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JUNGE, SCHÖNE NAzIS JE SUIS KARL

Nicht erst die letzten beiden Jahre haben gezeigt, dass es in Deutschland bisher keinen adäquaten Umgang mit rechtsextremen Bewegungen gibt – und dass der latente Rechtsextremismus weiter verbreitet ist und schneller manifest wird, als bisher gedacht – auch in Milieus, die noch vor kurzem als relativ unverdächtig galten, eben auch in der Filmbranche. In diesem Kontext gibt es gerade kaum einen wichtigeren Film als JE SUIS KARL. Der Film von Christian Schwochow (Regie) und Thomas Wendrich (Buch), die sich bereits im ersten Teil des dreiteiligen Fernsehfilms MITTEN IN DEUTSCHLAND: NSU mit den Tätern beschäftigt haben, zeigt die Szene der neuen Rechtsextremisten auf eine Art und Weise, wie sie bisher nicht zu sehen war, mindestens wenn man nicht gelegentlich auf den Social Media Accounts der bekannten Protagonisten nachsieht, was da eigentlich los ist.

Die Story (ohne zu sehr zu spoilern): Maxi, ein behütetes Teenager-Mädchen aus dem Prenzlauer Berg, verliert ihre Mutter und ihre kleinen Geschwister bei einem Terroranschlag, der islamistischen Terroristen zugeschrieben wird, aber tatsächlich von Nazi-Terroristen verübt wurde. Die Gruppe um den schnieken Karl will die Widersprüche im Land verschärfen, um möglichst schnell

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JE SUIS KARL

Junge, schöne Nazis

einen „Volksaufstand“ herbeizuführen. Karl glaubt, Maxi für die Propaganda des legalen Arms der „Bewegung“ nutzen zu können, und wanzt sich an sie heran. Die verstörte Maxi hat keine Verteidigungsmechanismen gegen Karls Charme und gegen seine Ideologie, die sich langsam in ihr Hirn schleicht. Er nimmt sie zu den Treffen der internationalen rechtsextremen Gruppierung mit. Die Inszenierung dieser Treffen in Prag und Straßburg sind die Höhepunkte des Films. Während in den Hinterzimmern terroristische Strategien ausgeklüngelt werden, finden auf den Bühnen Hochglanz-Performances von jungen, eloquenten Schönen statt. Die Musik ist melancholisch-romantisch für die Seele, aber auch mal brachial für die Männerkörper. Die Texte reden von Angst, Sicherheit und der Selbstverteidigung Europas, natürlich auch von der Verteidigung der Frauen und der Jungen. Die Rhetorik der neuen Rechtsextremen in JE SUIS KARL nutzt die gleichen Themen, wie sie von den Twitter- und Instagram-Stars der rechtsextremen Szene gesetzt werden, und die gleichen Strategien. Fremdzuschreibungen werden abgelehnt, man ist nicht rechts, sondern man denkt selbst. Man hat auch linke Freunde.

Wie alle Filme, die vor der SARS-CoV-2-Pandemie entstanden sind, kommt JE SUIS KARL zu spät. Der Film zeigt die Situation, wie sie sich 2019 darstellte. Inzwischen gibt es neue Talking Points, und die Menschenfeinde und Antidemokraten inszenieren sich als die eigentlichen Verteidiger der Freiheit. Die Entscheidung, Anschläge unter falscher Flagge zum Aufhänger der Geschichte zu machen, ist ebenfalls eher bedauerlich. Obwohl es immer wieder Fehlzuschreibungen rechten Terrors gegeben hat, nicht zuletzt bei den NSU-Morden, benötigt die Kritik an rechtsextremer Ideologie keine Verschwörungserzählung. Der Film wird dadurch zwar spannender, aber nicht unbedingt glaubwürdiger, zumal die Rechtsextremen längst selbst ähnliche Geschichten mit umgekehrten Vorzeichen erzählen.

Christian Schwochow weiß, wie man straff und packend inszeniert, das ist nicht erst seit der exzellenten TV-Serie „Bad Banks“ klar. Aber die Stärke seines Films liegt in der Darstellung der subtilen Verführung, der Gefühle von Gemeinschaft und Stärke, die vermeintliche Gewissheiten vermitteln. Und in der genauen Analyse der Wendung von einst linken Begriffen wie Vielfalt, die in der in der rechtsextremen Ideologie eine Weiße Vielfalt ist, die gegen den Ansturm eines migrantisch muslimischen Mobs verteidigt werden muss. Diese Integrationsfähigkeit rechtsextremer Ideologie und ihre Umdeutung demokratischer Begriffe ist das Erschreckendste am neuen Faschismus. Sie hat in den letzten zwei Jahren neue Dimensionen erschlossen. D Tom Dorow

¢ Start am 16.9.2021

Maxi‘s mother and her little siblings die in a terrorist attack that is attributed to Islamist terrorists but was actually committed by neo-Nazis. Handsome young Nazi Karl creeps in on Maxi in order to use her for the group‘s propaganda. Deutschland 2021 D 126 min D R: Christian Schwochow D B: Thomas Wendrich D K: Frank Lamm D S: Jens Klüber D D: Luna Wedler, Jannis Niewöhner, Milan Peschel, Marlon Boess, Cédric Cavatore D V: Pandora Film

Originaltitel: Les vétos D Frankreich 2019 D 92 min D R: Julie Manoukian D B: Julie Manoukian D K: Thierry Pouget D S: Marie Silvi D M: Matei Bratescot D D: Clovis Cornillac, Noémie Schmidt, Carole Franck D V: Happy Entertainment

Cold, introverted Alex (Noémie Schmidt) wants to work in epidemological research. When her uncle, who suffers from heart disease, asks her for help, she quickly finds out that he actually wanted to put her up in the village vet practice.

PLöTzLICH AUFS LAND

Dorftierärztin, übergangsweise

Für die kühle, introvertierte Alex (Noémie Schmidt) ist die Sache klar: Nach dem Studium möchte die junge Veterinärin in einem renommierten Labor als Epidemiologin forschen. Doch kaum hat sie ihre Abschlussprüfung bestanden, meldet sich ihr alleinstehender, herzkranker Onkel Michel (Michel Jonasz), der offenbar dringend Hilfe braucht. Alex zögert nicht lange und macht sich auf ins burgundische Örtchen Mhère zu ihrem einzigen Familienangehörigen. In ihrem ländlichen Heimatort angekommen, findet Alex jedoch einen quietschfidelen Michel vor, der Alex nur nach Hause gelockt hat, um sie als seine Nachfolgerin für die Tierarztpraxis zu gewinnen, die er gemeinsam mit dem dauergestressten Familienvater Nicolas (Clovis Cornillac) betreibt. Nur widerwillig bleibt Alex, fest entschlossen, so bald wie möglich zurück in die Stadt zu fahren. Doch als sich Michel urplötzlich nach Französisch-Polynesien absetzt, um sich einen Kindheitstraum zu erfüllen, springt Alex notgedrungen ins kalte Wasser und fängt an der Seite von Nico als Dorftierärztin an – nur übergangsweise, versteht sich. Während sich Alex dank Assistent Marco (Matthieu Sampeur) und der aufgeweckten 8-jährigen Tierfreundin Zelda (Juliane Lepoureau) langsam einlebt, begegnen andere Dorfbewohner*innen der eigenwilligen, unnahbaren jungen Frau mit sexistischen Vorurteilen. Regisseurin und Drehbuchautorin Julie Manoukian stellt in ihrem ersten Film Stadt- und Landleben mit Vor- und Nachteilen gegenüber, umschifft abgedroschene Klischees und reißt die tragische Familiengeschichte der Protagonistin nur an. Neben Clovis Cornillac trägt Noémie Schmidt (FRÜHSTÜCK BEI MONSIEUR HENRI) den von Musik der Band Moriarty untermalten Wohlfühlfilm und überzeugt als selbstsichere Tierärztin, die sich nicht

Deutschland/Russland/USA 2021 D 95 min D R: Doris Metz, Imogen Kimmel D B: Doris Metz, Imogen Kimmel D K: Birgit Gudjonsdottir, Theresa Maué, Andreas Steffan, Sophie Maintigneux D S: Frank Johannes Müller D M: Gregor Schwellenbach D V: mindjazz Pictures

The documentary shows how plastic surgery can help trans patients feel comfortable in their bodies. It portrays men and women in different life and transitional phases as well as their doctors and their work.

TRANS – I GOT LIFE

Lebensrettende Maßnahmen

I GOT LIFE heißt der Untertitel des Dokumentarfilms TRANS von Doris Metz und Imogen Kimmel, benannt nach dem Lied aus dem Musical „Hair“, der vielen durch die Interpretation der Schwarzen Musikerin und Aktivistin Nina Simone bekannt ist. Der Song feiert den Körper, den niemand dir nehmen kann: Von den Haaren bis zu den Zehen, vom Gehirn bis zum Geschlecht. Für transidente Personen ist so ein positives Verhältnis zum eigenen Körper oft nicht selbstverständlich. Der Dokfilm zeigt, wie unter anderem die plastische Chirurgie Patient*innen heute helfen kann, sich in ihm wohlzufühlen. Porträtiert werden trans Männer und Frauen in unterschiedlichsten Lebens- und Transitionsphasen, ebenso ihre Ärzt*innen und deren Arbeit. Die geschlechtsangleichende Operation ist ein Meilenstein, eine gewichtige Entscheidung. Metz und Kimmel schrecken nicht davor zurück, die Zuschauer*innen mit detaillierten Bildern aus dem Operationssaal zu konfrontieren. Das ist anfangs etwas krass, doch gewöhnt man sich daran: Die nüchterne, professionelle Art der Ärzte zeigt Wirkung. Es wird deutlich, dass die OPs nichts weniger sind als lebensrettende Maßnahmen – gerade auch für trans Frauen, für die es besonders gefährlich sein kann, als nicht cis erkannt zu werden. Dabei wollen die im Film Porträtierten bloß ganz normal leben und ihren Berufen und Hobbys nachgehen, als Busfahrer, Automechanikerin, Hockeyspieler oder Schreinerin. Wie schwer der Weg dorthin oft ist, erst recht in einem intoleranten Umfeld, zeigt TRANS – I GOT LIFE deutlich, aber auch: Wie schön es sein kann, zu sich stehen zu können und liebe Menschen zu haben, die einen dabei unterstützen. „It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life for me – and I’m feeling good“, heißt es am Ende in einem Cover eines anderen bekannten Nina-Si-

verbiegen lässt. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 16.9.2021 mone-Songs. D Eva Szulkowski ¢ Start am 23.9.2021

Originaltitel: Retfærdighedens ryttere D Dänemark 2020 D 116 min D R: Anders Thomas Jensen D B: Nikolaj Arcel Anders, Thomas Jensen D K: Kasper Tuxen D M: Jeppe Kaas D D: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Gustav Lindh D V: Neue Visionen Filmverleih

HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT

Das Schicksal ausrechnen

Es sind immer wiederkehrende Motive, die das Kino des Anders Thomas Jensen ausmachen. In mehr als fünfzig Drehbüchern hat der Däne das Kino seiner Heimat bestimmt wie kein anderer. In der Zusammenarbeit mit Regisseurin Susanne Bier (OPEN HEARTS, IN EINER BESSEREN WELT) lenkte das Schicksal die Figuren. In seinen eigenen Regiearbeiten (FLICKERING LIGHTS, ADAMS ÄPFEL, MEN & CHICKEN) gesellte sich eine anarchische, tiefschwarze Komik hinzu. HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT führt nun zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört, sich unter seinen Händen jedoch meisterhaft mischt. Ausgangspunkt ist Afghanistan. Dort war es der schweigsame Soldat Markus gewohnt, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Um daheim in Dänemark einen Bezug zu seiner Teenager-Tochter Mathilde zu finden, muss er jedoch einen neuen Weg finden, damit umzugehen, und sich auf andere Menschen einlassen. Die Gelegenheit kommt unerwartet, als er auf Otto, einen Wissenschaftler der Wahrscheinlichkeitsrechnung, seinen Assistenten Lennart und den technisch begabten, aber sozial gestörten Hacker Emmenthaler trifft und mit ihnen plant, einen brutalen Gangsterboss und dessen Armee von Handlangern zur Strecke zu bringen. Wie das Schicksal die Figuren verbindet und jede für sich zur Erlösung führt, ist absolut irrwitzig. Der Plot schlägt ebenso viele Haken wie Töne auf der Klaviatur der Emotionen an. Dass Jensens Konstrukt nicht in sich zusammenfällt, ist neben den pointierten Dialogen und seiner Liebe für Underdogs vor allem dem exzellenten Ensemble zu verdanken, und Mads Mikkelsen gibt als posttraumatisch gestörter Militär und Familienvater eine weitere vollkommen unerwartete Darstellung. D Lars Tunçay

¢ Start am 23.9.2021

Taciturn soldier Markus (Mads Mikkelsen) joins forces with a mathematician, his assistant, and a socially disturbed hacker to hunt down gangsters.

Nachwuchsdarsteller

Deutschland/USA 2020 D 82 min D R: Philipp Reichenheim D D: J Mascis, Lou Barlow, Murph, Kim Gordon, Henry Rollins, Bob Mould, Thurston Moore D V: rapid eye movies

MITGEFüHL

Zugewandte Pflege

Die Pflege von älteren Menschen rückt immer mehr in das Bewusstsein der Gesellschaft und das nicht erst seit Corona. Das Thema geht uns früher oder später alle an. Wenn es soweit ist, will niemand allein gelassen werden. Jeder wünscht sich, auch im Alter wie ein Mensch behandelt und nicht von einer Gesellschaft abgeschoben zu werden. Warum aber wird der Pflegesektor dann in die Hände privater Unternehmen gegeben und in diesen seit Jahren auf Kosteneffizienz ausgerichtet, statt auf die Bedürfnisse der Menschen? Die Dänin May Bjerre Eiby machte selbst schmerzhafte Erfahrungen mit der Pflege in ihrem Land. Statt zu resignieren, beschloss sie, etwas zu ändern. Sie gründete „Dagmarsminde“, ein Pflegeheim, das die zugewandte Begleitung von Menschen auf ihrer letzten Reise in den Mittelpunkt stellt. Das Konzept klingt so einfach wie revolutionär: Mitgefühl bedeutet Verständnis, Berührungen, Geborgenheit, eben Zeit und Aufmerksamkeit – etwas, das oft fehlt im Pflegealltag. Eiby und ihre Kolleginnen begegnen den Bewohnern und Bewohnerinnen ihrer Einrichtung mit Liebe und bewundernswerter Geduld, lassen ihnen alle Freiheiten, auch wenn das gelegentlich zu Problemen führt, die das Team mit Ruhe und Sorgfalt löst. Für viele der Alten ist „Dagmarsminde“ der letzte Hafen nach einer langen Odyssee durch die Institutionen, übermäßiger Medikation und Vernachlässigung. Die Fürsorge der Frauen hilft ihnen sichtbar, sich zu öffnen. Manche Schäden des Pflegesystems bleiben zurück. Regisseurin Louise Detlefsen und ihr kleines Team bezogen für anderthalb Jahre das Haus, begleiteten die Bewohner, die meist an Demenz oder Alzheimer erkrankt waren, mit der Kamera, rücksichtsvoll und einfühlsam. Mit ihrem Film verdeutlichen sie, wie wichtig der humane Umgang für ein würdiges Lebensende ist.

D Lars Tunçay ¢ Start am 23.9.2021

A portrait of a Danish home for people with dementia which focuses on attentive care rather than medication.

FREAKSCENE

Macker-Gift im Indie-Rock

Mitte der 80er Jahre veröffentlichte die Band Dinosaur jr. – damals noch als „Dinosaur“, das „jr.“ war die Folge einer Klage der älteren Hippie-Band „Dinosaurs“ – ihr Debütalbum, das zwar noch im US-Hardcore-Punk verwurzelt war, aber eine lässigere Haltung mit älteren Rockstilen einnahm. Dinosaur jr. waren (und sind) irrsinnig laut und wirkten trotzdem seltsam introvertiert. Die Band war schnell in Independent-Kreisen erfolgreich, und landete 1988 mit „Freak Scene“ einen Hit in den Independent-Charts, ein Jahr später kam ihre Coverversion des The Cure-Songs „Just Like Heaven“ auch in die Pop-Charts. Dinosaur jr. war auf dem Höhepunkt des Erfolgs, aber es gab Gerüchte darüber, dass die Musiker nicht mehr miteinander redeten. 1989 warf J. Mascis Lou Barlow aus der Band, zwei Jahre später hatte auch Drummer Murph genug. In FREAKSCENE reden J. Macsis, Lou und Murph über die Gründung, Trennung, und Wiedervereinigung der Band und sind dabei erstaunlich offen in Bezug auf die eigene toxische Männlichkeit, die sich bei Dinosaur jr. wenigstens nicht gegen Frauen richtete. Heute, nach den Missbrauchsskandalen um Ryan Adams und Marilyn Manson, ist klar, dass auch in der Independent Szene reichlich Macker-Gift verbreitet war und ist, aber damals standen die Stars auch für eine andere, komplexere Vorstellung von Männlichkeit. Heute zeigen sich auch Band-Diktator J. Mascis und Aggro-Bassist Lou Barlow einsichtig. Drummer Murph weckt aufrichtiges Mitgefühl dafür, den Psycho-Terror seiner Band so lange ausgehalten zu haben. Als Porträt einer Banddynamik ist FREAKSCENE großartig, nur kommt die Faszination der Musik von Dinosaur jr., die gerade in der flächigen Entfaltung der Songs und in den brachialen Dynamikwechseln liegt, in den Songschnipseln wenig herüber. D Tom Dorow

¢ Start am 9.9.2021

Dinosaur Jr. are indie rock pioneers, but there have been reports of tension between the three band members from the beginning. In FREAKSCENE, J Mascis, Lou, and Murph speak openly about the toxic atmosphere in the band.

TOUBAB

Potenzial zum Kultfilm

Was ist Babtou (Farba Dieng) auch bloß für ein knuffiger Chaot: Gerade aus dem Knast entlassen, gerät er ohne böse Absicht gleich wieder in Konflikt mit der Polizei. Weil er keinen deutschen Pass und es mit rassistischen Beamten zu tun hat, droht ihm die Abschiebung aus seiner Heimatstadt Frankfurt in den Senegal, das Land, aus dem seine Eltern einst geflüchtet sind. Die Suche nach einer Frau, mit der er eine Scheinehe eingehen könnte, verläuft erfolglos – also heiratet er kurzerhand seinen besten Freund Dennis.

In dieser Prämisse steckt so viel drin: Lässiger Gangsterfilm? Abschiebungsdrama? Buddykomödie? Die Antwort: Ja, aber. TOUBAB ist ein mitreißend gestaltetes Überraschungspaket mit einer verdammt clever erzählten Geschichte. Florian Dietrich und seine Crew sorgen mit visuellem Humor und schnittigen Dialogen dafür, dass es nie langweilig wird. Gleichzeitig zeichnen sie die Milieus, die im Film gestreift werden, mit viel Sorgfalt – von Babtous Nachbarschaft und der Gang, die hier ihre Geschäfte macht, bis zur Autowerkstatt, in der Dennis arbeitet. Und auch schwule und lesbische Charaktere und Frankfurts queere Szene werden respektvoll und klischeefrei dargestellt. Wie Babtou und Dennis nach und nach ihre internalisierte Homophobie ablegen, ist wunderschön mit anzusehen.

Letztlich geht es aber nicht um schwule, sondern vielmehr um heterosexuelle Liebe zwischen zwei Männern, die lernen, zu ihren Gefühlen zu stehen. Was im Genre „Männerfreundschaft“ sonst eher Subtext ist, wird hier zum Kernthema. So wird nicht nur das System rund um die deutsche Staatsbürgerschaft infrage gestellt, sondern auch der Stellenwert heterosexueller Paarbeziehungen. Farba Dieng sticht aus dem durchweg guten Cast noch einmal deutlich hervor. TOUBAB, der vielleicht beste jemals gedrehte Frankfurt-Streifen, hat das Potenzial zum Kultfilm. D Eva Szulkowski

Deutschland 2020 D 96 min D R: Florian Dietrich D B: Florian Dietrich, Arne Dechow D K: Max Preiss D M: Jacob Vetter D D: Farba Dieng, Julius Nitschkoff, Valerie Koch, Michael Maertens, Seyneb Saleh, Nina Gummich, Paul Wollin, Burak Yigit, Gerdy Zint D V: Camino

Babtou is under threat of deportation, so he marries his best friend Dennis. The issue that is usually subtextual in the “male friendship” genre is at the core here: heterosexual love between two men who are learning how to express their emotions.

Österreich 2019 D 104 min D R: Johanna Moder D B: Johanna Moder D K: Robert Oberrainer D S: Karin Hammer D D: Julia Jentsch, Manuel Rubey, Aenne Schwarz, Marcel Mohab, Lena Tronina, Tambet Tuisk D V: jip Film & Verleih

WAREN EINMAL REVOLUzzER

Revolutionäre Nostalgie und politische Realität

Helfen wollen ist einfach. Das denkt sich auch Helene (Julia Jentsch) als Pavel (Tambet Tuisk), eine verflossene Romanze aus längst verjährten «politisch aktiven» Zeiten, sie um ihre Unterstützung bittet. Sie schickt dem russischen Dissidenten einen Batzen Geld, den ihr Freund Volker (Marcel Mohab), der geschäftlich in Moskau zu tun hat, persönlich überbringt. Kompliziert wird es, als Volker sogleich dessen Flucht nach Österreich in die Wege leitet, und nicht nur der alte Liebhaber, sondern auch seine Frau Eugenia mit dem gemeinsamen Sohn im Arm bei Helene vor der Tür stehen. Aber auch dafür kann die engagierte Richterin gerade noch Verständnis aufbringen, bis sie erfährt, dass gegen Eugenia ein internationaler Haftbefehl ausgeschrieben ist, was nicht nur Helenes Job in Gefahr bringt, sondern ihr ganzes geordnetes Leben mit Musikermann Jakob (Manuel Rubey) und zwei Töchtern aufs Spiel setzt. Also soll Volker die Sache regeln, immerhin hatte er die Schnapsidee, endlich einmal etwas zu tun, anstatt immer nur zu reden. Doch der impulsive Therapeut ist viel zu sehr mit sich selbst und seiner neuen Liebe Tina (Aenne Schwarz) beschäftigt, als dass er sich um die Neuankömmlinge kümmern könnte. Aus dieser prekären Mischung von Beziehungskrisen, revolutionärer Nostalgie und politischer Realität entwickelt sich WAREN EINMAL REVOLUZZER zu einem Gesellschaftsdrama im sogenannten Bobo-Milieu, das vor allem von seinen Frauenrollen getragen wird. Jentsch und Schwarz geben ihren Figuren genügend Gewicht, um vereinzelte Ungereimtheiten in Johanna Moders Drehbuch abzufangen. Aber auch Lena Tronina (KIDS RUN) trägt als Eugenia mit kämpferischer Energie dazu bei, dass der Film ein spannendes ambivalentes Charakterbild entwirft. D Pamela Jahn

¢ Start am 9.9.2021

Judge Helene gets a call for help from Pavel, a Russian dissident. She gives him money, and shortly thereafter he appears in front of her door with his wife Eugenia who has an international warrant of arrest and their son.

PAOLO CONTE – VIA CON ME

Denkmal für den „Fürsten“

Es ist schwer, als Außenstehender die Größe Paolo Contes in seiner Heimat Italien zu bemessen. Seine Lieder gurren die Tauben auf dem Markusplatz, sein Schlager „Azzurro“ ist die inoffizielle Hymne des Landes. Aufgewachsen im piemontesischen Asti als Sohn eines wohlhabenden Notars, studierte Paolo zunächst Jura, schrieb aber schon während der Vorlesungen Musikstücke. Er kaufte sich heimlich ein Vibraphon und gründete mit seinem Bruder eine Jazzband, mit der er erste Erfolge feierte. Der Durchbruch kam als Komponist und Autor für bekannte Sänger wie Enzo Jannacci und Adriano Celentano, bevor er schließlich selbst die Reibeisenstimme erhob und zum Cantaautore – einem schreibenden Sänger – wurde. Contes Texte verbinden Romantik mit Ironie und treffen in ihren Alltagsbeschreibungen einen Nerv. Seine Musik speist sich aus der Jazztradition, gepaart mit französischen Chansons. Seine Erscheinung, sein kauziges Auftreten, das zerknautschte Gesicht, die prominente Nase, verliehen ihm Profil. Fernsehregisseur Giorgio Verdelli setzt ihm mit VIA CON ME ein Denkmal. Künstler wie Patrice Leconte, Roberto Begnini, Jane Birkin oder Isabella Rossellini huldigen dem Großmeister. Jeder Satz endet darauf, wie feinfühlig der „Fürst“ ist, welch großer Autor, eine Lichtgestalt, ein Gott unter uns Sterblichen. Der Dokumentarfilm bleibt gänzlich bei der Musik Contes. Der Meister gewährt keinen Einblick in Privates. Es scheint vermessen, danach zu fragen. So bleibt ein Film für Fans, angereichert mit einigem Archivmaterial, vielen Ausschnitten seines Auftritts in Paris 2020 und einigen wenigen Anekdoten, wie etwa wenn Begnini in seiner überschwänglichen Art von der ersten Begegnung mit Contes Frau erzählt. Dazu fährt ein Fiat Topolino durch die malerische Landschaft. Wer Conte liebt, steigt ein. Der Rest

bleibt außen vor. D Lars Tunçay ¢ Start am 16.9.2021

Paolo Conte composed Italy’s unofficial anthem “Azzurro” for Adriano Celentano and sang in his raspy voice himself later on. In VIA CON ME director Giorgio Verdelli gives him a tribute.

Originaltitel: Nabarvené Ptace D Tschechische Republik/Ukraine/Slowakische Republik 2019 D 169 min D R: Václav Marhoul D B: Václav Marhoul D K: Vladimir Smutný D S: Ludek Hudec D D: Petr Kotlár, Udo Kier, Stellan Skarsgård, Harvey Keitel, Barry Pepper, Julian Sands D V: drop-out Cinema

THE PAINTED BIRD

Schonungslos und poetisch

In seinem Roman THE PAINTED BIRD von 1965 beschrieb Jerzy Kosin´ski seine Erlebnisse als jüdisches Kind im von den Nazis besetzten Polen. Jedoch häuften sich bald Vorwürfe, die nicht nur den Realitätsgehalt von Kosin´skis vermeintlich autobiografischer Erzählung, sondern auch seine Autorschaft anzweifelten. In Václav Marhouls gleichnamiger Verfilmung von Kosin´skis umstrittenem Roman ist es der Sohn deportierter tschechischer Juden, der als Ausgestoßener und Verfolgter schon als Kind ums Überleben kämpft. Der schweigsame Protagonist (mit stoischer Präsenz gespielt von Petr Kotlár) wird durch die systematische Judenverfolgung der deutschen Besatzer und den folkloristischen, ebenfalls tödlichen Antisemitismus der einheimischen Landbevölkerung immer weiter übers Land getrieben und immer wieder in das Hetzbild des ortlosen Juden gezwungen. Mit der an die Odyssee gemahnenden Irrfahrt gelingt dem Regisseur Marhoul eine luzide Analyse der Verflechtung verschiedener Elemente und Ausformungen des Antisemitismus. Gegliedert ist der Film durch die Begegnungen, die der Junge macht, mit Menschen die ihm helfen, die ihn ausbeuten oder ihn mental und körperlich misshandeln. Doch ist nicht alle Gewalt, die ihm entgegenschlägt, religiös oder politisch motiviert. THE PAINTED BIRD erzählt auch Geschichten der blanken Machtgier, der Eifersucht und der Lust an der Gewalt (sowie der Gewalt in der Lust). So schonungslos diese Erzählung ist, so poetisch ist ihre Ausgestaltung: THE PAINTED BIRD ist ebenso schön wie quälend. Das Schwarz-Weiß erzeugt herbe Kontraste in Gesichtern und Landschaften und über dem Film liegt eine Atmosphäre des Übernatürlichen, die sich gelegentlich in der märchenhaften Symbolik einzelner Szenen und Figuren manifestiert. D Yorick Berta

¢ Start am 9.9.2021

Literary adaptation describing the odyssey of a jewish boy during World War II. Lost in the polish countryside he is forever changed by the cruelty and violence he encounters. „Berührend, einfühlsam, inspirierend“

SUN THIS WEEK

MITGEFÜHL

PFLEGE NEU DENKEN

TRäUM WEITER! SEHNSUCHT NACH VERäNDERUNG

Valentin Thurn (TASTE THE WASTE) porträtiert Menschen, die sich für unkonventionelle Wege entschieden haben. Die Bandbreite reicht vom Künstler Joy Lohmann, der von schwimmenden Inseln träumt, über Line Fuks, die nach Portugal gezogen ist, damit die Kinder ohne Schule aufwachsen können, bis hin zu Cargolifter-Gründer Carl von Gablenz, der gerade einen neuen Anlauf wagt. Und dann ist da noch Musikproduzent Günther Golob, der sich für das Projekt „Mars One“ beworben hat, das einen Trupp Kolonist*innen auf eine No-Return-Mission ins All senden möchte.

¢ Start am 30.9.2021

Deutschland 2020 D 97 min D R: Valentin Thurn

FANTASTISCHE PILzE

Wer eine gemütliche Naturdoku erwartet, sollte sich warm anziehen: Mit psychedelischer Geschwindigkeit rast FANTASTISCHE PILZE durch die wunderbare Welt der uralten und sehr seltsamen Spezies zwischen Fauna und Flora. Im Stakkato erzählen Expert*innen hochinteressante Dinge zu Geschichte und Biochemie der Art, während die Pilze im Zeitraffer aus dem Boden sprießen und sich unterirdisch computeranimierte Rhizome in wilder Fahrt verzweigen. Zwischendrin kommen die Pilze auch selbst zu Wort: „Ihr könnt uns nicht sehen, aber wir florieren.“

¢ Start am 9.9.2021

DIE MAFIA IST AUCH NICHT MEHR DAS, WAS SIE MAL WAR

Der Filmemacher Franco Maresco besucht ein Musikfestival in Sizilien, das die vor 25 Jahren getöteten Anti-Mafia-Richter Falcone und Borsellino ehren soll. Nur ist der Organisator des Festivals den „Idealen“ der ehrenwerten Gesellschaft gar nicht so abgeneigt, zumindest den alten, traditionellen. Und auch die anderen Menschen, die Maresco interviewt, haben eher gemischte Sympathien, wenn sie an das Thema und früher denken. Da verschwimmt die Grenze zwischen Rechtfertigung und Satire auch mal.

¢ Start am 26.8.2021

Originaltitel: La mafia non e piu quella di una volta D Italien 2019 D 105 min D R: Franco Maresco

LIONHEARTED – AUS DER DECKUNG

Woche für Woche treffen sich Raschad, Saskia, Burak und Abu in einer kleinen Halle des TSV 1860 München. Ihr Boxtrainer Ali Cukur ist eine beeindruckende Persönlichkeit und für sie Vaterfigur Lebensretter und Vorbild in Sachen Leben und Boxen. Das alljährliche Boxcamp organisiert er in einem Partnerverein in Ghana. Regisseuren Antje Drinnenberg begleitet die Jungs und ihren Trainer auf der Reise und fängt ein, wie das Zusammentreffen mit den ghanaischen Boxern, die sich durch einen noch härteren Alltag kämpfen, auch den Blick auf das eigene Leben verändert.

¢ Start am 23.9.2021

ATOMKRAFT FOREVER

Sechs Atomkraftwerke sind aktuell in Deutschland in Betrieb, Anfang 2011 waren es noch 17. Das letzte deutsche Atomkraftwerk geht 2022 vom Netz, beschloss die Bundesregierung nach Fukushima. Dass es damit nicht getan ist und der Rückbau eines Atomkraftwerks Jahrzehnte dauert, zeigt der Dokumentarfilmer Carsten Rau in seinem Film ATOMKRAFT FOREVER, für den er Menschen getroffen hat, die auf verschiedene Art mit der Kernkraft verbunden sind, darunter sowohl Gegner*innen wie Befürworter*innen der Kernenergie.

¢ Start am 16.9.2021

LOST IN FACE

Carlotta hat eine spezielle Art der Gesichtsblindheit, die sie nicht einmal ihr eigenes Gesicht erkennen lässt. Der als Gehirnforscher ausgebildete Valentin Riedl begleitet sie in LOST IN FACE und lässt sie von den kleinen Tricks erzählen, mit denen sie schwierige soziale Interaktionen meistert. Darüber hinaus zeigt der Film mittels Animationen, wie Carlottas Gehirn zwar alle Details eines Gesichts scharf sieht, diese aber ganz eigen verbindet und zusammensetzt, und wie dies sie beim Zeichnen inspiriert.

¢ Start am 30.9.2021

Deutschland 2020 D 94 min D R: Carsten Rau Deutschland 2020 D 81 min D R: Valentin Riedl

MEIN NAME IST KLITORIS

Lisa Billuart-Monet und Daphné Leblond befragen zwölf Frauen zwischen 20 und 25 zu intimen Themen, aus denen sich immer auch gesellschaftliche Missstände und strukturelle Probleme ableiten lassen. In ihren privaten Räumen erzählen die jungen Frauen mit verschiedenen Hintergründen und sexuellen Orientierungen sehr offen von teils ernüchternden ersten sexuellen Erfahrungen, vom auf heterosexuelle Männer ausgerichteten Aufklärungsunterricht, von rückständigen Körpernormen, vom Neinsagen, von misogynen Pornos und von toxischen Frauenbildern.

¢ Start am 16.9.2021

A SyMPHONy OF NOISE

„You feel somewhere between Stephen Hawking, Jesus and Jimi Hendrix. The world of noise you have unleashed!“ Dieses Zitat ist weniger Ausdruck von Matthew Herberts Größenwahn als eine präzise Umschreibung seiner Kunstpraxis als Soundkünstler, der mit Alltagsgeräuschen – vom Schwein bis zur Fritöse – arbeitet. Herberts Kunstpraxis ermöglicht eine neue, sinnliche Art des Verständnisses. Sie bedeutet eine neue Aufmerksamkeit und Wertschätzung der alltäglichen Umwelt. Und sie hat politische Sprengkraft.

¢ Start am 2.9.2021