Lato, der Lauscher

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LATO

DER LAUSCHER



Der Lauscher an der Wand hรถrt das, was ihn fand.



vor dem Beginn Es gibt Menschen, die hören mehr als andere. Sie nehmen selbst die feinsten Zwischentöne wahr, die Schwingungen, die Vibra>onen, das Pulsieren - die Geräusche, die an uns in der Regel so vorbeimarschieren wie ein belangloses Meeresrauschen. Ihnen aber ist es mehr: sie hören und verarbeiten und speichern und lassen wirken.

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Lato ist ein solcher Mensch. Lato ist ein Lauscher. Er ist Kasache, und er ist anders. Kasachen seines Kalibers sind oL anders. Von Lato mÜchte ich erzählen.




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der Beginn

Latos Alter ist unbes>mmt. Nichts an seiner Erscheinung lässt sich zeitlich zuordnen, nichts passt in bestehende Raster. Lato hat über die Jahre die Gespräche, die Geräusche, die Fetzen an Leben, die SpliSer und Rudimente ringsherum angesammelt. Wie auf einer SpeicherplaSe hat er sie in die Tiefen seines Gehirns verbannt. Sie haben sich - ähnlich den Sedimenten von Flüssen und Bächen in seinen Hirnwindungen - abgesetzt. Es schwebt und schiebt und rauscht und alles findet - bisweilen nur vorübergehend - seinen Platz. Als Kind empfand er die Besonderheit seines Wahrnehmens als völlig normal, nie befragte er deswegen seine MuSer oder andere. Alles war offenkundig.


Aber es gab ein Ereignis, in den ersten Jahren, in der dunklen Hurte, in der Nacht, mit den Sternen über sich, in der Enge des Raumes, zwischen den gewebten Tüchern, in der Nähe der singenden Düne. Er war aus seinem Halbschlaf aufgeschreckt und hörte. Dann hörte er genauer. Noch genauer. Da war etwas. Und es drang auf ihn ein, verlangte nach Einlass, immer und immer wieder. Schließlich gab er nach. Er ließ es in sich einsinken. Dann schlief er wieder ein und die Zeltbahnen in der Nacht umhüllten ihn. Danach war er nicht mehr der, der er vorher gewesen war. Er war zum Lauscher geworden




Die Entscheidung Als er zum jungen Mann wurde, 채nderte sich sein Wesen, seine Bes>mmung nochmals. Erneut musste er sich der Frage, wer er denn nun sei, stellen. Nun entdeckte er das Lauschen bewusst f체r sich, nahm es an. Endg체l>g, endg체l>g.

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Grundsätzliches Die Masse an Gehörtem bereitete ihm stets Probleme. Er teilte es in unbewusst und bewusst aufgenommenes Material auf. Unbewusstes, unabsichtlich Gehörtes benö>gte einen Platz. Er wollte es isolieren. Doch vor der Isola>on stand die Auswahl. Das hat er lange erprobt, bis hin zum Automa>smus. Eine andere Art des Umgehens damit würde ihn überfordern. Da war er sich sicher. Bewusstes Lauschen aber verlangte nach Merkmalen der Unterscheidung, Es gab einen Tag, da stolperte er in das karg möblierte Zimmer zuhause hinein, die Schrankrückwand aus dem Keller vor sich hertragend, stellte sie vor das Fenster und las seiner MuSer laut vor, was er mit Tafelkreide auf das Holz geschrieben haSe. Ein Credo, an das er sich bis heute hält:

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Ich bin wer. Ich höre, was gehört werden muss. Alles hängt mit allem zusammen. Die Dinge pulsieren. Ständig. Es geht gegen das Vergessen. Es geht um Uns. Ich werde für immer sein.




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Latos WerkstaC Zu Beginn suchte er Orte auf, an denen er die Menschen hörend festhalten wollte. Er fuhr mit seinem Lada umher, übers Land, auf die Berge , in die Täler, an die Flüsse, auf der Laderampe seine wenigen technischen Apparaturen. Er besuchte Menschen und Orte, er suchte Situa>onen, an denen das Lauschen zu einem Genuss wurde.


Heute geht er anders vor. Er ist von Orten unabhängig geworden. Lato sitzt nun in seinem kleinen Anbau, seiner WerkstaS, nimmt auf, dokumen>ert, zeichnet, fotografiert, füllt No>zheLe, sor>ert Fotos, nutzt das Internet, lässt sich Material bringen, sucht und findet und bedient von dort seine Apparaturen, seine Technik. Seine WerkstaS wurde zum Raumzentrum seiner Existenz.




das Sammeln Lato ist Sammler. Triebfeder des Sammelns ist nicht nur die Lust am Erwerb von Dingen, dieses Gefühl des einmaligen Besitzers und die Hoffnung auf Vollständigkeit, sondern ebenso der Versuch, der Vielfäl>gkeit dieser Welt eine Ordnung zu geben, ihr diese Ordnung aufzudrängen. Wer sammelt, untersucht, sucht, findet und ordnet. Lato sammelte gezielt. Er sammelte Helme, Federn, alles, was mit Fliegen zu tun hat. Er sammelte Töne, Geräusche, Linien, Strings, Texte zum Fliegen, Flügel, Engelsbilder, Kapseln, Köpfe von Menschen und Astronauten. Er sammelte und sammelt.

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über das Lernen Lato hat nie studiert. Sein Wissen ist autodidak>sch. Seine Kenntnisse sind punktuell erworben, sind selbstlernend entstanden und wuchsen im Laufe der Zeit zu einem gigan>schen Ganzen zusammen. Um sich das Wissen anzueignen, das man benö>gt, um in die Welt hineinzuhorchen, in den Raum, in das Weltall, in die Sphären, in den Orbit, dafür benö>gt er nur sich selbst und die Zeit - an diesem Ort dort in der kasachischen Steppe. Und es war nie genug. Genug ist nie genug. Lato lauschte auf den Atem des Lebens und speicherte ihn in seinem Innersten wie ein Schamane das Wissen von Genera>onen speichert. Dem Horchen und Lauschen nach außen ging stets ein Horchen nach Innen mit einher.


Heute, bisweilen, möchte er sich reinigen. Dafür habe er, so glaubt er, ein MiSel gefunden, einen Mechanismus, der ihn befreit und wieder Platz schae für die Masse an Gehörtem, die er lauschend erfasst. Lato spielt den Bass, in einer Band, seiner Band, und feuert das Erlauschte und nicht mehr Benö>gte mit der Musik hinaus in die LuL, den Äther, wie er immer sagt.




aus dem Gleichgewicht Und hier kรถnnte die Geschichte zu Ende sein. So kรถnnte es mit Lato und seiner Art nun weitergehen, Tag um Tag, Jahr um Jahr: sein Soundarchiv kรถnnte wachsen, die gigan>sche Menge an Daten noch weiterwachsen. Er ist mit der Welt vernetzt, er hat seinen Punkt gefunden, seinen Ort und alles scheint gut. Sein Leben kรถnnte so ewig weitergehen. .

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Doch Lato spürt Verschiebungen, unmerklich, er merkt, dass seine innere S>mme und das Gehörte nicht mehr genau zusammenpassen. Er fühlt sich nicht im Gleichgewicht. Die Änderungen vollzogen sich ganz leicht, und wie die Gesteinsschichten eines Schiefergebirge im Laufe der Jahrtausende der Veränderung unterliegen, verschoben sich die Dinge




die Entscheidung Also tat er nun das, was er von seinen Ahnen gelernt haSe: er zog sich vor Tagen in die Hurte vor dem Haus zurĂźck, in die Nacht, in den Schutz der Sterne, lauschte ganz intensiv, wartete, wartete und vertraute. Es musste dunkel sein, er musste alleine sein, er musste sich isolieren. Und so zog es sich hin, Nacht um Nacht, Tag um Tag, lange, sehr lange. Dann haSe er Gewissheit. Er wusste jetzt. Es galt sich zu konzentrieren.

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Kurswechsel. Es ging um Umkehr. Das Lauschen und Sammeln überforderte ihn, es war zu viel, es machte ihn unfrei, brachte keine Ergebnisse mehr in seinem Inneren, versandete. Er fühlte sich wie Sisyphos. Da er letztlich nicht wusste, wie er die Masse an Daten bewäl>gen sollte und sich der verstummenden Wirkungen bewusst war, blieb nur eins: Er musste sein Leben ändern. So sollte es nicht weitergehen. Eine andere Ausrichtung, eine neue Lauschaufgabe, ein verändertes Ziel. Das sollte es sein. Es ging um die Konzentra>on auf ein Geräusch. Auf das Sammeln und Erlauschen dieses einen Geräusches, dieses Einen, des Kerns.



Er wird sich fortan auf die S>lle fokussieren. Auf die Null, auf das Nichts. Auf den Nullraum. Auf dieses eine dunkle Loch. Er wird sich auf die Isola>on dieses Zustandes konzentrieren. Das soll seine Bes>mmung sein. S>lle, nichts als S>lle soll es sein.



Jürgen Küster „LATO, der Lauscher“ ein Künstlerbuch, limi>erte Auflage 2016


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