Mittelbayerisches Zeitung

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FREITAG, 6. MAI 2011

THEMEN IM BLICKPUNKT

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Obamas „bittersüßer Moment“

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MITTELBAYERISCHE ZEITUNG

WELTWIRTSCHAFTSFORUM ●

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Aus Visionen sollen Taten werden – die Skepsis aber ist berechtigt

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GROUND ZERO Der US-Präsident ist nach dem Tod Bin Ladens an den Ort gereist, an dem die Geschichte begann. ●

VON DANIEL SCHNETTLER UND ELISABETH GRÜNDER, DPA ●

„Wir können die Freunde, die wir verloren haben, nicht zurückbringen.“ Barack Obama steht im Gerätehaus der Feuerwache „Pride of Midtown“ in New York, als er diese Worte spricht. Die Feuerwehrleute lauschen ihm. 15 ihrer Kameraden hatten vor zehn Jahren ihr Leben verloren, als die Türme des World Trade Center einstürzten, nachdem Flugzeuge in sie hineingerast waren. Dann fährt er zum Ground Zero weiter. Es ist eine seltsame Stimmung, die die ganze Stadt erfasst hat. Viele New Yorker empfinden Freude und Genugtuung über den Tod des Terroristenführers. Andererseits trauern die Menschen um die Opfer der Anschläge vom 11. September. „Es ist ein kleines Stückchen Freude in einem Jahrzehnt des Leids“, kommentiert Sally Regenhard den Tod Bin Ladens. Sie hat ihren Sohn Christian verloren – er war einer der Feuerwehrleute, die versucht hatten, die Menschen aus den Türmen zu retten. „Ich empfinde eine gewisse Genugtuung, aber das wird niemals die Trauer und die Schmerzen aufwiegen, mit denen wir leben müssen“, sagt sie.

NEW YORK.

Obama hat Versprechen gehalten

Der Präsident habe sein Versprechen gegenüber den Opfern gehalten. Mindestens genauso viel bedeuten ihr die Menschen, die sich rund um Ground Zero eingefunden haben, an dem Obama einen Kranz im Gedenken an die Opfer niederlegt. „Einige Familien hatten das Gefühl, dass sie langsam vergessen werden, aber diese wunderbare Anteilnahme zeigt, dass die Menschen sie nicht vergessen.“ Es ist das erste Mal, dass Obama als Präsident diesen Ort besucht. Obama wolle diesen „wichtigen und bedeutsamen Augenblick“ mit den Angehörigen der Opfer verbringen, sagt sein Sprecher Jay Carney. „Einen bittersüßen Augenblick“, wie er ergänzt. Nancy Santana gehört zu denjenigen, denen Obama Mut zuspricht. Sie hat ihren Sohn Victor verloren, als der zweite Turm einstürzte. Er arbeitete im Restaurant in der Spitze des Gebäudes. „Er war 23 Jahre alt“, sagt Nancy Santana. Ob sie Genugtuung empfinde, nachdem Bin Laden tot sei? „Nein, es macht keinen Unterschied“, sagt sie. „Sie haben ihn getötet und er wird nicht zurückkehren.“ Gefühl von Hoffnung und Neuanfang

Eine Gedächtnisstätte an Ground Zero soll an die Opfer erinnern. Ihre Namen werden in Bronzetafeln eingraviert, die rund um zwei riesige Wasserbecken angebracht werden – dort, wo früher die Türme standen. Noch ist der Ort des Gedenkens aber eine riesige Baustelle. Neue Hochhäuser wachsen. Am 11. September, wenn sich die Tragödie zum zehnten Mal jährt, ist die Eröffnung der Gedenkstätte geplant. Der Tod von Bin Laden rückt den Ort in ein neues Licht. Seit dem 11. September 2001 gilt Ground Zero vor allem als Symbol von Terror und Leid. Nun überwiegt das Gefühl von Hoffnung und Neuanfang. Der neue „Freedom Tower“ wird mit seinen 541 Metern die ehedem 411 Meter hohen Zwillingstürme noch überragen. Es gibt aber auch kritische Stimmen, wie Ryan. „Es ist ein kleiner Sieg, aber es hat sich nicht viel geändert“, sagt der junge Mann. „Wir sind immer noch in Afghanistan, wir sind immer noch im Nahen Osten und im Irak. Und es gibt immer noch Terrorismus.“ An diesem Tag dürfte Ryan aber wenig Gehör finden. Um ihn herum jubeln die Menschen, als Obama eintrifft.

Versprechungen statt Verbesserung: Die großen Ankündigungen afrikanischer Politiker erwiesen sich häufig als reine Propaganda.

Foto: dpa

Afrika zwischen Reden und Realität zählt Ikri. Die Shell-Manager wissen von dem nächtlichen Handwerk, aber tolerieren es. Das Nigerdelta gilt als das eindrucksvollste Beispiel für den Schaden, der Rohstoffreichtum in Afrika anrichten kann. Der Kontinent verfügt über zehn Prozent der weltweiten Ölreserven, 40 Prozent des weltweiten Goldes und knapp 90 Prozent der Vorräte an Chrom- und Platinmetallen. Eine breite Basis für eine rasche Steigerung des Lebensstandards. Doch der Weg aus der Armut entpuppt sich allzu oft als Sackgasse. Auf der einen Seite sind da die nackten, fast verheißungsvollen Zahlen: Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge waren natürliche Rohstoffe für ein Viertel des afrikanischen Wirtschaftswachstums zwischen den Jahren 2000 und 2008 verantwortlich. Eine erfreuliche Bilanz, sagen die Ölmultis. Den Alltag bestimmen jedoch Menschen wie Helen Ikri. Sie ging wie die

ENTWICKLUNG In Kapstadt

wird beim Weltwirtschaftsforum der Aufschwung des Kontinents beschworen – von dem allerdings noch wenige profitieren. ●

AUS NIGERIA VON UNSEREM KORRESPONDENTEN CHRISTIAN PUTSCH ●

Die Schritte scheppern auf dem Eisensteg, mit jedem einzelnen wird es heißer. Golden erleuchten schließlich riesige Flammen die nigerianische Nacht. Sie geben den Blick frei auf Helen Ikris Arbeitsplatz. Zwei riesige Abfackelanlagen speien Abgase der Erdölförderung in die Luft, gigantische Flammenwerfer inmitten des nigerianischen Dschungels. Die 35-jährige Nigerianerin trägt ein kurzärmliges Hemd. Es war einmal weiß, Schweiß, Öl und Erde haben sich zu einem fleckigen Grau vermischt. Seit dem Ende des Gottesdienstes am Mittag steht sie hier und versucht, ein wenig von der Ölförderung des Landes zu profitieren.

KAPSTADT/ABUJA.

Indirekt wohlgemerkt – und illegal. Die Mutter von fünf Kindern trocknet auf dem Grundstück des Mineralölkonzerns Shell Kassavas: gemahlene Wurzelknollen zu einer Art Brot. „Hier legen wir es auf Holzplatten vor die Flammen, so dass es nicht Tage, sondern nur sechs Stunden dauert“, er-

DAS WELTWIRTSCHAFTSFORUM

➤ Das World Economic Forum in Kapstadt beschäftigt sich mit wichtigen Fragen der wirtschaftlichen Weichenstellung in Afrika. Unter anderem soll diskutiert werden, wie die Handelsbeziehungen zu internationalen Partnern ausgebaut werden können und wie sich das Wachstum im Land vorantreiben lässt. ➤ Veranstalter ist eine in Cologny im Kanton Genf ansässige gemeinnützige Stiftung des deutschen Wirtschaftswissenschaftlers Klaus Schwab, die in ers-

Riesige Potenziale, kaum Fortschritt

meisten in der Gegend nur vier Jahre zur Schule. Seitdem half sie ihrer Mutter beim Kassava-Trocknen. Sie leidet seit Jahren unter Kopfschmerzen und Husten. Vermutlich wegen der Gase, so genau weiß das niemand – der nächste Arzt ist Stunden weg. Ihre Familie lebt ohne Strom und fließendes Wasser in einer kleinen Hütte. Wie in vielen Ländern profitieren kleine Eliten von den Handelserlösen der natürlichen Ressourcen. Schlimmer noch: In ländlichen Gegenden bleibt nicht nur das Problem, dass Geld ankommt. Neben der Umwelt werden durch die Fokussierung auf Öl auch noch andere Industrien kaputt gemacht, wie die Landwirtschaft. Denn die Nachfrage nach Öl ist so gewaltig, dass die staatliche Förderung anderer, manchmal jahrhundertealter Wirtschaftszweige, ausbleibt. Oder, ebenso dramatisch, der Ausbau des Dienstleistungssektors verschlafen wird. Längst ist in Ländern wie Nigeria, Äquatorialguinea, dem Kongo, Su-

Sichere und unsichere Aussichten

Über die Gründe des ungenutzten Potenzials debattieren Generationen von Experten. „Von der Vision zur Aktion“, heißt das Thema der Weltwirtschaftskonferenz in Kapstadt, bei der seit Mittwoch 700 Experten und zahlreiche Spitzenpolitiker tagen. Es bleibt abzuwarten, ob Letztere die Empfehlungen in die Tat umsetzen werden. Die Kassava-Verkäuferin Helen Ikri jedenfalls hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. „Ich arbeite jeden Tag. Morgens um sechs Uhr komme ich auf die Anlage, abends um elf gehe ich“, erzählt sie. „Nur an Weihnachten bleibe ich einige Tage zu Hause.“ Ein wenig Hoffnung bleibt, dass es ihren fünf Kindern einmal besser gehen wird. Die jüngsten Töchter Ruro und Mercy, 13 und acht Jahre alt, gehen noch zur Schule. Doch wenn sie nach Hause kommen, helfen sie ihrer Mutter auf der Abfackelstation. So wie Helen Ikri selbst vor 25 Jahren damit begonnen hat, ihre Mutter zu den Flammen zu begleiten. Sollte alles normal laufen, werden sie ihrem Weg folgen.

ter Linie für das von ihr seit 1971 veranstaltete Jahrestreffen bekannt ist, das alljährlich in Davos stattfindet. ➤ Afrikas Wirtschaftsleistung wuchs im vergangenen Jahr um 4,3 Prozent, 2011 sollen es 5,3 Prozent werden, so der Internationale Währungsfonds (IWF). ➤ Aber der Boom ist nach wie vor vor allem der Ausbeutung und dem Export der Bodenschätze des Kontinents wie Öl, Uran, Titan oder Gold zu verdanken.

KOMMENTAR

dan und Angola Erdöl mit großem Abstand der wichtigste Exportfaktor. Natürlich: Insgesamt hat die Zahl der Kriege in Afrika abgenommen, auch die Armut in vielen Ländern. Doch es gibt auch besorgniserregende Kennzahlen. Der Anteil der Industrieproduktion am Bruttosozialprodukt sank in 20 Jahren von 15 auf zehn Prozent, berichtete die Afrika-Kommission. Im gleichen Zeitraum stieg er in Asien von 23,5 auf 30 Prozent.

Nur Transparenz schafft Perspektiven V

on der Vision zum Handeln – der Beginn eines neuen Kapitels in Afrika. Nobel klingt das Motto der Wirtschaftskonferenz. In den vergangenen Monaten aber machte der Kontinent wieder vor allem mit Kriegen von sich reden. Die wohl wichtigste Diskussionsplattform des Kontinents hat fraglos an Bedeutung gewonnen. Doch darf diese Bedeutung nicht überschätzt werden. Seit Jahrzehnten gibt das Forum Empfehlungen zur Verbesserung der „weichen Infrastruktur” – zum Beispiel, wenn es um die Ausbildung oder die Stärkung der Rolle der

Einnahmen einen hohen Frau geht. Zustimmung Anteil in Bildung. Doch gibt es dazu zuhauf von die Leistung der Schüler Afrikas Staatsoberhäupstagniert, wie auch die tern – zu oft bleibt es bei Lehrerausbildung. AuLippenbekenntnissen. ßerdem ist der Anteil der Nach den Aufständen Studenten im Vergleich in Nordafrika versuchen VON CHRISTIAN zu Asien erschreckend viele Staatsoberhäupter PUTSCH, MZ gering. Dabei entstünde den Eindruck zu erwenur über sie eine Mittelcken, fieberhaft an einer schicht, die dem Kontinent zu StabiliVerbesserung der Lebensverhältnisse tät verhelfen kann. zu arbeiten. Das mag in Teilen sogar Darin liegt der Kern des Problems. stimmen – es hapert jedoch an der Die trotz teils beeindruckender Umsetzung. Südafrika beispielsweise investiert mit fast acht Prozent seiner Wachstumszahlen allgegenwärtige ●

Armut ist weniger ein Resultat mangelnden Wissens als vielmehr mangelnder Implementierung. Immer wieder gilt die Konzentration der Machthaber der eigenen Machtsicherung. Das Weltwirtschaftsforum finanzieren Konzerne: Sie sollten auch in Transparenz investieren, wie etwa kostengünstiges Internet. Dann könnte das Weltwirtschaftsforum seine Botschaft stärker an die Jugend Afrikas richten. Sie ist von Armut und Arbeitslosigkeit am meisten betroffen – im Gegenzug läge dort das größte Potenzial zur Veränderung.


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