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MAN MUSS PLÄNE HABEN GARAGENVOLK

Ein Film wie ein Adventskalender, hinter jedem Tor eine andere, wundersame Welt. So ungefähr kann man sich Natalija Yefimkinas Dokumentarfilm vielleicht am besten vorstellen, der das zeigt, was er verspricht: Garagen und ihre Bewohner. Es ist ein Film über die Träume der russischen Männer (und ihrer Frauen), über ihre Leidenschaften ebenso wie über ihre Sorgen und Nöte. In den vier heiligen Wänden ihrer Abstellräume lassen sich von Hobby-Gyms über Metall- und Schnitzwerkstätten bis hin zu dem Probestudio einer Punkband alle möglichen Orte der privaten Selbstverwirklichung finden. Aber nicht die Räume sind die eigentlichen Helden hier. Es sind die Menschen, die Yefimkina aus nächster Nähe beobachtet, denen sie tief in ihre gebrochenen russischen Seelen schaut. Besonders berührt ist man von Sergej, der an Parkinson leidet, und akribisch an ein paar Hanteln für seine Tochter bastelt. Oder von Viktor, der seine Garage in jahrzehntelanger mühsamer Bauarbeit um vier unterirdische Stockwerke ergänzt hat. Einfach so, weil er graben wollte. Jetzt ist er zu alt und sein Enkel macht für ihn weiter. Aber auch skurrile Typen befinden sich unter ihnen, wie zwei Soldaten, die sich in der Umgebung als Gebirgsjäger probieren. Sie alle werkeln, bauen und beschäftigen sich. „Das Leben“, sagt der Wachtelzüchter Pavel einmal, ist so lang, wie man Pläne hat.“ Nicht alle von ihnen haben die Fertigstellung des Films überlebt. Die Verhältnisse in der kleinen Industriestadt in russischen Norden sind hart. Armut, Krankheiten, zu viel Wodka und die langen, harten Winter haben ihre Spuren hinterlassen. Aus den Garagen heraus entwirft die 1983 in der Ukraine geborene Berlinerin Yefimkina ein Mosaik der Befindlichkeiten einer Nation am Abgrund. Dafür hat sie Menschen gefunden, die uns daran teilhaben lassen, wie sie in ihren bescheidenen Lebenswelten Zuflucht, eine Bestimmung und manchmal sogar die große Liebe finden. D Pamela Jahn

¢ Start am 16.9.2021

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GARAGENVOLK

So lang man Pläne hat

Deutschland 2020 D 95 min D R: Natalija Yefimkina D B: Natalija Yefimkina D K: Axel Schneppat D S: Markus Schmidt, Barbara Toennieshen, Nicole Fischer D V: missingFILMs Natalija Yefimkina‘s documentary is about Russian men who live out their private passions in garages. According to quail breeder Pavel “life is as long as the plans that you make.“

üBER DEUTSCHLAND

Die 17jährige Russin Marina Zwetajewa verbringt den Sommer 1910 im Sanatoriumsort Loschwitz bei Dresden. Im Russland des Kriegskommunismus erinnert sie sich 1919 an diese Zeit und überblendet sie in ihrem Text „Über Deutschland“ mit einem Lobpreis der deutschen Kultur. Sie ist auf dem Sprung, eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts zu werden. Bernhard Sallmann verbindet, ergänzt und kontrastiert in seinem Essayfilm ihre Worte mit Bildern künstlerischer Artefakte und Aufnahmen aus einem gegenwärtigen Deutschland im Stillstand (gedreht wurde im März 2020).

¢ Start am 2.9.2021

Deutschland 2021 D 80 min D R: Bernhard Sallmann D D: Judica Albrecht

FREISTAAT MITTELPUNKT

Ernst Otto Karl Grassmé war ein norddeutscher Eigenbrötler, ein Sammler und Tüftler, und, laut eigenem Stempel, „Altonaer Bürgermeister im Exil“. Der Exzentriker, der abgeschieden auf einem zugemüllten Moorgrundstück lebte, war während der Nazizeit zwangssterilisiert worden. Bis zu seinem Lebensende 1992 kämpfte um unangepasste Souveränität. In Konflikt mit den Nachbarn brachten ihn dabei nicht nur die langen Briefe an junge Mädchen der Umgebung. FREISTAAT MITTELPUNKT erzählt über Grassmés Briefe aus seinem Leben und zeigt, was übrig geblieben ist von seinem kleinen Reich.

¢ Start am 9.9.2021 Deutschland 2021 D 90 min D R: Daniel Sager D B: Daniel Sager, Marc Bauder D K: Börres Weiffenbach, Daniel Sager, Anne Misselwitz, Frank Marten Pfeiffer D S: Hannes Bruun D V: Real Fiction

The documentary portrays the daily job routines of investigative journalists.

HINTER DEN SCHLAGzEILEN

Investigativ-Journalist*innen bei der Arbeit

Die Wahrheit ist ein verschlüsseltes Video. Wer das Video gesehen hat, kennt die Wahrheit. Die Journalisten Bastian Obermayer und Frederik Obermaier wissen etwas über Österreichs (heute Ex-)Vizekanzler Heinz-Christian Strache, das keiner weiß und sie keinem sagen dürfen. Noch nicht. Erst müssen die beiden Kollegen aus dem Ressort Investigative Recherche der Süddeutschen Zeitung die Aufnahme in der Redaktion vorliegen haben. Vorher geht gar nichts. Aber auch danach ist der Weg bis zum dem Leitartikel, der im Mai 2019 die „Ibiza-Affäre“ publik macht, noch weit. Gemeinsam mit der Chefredaktion und der Rechtsabteilung muss die hochbrisante Story diskutiert, doppelt und dreifach geprüft sowie eine Veröffentlichung unter Berücksichtigung aller möglichen Risiken und Konsequenzen abgewogen werden. Daniel Andreas Sagers Dokumentarfilm ist nüchtern und zugleich packend wie ein Thriller inszeniert. Zwei Jahre lang hat der Regisseur die Menschen „hinter den Schlagzeilen“ begleitet, fliegt mit ihnen zum Interview mit Edward Snowden nach Moskau und ist dabei, als sie auf Malta den Mord der Bloggerin Daphne Caruana Galizia recherchieren, die wie Obermaier und Obermayer an der Enthüllung der Panama Papers beteiligt war. Aber auch vor dem weniger attraktiven Büroalltag der Investigativ-Journalisten macht Sager nicht halt, der viel mit Warten zu tun hat und mit Geduld. Sparsam kommentiert wird das Geschehen von den beiden Hauptakteuren selbst, die in ihrer Professionalität und Menschlichkeit ein überzeugendes Plädoyer für seriöse Medienberichterstattung liefern. Am Tag nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos sitzen sie routiniert im Morgenmeeting, der Chefredakteur bittet um Sachlichkeit. Weiter geht’s mit der Aufklärung von Fakten und den vielen Geschichten, die noch im Dunkeln lie-

gen. D Pamela Jahn ¢ Start am 16.9.2021

WALTER KAUFMANN – WELCH EIN LEBEN

Ein Jahrhundert Zeitzeugenschaft

Ein Leben wie das des Schriftstellers Walter Kaufmann ist in unserer Zeit der minutiösen Lebensplanungen kaum noch vorstellbar: Geboren 1924 in Berlin als Kind einer alleinstehenden jüdischen Verkäuferin, adoptiert von einem gutbürgerlichen jüdischen Ehepaar in Duisburg, mit dem Kindertransport nach England entkommen, durch einen Zufall in Australien interniert. Durch die schriftstellerische Tätigkeit Kontakt zur DDR, dort mit Frau und Kindern ansässig geworden. Sein australischer Pass ermöglicht Kaufmann ein für dieses Land höchst ungewöhnliches Leben: das eines Reiseschriftstellers. Von Hiroshima in die USA der schwarzen Bürgerrechtsbewegung um Angela Davis, von der jungen Revolution in Kuba ins vermeintlich „gelobte Land“ Israel

Walter Kaufmann, born in 1924, escaped to England with the Kindertransport and became a travel writer in the GDR thanks to his Australian passport: his journeys took him from Hiroshima to the US civil rights movement, the Cuban revolution, and Israel. Deutschland 2021 D 101 min D R: Karin Kaper, Dirk Szuszies D K: Tobias Rahm, Dirk Szuszies D M: Benedikt Schiefer D V: Karin Kaper Film

führen seine Wege, und seine Romane und Reportagen berichten aus allen Teilen der Welt von ähnlichen Kämpfen um Frieden und Freiheit, seine Loyalität gehört stets den Unterdrückten.

Der Film von Karin Kaper und Dirk Szuszies ist verfilmte Oral History, die Erzählungen des 97-jährigen Kaufmann werden nur durch Archivmaterial und Zitate aus seinen Werken illustriert. Man erlebt einen wachen Beobachter zeitgeschichtlicher Umwälzungen, der immer das Glück und Überlebensgeschick hatte, sich den Freiraum zum Schreiben zu erhalten. Interessant auch die Wechselwirkungen von Zeitgeschichte und persönlichem Leben, so die Entscheidung für die DDR nach einem ernüchternden Versuch der Spurensuche nach den ermordeten Eltern im verdrängenden Westdeutschland. Die Filmemacher*innen wählen die Rolle der respektvollen Chronisten, erzählt wird, was Kaufmann erzählen will, so scheint es. Nur nebenbei erwähnt wird z.B. sein Arrangement einer Ehe zu dritt. Vielleicht wäre es manchmal ergiebig gewesen, dem Protagonisten als herausfordernde Gesprächspartner zu begegnen.

A-HA – THE MOVIE

Selten ehrlich

Biografische Dokumentarfilme über noch lebende Künstler geraten schnell zu Lobhudeleien, kein Wunder, welcher Regisseur will schon Jahre mit einem Menschen verbringen, den er doof findet? Doch es geht auch anders, wie Thomas Robsahm und Aslaug Holm mit A-HA – THE MOVIE zeigen, einem Dokumentarfilm über die berühmteste Bands Norwegens, die gleich mit ihrer ersten Single „Take on Me“ einen Welthit landeten, der zu den ikonischsten 80er Jahre Songs zählt. Hier erzählen Magne Furuholmen, Morten Harket und Pål Waaktaar-Savoy ihre Geschichte und lassen dabei wenig aus. Schon, dass sie meist allein zu sehen sind und fast nie als Trio, als Band, deutet die tiefen Risse und Animositäten an, die längst zu Tage getreten sind. Magne etwa ist immer noch sauer, weil zwar er das legendäre Riff zu „Take on Me“ geschrieben hat, aber Pål als hauptsächlicher Komponist gilt. Pål würde wiederum gerne als ernstzunehmender Musiker Anerkennung finden und nicht „nur“ als Autor von Popsongs und der schöne Morten hadert mit dem Leben als unendlich oft fotografierter Posterboy der Band. Irgendwann, als Teenager, Anfang der 80er Jahre in Oslo scheinen die drei Freunde gewesen zu sein, doch das ist lange vorbei. Wie eine Zweckgemeinschaft mutet das Trio inzwischen an, doch auch wenn es anfangs so wirkt: Allein des Geldes wegen stehen sie nicht immer noch und trotz allem gemeinsam auf der Bühne. Ein tiefer Respekt vor den Fähigkeiten der Anderen scheint die Band am Leben zu erhalten, vor allem aber das Wissen, dass bei allem Streit und allen Konflikten eins klar ist: Nur als Trio, nur als „a-ha“ sind sie die Weltstars, die sie als Solo-Künstler nicht sind. A-HA – THE MOVIE ist selten ehrlich in Bezug auf Freud und Leid

des Ruhms. D Michael Meyns ¢ Start am 14.9.2021

Norwegian pop band a-ha had a worldwide hit with their first single “Take on Me”. But there are deep cracks and animosities between the band members. Originaltitel: Notes of Berlin: Der Film D Deutschland 2019 D 105 min D R: Mariejosephin Schneider D B: Mariejosephin Schneider, Thomas Gerhold D K: Carmen Treichl D S: Inge Schneider D D: Paul Boche, Anne Müller, Katja Sallay D V: Nico Kupferberg Films

NOTES OF BERLIN

Zettelbotschaften

„Hallo Rawad, melde dich, du wirst Vater“ – eine Zettelbotschaft vor dem nächtlichen Späti irgendwo in Berlin, ohne Telefonnummer oder Abreißoption. Entdeckt vom Kioskbesitzer, der gleich weiß, dass einer seiner Stammkunden damit gemeint ist, und dessen wilder Nacht ganz beiläufig ein jähes Ende bereitet. Das ist nur eine der 14 Episoden in NOTES OF BERLIN, der absurd bis lebensklug die Botschaften der Hauptstadt seziert. Als Quelle dient dabei der gleichnamige Blog des Wahlberliners Joab Nist, der seit 10 Jahren dokumentiert und auf seinen sozialen Kanälen teilt, was die Stadt auf Straßenlaternen, Windschutzscheiben oder Briefkästen zu sagen hat, von verzweifelter Romantik bis zu nüchternem Realismus („Habt ihr schon mal dran gedacht, euch zu trennen?!“). In jüngster Vergangenheit waren Fans nicht nur dazu aufgerufen, gesichtete Fundstücke einzureichen und in den Kommentarspalten zu diskutieren, sondern auch die Geschichten dahinter: Grundlage für den ersten Spielfilm des Blogprojekts ist die interaktive Website „Notes of Berlin Film Lab“, die bereits seit 2014 zum Mitmachen aufruft. Denn: Städtische Episodenfilme wie JE T’AIME PARIS sind beliebt – außer sie verärgern die Fans der porträtierten Stadt so wie BERLIN I LOVE YOU. Das kann bei NOTES OF BERLIN durch die Mitmachphilosophie kaum passieren, auch weil sich der Film viel Zeit lässt, die Charaktere in all ihrer Alltagsweisheit und Verschrobenheit zu zeigen. Andrea Sawatzki hat einen anrührenden Auftritt, aber Hauptdarstellerin ist eindeutig Berlin selbst. So ist der Film am Ende nicht mehr und nicht weniger als ein Spaziergang durch semi-fiktive 24 Stunden der Hauptstadt. Für alle, die es lieben, unbekannten Straßenecken und kleinen Momenten auf die Spur

zu gehen. D Anna Hantelmann ¢ Start am 9.9.2021

Joab Nist’s blog NOTES OF BERLIN, which posted the notes found on Berlin street lamps, windscreens, and post boxes was turned into the interactive website “Notes of Berlin Lab” in 2014, where the stories behind the notes are told: which is the source this anthology.

Deutschland/Österreich 2020 D 111 min D R: Philipp Stölzl D B: Eldar Grigorian D K: Thomas W. Kiennast D D: Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Rolf Laasgård D V: STUDIOCANAL

SCHACHNOVELLE

Psychogramm eines Unbeugsamen

Das beindruckende, das teils erschütternde Psychogramm eines Unbeugsamen. Die Neuverfilmung der „Schachnovelle“. Jenem Text, der zu einer Art Abschiedsbrief Stefan Zweigs werden sollte: Nur Monate nach Fertigstellung des kaum 90 Seiten langen Werks wählte der Humanist und Pazifist im brasilianischen Exil den Freitod. Ähnlich wie das literarische Vorbild beginnt auch die Adaption von Philipp Stölzl (NORDWAND) damit, dass sich der Protagonist zur Nazizeit ins südamerikanische Exil begibt (O-Ton Stefan Zweig: „Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte …“). Der bald einsetzende Rückblick offenbart all die Torturen, die er zuvor hat erleiden müssen. Darunter vor allem die monatelange „Sonderbehandlung“ im Hotel Métropole durch die Nazis – im Film vor allem repräsentiert durch einen ebenso fies höflichen wie zutiefst diabolischen Albrecht Schuch. Wie Bartok (in der Text-Vorlage: „Dr. B.“) mittels nachgespielter Schachpartien der geistigen Deprivation in der Isolationshaft zu trotzen sucht: dafür findet der Film zutiefst bewegende Bilder. Das Herz des Film freilich, ist unbestreitbar Oliver Masucci (WERK OHNE AUTOR), der sich in den letzten Jahren zu einem der spannendsten hiesigen Kinodarsteller entwickelt hat. Viel mehr als etwa an Ingmar Bergmans Klassiker des Schach-Kinos, DAS SIEBENTE SIEGEL muss man an Terrence Malicks famosen, wenn auch viel zu wenig beachteten Film A HIDDEN LIFE denken. Dort gibt August Diehl einen Geistesverwandten Bartoks – einen dem Nazi-Terror gegenüber ähnlich Standhaften. „Alles, was ich zu geben fähig war“, so heißt es in einem Brief Stefan Zweigs, „verdanke ich einer gewissen Begeisterung; ich verstand es, andere mitzureißen …“. Wie wahr.

D Matthias von Viereck ¢ Start am 23.9.2021

The impressive, partially shocking psychological portrait of an indomitable character. Philip Stölzl adapted Stefan Zweig’s last text, “The Royal Game”. (TASTE THE WASTE)

TRÄUM WEITER!

SEHNSUCHT NACH VERÄNDERUNG

AB 30.9. IM KINO!

PETR KOTLÁR

ALS JUNGE UDO KIER LECH DYBLIK

EIN FILM VON VÁCLAV MARHOUL

JITKA ČVANČAROVÁ STELLAN SKARSGÅRD HARVEY KEITEL JULIAN SANDS JÚLIA VALENTOVÁ ALEKSEI KRAWTSCHENKO BARRY PEPPER PETR VANĚK

Maske: IVO STRANGMÜLLER · Kostüme: HELENA ROVNÁ · Tongestaltung: PAVEL REJHOLEC · Schnitt: LUDĚK HUDEC · Szenenbild: JAN VLASÁK · Kamera: VLADIMÍR SMUTNÝ Basierend auf dem Roman THE PAINTED BIRD von JERZY KOSIŃSKI · Buch, Produktion und Regie: VÁCLAV MARHOUL

CURVEBALL

Deutscher Spionage-Skandal

„Da sitzt der Fischer! Warum sagt der nichts?“ brüllt Doktor Wolf (Sebastian Blomberg) den Fernseher an. Tatsächlich ist das die Frage, die sich nach diesem Film über die folgenschwerste Spionage-Katastrophe und einen der größten politischen Skandale des 21. Jahrhunderts stellt. Die Rechtfertigung des Irakkriegs beruhte auf einem bereits als Lügengeschichte enthüllten Bericht einer BND-Quelle, der aber als wahrer, überprüfbarer Augenzeugenbericht vom US-Außenminister Colin Powell vor der UN-Vollversammlung präsentiert wurde. Bundeskanzler Gerhard Schröder, Außenminister und damals Vorsitzender der UN-Vollversammlung Joseph Fischer und Schröders Kanzleramtsminister Walter Steinmeier wussten, dass die Zeugenaussagen erlogen waren und schwiegen.

Johannes Naber macht aus der Affäre um den irakischen Asylbewerber Rafid Alwan, der sich dem Bundesnachrichtendienst als Chemieingenieur in einer Waffenfabrik von Saddam Hussein präsentiert, eine politische Farce, die oft an Helmut Dietls SCHTONK erinnert und nicht vor Albernheit zurückschreckt, aber bei den Fakten absolut seriös bleibt. Der Biowaffen-Experte Wolf, unter Kollegen „Wüstenfuchs“ genannt, glaubt, dass trotz der UN-Kontollen, an denen er beteiligt war, im Irak Anthrax-Viren hergestellt werden. Vor allem aber hat er ein erotisches Interesse an einer US-Kollegin. Sein Vorgesetzter Schatz (Thorsten Merten) setzt ihn als Führungsoffizier auf Rafid Alwan an. Der Iraker will vor allem einen deutschen Pass für sich und seine Familie und erzählt Wolf genau, was der hören will – und in einem Bericht geschrieben hatte, den Alwan aus dem Internet heruntergeladen hat: Im Irak befinden sich die Waffenfabriken auf LKWs, die nördlich von Bagdad regelmäßig entladen werden. Alwans Enthüllung erscheint dem BND als großer Coup, man feiert mit Sekt und lässt sich von der Bundesregierung und ausländischen Geheimdiensten gratulieren. Dann wird allerdings schnell klar, dass Alwan eine Lügengeschichte aufgetischt hat, die er sich nur aufgrund der Schlampereien des BND so ausdenken konnte. Um die Blamage zu vertuschen, wird die „Burn-Notice“ nicht an den CIA weitergeleitet, und der US-Geheimdienst entführt Rafid Alwan, die vermeintlich grandiose, geheimnisvolle Quelle, die sie „Curveball“ getauft haben.

Es gab das tatsächlich alles, selbst die bizarre Entführung von Rafid Alwan. Die deutsche Regierung kannte die Fakten im Februar 2003, als Powell vor der UN sprach. Die eigentliche Frage bleibt: „Warum sagt der Fischer nichts?“ Warum sagten Schröder und Steinmeier nichts? Und warum sind sie nie zur Verantwortung gezogen worden, obwohl sie einen Krieg mitzuverantworten haben, der hunderttausende Opfer forderte und den Terror des IS erst ermöglichte? Weder diese Politiker, noch ihre Parteien haben sich zu der Affäre geäußert. Bundespräsident Steinmeier könnte Antworten geben. D Tom Dorow

Originaltitel: Curveball D Deutschland 2020 D 108 min D R: Johannes Naber D B: Oliver Keidel D K: Sten Mende D D: Sebastian Blomberg, Dar Salim, Virginia Kull, Michael Wittenborn, Franziska Brandmeier D V: Filmwelt

¢ Start am 9.9.2021

In his passionate political satire, Johannes Naber dramatizes one of the largest spy scandals in recent decades: the involvement of the BND in the falsified information about bioweapons experiments in Iraq that served to justify the Iraq War.

Originaltitel: El viaje extraordinario de Celeste Garcia D Kuba/Deutschland 2018 D 92 min D R: Arturo Infante D B: Arturo Infante D K: Javier Labrador Deulofeu D S: Joanna Montero D M: Magda Rosa Galbán, Juan Antonio Leyva D D: María Isabel Díaz, Omar Franco, Néstor Jiménez, Yerlín Pérez D V: Kairos

DIE AUSSERGEWöHNLICHE REISE DER CELESTE GARCIA

Witwe im All

Celeste Garcia (Maria Isabel Diaz) ist 60 Jahre alt, verwitwet und hat einen komfortablen Job im Planetarium in Havanna, Kuba. Ihre Nachbarschaft ist arm, aber freundlich, ihr Sohn lieb, aber ein Hallodri, der nicht zum Abendessen kommt. Celeste ist nicht unglücklich, aber … glücklich halt auch nicht. Eines Tages wird für sie alles durcheinandergewirbelt: Die Regierung gibt bekannt, dass es Außerirdische gibt – und Celeste ist eine der Glücklichen, die sie auf ihrem Planeten besuchen dürfen. Den ersten Kontakt mit Aliens zeigt Autor und Regisseur Arturo Infante auf eine sehr eigene Weise, die viel mit der originär südamerikanischen Tradition des Magischen Realismus gemein hat. Fantastische Elemente werden dabei wie Konfetti in die realistisch gezeichnete Welt gesprenkelt und eröffnen viele Möglichkeiten zum satirischen Kommentar realer Verhältnisse. So wird die Sensationsmeldung den kubanischen Bürger*innen in einer knochentrockenen Fernsehansprache übermittelt und umgehend ein Zentralbüro für interplanetarische Reisen eingeführt, um bloß alles schnell in geregelte Bahnen zu leiten. Die Menschen reagieren mit Verwirrung, Entsetzen, Ärger und sogar Gleichgültigkeit auf die neuen Entwicklungen – aber auch mit Neugier und Hoffnung auf eine bessere Welt da oben in den Sternen. „Viele würden sterben, um auf diesen Planeten zu kommen“, sagt die Arbeitskollegin. Für Celeste ist es das Abenteuer ihres Lebens, und man gönnt es ihr aus tiefstem Herzen. Zugleich beobachten wir die Sache mit gemischten Gefühlen, und auch bei den Figuren häufen sich bald die Zweifel: Gibt es den Planeten überhaupt? Und wann kommt denn endlich das Raumschiff? Die Reise, die sich zunehmend wie eine Flucht anfühlt, gestaltet sich ebenfalls kräftezehrender als

gedacht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 23.9.2021

People disappear under mysterious circumstances. The government says it was aliens that have now returned home and are also inviting some Cubans to follow them to the planet of Gryok. Widow Celeste enthusiastically signs up for the trip.

EMIL VON SCHÖNFELS MEKYAS MULUGETA

Originaltitel: Koirat eivät käytä housuja D Finnland 2019 D 105 min D R: J-P Valkeapää D B: J-P Valkeapää, Juhana Lumme D K: Pietari Peltola D S: Mervi Junkkonen D M: Michal Nejtek D D: Krista Kosonen, Pekka Strang, Oona Airola, Jani Volanen D V: drop-out Cinema

A year after his wife’s death, surgeon Juha is still trapped in his grief. When a dominatrix confuses him for a client, a stranglehold triggers comforting hallucinations in him.

DOGS DON’T WEAR PANTS

Spielball der Todessehnsucht

Obwohl schon einige Jahre seit dem tragischen Unfalltod seiner Frau vergangen sind, ist der Chirurg Juha noch immer in seiner Trauer gefangen. Wie ein Zombie bewegt er sich durch die Welt und allein die Sorge um Tochter Elli scheint ihn am Leben zu halten. Als die, inzwischen ein Teenager, sich in einem trendigen Untergrundclub ein Zungen-Piercing stechen lässt, verliert sich Juha beim Warten auf den Sprössling in den neon-beleuchtenden Gängen, um sich in den Händen einer Domina wiederzufinden. Ihr Würgegriff und die verbundene Asphyxie lösen bei Juha tröstende Gefühle und Halluzinationen aus, in denen er seiner verstorbenen Frau wieder nahe ist. Bald gehört er zum festen Kundenstamm Monas. Die kleinen Fluchten werden immer mehr zur Sucht und nicht nur Elli gleitet aus Juhas Blick. Auch Domina Mona beginnt, sich Sorgen um ihr „böses Hündchen“ zu machen und wird für Juha immer mehr zum Spielball seiner Todessehnsucht. Was erstmal nach großem Drama klingt, hat der finnische Regisseur Jukka-Pekka Valkeapää beschwingt verpackt. Immer wieder brechen Humor und die kunstvolle Bildsprache das psychische und physische Leiden Juhas. Pekka Strang, bekannt aus TOM OF FINLAND, trägt dabei die selbstzerstörerische Sehnsucht Juhas im Kostüm eines Biedermanns mittleren Alters, was schon allein für launige Entlastung sorgt. Statt plumper BDSM-Romantisierung á la 50 SHADES OF GREY erforscht DOGS DON’T WEAR PANTS die Praktiken als Ritual der Ermächtigung über den Schmerz und findet in der Beziehung zu Domina Mona (Krista Kosonen aus BLADE RUNNER 2049) authentische Zugewandtheit. Ein überraschender Film mit einem starken und aufhellenden Ende, der aber dem Thema bedingt den Zuschauenden auch ein gewisses Maß an Resistenz abfordert. D Clarissa Lempp

¢ Start am 23.9.2021 USA 2020 D 120min D R: Nia DaCosta D B: Jordan Peele, Win Rosenfeld D K: John Guleserian D M: Robert A.A. Lowe D D: Yahya Abdul-Mateen II, Teyonah Parris, Nathan Stewart-Jarrett, Colman Domingo, Vanessa Williams, Tony Todd D V: Universal Pictures

CANDyMAN

Text nicht vor dem Spiegel lesen

Bernard Roses CANDYMAN von 1992 handelte von einer Weißen Studentin, die während ihrer Feldforschung die „Urban Legend“ über einen Geist mit Hakenhand hört, der diejenigen tötet, die seinen Namen fünfmal in einen Spiegel sagen. Dabei wird sie mit den Lebensrealitäten der zum Großteil Schwarzen Bewohner*innen des Chicagoer Viertels Cabrini Green konfrontiert. Obwohl der Film im Bezug auf Schwarze Sichtbarkeit fortschrittlich war, ist seine Sichtweise immer noch eine absolut Weiße. Nia Da Costas 2020er-Fortsetzung gleichen Namens korrigiert dies. Hier zieht ein Schwarzes Kunstschaffendenpaar in das inzwischen vollständig gentrifizierte Cabrini Green. Auf der Suche nach Inspiration hört Maler Anthony den Candyman-Mythos, wobei die Handlung des 1992er-Filmes nur eine unter vielen Geschichten über ihn geworden ist. Der Candyman symbolisiert inzwischen etwas viel Universelleres, das Anthony nicht loslässt. Der Film nutzt Anthonys Suche, um das Horrorgenre, aber auch soziale Entwicklungen in den USA zu analysieren und dekonstruieren. Da ein Horrorfilm aber nicht gänzlich ohne dumme Entscheidungen funktioniert, gibt es immer noch genug anderweitig popkulturell Abgeklärte, die der Mutprobe vor dem Spiegel nicht widerstehen können und es schnell bereuen. Hier brilliert der Film mit ein paar wunderbar einfallsreichen Sequenzen, die mehr auf surreales Grauen als auf plötzliche Schockmomente setzen, den Satz aus dem ersten Film „What is blood for, if not for shedding?“ aber voll beherzigen. Mit weiteren visuellen und musikalischen Anspielungen auf Bernard Roses Film ist der neue CANDYMAN gleichzeitig eine Fortsetzung und eine Art Spiegelbild des Vorgängers und beleuchtet Details, die vorher im Hintergrund versteckt waren. Sich beide Versionen anzuschauen ist daher empfehlenswert. D Christian Klose

¢ Start am 26.8.2021

Nia DaCosta’s CANDYMAN is both a sequel and a revision of Bernard Rose’s horror classic CANDYMAN from 1992, which was progressive in terms of Black visibility in horror, but was told from a White perspective.

RäUBERHäNDE

Jungsroutine

Samuel und Janik sind beste Freunde, ein verschworenes Team, quasi Brüder. Ihr Reich ist die Gartenlaube von Janiks Eltern, in der sie ihren Heimathafen eingerichtet haben. Freundinnen, Familie – bürgerlich und gutsortiert in Janiks Fall, und ziemlich dicht am Abgrund bei Samuel – und berufliche Zukunftspläne kommen hier nur ganz am Rand vor. Erstmal Abi und dann den langgehegten Plan umsetzen: Eine Reise nach Istanbul, auf der Samuel auch hofft, seinem Vater, den er nie gekannt hat, zu begegnen. Vor der Abreise allerdings passiert eine alkoholisierte, möglicherweise nie wiedergutzumachende Dummheit. Ohne den Riss zu kitten, fliegen die beiden trotzdem. Nach dem Jugendroman von Finn-Ole Heinrich erzählt RÄUBERHÄNDE von dieser Reise, auf der gar nicht so viel Spektakuläres passiert, sich aber natürlich doch etwas bewegt. Die Verletzung ist real und groß, und die Stimmung pendelt zwischen schlechter Luft, So-tun-als-ob-gar-nichts-wäre und gelegentlichen Ausbrüchen hin und her. Samuel ist demonstrativ auf eigenen Bahnen unterwegs, von denen er Janik nur gelegentlich etwas mitteilt, und findet schnell neue Bekannte. Janik, der kein Türkisch versteht, sitzt zunehmend missmutig daneben. Regisseur Ilker Çatak (ES GILT DAS GESPROCHENE WORT) inszeniert schnell und flüssig und fängt dabei unterschiedlichste Stimmungen präzise ein. Das Abendessen bei Janiks wohlmeinenden Eltern, die Abi-Party, Samuels Versuche, die Mutter aus seiner Welt fernzuhalten, das schweigende Frühstück auf einer billigen Pensionsterrasse, ein Istanbul, in dem Janik Tourist ist und Samuel ein bisschen zu Hause. Die Jungsroutine aus Sprüchemachen und bedingungsloser Loyalität macht eine direkte Aussprache schwierig, und so müssen sich Samuel und Janik wohl oder übel über idiotische Aktionen, halbe Streits und gemeinsames Schweigen ihre Beziehung zurückerobern. D Hendrike Bake

Deutschland 2020 D 89 min D R: Ilker Çatak D B: Finn-Ole Heinrich, Gabriele Simon D K: Judith Kaufmann D S: Sascha Gerlach, Jan Ruschke D D: Godehard Giese, Nicole Marischka, Emil von Schönfels, Ogulcan Arman Uslu, Isabella Bartdorff D V: Edition Salzgeber

Samuel and Janik are best friends and are planning a long trip to Istanbul after high school graduation. Then something stupid happens involving alcohol, but the two of them still go without patching up their deep divide.

Deutschland/Norwegen 2019 D 106 min D R: David Wnendt D B: Rebecca Dinerstein, David Wnendt D K: Martin Ahlgren D S: Andreas Wodraschke D M: Enis Rotthoff D D: Jenny Slate, Alex Sharp, Zach Galifianakis, Gillian Anderson D V: W-Film

When artist Fran gets the opportunity to paint artist Nils’ shed in Lofoten over the summer, she is thankful for the unusual offer – anything to get away from New York! The romantic comedy thrives on weird and warm characters, imaginative decor, and the Lofoten landscape.

THE SUNLIT NIGHT

Wohnwagen mit Ziege

Für die junge New Yorkerin Frances (Jenny Slate), genannt Fran, läuft es nicht gut. Die Künstlerin kommt mit ihren Malereien auf keinen grünen Zweig, ihr Freund Robert, für den sie ihr Kunststipendium in Norwegen abgesagt hat, serviert sie am gemeinsamen Wochenende ab, und ihr Vater Levi eröffnet der Familie beim Abendessen, Frans Mutter Mirela und er würden sich trennen. Als die verzweifelte Fran die Möglichkeit bekommt, mit Künstler Nils (Fridtjov Såheim) über den Sommer dessen Scheune auf den Lofoten nach vorgegebenem Muster gelb zu streichen, nimmt sie das ungewöhnliche Angebot dankbar an – nur weg aus New York! So atemberaubend Fran die raue Landschaft auch findet, so schwierig gestaltet sich ihr Anfang im hohen Norden. Der schroffe Nils wirkt wenig begeistert von Frans Anwesenheit, nachts kann Fran nicht schlafen, weil die Sonne immer scheint, und ihren kargen Wohnwagen teilt sie sich mit einer Ziege. Doch als der ebenfalls in New York aufgewachsene Russe Yasha (Alex Sharp) im benachbarten Wikingermuseum auftaucht, um seinem Vater den letzten Wunsch zu erfüllen und ihn nach Wikingerart zu beerdigen, ändern sich die Dinge. Die romantisch-schräge Komödie THE SUNLIT NIGHT beruht auf dem gleichnamigen Roman von Rebecca Dinerstein, die auch das Drehbuch zum Film verfasste. Regie führte David Wnendt (ER IST WIEDER DA, FEUCHTGEBIETE), der Zach Galifianakis (HANGOVER) für die Rolle eines überdrehten Möchtegern-Wikingerhäuptlings gewinnen konnte. THE SUNLIT NIGHT lebt von den schräg-warmherzigen Charakteren, der fantasievollen Ausstattung und der faszinierenden Landschaft der Lofoten, die den größtmöglichen Gegensatz zu Frans hektischem Leben in Man-

hattan bildet. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 23.9.2021

The documentary follows six researchers who deal with the topic of awareness from different perspectives – among them are brain researcher Christof Kock, psychedelics researcher Robert Griffith, and biologist Monica Gagliano.

AWARE – REISE IN DAS BEWUSSTSEIN

Kosmisches Rätsel

Warum ist uns bewusst, dass wir ein Bewusstsein haben? Das ist das Rätsel, das den Hirnforscher Christof Koch umtreibt. Er nähert sich ihm auf wissenschaftliche Weise und erforscht die Verbindungen in unserem Gehirn in immer winzigeren Einheiten. Aber am Ende sieht man dann eben Millionen von Verbindungen, man sieht aber noch nicht, warum diese Verbindungen dazu führen, dass wir Dinge denken und Gefühle haben. Und sind wir überhaupt die einzigen, die ein Bewusstsein haben? Die Biologie-Professorin Monica Gagliano macht in ihrem BI-Labor (Biological Intelligence – ein Seitenhieb auf die AI-Fraktion) Verhaltensforschung mit Pflanzen und hat dabei herausgefunden, dass diese sowohl Töne erkennen als auch, ähnlich wie Pavlovs Hund, ihr Verhalten anpassen können. Das ist für die Maya-Heilerin Josefa Kirvin Kulix, die davon berichtet, dass Pflanzen sich bewegen, wenn sie geschnitten werden sollen, keine Überraschung und ebenso wenig für den Ex-Wissenschaftler Mathieu Ricard, der als buddhistischer Mönch seine Meditationspraxis darauf ausrichtet, den Zugang zu einem universalen Bewusstsein zu finden. Eine Abkürzung dorthin nutzt der Direktor des Zentrums für Bewusstseins- und psychedelische Forschung der Johns-Hopkins-Universität Roland R. Griffiths in kontrollierten Forschungsreihen mit Magic Mushrooms. Nach dem Trip müssen die Versuchspersonen angeben, wie sehr sie eine Einheit mit dem Universum verspürt haben, auf einer Skala von eins bis zehn. Interessant an Eric Black und Frauke Sandigs kinotauglich gefilmtem Dokumentarfilm sind vor allem die wissenschaftlichen Zugänge zum Thema Bewusstsein. Gerade die Leidenschaft der Expert*innen und die Grenzen, an die sie mit ihrer Forschung stoßen, vermitteln ein Gefühl für die Größe des Rätsels, mit dem wir es

hier zu tun haben. D Hendrike Bake ¢ Start am 2.9.2021

Schweiz/Deutschland/Großbritannien 2019 D 105 min D R: Samir D B: Samir, Furat al Jamil D K: Alfredo de Juan, The Chau Ngo D S: Jann Anderegg D M: Tom Linden, Walter Mair D D: Waseem Abbas, Haitham Abdel-Razzaq, Daniel Adegboyega D V: Arsenal

BAGHDAD IN My SHADOW

Kommunisten im Café

Am Ende von Samirs Tragikomödie BAGHDAD IN MY SHADOW steht ein Traum der irakischen Architektin Amal: „Niemand wird uns für das verurteilen, was wir sind.“ Wir, das sind die Betreiber und Gäste des Londoner Cafés Abu Nawas, einem Treffpunkt kommunistischer Exiliraker. Einer von ihnen, der Schriftsteller Taufiq, der in London als Wächter im Britischen Museum arbeitet, wird von der Polizei und dem Geheimdienst verhört, denn im Umfeld des Cafés ist es zu einem Mord am irakischen Kulturattaché gekommen. In die Affäre um Amal, Taufiq und den toten Attaché sind eine radikalislamische Moschee und ihr fanatischer Imam verwickelt, der auch Taufiqs Neffen Nassir in seine Kreise gezogen hat. Samirs Film verhandelt finstere Themen: Es geht um Folter und Verrat im Irak unter Saddam Hussein, um die Kollaboration des neuen Regimes mit Islamisten und um die Anziehungskraft faschistischer Ideologien für die junge Exil-Generation. Aber es gibt auch Solidarität und Humor. Samir hat eine eher entspannte Haltung gegenüber Vorurteilen und den sogenannten Mikro-Aggressionen. Weil Amal an der Baustelle des Innenministeriums vorbeijoggt, wird sie von Wachleuten verdächtigt. Aus der Konfrontation mit dem Bauleiter Martin entsteht aus den üblichen Fettnäpfchen („Wo kommen Sie her?“ „Sie sehen nicht irakisch aus!“) erst ein Flirt, dann eine Beziehung, die zwar nicht konfliktfrei ist, aber in entscheidenden Momenten zur Rettungslinie wird. Die besten Pointen hat die ältere Ex-Guerilla Samira, die mit ausgezeichneten Deko-Ideen glänzt (Sowjetstern auf dem Weihnachtsbaum) und Islamisten mit der zerkloppten Bierflasche aufmischt, obwohl sie dafür lieber ein Sturmgewehr benutzen würde. Ein freundlicher, humorvoller und trauriger Film, in dem auch Ex-Punk-Göttin Hazel O’Connor (BREAKING GLASS, 1980) einen Auftritt hat. D Hannes Stein ¢ Start am 30.9.2021

The London Café Abu Nawas is a meeting point for leftwing Iraquis. When a the cultural attachè is murdered the author Taufiq it interrogated by the British authorities.

der IndIekIno Club brIngt StreamIng indie kino cLUB

IndIekIno ClubCard

Name: Kim Musterperson

Geburtsdatum: 10.10.1980 Club-Abo: 1.7.2021–30.6.2022

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Deutschland 2020 D 103 min D R: Damir Lukacevic D B: Damir Lukacevic D K: Sten Mende D S: Christoph Strothjohann D M: Boris Bojadzhiev D D: Doguhan Kabadayi, Mohammad Eliraqui, Derya Dilber, Christoph Letkowski, Dorka Gryllus D V: Warner Bros.

EIN NASSER HUND

Jüdisch im Wedding

Als Soheil (Doƒüuhan Kabadayƒ±) in den Wedding zieht, ist seine Religion eigentlich kein Thema für ihn. In seinem iranischen Elternhaus wird der jüdische Glaube nicht praktiziert. Die Eltern führen eine Schneiderei, haben sich angepasst. Sie lassen dem 16-Jährigen alle Freiheiten, sich einzuleben. So lernt Soheil bald die Gang von Husseyn (Mohammad Eliraqui) kennen, eine Gruppe muslimischer Türken. Mit ihnen zieht er um die Häuser, legt sich mit einer rivalisierenden Gang an und verliebt sich in das türkische Mädchen Selma (Derya Dilber) aus der Parallelklasse. Seine Guerilla-Aktionen als Sprayer „King Star“ bringen ihm Respekt unter den neuen Freunden. Bis er ihnen gesteht, dass er kein Moslem ist, sondern Jude. Basierend auf dem 2010 veröffentlichten autobiografischen Roman „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ von Arye Sharuz Shalicar erzählt Damir Lukaƒçeviƒá (TRANSFER) vom alltäglichen Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen. Sein Film kann mit einigen bemerkenswerten jungen Darstellern aufwarten. Viele von ihnen stehen zum ersten Mal vor einer Kamera. Besonders von Hauptdarsteller Doguhan Kabadayi, der hier sein Schauspieldebüt gibt, wird man mit Sicherheit noch mehr sehen. Die Welt der Jugendlichen fängt die Kamera von Sten Mende (DARK) gelungen ein, die Generation der Eltern spielt eine untergeordnete Rolle. Einzig Kida Khodr Ramadan als Vater hat Einfluss auf Soheil. Aber auch er kann nur zusehen, wie sich sein Sohn verändert. Die Konsequenz aus dem Erlebten, die Shalicar in seinem Buch schildert, erschließt sich dagegen im Film nicht. Zu groß ist die Geste, mit der Lukacevic, der auch das Drehbuch verfasste, den Wandel von Soheil vom Opfer zum Kämpfer insze-

niert. D Lars Tunçay ¢ Start am 9.9.2021

When Soheil (Doƒüuhan Kabadayƒ±) moves to Wedding, his religion isn‘t really important to him. In his secular Iranian home, they don‘t practice Judaism . This changes when his Muslim friends find out that he‘s Jewish.

BECKENRAND SHERIFF

Der Bademeister, pardon: „Schwimmmeister“ Kruse hat so seine Regeln: Auf Bahn Sechs wird nicht gekrault, der Sprungturm ist kein Stehturm, um Punkt 9 Uhr wird das Bad eröffnet, um Punkt 19 Uhr werden die Liegen geradegerückt. Er hat außerdem ein Problem: Das renovierungsbedürftige Bad soll geschlossen werden. Gemeinsam mit dem nigerianischen Geflüchteten Sali, dem die Abschiebung droht, der Dopingsünderin Lisa und dem Wasserballteam unter der Leitung von Frau Wilhelm nimmt er den Kampf gegen die Schließung auf.

¢ Start am 9.9.2021

Deutschland 2020 D R: Marcus H. Rosenmüller D D: Milan Peschel, Sebastian Bezzel, Gisela Schneeberger, Rick Kavanian, Johanna Wokalek, Dimitri Abold

Originaltitel: La fine fleur D Frankreich 2020 D 95 min D R: Pierre Pinaud D D: Catherine Frot, Melan Omerta, Fatsah Bouyahmed

DER ROSENGARTEN VON MADAME VERNET

Eve Vernet (Catherine Frot) war einst eine der angesehensten Rosenzüchterinnen Frankreichs, doch inzwischen verkaufen sich nach Popstars benannte Kreuzungen viel besser als ihre liebevoll ausgegrübelten Kreationen. Um ihre Gärtnerei vor dem Ruin oder noch schlimmer, einer Übernahme durch den Konkurrenten zu retten, muss Eve neue Wege gehen. Da kommt ein zur Resozialisierung geschicktes Trio an jungen Mitarbeiter*innen ganz gelegen. Von Botanik verstehen sie wenig, aber viel von (Ein-)Brüchen.

¢ Start am 9.9.2021

EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH 1986 – DER FILM

Nur mit einer Packung Bonbons in der Tasche flüchten Oskar und Lilli aus ihrer Wohnung. Die Polizei war gekommen, um sie abzuschieben – nach einem Suizidversuch ihrer Mutter wird das Verfahren jedoch ausgesetzt. Die Geschwister werden getrennt und kommen in Pflegefamilien, eine problematischer als die andere, und setzen alles daran, wieder zueinander zu kommen. Arash T. Rihai, der selbst als Kind mit seiner Familie vom Iran nach Österreich emigrierte, inszeniert ihre Gefühlswelt mit wagemutiger Kamera und monumentaler Bildsprache.

¢ Start am 2.9.2021

Österreich 2020 D 102 min D R: Arash T. Riahi D D: Leopold Pallua, Rosa Zant, Anna Fenderl,Christine Ostermayer, Rainer Wöss „Das ist 1986“ sagt ein Schmuggler und zeigt auf einen gefällten Baumstamm, deren Ringe alle ab einer bestimmten Linie die Farbe wechseln. „Nach Tschernobyl hat sich der Wald plötzlich rot gefärbt.“ Lothar Herzogs kühles Regiedebut spielt im weißrussischen Teil der „Zone“ und erzählt von der Studentin Elena, deren Vater wegen Rohstoff-Schmuggelei im Gefängnis sitzt, deren Mutter apathisch zu Hause hockt, und die selbst zunehmend mit einem Gefühl von Sinnlosigkeit angesichts ihres Studiums zu kämpfen hat und schließlich des Schmuggeljob des

Vaters übernimmt. ¢ Start am 9.9.2021

Deutschland/Belarus 2019 D 77 min D R: Lothar Herzog D D: Daria Mureeva, Evgeni Sangadzhiev, Vitali Kotovitski, Helga Filippova, Aleksei Filimonov

Deutschland 2021 D 125 min D R: Lisa Bierwirth D B: Hannes Held, Lisa Bierwirth D K: Jenny Lou Ziegel D S: Bettina Böhler D D: Ursula Strauss, Passi Balende, Nsumbo Tango Samuel, Victoria Trauttmansdorff, Alex Brendemühl D V: Port-Au-Prince

One day Frankfurt curator Monika stumbles into an African bar and meets the mysterious Joseph during a raid. A complex love story begins.

LE PRINCE

Liebe, Rassismus und postkoloniale Befindlichkeiten

LE PRINCE erzählt von der Frankfurter Kuratorin Monika (Ursula Strauss), die in eine afrikanische Bar stolpert und während einer Razzia Joseph (Passi) begegnet. Joseph ist höflich, gutaussehend, im „Import/Export“-Geschäft tätig und sucht Investoren für eine Diamantenmine. Er führt Monika in eine andere Bar, in der er sie am Tresen zurücklässt, um Geschäfte mit Russen zu machen. Monika geht, hinterlässt ihm aber ihre Telefonnummer. So beginnt eine Beziehung. Lisa Bierwirths Debüt-Film verhandelt vor allem die Frage des Vertrauens zwischen den Liebenden, inspiriert von der Geschichte der Mutter der Regisseurin. Joseph ist immer wieder verschwunden, dann braucht er Geld. Monikas Umfeld, die hochkulturelle, institutionelle Bildungsbourgeoisie, warnt Monika mit rassistischen Obertönen: „Ich kann die Faszination ja verstehen …“ Der Film wahrt Distanz zu seinen Hauptfiguren und interessiert sich wenig für die Grundlage ihrer Beziehung. Es gibt zärtliche Momente und Sex, manchmal lachen beide am Anfang einer Szene, worüber bleibt unklar. Einmal sagt Joseph: „Die Männer haben Angst vor dir. Ich habe keine Angst.“ Joseph bleibt geheimnisvoll und erratisch, Monika ist komplexer gezeichnet. Sie beherrscht den Herrenreiterton der Kulturelite: „Sie sollen das nicht überprüfen, Sie sollen das korrigieren!“ Auf Vernissagen wirkt sie dagegen unsicher und linkisch: „Ich kann keinen Smalltalk“. Sie hilft Joseph immer wieder, der verschwindet immer wieder, oder gibt sich stolz: „Mein Vater wurde kolonialisiert, ich werde das nicht.“ LE PRINCE will eine komplexe Geschichte über Liebe, Rassismus und postkoloniale Befindlichkeiten erzählen, lässt aber so vieles offen, dass der Film eher als warnendes Beispiel und Mutter-Bashing erscheint. D Tom Dorow ¢ Start am 30.9.2021

Deutschland 2021 D 114 min D R: Detlev Buck D B: Daniel Kehlmann D K: Marc Achenbach D S: Peter R. Adam D D: Jannis Niewöhner, Liv Lisa Fries, David Kross, Joachim Król, Maria Furtwängler, Désirée Nosbusch, Nicholas Ofczarek, Anian Zollner D V: Warner Bros.

Adaption of the novel by Thomas Mann of the same title.

BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIx KRULL

Prekär und schön

Den Felix Krull in Detlev Bucks Verfilmung des Thomas-Mann-Romans als „Hochstapler“ zu bezeichnen, ist eigentlich ungerecht. Erst im letzten Akt des Films gibt er sich als jemand aus, der er nicht ist. Davor nutzt er zwar seinen ganzen Charme und Einfallsreichtum, um seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern, ist aber viel zu selbstverliebt in seine Schönheit, um jemand anderes zu sein. Seine traumatische Jugend in Armut, in der dieser Aufstiegswillen begründet ist, wird kurz abgehandelt, und zu dieser Zeit trifft Felix (Jannis Niewöhner) schon seine große Liebe, die Prostituierte Zaza (Liv Lisa Fries), die sich kurz nach ihm in die ausbeuterische Welt des Pariser Grand Hotels begibt, wo für Geld alles möglich ist, und die prekär Angestellten von allem Zuverdienst, sei es durch Diebstahl oder Sex, die Hälfte an Stanko, den Herrn der inoffiziellen Wirtschaft, abzugeben haben. Trotzdem kann Felix von dem, was er der reichen Madame Houpflé (Maria Furtwängler) im Rahmen von beidseitigen Dominanz-und-Erniedrigunsspielen „stiehlt“, genug ansparen, um einen anderen Gast, dem naiven Marquis De Venosta (David Kross), fast glauben zu lassen, sie wären finanziell ebenbürtig genug, um Freunde zu sein. Mit diesem Schritt ist Felix` Weg zum Hochstapler angetreten, und Venosta schlägt einen verlockenden Rollentausch vor, der ihn reich machen würde. Nur müsste Felix dafür Zaza aufgeben. Felix wird mehrfach gefragt, ob er Sozialist ist. Er verneint jedesmal, denn er will die Welt nicht verändern. Sie gefällt ihm wie sie ist, und solange er nur das Geld für alles, was er möchte, hat, ist es ihm auch egal, als wer er gesehen wird. Der Film unterstützt ihm darin, denn seine Welt ist schön anzusehen und lässt auch traurige Situationen so scheinen, als könnten sie über kurz oder lang nur

ein gutes Ende nehmen. D Christian Klose ¢ Start am 2.9.2021