktive Mitgestaltung der neuen globalen Ordnung: Die feste Einbindung der Europäischen Union in die NATO ist unverzichtbar. Bei der Stabilisierung des Balkans und des Nahen Ostens sowie im Kampf gegen den internationalen Terrorismus sind die Europäische Union und die NATO auf einander angewiesen. Sie können nur erfolgreich sein, wenn sie ihr Vorgehen möglichst umfassend koordinieren und nicht getrennt voneinander unterschiedliche Ansätze verfolgen. Die NATO ist für Europa Garant für die Beständigkeit der transatlantischen Gemeinschaft und der Freundschaft zu den USA. Stärkere Gewichtung der wirtschaftlichen Dimension der Außenpolitik:

Neben der

weiteren Liberalisierung des Welthandels, der auch einen wichtigen Aspekt der Entwicklungspolitik darstellt, liegen die Herausforderungen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik auch in der Bewältigung von wirtschaftlichen Krisen durch die Verknappung von Rohstoffen, Wasser, Nahrungsmitteln sowie durch mögliche Schocks an den Finanzmärkten. Europa und die USA Die Freundschaft mit den USA ist und bleibt ein Grundpfeiler der europäischen Außenund

Sicherheitspolitik

und

wesentlicher

Bestandteil

des

europäischen

Selbstverständnisses. Allen Konflikten und Vertrauenskrisen zum Trotz werden Europa und die USA durch eine gemeinsame Kultur, durch die in ihren Verfassungen garantierten Werte, durch gemeinsame

ökonomische

transatlantischen

Strukturen und politische

Verhältnis

kodifizierte

einzigartige

Interessen geprägt. Die im Kombination

von

Freiheit,

Marktwirtschaft und Pluralismus ist nicht nur die Grundlage für die transatlantische Partnerschaft, sondern stellt auch das einzig tragfähige Modell für eine stabile globale Ordnung dar. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es Differenzen über der Art und Weise, wie den gemeinsamen Interessen in der Welt Geltung verschafft und den Herausforderungen begegnet werden soll. Die europäische Außen- und Sicherheitspolitik darf nicht als


12 Gegengewicht oder als Gegensatz zu den USA entwickelt werden. Vielmehr geht es darum, dass Europa und Amerika die Politik des „transatlantischen Westens“, den sie gemeinsam

darstellen,

auch

gemeinsam

entwerfen

und

durchführen.

Eine

gleichberechtigte Partnerschaft und die gleichmäßige Verteilung der Lasten ist hierfür die notwendige Voraussetzung. Dies ist nur möglich, wenn die europäischen Staaten ihre Einheit verbindlich und unwiderruflich organisieren. Das wird auch die amerikanische Sicht auf Europa bestimmen. Europa und Russland Russland ist kulturell und politisch ein Teil Europas. Gleichzeitig verfügt es aber über einen bedeutenden Anteil an Territorien, die geografisch, geschichtlich und teilweise auch politisch-kulturell, außerhalb Europas liegen. Bei den beiderseitigen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen zeigen sich sowohl Gemeinsamkeiten wie Gegensätze. Die Europäische Union und Russland stehen vor gemeinsamen Herausforderungen vor allem in der Sicherheits- und Energiepolitik. Handelskonflikte und sicherheitspolitische Auseinandersetzungen erschweren jedoch die harmonische Entwicklung der europäischrussische Partnerschaft. Eine tiefere gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindung Russlands mit der Europäischen Union ist für beide Seiten alternativlos. Eine Erweiterung der Europäischen Union über den gegenwärtigen stand hinaus kann nur dann erfolgreich gestaltet werden, wenn Russland partnerschaftlich in diesen Prozess eingebunden ist. Im Interesse seiner Sicherheit, Stabilität und Prosperität ist Europa auf ein demokratisches und wirtschaftlich starkes Russland angewiesen. Europa, der Nahe Osten und Nordafrika Die Länder des Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas sind für Europa sicherheitspolitisch von zentraler Bedeutung. Die Konflikte in der Region und der israelisch-palästinensische Konflikt im Speziellen betreffen europäische Interessen ganz unmittelbar. Die Stabilisierung der Region ist ein Kernanliegen der Europäischen Union und Voraussetzung für die innere und äußere Sicherheit Europas. Hierzu ist es notwendig, dass die Europäische Union ihre Interessen in der Region definiert und eine ambitionierte operative Strategie ausarbeitet, die durch kohärente, gemeinsame Schritte umgesetzt wird. Dies setzt voraus, dass die Europäische Union finanzielle und ökonomische Unterstützung für die Region zukünftig mit einer stärkeren Verantwortung in der Krisenprävention und

-bewältigung kombiniert. Hierbei gilt es, historische

Erfahrungen in der Region zu berücksichtigen und auf die neue „arabische Öffentlichkeit“ einzugehen.


13 Wichtige Herausforderungen für die europäische Politik sind mittelfristig die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, die Stabilität Nordafrikas, die Zukunft des Libanon und des Irak sowie das iranische Nuklearprogramm. Die Instabilitäten im Nahen Osten beruhen nicht nur auf nationalen Krisen, sondern sind länderübergreifend. Allerdings hat sich kein gemeinsamer Ansatz zur regionalen Sicherheit herausbilden können. Daher wird Europa in der Verantwortung stehen, Visionen für den Aufbau einer tragfähigen Sicherheitsarchitektur für diesen Raum mit zu entwickeln. Mögliche Modelle sind die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Stabilitätspakt auf dem Balkan. Europa und die Entwicklungsländer Die Europäische Union wird ihrem Selbstverständnis von einer Wertegemeinschaft nur gerecht, wenn sie ihre Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit auch über die eigenen Grenzen hinaus praktiziert. Die Europäische Union kann sich nach außen nicht als eine Insel der Reichen abschotten. Es wird ganz wesentlich an Europa liegen, ob die ärmeren Regionen der Erde faire Chancen erhalten. Es wird entscheidend sein, dass nicht nur im Inneren des Kontinents ein Umgang mit den natürlichen Ressourcen praktiziert wird, der mit dem Gebot der Nachhaltigkeit vereinbar ist; Europa wird auch den eigenen Ressourcenverbrauch

daran

messen

müssen,

welche

ökologischen

Folgen

ein

vergleichbarer Ressourcenverbrauch in anderen Weltgegenden nach sich zieht. Eine europäische Entwicklungspolitik, die sich an dem Leitbild einer Globalisierung orientiert, die keine Menschen oder Länder ausgrenzt oder marginalisiert, wird diesem Gedanken

gerecht

werden.

Dies

bedeutet,

dass

die

Europäische

Union

durch

Verbesserungen im Welthandelssystem, durch die Entschuldung der ärmsten Länder und durch

die

Gestaltung

und

Stärkung

einer

internationalen

Ordnung

den

Entwicklungsländern die Möglichkeiten eröffnet, an den Chancen der Globalisierung teilzuhaben

und

nicht

nur

ihren

Risiken

ausgesetzt

zu

sein.

Eine

nachhaltige

Entwicklungspolitik bedeutet daher Integration der Entwicklungsländer in die Märkte der Industrieländer durch Marktöffnung und Beseitigung von Handelsprotektionismus.


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