SHIFT Vol. 5 Leseprobe

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MUT ZUR VERÄNDERUNG

TOD VOL. 5 VOL. 5 | WINTER 2016 | 7 € A: 7,70 € | CH: 12 CHF | LUX: 8 €

LEBEN, UM ZU STERBEN? STERBEN, UM ZU LEBEN?


WORLD WIDE WEIRD Kuriositäten und herrlich Verrücktes aus aller Welt Zusammengestellt von Kathrin Ernsting

Paraguay

Hilfe, unser Gras ist weg!

USA

Mal eben das Haus geklaut Sie wollte nur mal eben mit dem Hund rausgehen – und schon war es passiert: Als Malinda Crichton nach Hause kommt, fehlt genau das – ihr Haus. Es ist zugegebenermaßen klein, um nicht zu sagen winzig: Gerade einmal 4x10x2,5 Meter misst das selbstgebaute Eigenheim auf Rädern. Die Polizei von West Sacramento (Kalifornien) fand das Diebesgut in der Nähe des örtlichen Marktes wieder. Dort hatten es die Diebe abgestellt, von denen jede Spur fehlt.

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Da staunten die Polizisten im ostparaguayisch­ en Itakyry nicht schlecht: Die Frau, die vor ihnen stand, wollte tatsächlich den Raub von 1.300 Kilogramm Marihuana anzeigen. Was sich wie ein Scherz anhört, war für ihren Lebensgefährten, der zusammen mit ihr das Cannabis anbaute, alles andere als amüsant. Ihn hatten die Räuber bei ihrem Beutezug entführt. Fast eine Woche später tauchte er unversehrt wieder auf und gab im Verhör zu, er und seine Lebensgefährtin pflanzten Marihuana zum illegalen Vertrieb an. Hoffentlich kommt es im Gefängnis nicht zum Wiedersehen mit den Räubern.

Niederlande

Tesla trägt Trauer Für eine Fahrt mit diesem Traumwagen muss man mit dem Leben bezahlen: Ein Exemplar seines begehrten Elektroautomodels S ließ Tesla für einen Kunden um 80 Zentimeter verlängern, einen Boden in Schiffsdielenoptik verlegen und großflächige Glaselemente im Dach verbauen. So kann das niederländische Bestattungsunternehmen Lans & Busscher nämlich das letzte Geleit umweltfreundlich anbieten. Auch andere kuriose Leichenwagen bietet das Bestattungsunternehmen an, darunter etwa VW-Bullis, Hot Rods und Fahrräder.


Mali

Gegner gerettet

Indien

Schnapp-Schuss Dass Selfie-Posen gefährlich sein können, weiß inzwischen jedes Kind. Nur bis nach Indien scheint sich die Weisheit nicht herumgesprochen zu haben. Nachdem Forst­arbeiter dort den Fang einer Riesenphyton dokumentieren wollten, drängte sich ein Passant mit aufs Beweisfoto. Jetzt hat er nicht nur ein einmaliges Erinnerungsfoto, sondern in der Schulter schicke Narben von einem Schlangenbiss.

Vom Badboy zum Lebensretter – diesen Imagewandel schaffte Fußballprofi Serge Aurier im Nationaldress der Elfenbeinküste im WM-Qualifika­ tionsspiel gegen Mali. Als Malis Mittelfeldspieler Moussa Doumbia nach einem Kopfballduell auf den Boden knallte, verschluckte er seine Zunge, konnte nicht mehr atmen und blieb regungslos liegen – bis Aurier beherzt zugriff, ihn auf die Seite legte und die Zunge aus dem Hals zog. Eine Heldentat – nicht nur dann, wenn man sonst für Pöbeleien und Schlimmeres bekannt ist.

Deutschland/Italien Japan

Tierisches Date Was wie ein seltsamer Mädchentraum klingt, ist in Japan Realität: Dort können weibliche Smartphone-Besitzerinnen nun endlich Pferde daten. Oder zumindest fast. Mit der App „Uma no Prince-sama“ holen sie sich ihr tierisches Date virtuell nach Hause – ein digitales Pferd mit Menschenkopf. Ziel des Spiels ist es, das Herz des Pferdemenschen zu gewinnen, indem man es trainiert. Ja genau – zum Wiehern komisch!

Konsul von Seborga In einem unscheinbaren ­Münchener Keller findet man das Konsulat von Seborga. Unbekannt? Kein Wunder, schließlich ist das selbst ernannte Fürstentum von kaum einem Staat der Welt anerkannt. Unter Fürst Marcello I. gibt es für das seborgische Volk dennoch eigene Briefmarken, Pässe und Führerscheine. Seit rund fünf Jahren vertritt der 55-jährige Bernd Lesoine das kleine, in Ita­lien gelegene Fleckchen. Der ­Konsul in Deutschland sieht seinen Job allerdings nur als Hobby, sein Geld verdient er weiterhin als Frauenarzt.

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Bevor ich sterbe, möchte ich  ... Bevor ich sterbe, möchte ich… ja was eigentlich? Zahlreiche Messebesucher der FAIR ­FRIENDS in Dortmund blieben eine ganze Weile vor unserer Pappwand stehen, lasen und lachten über die Antworten – und überlegten sich ihre eigenen. Die Künstlerin Candy Chang brachte nach dem Tod einer nahestehenden Person im Jahr 2011 i­n ihrer Nachbarschaft in New Orleans eine riesige Kreidetafel an der Wand eines ­verlassenen Hauses an und fragte darauf: „Before I die, I will…“ In kürzester Zeit ­konnten Anwohner sich auf diese Weise mitteilen und eine neue Perspektive gewinnen. Auch wenn im Titel der Aktion das Wort „sterben“ vorkommt, liegt der Fokus ganz klar auf dem Leben und seiner ganzen Fülle. Und jetzt kommst du: Teile uns deine Antwort per E-Mail an shiftback@shiftmag.de oder auf Twitter unter dem Hashtag #shiftianer mit – oder schreib sie direkt ins Heft und schick uns ein Foto davon:

Bevor ich sterbe, möchte ich ...

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NACHDENKEN

&

MITREDEN



„Die MIT macht


Konfrontation DEM TOD mich reicher“ Text Debora Höly

Manchmal ist das Leben in wenigen Sekunden zu Ende. Als Notfallseelsorger begleitet Pfarrer Uwe Rieske Menschen, die nach plötzlichen Todes­ fällen zurückbleiben. Er weiß, dass der Tod eines geliebten Menschen die Hinterbliebenen oft ein Leben lang begleitet. Herr Rieske, mit welchen Herausforde­ rungen werden Sie als Notfallseelsorger am Einsatzort konfrontiert? Zunächst einmal ist es herausfordernd, nicht zu wissen, auf wen man trifft und was genau dieser Person zugestoßen ist. Mit einer Kollegin war ich neulich im Einsatz in Köln. In einem Haus, in dem behinderte und alte Menschen zusammenleben, war ein psy­ chisch kranker Mann aus dem dritten Stock gesprungen und dort auf der Terrasse gelan­ det, auf der viele Bewohner saßen. Er starb in den Armen einer Betreuerin. Das Einsatz­ stichwort, das ich erhielt, war „Suizid in ei­ nem Altenheim“. Dann bekam ich die genaue Adresse und die Information, dass Bewohner und Mitarbeitende dies unmittelbar miter­ lebt haben. Auf der Fahrt telefonierte ich schon mit dem Notarzt, der mir die Situation vor Ort beschrieb und mitteilte, dass es keine Überlebenschance gab. Dort angekommen führten wir dann Gespräche, um zu schauen, was die einzelnen Menschen in dieser Situa­ tion brauchten.

Mehr neuen dazu in der ol. 5 V e Ausgab op juiced.de/sh

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COLA-SÄRGE JAZZ-BEERDIGUNG

Trauerrituale aus der ganzen Welt Zusammengestellt von Christine Faget

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New Orleans

Accra

USA

Ghana

Mit Jazz in die Ewigkeit

Bestattung in der Tomatenkiste

Stirbt ein Musiker in New Orleans, ertönt fast immer das altbekannte Gospellied „Oh when the Saints“. In der afroamerikanisch geprägten Stadt hat sich ein ganz eigenes Trauerritual entwickelt. Bei „Jazz-Beerdigungen“ begleitet eine Brassband die An­gehörigen mit traurigen Hymnen zum Friedhof. Sobald sich alle verabschiedet haben, stimmt diese schlagartig fröhliche Swing-Rhythmen an. Dann strömen Schaulustige in einer „second line“ hinzu und der Korso feiert das Leben des Verstorbenen mit wedelnden Taschentüchern und Schirmen, Tanz und Gesang.

Die Cola-Dose für den Getränkehändler, die Tomatenkiste für den Gemüsebauer und die Boeing für den Piloten – Künstler der Volksgruppe Ga aus der Region Greater Accra stellen für Verstorbene aus­ gefeilte Särge her. Denn die Ga glauben, dass ein Mensch im Jenseits weiterlebt. Deshalb beerdigen sie den Leichnam in einem Sarg, der zu den Fähig­keiten und Träumen des Verstorbenen passt. Die Sargkünstler sind inzwischen weit über die Grenzen Ghanas bekannt und stellen auch in internationalen Kunstmuseen aus.

Malakialina Madagaskar

Familienfest mit den Ahnen Alle fünf bis elf Jahre trommelt eine Familie in Malakialina die komplette Verwandtschaft zusammen: Dann holen sie die Ahnen aus der Familiengruft und tragen die sterblichen Überreste durch das Dorf. Bei Tanz, Gesang und Unmengen von Alkohol tauschen die Familienmitglieder aktuelle Neuigkeiten aus, drücken den Toten noch einmal und wickeln die Knochen in ein neues Leichentuch. Der Ahne soll bis zur nächsten „Famadihana“, wie diese Umbettung der Toten genannt wird, schließlich nicht erfrieren.

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Funeral Food Was beim Leichenschmaus international auf den Tisch kommt

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Zusammengestellt von Kathrin Ernsting

Frisches Fleisch Bei Beerdigungen ist es in Eritrea undenkbar, den Gästen kein frisches Fleisch anzubieten. Das kann die Familien schnell über den Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten hinaus ­treiben. Oft gehört bereits das Schlachten zur Zeremonie oder wird als Teil eines Rituals vollzogen.

Kürbis für trauernde Herzen Nach buddhistischer Tradition besteht das Essen einer Trauerfeier in Sri L ­ anka aus Reis, Kürbis, Salz, Fisch und Gemüse. Man sagt, Kürbis sei gut für trauernde Herzen. Salz und Fisch s­ ollen die durch Tränen verlorenen körpereigenen Salze ­erneuern. Das Gericht im Alltag zu kochen, gilt als ein schlechtes Omen.

Vielfältiger Beerdigungskuchen

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Unter einem typischen Beerdigungskuchen verstehen viele – vor allem in den nördlicheren Regionen Deutschlands – Blechkuchen. Ob mit Streuseln, Butter oder Zucker und Zimt: Die Rezepte sind so vielfältig wie die Bäcker. Dazu reicht man im Café heiße Getränke.

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ENDLICH UNENDLICH? Auf der Suche nach dem ewigen Leben

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Was hat es auf sich, mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit? Verwoben in Religion, K ­ ultur und Kunst, zieht sich die Thematik wie ein roter Faden durch die Geschichte. Dabei stellt sich die Frage, wie erstrebenswert eine Gesellschaft der Unsterblichen eigentlich ist.

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Eliminieren wir Krankheit und ­Alter als Todes­ursache, ­kommen wir auf eine durchschnitt­liche ­Lebenserwartung von 5.775 Jahren – von der Ewigkeit weit entfernt.

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Text Carina Prunkl

ie Utopie der Möglichkeit, dem Tod dauer­ haft zu entwischen, ist in etwa so alt wie die menschliche Zivilisation selbst. Schon in der griechischen Mythologie war die Rede von der sagenumwobenen Götterspeise Ambrosia, de­ ren Verzehr ewiges Leben verheißen sollte. Und auch jenseits von Mythologie und ­Religion gab es ganz konkrete Versuche, Un­ sterblichkeit zu erlangen, wie das tragische Beispiel des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi zeigt. Dieser widmete nicht nur die letzten Jahre seines Lebens, sondern auch Unsummen an Staatsgeldern der verzweifel­ ten Suche nach einem Elixier des ­Lebens, nur um schließlich an einer Quecksilbervergif­ tung (einer Folge jener „lebensverlängernden Tränke“ seiner Schamanen) zu sterben. Die Faszination Unsterblichkeit ist jedoch nicht bloß ein Phänomen vergangener Zeiten; ganz im Gegenteil – auch in unserer heutigen Gesellschaft ist der Unsterblic­h keits­topos nach wie vor allgegenwärtig: Von Twilight und The Walking Dead in der Popkultur bis hin zu literarischen Klassikern wie Oscar ­Wildes Dorian Gray. Im Internet werden wir von Empfehlungen für angeblich lebens­ verlängernde Nahrungsmittel, sogenan­nten ­Superfoods, regelrecht überschwemmt. Und auch die Medizin zieht alle Register, um uns ein möglichst langes, gesundes Leben zu ­gewähren. Auch Stimmen von Wissenschaft­ lern, die uns schon bald Unsterblichkeit auf die eine oder andere ­Weise versprechen, verschaffen sich immer wieder Gehör. Dabei ist es der Menschheit bisher kein einziges Mal gelungen, (irdisches) Leben bis in die Ewigkeit zu verlängern. Im Gegenteil – die Suche nach Unsterblichkeit ist eine, die von Scheitern geprägt ist. Wie Goldgräber, die in einem Tal nach Gold graben, in dem noch nie ein einziges Nugget gefunden wurde, suchen wir eifrig nach der Formel für ewiges Leben.

Woher kommt der Wunsch nach ­Unsterblichkeit? Wieso halten wir ein ewiges oder immer­ hin sehr langes Leben für erstrebenswert? ­Eine mögliche Erklärung hierfür findet sich in der Natur: Wir haben einen Instinkt zum Überleben, den wir mit so ziemlich allen Lebe­ wesen auf dem Planeten teilen. Jedes Lebe­ wesen kämpft kontinuierlich ums Überleben. Und das haben wir mit den Lebewesen um uns herum gemeinsam: ein ins Wasser gefallenes Insekt zappelt um sein Leben genauso wie ein Mensch, der nicht schwimmen kann. Es ist der Überlebensinstinkt, der uns dazu antreibt, den Tod bestmöglich zu vermeiden. Er ist all­ gegenwärtig und primitiv, was nahelegt, dass dieser Überlebensinstinkt eine Erklärung für unsere Faszination an der Unsterblichkeit ­bildet. Aber: Der Wunsch, nicht zu sterben, ist nicht gleichbedeutend mit dem Wunsch, ewig zu leben. Während wir uns durchaus ausma­ len können, wie es sich anfühlt, nicht zu ster­ ben (das Gegenteil ist da schon schwieriger), übersteigt das Bild vom ewigen Leben unsere mentalen Kapazitäten – allein schon, weil wir uns Ewigkeit oder Unendlichkeit einfach nicht vorstellen können. Der Tod ist allgegenwärtig und auf die ­ ine oder andere Weise kommt jeder Mensch e irgendwann mit ihm in Berührung. Doch das führt zu einem Paradoxon: Auf der einen Seite wissen wir, dass es früher oder später jeden von uns trifft, dass der Tod unausweichlich ist. Auf der anderen Seite haben wir keine Vorstel­ lung davon, wie es ist, tot zu sein. Niemand kam bisher nachweislich aus dem Reich der Toten zurück, um uns davon zu erzählen. Der Autor Stephen Cave beschreibt in seinem Buch „Immortality“, wie uns jener Konflikt zwi­ schen Verstand – wir wissen, dass der Tod un­ ausweichlich ist – und Vorstellungskraft – wir sind nicht in der Lage, uns den Tod vorzustel­ len – Angst einflößt, uns beklemmt. Eine Mög­ lichkeit, den Konflikt zu lösen, wird uns durch Religionen gegeben, die uns auf eine ganz an­ dere Art Unsterblichkeit versprechen, indem sie zwischen Körper, Geist und Seele unter

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NACHGEHEN

&

MITFÜHLEN



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Neu beginn Text Simon Jahn Fotos privat

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Dana Klein führt ein Leben ohne Limits – bis ein Tag alles ­verändert. Eine Begegnung mit dem Tod bringt der 29-Jährigen eine Schwerbehinderung ein. Unglücklich ist sie heute trotzdem nicht.

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ls Dana Klein aufwacht, ist ihr Leben nicht mehr wie zuvor. Die 29-Jährige hat keine Schädeldecke mehr, kann sich nicht bewegen, nicht sprechen, auf dem linken Auge nichts sehen. Dass sie überhaupt wieder die Augen aufgeschlagen hat, grenzt an ein Wunder. Immer wieder in den vergangenen vier Monaten hatten die Ärzte zu ihrem Mann Andre gesagt: „Wenn Sie morgen wiederkommen, ist ihre Frau vielleicht gestorben. Sie steht unmittelbar vor dem Hirntod.“

Erfolgshungrig, sexy, partyerprobt Als der Tod plötzlich auf die Bildfläche trat, war Dana viel zu be­ schäftigt damit, das Leben auszukosten, um ihn kommen zu sehen. Erfolgshungrig, sexy, partyerprobt – all das war die junge Frau; all das ­genoss sie in vollen Zügen. Nach ihren Ausbildungen zur Kinderpfle­ gerin und Bürokauffrau arbeitete sie in Hannover in einer Modebou­ tique für ein kleines holländisches Label. Ein Laden, in dem man auch Champagner gereicht bekam und in dem viele Frauen mal eben 5.000 Euro ausgaben. „Ich hatte da täglich Klamotten im Wert von über 1.000 Euro am Arsch. Und wenn ich sie nicht behalten wollte, hab’ ich sie einfach in die Reklamation gesteckt“, erzählt Dana. Ihr Gehalt brachte sie eigentlich gar nicht nach Hause, sondern gab es gleich wieder im Geschäft aus.

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Nebenher modelte sie, kellnerte und arbeitete auf dem Wochen­ markt. Um besser zu v ­ erdienen, wechselte sie später in die Hotelbran­ che und dann ins Büro einer Bauingenieurfirma. Ihr Arbeitspensum war hoch – zehn, zwölf Stunden am Tag machten ihr nichts aus. Dafür ließ sie es nach Feierabend ordentlich krachen. Keine Party ohne sie und ihre Freundinnen. In Stilettos, Bikinioberteil und Minirock tanz­ te sie sogar mit den Prostituierten der Reeperbahn auf den Tischen. Auch ihr Freund, den sie übers Internet kennengelernt hatte, war mit dabei.

Alles auf Null „Dann bin ich wieder aufgewacht, war aber völlig gaga im Kopf. Ich hab’ überhaupt nicht gerafft, was los ist“, sagt Dana. „Ich lag da und hatte ’ne Windel um. Das findest du mit 29 nicht besonders toll.“ Ihren Mann erkennt sie trotzdem sofort wieder. Nur zeigen kann sie es ihm nicht. Ihre Muskulatur ist zu schlaff für Bewegungen, ein Luft­ röhrenschnitt macht das Sprechen unmöglich.

Mehr Als Danas Gedanken klarer werden, fühlt sie, dass ihre langen der neuen u in danurzdiese blonden Haare samt Schädeldecke fehlen. „Wer hat mir be­ Vol. 5 scheuerte Frisur verpasst?“, denkt sie, als sie sich wenig später im e b a sie von sgwird Au Spiegel des Krankenhausfahrstuhls sieht. Nach und nach den Ärzten aufgeklärt, was überhaupt mit ihr passiert ist. „Die Ersatz­ ed.de/shop c i u j teile hatten sie eingefroren und mir einen Helm aufgesetzt. Den brauchte ich, damit mein Gehirn nicht auf den Boden klatscht, falls ich hinfalle.“ Dass sie zwar denken, aber sich überhaupt nicht verständigen kann, fällt Dana extrem schwer. Aber in kleinen Schritten holt sie es sich zurück: Erst mit Nicken und dann mit dem Aufschreiben erster Wörter. Die junge Frau muss alles neu erlernen. Es ist, als würde sie mit dem Leben nochmal von vorne anfangen.

Ein gemeinsamer Lebenstraum Dana und ihr Freund heirateten schon bald nachdem sie sich on­ line kennengelernt hatten. Sie schmiedeten genaue Pläne, wie ihre Zu­ kunft aussehen sollte. Beide wollten Karriere machen und viel Geld verdienen. Davon wollten sie sich möglichst viele Immobilien kaufen, um mit 50 von den Mieteinnahmen leben und in Rente gehen zu kön­ nen. So sollte ihr großer Traum Wirklichkeit werden: mit einem zum Wohnmobil um­gebauten 7,5-Tonner durch die Welt zu fahren. Für Kinder war in diesem Lebensentwurf kein Platz – aber für die demen­ te Schwiegermutter. Als diese nicht mehr in der Lage war, alleine zu wohnen, kauften Dana und Andre kurzerhand ein Haus, in dem sie so­ wohl sich als auch Andres Mutter und einer Pflegerin eine Wohnung einrichten wollten.

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Foto Stephan Junglas

„ Johnny fehlt durch seinen Humor, seine Ideen, seine frechen Kommentare.“

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JOHNNYS ERBE Mit seinen blauen Motivationsbändchen und seinem Kampf gegen den Krebs machte der Darmstädter ­Fußballfan Jonathan Heimes unzähligen Menschen Mut. Im März verstarb er nach langer Krankheit. Was bleibt von ihm?

Text Manuel Schubert

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atürlich musste auch die dritte Episode dieses südhessischen Fußballmärchens gebührend gefeiert werden. Obwohl die grauen Wolken tief hingen an jenem Samstagabend, obwohl der kühle Wind nicht gerade zur feucht-fröhlichen Sause einlud, ließen es sich die Spieler und Anhänger des SV Darmstadt 98 nicht nehmen, das Kopfsteinpflaster auf dem Karolinenplatz zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren in eine blau-weiße Fanmeile zu verwandeln. Denn im Party machen sind die Südhessen – das weiß mittlerweile jedes Kind – kein kleines Licht in der Fußballrepublik, sondern absolut meisterlich. Mindestens.

Mehr euen n r e d n i u z da Vol. 5 e b a Ausg op juiced.de/sh

Es war ja auch unglaublich, was diese Wundertruppe, dieses Kollektiv der Gescheiterten da zustande gebracht hatte: erst der sensationelle Aufstieg in die zweite Liga, dann der sensationelle Aufstieg in die Bundesliga, und jetzt der sensationelle Klassenerhalt. Also flatterten trotz der unbequemen Witterungsbedingungen die Fahnen im Wind, floss das Bier in Strömen, lagen sich wildfremde Menschen in den Armen. Doch irgendwann kam ein wenig Wehmut auf an diesem Abend des 14. Mai 2016. Inmitten der üblichen Parolen wie „Nie mehr zweite Liga“, dem Stadionklassiker „You’ll Never Walk Alone“ und der Darmstädter Vereinshymne „Die Sonne scheint“ stimmte Aytaç Sulu, der Kapitän der Achtundneunziger, plötzlich ganz andere Töne an. „Ohne Johnny wär’n wir gar nicht hier“, sang der 30-Jährige vor. Und seine Teamkollegen auf der Bühne sowie die blau-weiße Fanschar im Schatten des Hessischen Landesmuseums stimmten ein.

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