jetzt leben&job 02 2013

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir müssen über Langeweile reden. Langeweile hat ein schlechtes Image, in Wahrheit ist sie aber ein Segen: Sie bringt uns dazu, unsere Gedanken schweifen zu lassen – dabei entstehen die besten Ideen. Durch das Internet ist die Langeweile zu einer globalen Macht geworden, die in wenigen Stunden weltweite Trends erschaffen kann (S. 6). Und wenn ein Unternehmen seine Mitarbeiter keine Sekunde abschweifen lässt, kann das deren Arbeitsleben zur Hölle machen (S. 20). Langeweile kann also ein wichtiger Antrieb sein. Eines wollen wir natürlich trotzdem garantieren: dass du dich mit diesem Heft nicht langweilst. Viel Spaß beim Lesen!

I N H ALT 4 Zustand Was wir mögen, sagt, wer wir sind. 6 Weltmacht Ein Lob der Langeweile. 8 Schmiermittel Kaffee ist ne coole Sau. 12 Schlafplatz Arbeiten im Bett vs. Schlafen am Schreibtisch. 14 Stimmung Zu Besuch bei einer Feel-Good-Managerin. 18 Bewegung Warum Betriebssport-Teams so seltsame Namen haben. 20 Qual Jean-Baptiste Malet erzählt über seine schlimme Zeit als Lagerarbeiter bei Amazon. 24 Abflug Warum der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub der schlimmste ist. 26 Grünzeug Ein fotografischer Ausflug in die Welt der Büropflanzen. 32 Rätsel Wer steht auf welche Schreibtischdeko? 34 Interview Eine Partie „Mensch, ärgere Dich nicht“ mit Fahri Yardim.

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B I S T

W E R

Unser Geschmack wandelt sich im Lauf des Lebens. Doch zu jeder Zeit sagt das, was wir gerade mögen, ein bisschen was über uns selbst.

HASSAN, 22 1. Welchen Film hast du zuletzt gesehen und gemocht? 2. Welche Accessoires magst du gerade? 3. Wo war es zuletzt im Urlaub super? 4. Welcher Mensch hat dich zuletzt inspiriert oder beeindruckt? 5. Auf welcher Website bist du gerade Stammgast? 6. Worauf könntest du im Moment nicht verzichten? 7. Was kannst du gerade überhaupt nicht leiden? 8. Welches Buch hast du zuletzt gern gelesen?

Zehn-Tage-Tour durch Osteuropa mit fünf guten Freunden!

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Auf Freunde und meine Selbstständigkeit

7 Schlechtes

Wetter

WAS HASSAN MAG, HABEN WIR HIER GEFUNDEN IGNANT.DE, FISCHERVERLAGE.DE, FREAKBUTIK.DE, GESTALTEN.TV, FANDECINEMA.COM

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VON TIM BRUENING / FOTO

U G E R A D E ?


Gestatten: Grumpy Cat, die derzeit ber端hmteste Katze der Welt. Sie w辰re nie so beliebt geworden, wenn nicht zwei Dinge so wunderbar miteinander funktionieren w端rden: die Langeweile von B端romenschen und das Internet.

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DIE K R AF T DER LANGEWEILE VON DIRK VON GEHLEN / TEXT

Wer arbeitet, dem wird irgendwann fad, und er lenkt sich ab. Früher durch Witze in der Kaffeeküche, heute mit Grumpy Cat und dem Harlem Shake. Der schnelle Klick zwischendurch ist so zu einer globalen Macht geworden.

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onah Peretti verdient sein Geld mit Langeweile. Das ist ein gutes Geschäft, denn Langeweile gibt es überall und jederzeit. Sie quält Menschen, die sich tagtäglich durch Stunden von Tabellenkalkulation und Textverarbeitung wühlen, sie erreicht aber auch diejenigen, die ihren Job lieben und spannend finden. Wahrscheinlich gibt es sogar in Barack Obamas Oval Office Momente der Langeweile. Jonah Peretti hat eine Art TV-Sender für diese langweiligen Momente im Büro gebaut. Der Sender heißt Buzzfeed und findet im Internet statt. Zuschauer dieses Senders sind Menschen, die dem „Bored at Work“-Network angehören – so nennt Peretti die Leser, die in langweiligen Arbeitsstunden nicht mehr aus dem Fenster glotzen, sondern auf Buzzfeed schauen. Das Besondere an dieser Ablenkung von der Langeweile: Sehr viele Menschen kommen auf Perettis Seite, ohne jemals „buzzfeed.com“ in den Browser zu tippen: Sie kommen durch Hinweise von Freunden. Früher erzählte man einander gegen die Bürolangeweile vor allem Witze in der Kaffeeküche. Hier tauschte man sich mit Kollegen aus, zapfte Soziales gegen die Arbeitseintönigkeit und vielleicht noch ein Getränk, das man anschließend – mehr als Vorwand für die Abwesenheit vom Computer – über den Gang trug. Natürlich bleibt die Kaffeeküche nicht nur in Büroserien im Fernsehen wichtigste Kulisse für alle möglichen Versuche gegen die Langeweile. Aber allein daran sieht man, dass es sich durchaus lohnen könnte, die Langeweile zu akzeptieren, statt sie zu bekämpfen: Statt mit lauem Kaffee kann man sich mit „Tardar Sauce“ umgeben.

Das ist der Name der populärsten Katze Arizonas – ach was, der populärsten Katze der Welt: „Grumpy Cat“. In der Welt vor dem Internet wäre man nicht auf die Idee gekommen, sich mit ihr zu befassen, doch das „Bored at Work“-Network hat aus Tardar Sauce einen Renner gemacht, eine Web-Berühmtheit: Grumpy Cat ist eine Art Postergirl der Haltung, die die Arbeitslangeweile zu einem Prinzip erhoben hat. Seit die Katze mit dem stets grimmigen Gesicht am 22. September 2012 erstmals auf Reddit auftauchte, ist sie ein weltweiter Insidergag des Web geworden – inklusive eigener Vermarktung. Im Sommer 2013 wurde vermeldet: Hollywood will einen Film mit der Figur Grumpy Cat drehen. Im Oktober war die Katze auf der Titelseite des New York Magazine zu sehen. Für die einen ist Grumpy Cat eine Art Garfield der Gegenwart, für die anderen der bekannteste Beweis für die weltumspannende Macht gelangweilter Büroarbeiter. Sie erst haben aus Tardar Sauce die berühmte Grumpy Cat gemacht. Die Katze wurde bei den Webby Awards 2013 als Mem des Jahres ausgezeichnet, also als ein Trend, dessen genauer Ursprung nicht mehr zu ermitteln ist, der sich aber in großer Geschwindigkeit durchs Netz bewegt. Mems gab es schon immer, doch seit die gelangweilten Büroarbeiter vor ihren Bildschirmen über Reddit und Buzzfeed surfen, werden Mems noch schneller verbreitet als Ostfriesen- oder Blondinenwitze früher in der Kaffeeküche. Sie erlauben den einfachen Zugang, schließen aber auch viele Menschen aus. Denn es ist nicht für jeden ersichtlich, was an einer grimmigen Katze so toll ist, dass

sie in vielen Adaptionen durchs Netz gereicht wird. Wer das Spiel aber eine Weile beobachtet hat, gehört fortan dazu. Er versteht die Geheimsprache des Webwitzes, der Grenzen überwindet und mit der ansteckenden Kraft einer Grippe weitergegeben wird. Aus der bisherigen Standardverabschiedung aus der Kaffeeküche („Ich schick dir gleich den Link“) haben Facebook und Twitter eine automatische Verweiskultur gemacht, die kleine Webwitze viel schneller als früher verbreitet. Ein Zappeltanz aus Amerika oder ein Hüftschwung aus Südkorea – die gelangweilten Büroarbeiter überall auf der Welt stürzen sich voll Begeisterung auf Harlem Shake und Gangnam Style. Sie schauen die Clips nicht nur an und leiten sie weiter, sie kommen immer häufiger auch auf die Idee, sie zu adaptieren. Eine der beliebtesten Kulissen beim Harlem-Shake-Gezappel war nicht zufällig: das Büro. Ob diese Form verlinkter Langeweile der Arbeitsmoral schadet oder diese doch eher befördert, wird Gegenstand soziologischer Forschung der nächsten Jahre sein. Bis diese zu Ergebnissen kommt, kann man aber feststellen, dass die Langeweile als verbindendes Element erstaunliche Wirkung zeigt. Menschen sind nicht mehr darauf angewiesen, Postkarten oder Sportabzeichen an ihren Bürowänden anzubringen, um an Schönes zu denken. Sie können in all der Tagesroutine ein kleines Fenster in eine andere Welt öffnen. Und sei es nur, weil sie dort ihre eigene freudlose Situation humorvoll gespiegelt bekommen. Grumpy Cats Motto lautet jedenfalls: „I had fun once. It was awful.“

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GL OD B R AUNES

VON MICHALIS PANTELOURIS / TEXT

Ohne ihn geht gar nichts: Kaffee ist mehr als ein einfaches Heißgetränk. Er ist zum Schmiermittel der Arbeitswelt mutiert. Gedanken bei einer – nein, vier Tassen Kaffee.

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DIE ERSTE TASSE, AM MORGEN Als 1985 der Film „Zurück in die Zukunft“ in die Kinos kam, wirkte es nur ein kleines bisschen verrückt, dass Doc Brown bei seiner Rückkehr aus dem Jahr 2015 keine Straße mehr braucht, weil sein Auto, mit dem er aus dieser glorreichen Zukunft zurückreist, fliegen kann. Heute wissen wir: Autos fliegen nicht. In Wahrheit hat sich überhaupt nicht viel verändert. Wer heute in einer Zeitmaschine aus dem Jahr 1985 in der Gegenwart landen würde, der würde zunächst nicht viele Unterschiede bemerken. Handys wahrscheinlich als Erstes, verbunden mit dem Internet. Dann, dass Kopfhörerkabel plötzlich weiß sind. Und schließlich, wenn er denkt, das seien aber eigentlich alles vernünftige Neuerungen und Weiß sei schließlich nicht schlechter als Schwarz, würde er an einem Laden vorbeikommen, in dem Menschen einen Venti White Chocolate Mocha oder einen Grande Soya Iced Caramel Macchiato bestellen, dafür das Sechs- oder Zehnfache dessen bezahlen, was einmal eine Tasse Kaffee gekostet hat, und mehr Kalorien aufnehmen als bei einer Hauptmahlzeit. Man könnte sagen, das Handy ist eine Evolutionsstufe des Telefons. Es hat sich entwickelt. Das mit den fliegenden Autos kommt erst noch. Aber Kaffee? Kaffee ist mutiert. Das ist keine Evolution mehr. Das ist eine Explosion. Und dabei ist Kaffee irgendwie immer noch genau das Gleiche wie immer: der Schmierstoff einer Welt, die erstens arbeitet – und zweitens immer zu früh am Morgen damit anfängt. TASSE ZWEI, DIE ARBEIT BEGINNT „Nicht für Kinder ist der Türkentrank“, hieß es früher in dem heute wahrscheinlich politisch nicht mehr ganz korrekten Kinderlied aus dem 19. Jahrhundert, mit dem didaktisch die Tonfolge C-A-F-F-E-E vermittelt wurde, „trink nicht so vi-hiel Ka-ha-ffee“. Historisch korrekt war das Lied nicht, denn Kaffee wurde zwar schon im 16. Jahrhundert im Osmanischen Reich getrunken, aber spätestens im 17. auch in Mitteleuropa. „Türkentrank“ ist Quatsch, „Reichentrank“ wäre richtiger gewesen. Die ärmeren Schichten tranken Muckefuck, gebrüht aus irgendwas. Eicheln. Zichorien. Etwas wie Kaffee. So nah wie möglich an Kaffee. Denn die ganze Welt ist abhängig. Die ganze Welt steht mit ihm auf, und „sich auf einen Kaffee treffen“ kann –vom unverbindlichsten Feindkontakt bis zum zeitsparenden Auf-den-neuesten-Stand-Bringen unter besten Freunden oder Kollegen – jede soziale Funktion erfüllen, die man sich nur vorstellen kann. In seiner archaischen Sonderform „Kaffee und Kuchen“ sogar mit echt alten Leuten. Kaffee, in den eimergroßen Venti-, Trenti- oder Was-auch-immi-Größen, ist in US-Großstädten längst das neue Rauchen beim Abhängen an der

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Straßenecke. Es ist die kleine Erholung im Büro, die Zigarettenpause der Generation Rauchverbot, die Teezeremonie des gestressten Westlers ohne Privatleben auf der Suche nach der Work-Work-Balance. Es ist erstaunlich, welche Fähigkeiten Kaffee schon rein physiologisch zugesprochen werden: Wer müde ist, trinkt ihn, um aufzuwachen. Wer gestresst ist, trinkt erst mal in Ruhe einen Kaffee. Im Krankenhaus gibt man ihn morgens zum Abführen, und in Fitnessstudios trinken die, die abspecken wollen, auf nüchternen Magen einen doppelten Espresso (ohne Zucker, klar), bevor sie auf den Crosstrainer steigen, weil das Koffein die Fettverbrennung in Schwung bringt. Das sind alles nur Beispiele für Kaffees, die man allein trinkt. Seine echte Funktion und Fähigkeit entfaltet Kaffee erst dann, wenn er in Gemeinschaft genossen wird: als Schmiermittel der Wirtschaft, der Gemeinschaft, der Welt. TASSE DREI, UNTER MENSCHEN. KONFERENZZEIT Im ersten Moment könnte man es für ein Wunder halten, dass „Kaffee trinken“ keine eindeutige Konnotation hat. „Kommst du noch auf einen Kaffee mit rauf?“ ist eine inzwischen derart klischierte Einladung zum Sex, dass man erstens abends niemanden mehr nur für einen Kaffee in seine Wohnung einladen kann und dass zweitens selbst VW inzwischen Werbung damit machen kann. (Im Radiospot sagt als Antwort auf die Frage der Frau, ob er noch auf einen Kaffee mit hochkommt, das Navigationsgerät zum Mann: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Haha.) Auf den zweiten Blick ist es gar nicht mehr erstaunlich: Es wird einfach in zu vielen sozialen Situationen Kaffee getrunken. Ein Kaffee muss gar nichts, kann aber alles bedeuten. Der Satz „Wir sollten mal einen Kaffee zusammen trinken“ kann Vorbote eines drohenden Donnerwetters sein, Meinungsverschiedenheiten zwischen Kollegen oder Abteilungen können so auf neutralem Boden und vor friedlicher Kulisse – der Cafeteria – ausgefochten werden. Von der richtigen Person ausgesprochen, kann der Satz bedeuten, dass man entdeckt worden ist. Dass Großes bevorsteht. Wahrscheinlich sollte man zumindest in seinem Berufsleben eine Einladung zum Kaffee nie ausschlagen, wenn man nicht gerade als Justizvollzugsbeamter für die Bewachung von Hannibal Lecter zuständig ist. Menschen trinken Kaffee zusammen als eine Art Mahlzeit: die nächstfriedlichere Geste unterhalb der echten, gastfreundlichen Einladung nach Hause. Ein warmes Getränk, Nahrung für Körper, Geist und Seele – das Koffein regt an, macht den Magen voll und wärmt auch im übertragenen Sinn. So viele Bräuche sind offenbar entstanden, um friedliche Absichten anzuzeigen: Nur waffenlose Hände lassen sich schütteln. Beim Anstoßen

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schwappt das Bier vom einen in den anderen Krug, sodass keiner oder alle vergiftet sind. Aber eine Tasse Wärme, das ist mehr als nur Frieden. TASSE VIER, NACH DEM ESSEN Wir müssen nicht darüber sprechen, wie Kaffee schmeckt. Es gibt inzwischen eine eigene Berufsbezeichnung für den Kaffeewirt – Barista, angelehnt an das italienische Wort für Barmann, aber mit dem eigenen Plural Baristas –, es gibt die gastronomische Kultur der „Latte Art“, der Kunstwerke in Milch auf dem Cappuccino, es gibt in den Hipster-Stadtteilen der Metropolen kleine Kaffee-Röstmanufakturen – und trotzdem schmeckt Bürokaffee wie Bürokaffee, und nur absolute Kaffee-Vollnerds reden über Kaffee wie alle anderen über Wein oder Tee. Wir alle haben schon bei Terminen Kaffee angeboten bekommen, dessen Äquivalent in Wein wir ausgespuckt hätten. Der Geschmack ist nachrangig, vielleicht fällt es gerade noch auf, wenn ein Kaffee völlig übersäuert und dünn ist, ansonsten ist ein guter Kaffee im täglichen Hausgebrauch einer, der irgendwie rund ist. Aromen, Körper, Säure – so bewertet man andere Getränke. Kaffee, der ist anders. Vielleicht sagt man es so am besten: Sekt und Schnaps sind, wenn die Arbeit getan ist. Kaffee ist genau dann, wenn es passiert. Wenn es wichtig ist. Kaffee ist dabei. Der Freund. Die coole Sau. Immer dabei.


DER WICHTIGSTE MANN IM HAUS VON KATHRIN HOLLMER / INTERVIEW

Wenn Kaffee das Schmiermittel der Wirtschaft ist, sind Baristas die heimlichen Chefs. Daniele Luongo arbeitet an der Espressobar im Verlagsgebäude der SZ. Für die meisten ist er die erste Anlaufstelle, wenn sie morgens das Haus betreten oder am Nachmittag eine Pause brauchen. Wir haben mit ihm über seinen verantwortungsvollen Job gesprochen. Daniele, ist dir und deinen Kollegen bewusst, dass euer Arbeitsplatz für uns der wichtigste Ort im Haus ist? Ja, schon. Wenn es jemandem schlecht geht, holt er sich etwas Süßes, wenn er nachmittags ein Tief hat, einen Kaffee. Hier treffen sich alle, privat, wenn sie etwas bereden wollen, das andere Kollegen nicht mitbekommen sollen. Das merke ich, wenn sie die Köpfe zusammenstecken. Oder für eine Besprechung. Hier ist das Zentrum. Bei wie vielen Gästen weißt du schon vorher, was sie bestellen? Fast bei allen, außer bei denen, die immer etwas anderes trinken. Ich merke mir auch, wenn jemand lieber viel oder wenig Milchschaum, laktosefreie oder Sojamilch mag. Dann bereite ich das schon so vor. Kennst du manche Gäste näher? Nicht privat. Wenn es ruhiger ist, frage ich schon mal, wie es ihnen geht, wie ihr Wochenende war oder in

welchem Stock sie arbeiten. Manchmal schiele ich auf ihre Chipkarte, wenn sie damit bezahlen, weil daraufsteht, ob sie Praktikant sind oder in der Buchhaltung arbeiten. Viel Zeit ist allerdings meistens nicht, weil die Schlange sonst gleich wieder so lange wird, vor allem morgens, wenn die Menschen gruppenweise von der S-Bahn-Station eintrudeln, und nach dem Mittagessen. Was ist in einer Espressobar in einem Unternehmen anders als im Café in der Stadt? Ich habe vorher in einem kleinen Café in der Münchner Maximilianstraße gearbeitet, davor bei meinen Eltern, die eine Eisdiele in der Stadt hatten. In einem Unternehmens-café gibt es kein Trinkgeld, außer wenn jemand bar bezahlt statt mit seiner Chipkarte. Dafür ist es lockerer: Früher habe ich zum Teil sechs, sieben Tage die Woche gearbeitet, das Café war immer voll, ich hatte oft nicht einmal Zeit zu essen. Ich hätte keine Nerven mehr, wenn ich immer noch dort wäre. Hier in der Espressobar muss man nicht bedienen oder abräumen, und man hat um sechs Uhr Feierabend und am Wochenende frei. Und die Gäste sind – wenigstens fast – immer dieselben. Das mag ich sehr. Im Café in der Stadt kommt fast kein Gast zweimal, außer ein paar Stammkunden. Hier im Haus lernt man sich doch ein wenig kennen, auch wenn man nicht redet. Die Gäste sagen oft, dass sie sich freuen, weil wir immer gute Laune haben. Wir im Team machen untereinander oft Späße, ich singe manchmal ein paar Zeilen aus „Volare“, dann lachen die meisten Gäste oder lächeln wenigstens und kommen ein bisschen zur Ruhe. Von manchen weiß ich auch, dass sie Italienisch sprechen, dann begrüße ich sie mit „Buongiorno!“ und spreche ein paar Sätze auf Italienisch mit ihnen, das freut sie. Und wenn jemand schlechte Laune hat? Das merke ich schon am Gesichtsausdruck oder daran, wie er „guten Morgen“ sagt. Manche bestellen auch nur schnell und sehen gleich weg oder auf ihr Handy, dann merke ich, die wollen nicht reden, die wollen nur ihre Ruhe haben. Das ist auch in Ordnung. Als Barista ist man kein Seelenklempner, wie man es Barkeepern nachsagt. Das suchen die Gäste hier auch nicht. Wenn einer traurig aussieht, male ich ein Smiley in den Milchschaum. Dann freut er sich, lächelt oder sagt „Wow“. Das macht mich dann glücklich.


VON CHRISTIAN HELTEN / TEXT & JAN ROBERT DÜNNWELLER / ILLUSTRATIONEN

DER ARBEITSPL ATZ ALS BETT Ist der Powernap wirklich eine Wunderwaffe? Auf der Suche nach Erholung unter dem Schreibtisch.

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an denkt ja, Schlafen sei etwas Einfaches. Stimmt. Eigentlich. Schwer wird es, wenn man seinen Arbeitsplatz zum Bett macht. Das versuche ich gerade. Der Powernap, das Nickerchen, der Mittagsschlaf – das müssen wahre Wunderwaffen sein. Sie machen fit und munter, heißt es in Studien, sie beugen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor und reduzieren Stress. Ich will wissen, ob das auch bei mir zutrifft. Und ich schlafe gern, warum also nicht auch mal mittags im Büro? Müde bin ich oft genug. Jetzt sitze ich also auf meinem Schreibtischstuhl, die Lehne so weit wie möglich nach hinten gestellt, die Füße auf dem Schreibtisch. Um meinen Hals schmiegt sich eine weiche Wurst: ein Nackenkissen, ausgeliehen vom fernbeziehungserprobten Unterwegsschläfer-Kollegen. Ich habe sogar eine von diesen schwarzen Schlafmasken aufgesetzt, damit es schön dunkel ist. Eigentlich recht bequem, ich habe an alles gedacht. Nur nicht an die Geräusche. Es ist erstaunlich, was man alles hört, wenn man nichts tut im Büro. Das Surren der Klimaanlage. Das Klacken, wenn sie automatisch einen Gang rauf- oder runterschaltet. Das Mausklicken der Kollegin, die mir gegenüber hinter ihrem riesigen Bildschirm sitzt. Die Schritte der Leute, die auf dem Gang an meiner Bürotür entlanglaufen. An Klicken und Klimaanlage kann ich mich gewöhnen, die stören irgendwann nicht mehr. Bei den Schrittgeräuschen ist das anders. Die sind nämlich nicht das eigentliche Problem. Das Problem sind die Leute, die sie verursachen. Sie können im Vorbeigehen durch meine gläserne Bürotür schauen. Das beunruhigt mich. Wundern die sich, dass ich schlafe? Tratschen die über mich? Das Schlafen am Arbeitsplatz hat immer noch ein großes Imageproblem. Manche

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Unternehmen bieten zwar Schlafräume oder „Napping Areas“ an. Aber es sind wenige, und wo es sie gibt, nutzen die Mitarbeiter sie oft nicht. „Es ist ein weit verbreiteter Glaube, dass Schlafen und Arbeit nicht zusammenpassen “, sagt der renommierte Schlafexperte Jürgen Zulley. „Die Leute glauben, gegenüber ihren Kollegen Ansehen zu verlieren.“ Er erzählt von Chefs, die mittags kurz schlafen, es aber nie vor ihren Mitarbeitern zugeben würden. Einer habe sich für Auszeiten sogar heimlich in ein Wohnmobil auf dem Firmenparkplatz zurückgezogen. Das mag eine Legende sein. Sicher ist trotzdem: In unserer Gesellschaft ist es nur Babys und Greisen erlaubt, tagsüber zu schlafen, ohne dafür belächelt oder mit Argwohn betrachtet zu werden. In der Öffentlichkeit wegzudämmern gilt als ein Zeichen von Schwäche. Das spüre ich jetzt, wenn jemand an meiner Tür vorbeigeht. Ich kann mich nicht entspannen. Zweiter Versuch. Ich mache mich auf die Suche nach dem Schlafraum, den es irgendwo im Haus geben soll, von dem aber keiner genau weiß, wo. Im vierten Stock hängt neben einer Tür ein Schild: „Liegeraum“

steht darauf. Nicht: Schlafraum. Drinnen: eine gepolsterte Liege, wie sie bei Ärzten steht, mit einem Kissen und einer Rolle Papier zum Abreißen. Hygienisch. Aber ungemütlich. Also wieder der Stuhl? Nein, diesmal strecke ich mich – die Kollegin gegenüber ist nicht da – unter unseren Schreibtischen auf dem Boden aus. Hier sieht mich keiner, die Schritte vor der Tür sind mir egal. Ein bisschen hart ist es, aber nach etwa fünf Minuten finde ich den Fußboden sogar ganz gemütlich. Ich döse weg. Das Telefon weckt mich. Ich lasse es klingeln – aber es hilft nichts. Auf das Klingeln folgt das Grübeln, wer das gewesen sein könnte. Die Gedanken an die Arbeit kommen zurück: Was muss ich heute noch erledigen? Habe ich die Mail an den Dingsbums schon beantwortet? Ich bin hellwach. Nicht mal zwanzig Minuten sind vergangen, seit ich mich hingelegt habe. Mist. Moment – wieso eigentlich Mist? Das war doch meine Absicht: wieder hellwach zu sein. Der Schlaf war nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck. Schlafforscher Zulley bestätigt das. Ob man wirklich einschlafe, sei sogar nebensächlich. Bei einem Nickerchen laufen keine Erholungsprozesse ab wie während eines langen Nachtschlafs. Zulley bezeichnet den Powernap als „passive Erholung“. Es gehe nur ums Abschalten, darum, dem Gehirn eine kurze Auszeit zu gönnen. Mehr sei sogar kontraproduktiv: „Schlafen Sie nicht mehr als dreißig Minuten, sonst werden Sie schlaftrunken.“ Nach ein paar Tagen bin ich sicher: Die Nickerchen bringen was. Wenn ich an einen Tiefpunkt komme, lege ich mich eine Viertelstunde unter den Schreibtisch, danach fühle ich mich deutlich fitter. Irgendwie also doch ganz einfach.


VON CHARLOTTE HAUNHORST/ TEXT

DAS BET T ALS ARBEITSPLATZ Muss man Schlafen und Arbeiten wirklich trennen? Auf der Suche nach Kreativität zwischen Kissen.

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ie Grenzen meines Königreichs sind aus Bast: An der Kopflehne ist er so hoch, dass ich daran lehnen kann, ohne mit den Schulterblättern die Wand zu berühren. Am Fußende ist er gerade noch hoch genug, dass ich alles gut überblicken kann. Zwischen beiden Grenzen liegen zwei Meter mal 160 Zentimeter, zwei Decken mit Blümchenbezug, Kissen und ein Laptop. Mein Königreich ist mein Bett. Und gleichzeitig für eine Woche mein Arbeitsplatz. Etwas Besseres hätte mir gar nicht passieren können. Ich kann mich an den wärmsten und besten Ort eines jeden Zuhauses zurückziehen – das eigene Bett. Hier ist alles weich und gemütlich – alles Raue, Anstrengende und Hektische des Arbeitslebens ist ausgesperrt. Das Bett ist der abgeschirmteste Ort überhaupt, drei Quadratmeter konzentrierte Geborgenheit und Privatheit. Der Wohlfühlort schlechthin. Diese Arbeitswoche wird bestimmt die entspannteste, aber gleichzeitig auch produktivste meines Lebens werden. Denn es heißt doch immer: Kreativ ist man vor allem dann, wenn man sich wohlfühlt. Klingt nach Win-win-Situation. Andererseits wird einem oft gesagt, dass man Arbeiten und Schlafen strikt trennen soll. Das kann man einmal die Woche irgendwo lesen. Der Geist verbinde sonst das Bett mit Arbeit und komme deshalb nachts nicht zur Ruhe, heißt es dort. Mein Bett ist jedenfalls bestens fürs Arbeiten eingerichtet. Ich habe hier schon meine Bachelor-Arbeit geschrieben. Unter dem Bett habe ich eine Mehrfachsteckdose installiert, an der Laptop, Handy und die Lampe hängen. Neben mir auf dem Nachttisch liegen außerdem Block, Stift und das Telefon. Beginnt mein Rücken wehzutun, schichte ich einfach meinen Kissenhaufen um. Ein Bett ist wesentlich variabler als ein Bürostuhl. Nur

das Beine-Übereinanderschlagen, meine typische Schreibtisch-Sitzposition, fehlt mir ein wenig. Ich variiere zwischen: Anwinkeln, über die Bettkante baumeln lassen und langmachen. Das Schönste: Der ganze Büroballast fällt weg. Im zwänge mich nicht in Skinny Jeans, die auf den Bauch drücken. Ich übermale mir die Augenringe nicht mit Abdeckstift. In meinem Königreich ist Aussehen egal. Die Interviewpartner spreche ich nur am Telefon, Kollegen kommen auch nicht vorbei. Nach ein paar Tagen bekomme ich deshalb aber erschreckende Ähnlichkeit mit Bridget Jones. Auf dem Kopf habe ich keine Frisur mehr, sondern nur noch Haare, die morgens zu einem Knödel zusammengewurstelt werden. Ums Bett herum sind leere Merci-Riegel-Papiere verteilt. Nach drei Tagen spüre ich eine gewisse Trägheit. Anders als im Büro passiert im Bett oft einfach nichts. Niemand ruft an, um irgendein neues Buch vorzustellen, keiner bittet zur Kaffeepause. Ich hatte mich darauf gefreut, abgeschirmt zu sein. Jetzt fehlen mir

Anreize und Input von außen. Mein Arbeitstag wird nur dadurch unterbrochen, dass ich immer wieder einschlafe. Anfangs rede ich mir das schön, „Powernapping“ und so. Mich powern die Schlafpausen allerdings eher aus. Wenn ich auf den Rückruf eines Interviewpartners warte und dabei einnicke, reißt mich das schrille Läuten des Telefons unsanft aus meinen Träumen. Ich bin schlaftrunken, reflexhaft möchte mein Sprachzentrum dem Anrufer ein „Verdammt, ich lieg noch im Bett, ruf später noch mal an“ zuraunzen. Glücklicherweise fällt mir in letzter Sekunde ein, dass ich nicht privat im Bett liege, sondern dienstlich. Also sage ich mit belegter Stimme „Charlotte Haunhorst, jetzt.de“ und hoffe, dass es nicht völlig zerstört klingt. Nicht erwartet hatte ich, dass ich nachts Probleme bekomme. Ich schlafe schlecht und fühle mich ständig hellwach. Wahrscheinlich, weil ich den ganzen Tag nur rumlag. Also organisiere ich mir ein straffes Abendprogramm inklusive Kochen, Kino und anschließend Kneipe. Am nächsten Tag verschlafe ich prompt. Sich an Bürozeiten zu halten ist eine Riesenherausforderung, wenn man aus dem Bett direkt in die Arbeit fällt. Am Ende der Woche hat sich mein Arbeitsrhythmus deshalb um zwei Stunden nach hinten verschoben, statt um halb zehn fange ich erst um halb zwölf an. Statt acht Stunden am Stück schlafe ich mittlerweile nur noch häppchenweise. Als das Experiment nach einer Woche zu Ende geht, fühle ich mich also weder ausgeschlafener noch kreativer oder leistungsfähiger. Gemütlicher war es, klar. Aber den Wohlfühlort Bett zum Schreibtisch zu machen, funktioniert nur begrenzt. Zum Arbeiten in die Falle gehen klingt verlockend – ist aber eine Falle.

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STIMMUNGS KANONE VON KATHRIN HOLLMER / TEXT & FRITZ BECK / FOTOS

Gl端ckliche Mitarbeiter sind gute Mitarbeiter, sagt man. Immer mehr Unternehmen stellen deswegen Menschen wie Carina ein: Sie ist Feel-Good-Managerin und k端mmert sich um die gute Laune ihrer Kollegen. Zu Besuch bei einer Arbeitsanimateurin.

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arina Meyer steht in der Mitte des Raums und hält ein Tuch hoch. Ein bisschen sieht sie dabei aus wie ein Torero, nur ist sie wesentlich besser gelaunt, eher wie ein Animateur. Sie hält das Tuch höher, über ihren Kopf, sodass es bis zum Boden fällt. Links und rechts von Carina und ihrem Tuch haben sich alle Mitarbeiter der Firma Stylight in zwei Reihen angestellt, endlich, viel Begeisterung ist nicht zu spüren. Es ist „Name Game Time“. Wie jeden Freitag um fünf. Die ersten zwei aus jeder Schlange gehen gebückt auf das Tuch zu, kurz davor richten sie sich vorsichtig auf. Als sie sich gegenüberstehen, lässt Carina den Vorhang fallen. Die zwei sehen sich an. Und sagen: nichts. Sie lachen einfach laut los. Das war so nicht geplant. Eigentlich hätte jeder den Namen des anderen rufen sollen. So sind die Regeln: Wer den Namen als Erster hervorstößt, holt einen Punkt für sein Team und darf sich setzen. Wenn keiner den Namen des anderen weiß, so wie jetzt, stellen sie sich einander vor und wieder in der Reihe an. Die Frau, die jeden Freitag fast hundert erwachsene Menschen dazu bringt, dieses seltsame Kennenlernspiel zu spielen, ist die Frau mit dem Vorhang. Carina Meyer ist 24 und studiert im zehnten Semester Europäische Ethnologie, Französisch und VWL in München. Seit einem Jahr arbeitet sie zweibis dreimal die Woche als Werkstudentin bei Stylight, einem Start-up, das eine ModeCommunity im Netz betreibt. Seit dem Frühjahr trägt sie offiziell den Titel „Feel-GoodManagerin“. Das Stylight-Büro im Münchner Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg ist voller Klischees aus der Welt der Start-ups und Internetgiganten mit ihrer verspielten Wohlfühl-Bürokultur. In jeder Ecke wird eine andere Sprache gesprochen, im Atrium hängt eine riesige Leinwand, auf der manchmal zusammen Fußball und „Germany’s Next Topmodel“ geschaut wird. In jeder der drei Sitzgruppen ringsum baumelt eine Schaukel von der Decke. Im Keller sind in der „Napping Area“ sechs Schlafplätze mit großen Sitzsäcken und Decken eingerichtet. „Die werden nicht ständig genutzt“, sagt Carina, „aber sie sollen da sein.“ Genau wie sie. Seit etwa zwei Jahren gibt es Feel-GoodManager in Deutschland, und sie werden immer mehr. Man weiß nicht so recht, wer als Erstes so eine Stelle geschaffen hat. Der Legende nach hat die Ehefrau eines GoogleGründers ihrem Mann und den ersten Kollegen, die an einem Samstag in ihrer Garage

Im Blumenladen zwei Straßen weiter begrüßt man Carina wie eine Freundin. Sie ist jede Woche mindestens einmal hier – immer wenn einer ihrer fast hundert Kollegen Geburtstag hat.

arbeiteten, belegte Brote gebracht. Schon damals soll der Begriff „Feel-Good-Managerin“ gefallen sein. Heute gibt es diesen Posten selten in großen Konzernen, sondern vor allem in Start-ups, die schnell wachsen und trotzdem ihre Gründermentalität und die flachen Hierarchien beibehalten wollen. Als Carina vor einem Jahr bei Stylight anfing, waren sie etwa vierzig Mitarbeiter. An diesem Freitag wird der einhundertste gefeiert, deshalb auch das Namensspiel. „Uns ist es wichtig, dass der freundschaftliche Umgang und die gute Unternehmenskultur, die sich von Anfang an entwickelt haben, erhalten bleiben“ sagt Benjamin Günther. Er ist einer der vier Gründer und Chefs von Stylight, und er betont diese Kultur sehr gern. Er spricht dann von „Integration“ und davon, dass sich neue Mitarbeiter „in unsere Familie“ einfinden sollen. Diese Familie bei Laune zu halten sei mittlerweile ein Fulltime-Job, sagt Günther, und deshalb gebe es Carina. Sie ist eine Mischung aus Office-, Team- und Eventmanagerin, Chefassistentin, Betriebsseelsorgerin und Rezeptionistin. Bei ihr landen Anrufe, sie nimmt Pakete an und verteilt sie, ihr Arbeitsplatz ist gleichzeitig der Empfang. Dort hat

sie Post-its mit Durchwahlen an ihren Bildschirm geklebt, dahinter bewahrt sie Aspirinund Hanuta-Vorräte, Glückwunschkarten und bunte Kreiden für die Tafel mit den aktuellen Events auf. Es klingelt. Carina öffnet die Tür, herein kommt ein Lieferant mit einem Korb voller Bananen, Kiwis, Äpfeln und Birnen. Schnell geht sie um den Empfangstresen herum und nimmt ihm den Korb ab. Auf dem Weg in die Küche nimmt sie noch zwei Kaffeetassen mit Lippenstiftabdrücken mit, die jemand vergessen hat, und räumt sie in die Spülmaschine. „Das hat auch mit Wohlfühlen zu tun“, sagt sie und hält einen Apfel nach dem anderen unters fließende Wasser. Carina kümmert sich darum, dass dreimal die Woche frisches Obst gewaschen neben der Kaffeemaschine steht – genauso wie um alles andere, das irgendwie mit dem Wohlbefinden der Mitarbeiter zusammenhängt. Sie bestellt Tastaturen und Bürostühle. Sie organisiert Ausflüge, Massageaktionen und Grillabende. Den wöchentlichen Sprachkurs. Fitnessstunden. Yogalates. Praktikanten, vor allem denen aus dem Ausland, hilft sie mit dem Papierkram. Sie sorgt dafür, dass der Kollege mit dem gebrochenen Bein ein

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„Get Well Soon“-Package ins Krankenhaus geschickt bekommt. Dass auf den Toiletten immer Kaugummis, Tampons und eine Bürste bereit liegen. Dass auf der Weihnachtsfeier jeder Mitarbeiter zu jedem Gang an einem anderen Platz sitzt – fürs „Teambuilding“. Und dass jeder zum Geburtstag eine Karte, eine Blume und einen Geschenkgutschein bekommt. Man könnte sagen, Carina ist das „Mädchen für alles“. Feel-Good-Managerin klingt aber viel besser. „Was Feel-Good-Manager in Unternehmen machen, das gab es in irgendeiner Form schon immer, nur nicht in einer Person“, sagt die Diplom-Psychologin Sabine Siegl. „Bereits in den Sechzigerjahren haben Konzerne mit Sportgruppen und eigenen Schwimmbädern um Mitarbeiter geworben.“ Heute wird das immer wichtiger. Laut einer Umfrage des IT-Branchenverbandes Bitkom beobachtet jedes zweite Unternehmen einen Mangel an Fach- und Führungskräften. Und gleichzeitig wird besonders jungen, hochqualifizierten Menschen die Arbeitsatmosphäre immer wichtiger: In einer Umfrage des Gesamtverbands Kommunikationsagenturen (GWA) unter Studenten gaben 57 Prozent der Befragten an, dass ihnen ein freundschaftliches Arbeitsklima bei der Wahl ihres Arbeitgebers sehr wichtig ist – vom Gehalt sagten das dagegen nur 34 Prozent. Aus diesem Grund lassen sich die Firmen viel einfallen, um ihre Mitarbeiter zu halten und neue anzuwerben: Betriebskindergärten werden gegründet, Masseure ins Büro bestellt, Schnitzeljagden veranstaltet. Bei Stylight dürfen die Mitarbeiter auch am Wochenende die Büroräume nutzen, um mit ihrer Familie zu skypen. Es gibt gratis Müsli, einen Kühlschrank voller Joghurt und flexible Arbeitszeiten. Und Carina. Für die Mitarbeiter ist sie leichter anzusprechen als ihre Vorgesetzten, ganz egal wie banal ihr Anliegen ist. Manche kommen zehnmal am Tag zu ihr, und das mit allen möglichen Ideen. „Jemand hat vorgeschlagen, dass wir Schaukeln aufhängen“, sagt sie. „Jetzt haben wir Schaukeln.“ In der firmeninternen Facebook-Gruppe hatte gerade jemand die Idee, einen „Chic Friday“ einzuführen, als Gegenteil eines „Casual Friday“. Carina wird das beim nächsten Treffen mit den Chefs ansprechen. Unter „Feel Good“ kann man viel verstehen. Arbeitspsychologen sind eher kritisch, was das neue Berufsbild angeht. „Ich finde die Idee eines Feel-Good-Managements gut, aber nur wenn sie als Ergänzung verstanden

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wird“, sagt Sabine Siegl. „Gemeinsames Grillen und Klettern fördern sicher den Zusammenhalt und die Identifikation mit dem Unternehmen. Das Wichtigste ist aber, dass Mitarbeiter die Wertschätzung ihrer Vorgesetzten spüren und merken, dass sie eine Perspektive haben. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich so viele Feel-Good-Manager einstellen, wie ich will. Es wird nichts bringen.“ Auch Prof. Dr. Rainer Wieland, der Arbeitsund Organisationspsychologie an der Bergischen Universität Wuppertal unterrichtet, zeigt sich skeptisch: „Man kann Wohlfühlen nicht managen. Ohne Ausbildung in Arbeitspsychologie oder betrieblichem Gesundheitsmanagement ist Wohlfühlmanagement nicht ganzheitlich möglich. Was nützt mir gratis Müsli, wenn mein Vorgesetzter einen autoritären Führungsstil hat und mir keine Gestaltungsspielräume bei der Arbeit lässt?“ Mit ernsthaften Sorgen kommen die Mitarbeiter bislang nicht zu Carina, eher mit Wünschen, die ihren Alltag erleichtern oder ihnen – Stichwort Schaukeln – irgendwie gute Laune machen. Dass es mit ihr jemanden gibt, der nur dafür da ist, ist offensichtlich praktisch. Tiefer gehende Probleme lösen – oder davon ablenken – kann man weder mit Obst noch mit Massagen. Dafür sind FeelGood-Manager auch gar nicht ausgebildet. Manche haben vorher BWL mit Schwerpunkt Personal oder Sportwissenschaften und Pädagogik studiert, andere sind ausgebildete Eventmanager. Carina steckt als Werkstudentin noch mitten in ihrem Studium. In der Mittagspause sitzen die Mitarbeiter zusammen auf den Bierbänken in der Mitte des Atriums. Die einen haben sich eine Semmel vom Bäcker geholt, andere Lasagne vom Italiener. Carina ist mittendrin. Und stellt Fragen: nach der Erkältung, dem neuen Mantel der Praktikantin aus der Personalabteilung und dem Projekt, an dem die Kollegen arbeiten. Small Talk? Nicht nur, sagt Carina: „An den Reaktionen auf meine Fragen merke ich, wie die Leute drauf sind.“ Bevor sie sich wieder an den Schreibtisch setzt, rückt sie den herzförmigen Kaktus auf der Empfangstheke gerade. Erst jetzt kommt sie dazu, den Schokoriegel zu essen, der schon seit dem Vormittag angebissen neben ihrer Tastatur liegt. „Die zwanzig Stunden in der Woche, die ich hier bin, sind immer sehr vollgestopft“, sagt sie. Bisher gibt es nur eine Handvoll FeelGood-Manager in Deutschland, vor allem in Teilzeitstellen. Eigentlich müsste man sagen: Feel-Good-Managerinnen. Es arbeiten fast

nur Frauen in diesem Job. Psychologin Sabine Siegl erklärt sich das mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, denen zufolge Frauen im Kommunikativen besser seien. „Es kann aber auch an der schlechten Bezahlung liegen. Ein Managergehalt kriegt eine FeelGood-Managerin jedenfalls nicht.“ Carinas Job wird wohl nicht so bald Standard in allen Unternehmen sein, in Stellenanzeigen werden kaum welche gesucht. Trotzdem starten bald die ersten Aus- und Weiterbildungsprogramme. Die Bremer Gesundheitsmanagerin Ingrid Kadisch bietet ab Dezember 2013 die erste Ausbildung zum Feel-Good-Manager in Deutschland an. An der Greiner Akademie, der Weiterbildungsakademie einer Unternehmensberatung in Stuttgart, startet im Frühjahr 2014 eine einjährige Weiterbildung zum Feel-Good-Manager. Sie richtet sich „an Personalverantwortliche aller Branchen“. Dort wird in der ersten Unterrichtsstunde sicher auch ein Kennenlernspiel gespielt.


Anrufe annehmen, Kaffee nachfüllen, Obst organisieren, Praktikanten betreuen. Manchmal scheint es, als wäre Feel-Good-Managerin nur eine wohlklingende Übersetzung für: Mädchen für alles.

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EINE ANDERE L IG A

Dass Menschen mit ihren Kollegen Sport treiben, wundert längst niemanden mehr. Aber warum geben die ihren Teams nur so langweilige Namen? Damit sich das ändert, haben wir ein paar positive Beispiele herausgesucht. VON FLORIAN HAAS / TEXT

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ußball mit Kollegen, Joggen mit dem Hausmeister, Squash gegen den Chef: für viele ein Albtraum, der auf Turnschuhen daherkom mt. Trotzdem scheint fast jedes Unternehmen mit mehr als elf Mitarbeitern eine Fußballmannschaft zu haben. Oder eine Laufgruppe. Oder sonst was Sportliches für den Feierabend. Knapp 300 000 Mitglieder hat der Deutsche Betriebssportverband, dessen Präsident Uwe Tronnier einige Gründe für diese relativ große Zahl nennt: „Betriebssport ist oft preiswerter als der normale Sportverein, das Miteinander steht im Vordergrund.“ Adolf Jackerm ayer, Chef des Bayerischen Landesverbandes, ergänzt: „Viele sind froh, die Kollegen privat kennenzulernen.“ Was wiederum, das muss hier erwähnt werden, der eigenen Karriere nicht abträglich ist – gemeins ames Schwitzen, Leiden und (vor allem!) Siegen verbindet. Hinzu kommt: Die meisten Unternehmen unterstützen ihre Teams mit Geld, Ausrüstung und Räumlichkeiten. Klar, sie haben ein Interesse an fitten Mitarbeitern und erhoffen sich davon weniger Krankmeldungen, mehr Leistung, viel neue Kreativität. Wo wir schon bei der Kreativität sind: Hier ist gerade bei den Mannschaftsnamen viel Luft nach oben, so etwa bis zum Himme l. Ungefähr 98 Prozent der Teams haben einen Namen, der zwar superser iös ist und grundsolide – aber zugleich so viel Glamour und Raffinesse versprüht wie ein Filterkaffee aus der Kantine. „JVA Stadelheim“, „KKW Krümmel“ und „Siemens Schaltanlagenwerk“; „FC RW Metzger innung“, „SV Berufsfeuerwehr“ und „SCA Hygiene Products“; „BSG Bundeskriminalamt“ oder die (überraschend) erfolgreichen Fußball er des „SC Bayerische Landesbank“ – die Liste ließe sich beliebig fortsetze n. Natürlich gibt es dafür Gründe: Zum einen soll ja jeder wissen, wer hinter dem Team steht. Zum anderen sind Konzer ne und Behörd en bedacht auf ihr Image, weshalb Betriebssportgemeinschaften nie so wunderbare Namen tragen werden wie Theken- und Freizeitteams , die sich „Juventus Urin“, „Fellatio Rom“ oder „Mensch ist der United“ nennen dürfen. Allerdings gibt es auch im Betriebssport positive Ausreißer: Wer würde „Bosch Volleyball Chill Out Höhe“ nicht die Daumen drücken?! Hoffnung auf Humor geben auch die sehr angesag ten Firmenläufe und die Trendsportart Bowling, wo sich viele Mitarbe iter witzige Namen einfallen lassen. Letztlich aber sind Namen ohnehin Schall und Rauch. Wichtig ist bekanntlich auf dem Platz.

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1 City Bulls: Bowling, Sportgruppe der Berliner Schutzpolizei 2 HAWE Hochdruckläufer: Laufen, Sportgruppe der HAWE Hydraulik (weltweit einer der größten Hersteller von Hydraulikkomponenten, Stammsit z in München) 3 Underwater Dragons: Drachenboot, Sportgruppe der Firma ALJO (Spezialist im Aluminiumbau, Stammsit z in Berne, Niedersachsen) 4 SV Funkstreife: Betriebssportverein der Münchner Polizei mit mehreren Abteilungen, unter anderem Badminton, Volleyball, Skisport, Ju Jutsu, Segeln, Eishockey 5 Fitte Hütte: Sportgemeinschaft der Dillinger Hütte (Stahlspezialist und größtes Grobblechwerk Europas, Stammsit z in Dillingen), mehrere Abteilungen, unter anderem Fußball, Drachenboot und Laufen 6 Heiligs Blechl: Volleyball, Sportgruppe von Trumpf (Firma für Werkzeugmaschinen und Blechbearbeitung, Stammsit z in Ditzingen bei Stuttgart) 7 Die Spritzer: Laufen, Sportgruppe der Firma Stefan Becker Kunststof ftechnik (Experte für Kunststof fspritzguss, Sitz in Leopoldshöhe in NRW) 8 GSI Schnelle Ionen: Betriebssportgemeinschaft des Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung in Darmstadt, mehrere Abteilungen, mit dem größten Erfolg in Tischtennis und Radfahren 9 Gelbe Engel: Bowling, Sportgruppe des ADAC Berlin 10 Rumkugler: Bowling, Sportgruppe des Bezirksamtes Schöneberg in Berlin 11 Gardez Robe: Schach, freie Betriebssportgruppe mit Wettkämpfen im Verwaltungsgericht Berlin („Gardez“ war früher die Warnung, wenn man im Schach die feindliche Dame angriff) 12 Wallnuss: Laufen, Sportgruppe des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaf ten Leipzig 13 Post Striker: Bowling, Sportgruppe der Post in Berlin 14 Die Wellenmacher 09: mehrere Abteilungen, unter anderem Schwimmen, Tennis und Schießen, Betriebssportgemeinschaft des Autozulieferers GKN Driveline Deutschland GmbH (Stammsitz in Offenbach) 15 St. Josef Rockabillies: Laufen, Sportgruppe des Altenzentrums St. Josef in Betzdorf, Rheinland -Pfalz 16 Phönix Pharma: Fußball, Phönix Pharmahandel, Berlin 17 Bifi Racing Team: Fahrrad-Sportgruppe von Bifi, Hamburg 18 Rennsem mel: Laufgruppe der Biobäckerei Meffert (Stammsitz in Lemgo) 19 BSG Stahlwille: mehrere Abteilungen, unter anderem Fußball, Drachenboot, Betriebssportgemeinschaft des Werkzeugherstellers Stahlwille (Stammsitz in Wuppertal) 20 FC Straßenbahn: Fußball, Sportgrup pe der Münchner Straßenbahner


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DIE ROBOTER AUS AMA ZONIEN VON FABIENNE HURST / INTERVIEW & PAUL GRABOWSKI / ILLUSTRATION

„Work hard. Have fun. Make history“: Die Arbeitsphilosophie von Amazon klingt wie ein Song von David Guetta. Sie soll auf der ganzen Welt Arbeiter in die Lagerhallen des Internethändlers locken. Für die meisten Angestellten stimmt nur der erste Teil des Slogans: Sie arbeiten hart. „Zu hart“, findet der französische Journalist Jean-Baptiste Malet. Der 26-Jährige hat sich für mehrere Wochen als Arbeiter ins Amazon-Versandlager von Montélimar geschleust.

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„Work hard. Have fun. Make history“ – das klingt doch eigentlich ganz gut. Jean-Baptiste Malet: Dieser Slogan ist in allen Amazon-Lagerhallen der Welt plakatiert. Er ist geradezu symbolisch für das totalitäre Arbeitssystem, das Amazon errichtet hat. Er soll die Vorstellung von einem Arbeitgeber wecken, bei dem man zwar ordentlich schuften muss, der einen aber auch aufblühen lässt und zu historischen Taten beflügelt. In Wirklichkeit schafft das nur eine neue Form des Kollektivismus. Vor Arbeitsbeginn feuern die Manager die Arbeiter in euphorischen Reden an, „sich selbst zu übertreffen“. Sie sollen „Top Performer“ werden, denen dann alle applaudieren müssen. Und all das, obwohl es sich um eine anstrengende, unangenehme, unqualifizierte Arbeit handelt, die man nur sehr schwer länger als fünf Jahre durchhält. Viele der Amazon-Mitarbeiter sind körperlich ausgelaugt, vom Ingenieur bis zum Lagerarbeiter. Und worin besteht dann das „Have fun“? Darin, dass den Mitarbeitern Bonbons und Schokolade angeboten werden. Manchmal werden auch Tombolas veranstaltet, oder die Angestellten sollen verkleidet zur Arbeit kommen. Absurd. Doch neben diesem „Zuckerbrot“ fehlt nie die Peitsche: Ihre Produktivität wird gespeichert. Und sie erhalten schriftliche Mahnungen, wenn sie sich nicht mehr steigern. Sie werden vorgeladen und müssen über ihre vermeintliche Langsamkeit Rechenschaft ablegen – oder gleich ihre Sachen packen. Da bringen auch diese Momente künstlicher guter Laune nichts. Sie haben sich über eine Zeitarbeitsfirma bei Amazon einstellen lassen. Wie sah Ihr Arbeitsalltag dort aus? Es gibt dort zwei Arten von Jobs: Die „Picker“ sammeln die verschiedenen Produkte ein, die die „Packer“ dann einpacken. Ich habe als Picker in der Nachtschicht gearbeitet, von 21.30 Uhr bis 4.50 Uhr bin ich oft mehr als zwanzig Kilometer gelaufen. Mein Stundenlohn lag bei 9,72 Euro brutto. Vor jeder Schicht kündigten die Manager die Produktivitätsziele an, im Schnitt sollte ich zwischen 120 und 130 Artikel pro Stunde erreichen. Die Vorgabe lautete: Arbeite schneller als am Tag zuvor.

„Die Vorgabe lautete: Arbeite schneller als am Tag zuvor.“

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Wie wird das überprüft? Die Arbeiter werden ständig überwacht – durch einen kleinen Scancomputer, mit dem sie die Waren einlesen und die Standorte der Artikel abfragen. Die Maschine hängt an einem WLAN-Netzwerk und teilt dem Chef die exakte Position jedes Arbeiters mit. Auch der Arbeitsrhythmus und die Produktivität werden sekundengenau aufgezeichnet. Nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Genau. Und weil jeder Amazon-Mitarbeiter als potenzieller Dieb gilt, wird er jedes Mal durchsucht, wenn er die Lagerhalle betritt oder verlässt. Das kann bis zu vierzig Minuten dauern und geht von der Freizeit der Angestellten ab. Warum wissen wir denn so wenig über die Arbeitsbedingungen? Amazon France weigert sich, mit der investigativen Presse zu kommunizieren. Das Unternehmen schweigt über zahlreiche Arbeitsunfälle und verweigert Besuche von Journalisten auf dem Firmengelände. Die Fabrikhallen liegen meistens weit abseits, versteckt vor den Augen der Internetkunden und geschützt durch Stacheldrahtzäune wie etwa in Bad Hersfeld in Hessen. Die Leute, die ich an den Werktoren in Montélimar befragen wollte, waren alle verängstigt und wollten nicht mit mir reden. Verängstigt? Laut Firmenordnung gilt für die Arbeiter die absolute Schweigepflicht. Dabei haben sie keinerlei Zugang zu irgendwelchen Betriebsgeheimnissen. Was sie verschweigen sollen, sind die Unerträglichkeit und die Härte der Arbeit. Mehrere Artikel im französischen Arbeitsgesetzbuch zeigen, dass Amazons Forderungen an seine Mitarbeiter illegal und unbegründet sind. Eine solche Schweigepflicht darf nur zum Schutz von Firmengeheimnissen angewendet werden – nicht zur Verschleierung schlechter Arbeitsbedingungen. Deshalb haben Sie sich entschieden, selbst dort anzuheuern? Ja, weil ich finde, dass der Internetnutzer das Recht und die Pflicht hat zu wissen, wie seine Bestellungen bearbeitet werden und worin das Geheimnis von Amazons Effizienz besteht. Und welchen Preis sie hat. Wie wirken sich die Arbeitsbedingungen auf das Verhältnis unter Kollegen aus? Man begegnet nicht mehr wirklich Kollegen, sondern abgestumpften Robotern, die aussehen wie Menschen. Amazon verwendet das sogenannte 5S-Management in seinen Lagern. Dieses System stammt aus Japan und lässt sich auf Deutsch mit 5A übersetzen: Aufräumen, Aussortieren, Anordnungen befolgen, Arbeitsplatz sauber halten – und „Anomalien signalisieren“. Das kann ein Karton sein, der einen Eingang verstopft – aber auch zwei Kollegen, die die Regeln missachten. Denunziation wird bei Amazon gefördert und belohnt. Sie ist ein Mittel, um


„Denunziation wird bei Amazon gefördert und belohnt.“ in der Hierarchie aufzusteigen. Das vergiftet das Klima unter den Arbeitern total, die meisten meiner Kollegen haben richtig schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Manche wurden von ihren Mitarbeitern verraten, weil sie während der Arbeit geredet haben, und stehen seither unter besonderer Beobachtung. Sie wissen bis heute nicht, wer sie angeschwärzt hat. Manche Politiker sagen: Immerhin schafft Amazon Arbeitsplätze. Das ist ein Trugschluss. Jedes Mal, wenn Amazon bei einer Lagereröffnung lokal Stellen „schafft“, zerstört das Unternehmen gleichzeitig unzählige Arbeitsplätze im traditionellen Handel der Umgebung. Meine Studien zeigen, dass Amazon für dieselbe Anzahl an verkauften Büchern 18-mal weniger Arbeiter braucht als ein unabhängiges Buchgeschäft. Das ist vor allem schlimm für die Buchläden, aber diese Konkurrenz trifft den ganzen Einzelhandel – all die Geschäfte, die nicht nur Geldquellen für Arbeitnehmer sind, die Steuern zahlen, die Innenstädte beleben und vor allem soziale Kontakte möglich machen. Und keine Roboter beschäftigen. Was zeichnet für Sie einen guten Arbeitgeber aus? Ein guter Arbeitgeber geht auf die Bedürfnisse seiner Mitarbeiter ein, lässt sie Kollegen sein und nimmt sie nicht aus. Er etabliert keine Systeme, in denen Denunziation gefördert wird und der Einzelne in der Masse untergeht. Amazon ist nicht an einer humanen und sozialen Wirtschaft interessiert oder am Respekt gegenüber seinen Arbeitnehmern. Es geht nur um den maximalen Profit – auch wenn man dafür die menschliche Würde des Arbeitnehmers opfern muss. Welche Auswirkungen wird es haben, wenn Amazon nichts an seinen Arbeitsbedingungen ändert? Ich bin kein Hellseher, aber ich glaube, dass die Gewerkschaften sich immer mehr wehren werden. In Deutschland hat ver.di gezeigt, dass es möglich ist, viele Menschen dafür zu mobilisieren. Sie haben erkannt, welchen psychologischen Krieg Amazon führt, und widersetzen sich konsequent mit Arbeitsniederlegungen. Amazon hört seinen Arbeitern nur zu, wenn sie streiken. So wie es aussieht, wird dies das einzige Kampfmittel sein – zumindest solange die Internetkunden dort noch einkaufen.

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SCHLUSS MIT

LÄSTIG VON JUDITH LIERE / TEXT & MR.BLANK / PHOTOCASE / FOTO

Urlaub könnte so was Schönes sein. Stünde nicht davor dieses Hindernis, gegen das man jedes Mal wieder mit voller Wucht rennt: der letzte Arbeitstag.

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er letzte Arbeitstag vor dem Urlaub ist schlimmer als alle Montage des Jahres plus die versehentlich verkaterten Freitagvormittage zusammen. Er ist so schlimm, dass ich mir schon sehr oft gewünscht habe, ich wäre niemals auf die schwachsinnige Idee gekommen, überhaupt freizunehmen – weil es kurz vor der Auszeit immer so anstrengend ist. Gern würde ich einmal das schaffen, was anderen Menschen an ihren letzten Arbeitstagen offenbar gelingt: den Schreibtisch aufräumen, die Pfandflaschen abgeben, ein paar Reisetipps von Kollegen abholen und dann kurz vor 18 Uhr in aller Ruhe die Abwesenheitsnotiz im Mailprogramm aktivieren. Ich hingegen sitze an meinen letzten Arbeitstagen spätnachts erschöpft vor meinem Rechner und schreibe Artikel fertig. Gepackt habe ich natürlich noch nicht, eigentlich hätte ich Sonnencreme und etwas für die Reiseapotheke kaufen müssen, und außerdem wollte ich mir doch ausdrucken, wie ich vom Flughafen zum Hotel komme. Jedes Mal wieder nehme ich mir vor, es diesmal besser zu machen. Ich schreibe Listen, welche Aufgaben vor dem Urlaub unbedingt noch erledigt werden müssen und welche noch zwei Wochen warten können. Ich lehne zusätzliche Aufträge ab und sage: Nein, das schaffe ich vor meinem Urlaub leider nicht mehr. Doch all diese Zeitmanagementtipps funktionieren bei mir nicht. Letztlich ist es wohl mein Hang zum Prokrastinieren, der mir meinen Start in den Urlaub versaut. Ich gehöre zu den Leuten, die Druck brauchen beim Arbeiten. Druck im Sinne von Deadlines, die auch wirklich ihren Namen verdienen: Entweder der Text wird

fertig, oder er stirbt. Und ich ein bisschen mit, zumindest in der Fantasie des Auftraggebers. Was bei mir nicht funktioniert: Abgabetermine, bei denen ich weiß, dass es eigentlich noch Luft nach hinten gibt, dass ich ohne größeren Ärger auch einige Tage später abgeben kann. So etwas darf man mir nicht sagen. An das Arbeiten auf den letzten Drücker bin ich also gewöhnt – aber der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub spielt trotzdem noch einmal zwei Ligen des Grauens weiter oben. Denn vor einer zwei- oder dreiwöchigen Auszeit kommen bei mir auf einen Schlag so viele Deadlines zusammen, dass ich damit einen ganzen Friedhof füllen könnte. Also arbeite ich bis in die Nacht alles weg, was wegmuss. Schlafen, ach, schlafen kann man auch im Flugzeug, und packen, tja, da schmeiße ich halt schnell was in den Koffer. Was fehlt, kann man notfalls vor Ort kaufen (eine Annahme, die sich übrigens einmal in einem Kuba-Urlaub bitter gerächt hat – da konnte man nämlich so gut wie gar nichts kaufen). Natürlich denke ich in dieser Nachtschicht alle möglichen Exitstrategien durch, wie ich doch noch um eine pünktliche Abgabe herumkommen könnte. Schwere Krankheit, Familientragödien oder zwei gebrochene Hände vortäuschen, so tun, als hätte ich den Termin falsch aufgeschrieben – was einem halt so einfällt. In der Uni war ich einmal besonders kreativ: Ich musste einen Termin für die Hausarbeitenabgabe einhalten, sonst hätte ich den Kurs wiederholen müssen. Ich wäre wohl auch fertig geworden, wäre mir nicht ein genialer Trick eingefallen, der dazu führte, dass ich doch wieder trödelte: Ich habe unter das Deckblatt mit dem Titel einfach eine Hausarbeit aus einem anderen Fach

geheftet und so getan, als hätte ich da was vertauscht. Ein „Versehen“, das der Prof meist erst nach einigen Tagen bemerkt und in der Regel verzeihlich findet. Und schon hat man wieder Zeit geschunden! In der Arbeitswelt darf man sich aber nicht so viel erlauben wie an der Uni. Und sollte ich in der Nacht vor der Reise doch nicht alles fertig bekommen, kommt die eklige Konsequenz aus der Aufschieberei: im Urlaub arbeiten. Das ist nicht nur ein Widerspruch in sich, sondern auch demütigend, weil ich mir eingestehen muss, dass ich ein planloser Schussel bin. Und es wirft meist auch logistische Schwierigkeiten auf: Will ich den Rechner wirklich im Rucksack durch Costa Rica schleppen? Gibt es auf dem Segelboot Internet? Ich habe schon – das ist keine Übertreibung – nachts in einem Motel am Yosemite Park unter der Bettdecke (um die Mitreisenden nicht zu stören) einen zweiseitigen Artikel auf dem iPhone getippt. Ein anderes Mal saß ich drei Tage in einem Hotelzimmer in Ouagadougou, Burkina Faso – und habe Reisetipps zu Sylt geschrieben. Eins muss ich zu meiner Rechtfertigung sagen: Es ist noch immer gut gegangen. Bisher habe ich immer alles so hingekriegt, dass mir – bis auf Schlafmangel und verlorene Nerven – kein langfristiger Schaden aus der Trödelei entstanden ist. Was aber dazu beitragen dürfte, dass ich an meinem Arbeitsrhythmus nichts ändern werde. Es sei denn, ich gehe dieses Prokrastinationsproblem endlich einmal richtig an. Gleich morgen am besten. Oder zumindest bis vor dem nächsten Urlaub. Ganz bestimmt.

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VON SASKIA GRONEBERG / FOTOS

WEL COME TO

JUNGLE

In durchfunktionalisierten B端ros sind Pflanzen oft das einzig Wilde. 26 jetzt U N I& JO B N o 0 5 /1 3


THE W

o es grünt, da ist das Leben. Wo etwas wächst, da sind Frische, Freiheit und Gesundheit. Und genau aus diesen Gründen stellen sich Menschen wahrscheinlich Pflanzen in ihre Büros. Weil diese Büros Orte sind, in denen es vor allem um Funktion geht, die man gern mit ein wenig Wuchern kontrastieren möchte. Sterilität und Wildwuchs – diese Gegensätze faszinierten die Fotografin Saskia Groneberg. Sie hat für ihre Diplomarbeit in etwa fünfzehn Firmen, Verwaltungen, Banken und Ämtern nach begrünten Arbeitsplätzen gesucht. Gefunden hat sie aus dem Müll gefischte Pflanzenstummel und riesige Exemplare, die ihre Besitzer schon durch dreißig Jahre Arbeitsleben begleitet haben. Für manche sei das Grünzeug bloß Dekoration, sagt sie, „für andere ein fester Bezugspunkt im Arbeitsalltag, zu dem sie eine enge Beziehung aufbauen“.

Ganz links: Im Archiv der Münchner Stadtverwaltung darf die Pflanze über den Tisch wuchern. Links: Die Sukkulente scheint bald durch die Decke zu wachsen. Und das in den Büros des Baukosteninformationszentrums Deutscher Architektenkammern. Oben: Referat für Gesundheit und Umwelt der Stadt München.

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Saskia Groneberg hat auch im Haus des S端ddeutschen Verlags fotografiert. Die Pflanze links dient als Versteck f端r den Ventilator, im Vorzimmer der SZ-Chefredaktion hat eine Pflanze subtile Spuren hinterlassen (unten). Ganz links: In der Baukosteninformation Stuttgart muss eine Pflanze mit Ketten stabilisiert werden. Rechts: Eine Pflanze wie ein Stern, im Sekretariat der Kunstakademie in Stuttgart.

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Unten rechts: Manche Büropflanzen haben ein schweres Leben. Diesem Exemplar im Münchner Gesundheits- und Umweltreferat ist nur ein einziges Blatt geblieben. Der Besitzer der Pflanze hat es mit Tesafilm an die Scheibe geklebt. Ganz rechts: Großraumbüro einer Stuttgarter Privatbank. Oben: Ein Kaktus im Sekretariat der Kunstakademie Stuttgart.

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VON JURI GOTTSCHALL / FOTOS

Gerahmte Bilder, Fanartikel, Unordnung – ein Schreibtisch sagt viel über den Menschen, der dort sitzt und schuftet. Erkennst du, welcher Arbeitsplatz zu wem gehört?

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S


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Der Mensch, der diesen Satz hier schreibt, fragt sich gerade, was die Kollegen über seine Schreibtischdekoration denken. Es ist nämlich keine vorhanden. Rätsel (und Lösung) findest du online unter jetzt.de/tischdeko.

IMPRESSUM jetzt LEBEN&JOB Eine Verlagsbeilage der Süddeutschen Zeitung im November 2013 Verlag Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8 81677 München Tel. 0 89 / 21 83 - 0 Chefredakteur Kurt Kister Verantwortlich im Sinne des Presserechts Dirk von Gehlen Redaktion Christian Helten Art Director Joanna Swistowski Schlussredaktion Isolde Durchholz Anzeigen (verantwortlich) Jürgen Maukner Kontakt Tel. 0 89 / 21 83 - 82 73 stellen-anzeigen@sueddeutsche. de Anzeigenpreise unter http://sz-media.sueddeutsche.de

SOPHIA

WASLA

RAPHAEL

RI CHARD

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FAHRI YARDI M , ÄRGERE DICH NICHT! VON JAKOB BIAZZA / INTERVIEW

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Ein Hotel in Hamburg – alte, noble Schule: Teppiche, die jedes Geräusch schlucken, Personal, das nie zu bemerken und doch immer zur Stelle ist. Schauspieler Fahri Yardim, der mit zerknautschtem Jeanshemd und einer Frisur wie selbst geschnitten hier ist, um die Verfilmung von „Der Medicus“ zu bewerben, passt nicht in dieses Setting. Quasi alles an ihm – Gesten, Mimik, auch sein Ernst – ist laut, überbordend. Theaterbühnengroß. Ein perfekter „Mensch, ärgere Dich nicht“-Kandidat. Yardim kann von einer Sekunde auf die andere ausbrechen und den Raum mit Energie fluten – oder seine beste Freundin quiekend knuddeln. Marlene heißt die und wird – „Es stört doch nicht, wenn sie da ist?“ – das Spiel verfolgen. Ein Spiel, das unter großem Jubel mit der ersten Sechs beim ersten Wurf beginnt und – „Oh Mann, ey, das läuft!“ – viel weiteren Jubel bringt, bevor es aus Zeitgründen abgebrochen wird. Kannst du dich erinnern, wann du das letzte Mal mit etwas richtig gescheitert bist? Ich bin etwas an mir selbst gescheitert: Ich hab in meinem Leben zu viel Ja gesagt – hab mich von schöngelesenen Drehbüchern und verklärten Gesprächen bequatschen lassen, mehr anzunehmen, als ich selbst schön fand. Deshalb habe ich eine Erschöpfung erlebt, die mir nicht guttat. Hast du was draus gelernt? Das würde jetzt zu weit führen. Aber Scheitern ist immer ein Lernprozess. Ich bin deshalb auch gern gescheitert. Wie mit Anlauf schlägt er die erste Figur des Spiels: „So, dann ist jetzt wohl schon Zeit für Werbung!“ Er sagt das nicht einfach, er stößt es in den Raum – groß, laut, mit Wonne. Wie ein Gorilla auf der Balz fast. Herrlich! Und spricht, an Marlene gerichtet, weiter: „Du machst doch Schmuck, oder? Ist das deiner? Guck doch mal, wie schön der ist! Den will ich bewerben. Das ist wohl die herzlichste Antwort auf Angela Merkels Schlandkette.“ Noch während er das sagt, folgt mein Gegenschlag und – „Ah, Rache! Kacke!“ – die unangenehme Frage: Warum polarisiert Til Schweiger so sehr? Weil er erfolgreich ist. Und weil er natürlich auch sonst Stoff bietet. Er ist nicht so entfremdet durchprofessionalisiert wie die meisten, die sonst vor Kameras befragt werden. Daneben ist er einer der selbstironischsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Hier bricht der Gedanke kurz ab, weil er die Chance hat, eine Figur zu schlagen: „Gib mir ne Eins, gib mir ne Eins“, presst er hervor und würfelt: eine Eins. „Jaaaaaa!“ Warum spaltet Til dich denn? Hat viel Energie in allem, was er tut – ist aber schon auch ganz schön prollig. Ja, vielleicht in Anteilen. Aber was ist das Problem an Prolligkeit? Was stößt einen da ab? Weil’s so viel von unserem eigenen Innersten miterzählt? Ich frag mich bei allen, die sich so vehement abgrenzen,

Ein Gespräch über Rückschläge, bei einer Partie „Mensch, ärgere Dich nicht‟. Sonderregel: Schmeißt der Reporter eine Figur des Interviewten, darf er eine unangenehme Frage stellen. Umgekehrt darf der schamlos bewerben, was er will, wenn er es schafft, eine Figur des Reporters zu schmeißen.

ob sie sich nicht eigentlich insgeheim angesprochen fühlen von diesen eindeutigen Weltbildern. Du darfst noch werben. Schwieriges Ding dieses Bewerben. Das stinkt ja immer ein bisschen. Aber gut: Ich bewerbe tatsächlich den „Medicus“ – aber unbedingt im Original! Ich finde es faszinierend, was für eine Vielfalt da aufeinandertrifft! Die ganzen unterschiedlichen Typen, die eingeflogen wurden: ein Schwede, ein Franzose mit arabischem Hintergrund, Ben Kingsley – der große Sir Ben – und dann Fahri Yardim und Elyas M’Barek als deutsche, beziehungsweise österreichische Vertreter. Wie sich das vergemeinschaftet, wenn alle dieselbe Sprache sprechen: Das ist unheimlich gut gelungen. Diese Toleranz, von der da erzählt wird, das Philosophische, aber auch immer wieder die Freundschaft im Kleinen. Das hat sich auch am Set abgebildet. Man erlebt dich außerdem in einer ungewohnten Rolle: Du spielst Davout Hossein, einen opportunistischen Widerling, der aus Hass zu den Fundamentalisten überläuft. Es hat so gutgetan, dem dunklen Anteil mal wieder ein Feld zu geben! Einen zu spielen, den ich nicht abkann – und der trotzdem irgendwie vorhanden ist. Dieser Feigling! Es war toll, sich mal in dieser Farbe zu sehen. So seicht das klingt. Fast schüttelt es ihn vor freudiger Anspannung, wenn er davon erzählt. Es brodelt richtig in dir, wenn du das erzählst. Ja, total, nicht wahr?! Aber weißt du, warum? Ich hab so viel Komödie gespielt – da war diese Abwechslung einfach geil. In deiner Laudatio auf ein Projekt für den kulturellen Dialog unter Jugendlichen hast du deine Realität in Deutschland einmal so beschrieben: „Die nicht enden wollenden Beleidigungen, Zuschreibungen, Vorurteile, absurd vollendet in den Fragen vieler Journalisten: Ja, was sind Sie denn jetzt, türkisch oder deutsch?“ Ist das noch immer so? Die Frage? Klar. Unfassbar eigentlich! Und die Vorurteile? Auch noch. Wobei das jetzt so ein riesiges Fass öffnet, auf dem ich gerade lieber den Deckel lassen würde. Deshalb lieber so: Ich glaube, der soziale Status entscheidet viel stärker darüber, wie stark man Diskriminierung ausgesetzt ist, als nationale Hintergünde. Und meine Eltern sind beide Akademiker. Hier kommt die Dame vom Filmverleih, um abzubrechen. Die Zeit, man müsse verstehen. Punktsieg nach Abpfiff für Yardim also. Und Zeit für eine schnelle letzte Fragerunde: In derselben Laudatio hast du erzählt, dass du früher auf Demos Polizeiknüppel und Wasserwerfer abgekriegt hast. Was hat das ausgelöst? Schmerzen. Und dann? Ich habe mich ab da mehr beschäftigt mit der Gesellschaft, in der wir leben, und mit den demokratischen Strukturen, die wir politisch jeden Tag neu verhandeln. Es hat dich also demokratischer gemacht? Es hat mich bestärkt darin, dass Demokratie nicht von der Staatsmacht befohlen wird, sondern von den Bürgern gelebt werden muss. Puh, dick aufgetragen für ein Schlusswort ...

jetzt LEB E N & J O B N o 0 6 / 1 3 3



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