Hydra #2 remastered

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Verlagspostamt P.b.b. Wien November 2007 Ă–sterreich: 1,50- Euro Deutschland: 3,- Euro Schweiz: 6,- Euro Benelux: Vergesst es!

populärkultur

satire

no. zwei

2007

hydrazine.at


Ein besonderer Dank geht an die Inseratkunden unserer 2. Printausgabe.

remaster

speiseplan

“Das ist aber nicht das Original!” Richtig. Hydra #1 bis #3 sind online nur als remastered versions erhältlich. Das hat viele gute Gründe, von denen uns allerdings gerade keiner einfällt. Aber wer wird denn so kleinlich sein? Na gut, wir verraten einen: Da das Layout der ersten drei Ausgaben ohnehin nicht perfekt war, haben wir uns den Spaß erlaubt, die Hefte für das Onlinedurchblättervergnügen zu optimieren - und gleich auch alles schöner und besser zu machen. Viel Spaß mit der zweiten Ausgabe der Hydra (als sie noch ein Magazin war) und den letzten Beiträgen des allerersten Hydra-Teams.

VERROHTE JUGEND Die Jugend von Heute: Außen weich, innen roh. seite 4 NUR WEIL IHR DAS WOLLT ... ... will das Alf Poier noch lange nicht. seite 6 SINOWATZ WOLLTEN WIR UNS ... ... dann doch nicht nennen. Also nannten sie sich “Kreisky”. Ein Interview von Markus Egger. seite 10 DIE BEKEHRUNG DES BOB DYLAN Eine Hydra ‘n’ Crime Story. seite 13 DIE TÜRMACHERIN Alice & Angie im fast intimen Zickentratsch. seite 18 DER GENEIGTE SERIENKILLER Über “Zodiac” und ähnliche Untaten. seite 22 SCHÖNE SCHEIBE Weil, weil, weil ... wir Rankings einfach lieben! seite 24 REZENSIONEN & ELCHE Unverzichtbares für eine seriöse Zeitschrift. seite 26 ES KÖNNTE SCHLIMMER KOMMEN ... Verjährte Konzerte, unbekannte Bands? Genau! seite 32 REBECCA, KAISERIN DER HERZEN Frau Beischl schlägt wieder zu. seite 35

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auf ein wort

impressivo

liebe leserin ...

Herausreicherin Kulturverein “Hydra”

... lieber Leser, liebe noch zaghafte HYDRA-Fans, liebe Nasenrümpfer, liebe Freunde eines Freundes, der das alles besser kann: Hier ist die zweite Ausgabe unseres mit Herzblut geschriebenen Magazins. Nicht unser Herzblut übrigens, sondern ... nein, lassen wir das.

Redaktionstyrann Curt Cuisine Autor/innen Konrad Gregor (grog), Alice Gruber (alice), Marc-Andre Heim (mäx), Gregor Lauss (grrr), Bernhard Lang (dipl.-ing. huber, frau beischl, eichhörnchen), Georg Moser (professor), Christian Orou (l’orou) Fotos & Illustrationen Cuisine, Bernhard Lang, Alice Gruber; Sorry bei allen ungenannten Fotografen bzw. Agenturen (wir haben die Fotos nur ausgeborgt und bringen sie gleich morgen wieder) Layout Cuisine & Eichhörnchen Redaktionsanschrift Knöllgasse 9/41, 1100 Wien e-mail office@hydrazine.at Druck Leodruck, Allemagne Erscheinungsort Wien, Verlagspostamt 1150, Wien. P.b.b. Homepage hydrazine.at Anzeigenverkauf office@hydrazine.at Verkaufspreis 1,50 Euro Verkauf nur in Österreich

Bei aller Unseriösität, die wir uns auch für diese Ausgabe vorgenommen haben, müssen wir doch ein paar ernsthafte Fragen beantworten. Etwa, was denn die HYDRA überhaupt will. Darüber haben wir lange nachgedacht, meist in den frühen Morgenstunden, im Gespräch mit mürrischen Kellnern oder sternhagelvollen Musikrezensenten. Eines können wir an dieser Stelle gleich verraten: Antworten sind von dieser Seite aus nicht zu erwarten. Wir haben uns also an einen Medienexperten gewandt, der uns im Handumdrehen erklärte, dass es im Grunde nur zwei Arten von Magazinen gibt. Jene, die ausschließlich Geld machen wollen, und jene, die vor allem Geld machen wollen. Letztere, so der Experte, sind meist Spartenmagazine für Jachtbesitzer, Haustierfreunde, Hobbyfotografen usw. “Offensichtlich ist die HYDRA ein Spartenmagazin”, erklärte uns der Experte, “ergo wendet Ihr Euch an die Humorbesitzer.” Uns war sofort klar, dass das die Antwort ist. Wenn Ihr also Zuhause einen Humor habt, der auf den Namen Waldo oder Fuffi hört, dann ist die HYDRA genau Euer Magazin. Allerdings wurde uns schnell klar, dass Humorbesitzer anspruchsvolle Wesen sind. Ihr würdet auch nicht jeden Humor auf der Straße spazieren führen. Ein Holzhammerfuffi etwa hat selten einen stolzen Besitzer. Und manch intellektueller Waldo lacht so still und um drei Ecken gedacht in seinem Körbchen, dass kaum jemand die Pointe versteht. Und nicht zuletzt, ein täglich kläffender Humor will auch gehegt und gepflegt werden. Der muss sich entwickeln dürfen, muss wachsen, damit daraus eine räudige Humortöle wird. Oder eine HYDRA. Eine bissige Lektüre wünscht, Curt Cuisine Dompteur, Hasardeur, Redakteur

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Brutal Youth Ist die heutige Jugend total verroht? Keinesfalls! Während Handys und Internet vor Gewaltphantasien nur so überquellen, fehlt es den Kids von Heute vor allem an Durchschlagskraft, wie eine aktuelle Wiener Studie beweist.

By the way: Dieser Tarif schlägt nun wirklich alle!

Die Jugendkriminalität steigt alarmierend, was sich an vielen Statistiken und Tabellen zeigt. Und das, obwohl noch vor wenigen Jahren viele Leute laut Thomas Maurer der Überzeugung waren, Ranking sei ein Dorf in Oberösterreich. Heute weiß man: Eine Ortschaft namens Ranking hat nie existiert. Es gibt maximal eine Ortschaft namens Franking nahe von Braunau, woraus aber rein gar nichts resultiert. Deswegen haben wir keinen Reporter nach Franking geschickt, denn das hätte ja keinen Sinn gehabt. Okay, wir geben es zu. Wir haben einen Reporter nach Franking geschickt, aber immerhin sind wir jetzt eine Erfahrung reicher. Aber was hat es nun mit der Flut an Statistiken über Jugendkriminalität auf sich? Schließlich fallen Statistiken nicht vom Himmel oder werden angepflanzt – zumin-

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Es ist also so eine Sache mit den Statistiken. Stets stellt sich die Frage, ob denn tatsächlich gemessen wurde, was gemessen werden soll. Zu eben diesem Schluss kam auch der Soziologe Ernst Schwinger vom Institut für Sozialhysterie der Universität Wien. Denn, so Schwinger, “Handyfilme und Deliktzahlen geben keinen zuverlässigen Aufschluss darüber, ob die Jugend von Heute wirklich brutaler geworden ist. Sie dürfen nicht vergessen: Früher gab es keine Handys! So mancher Jugendliche mag vielleicht seine ganze Aggression in den Versuch gesteckt haben, mit Mutters Festnetztelefon die Keilerei im Schulhof zu fotografieren, aber da das offensichtlich nicht geklappt hat, haben wir auch keine Belege dafür.” Darf man die Kriminalstatistik also der Irreführung bezichtigen? “Die zweite Republik hat eine Reihe von drastischen Polizeireformen gesehen, die ein enormes Frust- und Aggressionspotential bei vielen Polizisten auslösten. Man sollte von traumatisierten Beamten nicht erwarten, dass sie fähig sind, korrekte Statistiken zu führen. Ja, manche Beamte sind offenbar derart zerrüttet, dass sie es nicht einmal schaffen, ohne lebensgefährliche Konsequenzen ein Heftpflaster an einen Schubhäftling anzubringen.”

Wie gelangen wir aber nun zu zuverlässigen Daten? “Wir haben den einzigen, wissenschaftlich haltbaren Indikator gefunden, der das Gewaltpotential der Jugendlichen zu erfassen vermag. Es handelt sich um die Zuschlagstärke (ZS). Wenn die heutige Jugend wirklich brutaler ist, muss sich das im Kraftaufwand pro Kinnhaken oder Schienbeinrempler messen lassen.” Wir wurde das im konkreten Fall gemessen? “Es war nicht einfach, Personen für eine valide Versuchsreihe zu finden. Da wir die Ergebnisse nicht verfälschen wollten, untersuchten wir die Krafteinwirkung direkt am menschlichen Körper. Andernfalls hätten wir auch einen branchentauglichen Kraftmesser benutzen können, wobei wir auf dieses Gerät sehr wohl zugreifen mussten, um historisches Vergleichsmaterial zu erhalten.” (siehe Kasten) Schwinger führte also eine Reihe von schlagkräftigen Experimenten durch, welche unzweifelhaft belegen, dass die Jugend von Heute keinesfalls verroht, sondern im Gegenteil verweichlichter ist. Der Grund dafür ist einfach: “Durchschnittliche Jugendliche von Heute verbringen ihre halbe Freizeit im Internet oder in Videospielen, also beim Chaten oder Killen. Sie müssen nicht einmal mehr vor die Haustüre gehen, um ihren pubertären Erlebnisnotstand abzubauen. Dadurch kommt es zu einer muskulären Regression.” Mit anderen Worten: Die heutige Jugend ist muskelschwach, geradezu myasthenisch. Keinesfalls kann man von einer Verrohung sprechen. Diese Kids sind nicht hart, sie sind weich wie Butter. Schwinger: “Also wirklich, diese Jungs haben zugeschlagen wie kleine Mädchen. Das waren ja nicht einmal Ohrfeigen! Zu meiner Zeit ...” Konrad Gregor, interviewte exklusiv für Hydra den schlagfertigen Soziologen

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Die Methode Ein großer Teil der Schwinger-Studie bestand in der Suche und Aufbereitung von historischen Vergleichsdaten. “Unsere Bemühungen wurden bei Besuchen im Gänsehäufel und dem Wiener Prater mehr als belohnt”, so der Studienautor. “In Kooperation mit Forensikern und Gentechnikern haben wir anhand eingetrockneter Schweiß- und Materialermüdungsspuren die Gebrauchsbiographien der Geräte ermittelt. So konnten wir die verschiedenen Materialbeanspruchungen bestimmten Jahrzehnten zuordnen.” Kopfzerbrechen bereiteten den Experten hingegen die eigenwilligen Einteilungen auf den Geräten, die erst in zeitgenössische Skalierungen übersetzt werden mussten. “Jungfrauen etwa gibt es heute nur noch als Kinder, umgekehrt sagt ‘Säufer’ nichts mehr über das Alter aus.” Aber auch diese Schwierigkeiten wurden Dank überragender Denkanstrengungen gelöst.

Langzeitstudie beweist: Jugendliche schlagen weniger fest zu 1957

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Der generationenübergreifende Krafttest zeigt: Die Flowerpowerkids waren die größten Weicheier. Nicht annähernd so verweichlicht waren die Yuppiesprößlinge, was wenig verwundern sollte, war das doch die goldene Ära der Fitnesskammer. Nur die Babyboomer waren härter, was wohl an den Mühen des Wiederaufbaus lag. Die heutige Jugend hingegen hat Null Mumm in den Knochen. Zum Vergleich: Ein Durchschnittsstudent schlägt mit 2.300 Newton zu, Wladimir Klitschko mit 4.000 Newton.

Grafik: Hydra, Quelle: Institut für Sozialhysterie, Universität Wien

dest hat uns das eine zuverlässige Quelle versichert. Statistiken werden durch knochentrockene wissenschaftliche Arbeit hergestellt. Man vergleicht etwa die Einlieferungsdiagnosen von Krankenhäusern aus verschiedenen Jahren, filtert Jugendliche mit bestimmten Diagnosen heraus – und schon liegen die harten Fakten auf dem Tisch. Dass Ärzte heutzutage, wo wir doch alle für das Thema SEN-SI-BI-LI-SIERT sind, leichter die Diagnose “Alkoholvergiftung” hinschreiben, kann dabei getrost ignoriert werden. (Wenn das Arztgekritzel überhaupt lesbar ist und nicht aus Versehen ein Oberschenkel amputiert wurde.)


Nur weil Ihr das wollt!

Denkt nie wieder in Eurem Leben das Wort “Auto�!


Seht Ihr, geht gar nicht. Sklaven unserer Hirne sind wir. Zumindest könnte das glauben, wer lange genug mit Alf Poier plaudert. Tja, den Fehler haben wir gemacht ... Hydra: Was treibt Alf Poier momentan? Nach dem Songcontest war nicht viel von Dir zu hören. Alf Poier: Ich war wahnsinnig viel mit “Kill Eulenspiegel” auf Tournee, mit vielen, ausverkauften Pfarrsälen, und ich habe mir einen Gutshof im Tullnerfeld gekauft, wo ich die “Welt für Bewusstseinserweiterung, Scheißdreck und Kunst” errichten werde. Hydra: Tschuldigung, wie war das? Alf Poier: Das wird eine Botschaft, ein Museum und ein Künstlerlandsitz. Diesem Projekt widme ich mich geistig momentan am meisten. Hydra: Was wird dort gebotschaftet? Alf Poier: Eben das. Wenn man mit Italienisch Probleme hat, geht man zur italienischen Botschaft. Wer für sein Bewusstsein, für Scheißdreck oder für Kunst eine Anlaufstelle braucht, der kommt zu mir. Hydra: Wer mit den Hundstrümmerl in Wien Probleme hat, kommt auch zu dir? Alf Poier: In meiner Umgebung gibt es viele Schweinebauern, da passt das vom Gestank schon hin. Wenn ich gute Luft haben will, fahre ich nach Wien. Nein. Ich habe wahnsinnig viele Bilder und Objekte. Wenn ich älter bin und nicht mehr auf Tournee gehe, möchte ich in meiner Botschaft sitzen. Die Leute können mich besuchen, es wird eine Galerie geben, ein kleines Cafe dazu. Und man muss natürlich geistige Freiheit beweisen, wenn man zu Besuch kommt. Ein Bürgermeister z. B. muss die Krawatte auf einem Baum aufhängen, auf allen Vieren kriechen und wie ein Hund bellen, sonst kommt er nicht rein. Man muss beweisen, dass man geistig fortgeschritten genug ist.

Hydra: Warum der Bürgermeister? Alf Poier: Wenn ich irgendwo spiele, ist meist die erste Reihe reserviert. Dann frage ich: “Wer sitzt da?” Antwort: “Der Bürgermeister.” Sage ich: “Gleich in die letzte Reihe setzen.” Und daneben sitzt meist der Sparkassendirektor. Sage ich: “Den könnt ’s gleich daneben setzen.” Ich habe nie die gschupfte Partie unterstützt. Ich komme beispielsweise nicht ohne Krawatte ins Casino. Das sehe ich nicht ein. Darum möchte ich das in meiner Welt umdrehen. Bei mir kommt man mit Krawatte nicht rein.

Wer bei mir einen Kaffee bestellt, muss sagen: “Ich krieg’ einen Capuccino, Sie Drecksau!”

Hydra: Ist das Tullnerfeld der ideale Ort für den Beginn einer Weltrevolution? Alf Poier: Überhaupt nicht. Aber es ist einfach wunderbares, geiles Objekt, so etwas findet man auch in Wien nicht. Bis zum Jahresende sollte das fertig sein und wird teilweise auch Inhalt des neuen Programms sein. Dazu wird es dann am 1. Mai Marienerscheinungen geben.

Hydra: Von wo gehst du da weg? Alf Poier: Etwa, wenn eine Familie mit Kindern kommt, dann muss die Frau 10 Kilo Steine mit sich herumschleppen. Wenn die dann fragt, warum das so ist, sage ich: Ich weiß es nicht. Das Universum ist politisch nicht korrekt. Und ich bin Teil des Universums.

Hydra: Was macht eine Marienerscheinung im “Scheißdreck”? Alf Poier: Eigenständige Welten von eigenständigen Leuten haben mich schon seit meiner Kindheit fasziniert. So etwas wollte ich immer haben, obwohl ich kein Besitzmensch bin. Im Gegenteil, mich belastet das Haus. Das mache ich nur für die Kunst. Ich opfere mich quasi. Ein anderer kauft sich dafür einen Ferrari.

Hydra: Das heißt, du willst die Welt nicht gerechter machen. Alf Poier: Doch. Mache ich eh. Die müssen dann eben bellen. Oder wenn sie mit der blauen Hose kommen, verkaufe ich ihnen gerne eine grüne Hose. Wenn man bei mir einen Kaffee bestellt, muss man sagen: “Ich krieg’ einen Capuccino, Sie Drecksau!” Wenn die Leute das nicht können, sollen sie daheim bleiben.

Hydra: Aber zugleich schließt du die Ferrarifahrer von deiner Kunstwelt aus ... Alf Poier: Die schließe ich nicht aus, die sollen sich nur dem Niveau anpassen. Aber ich mag diese Scheinwelt nicht. Das muss authentisch sein. Und ich gehe ja vom Universum aus.

Hydra: Warum muss man schimpfen? Alf Poier: Um zu erkennen, dass die Welt, in der wir leben, auf einem Konsens beruht, der nicht die letztgültige Wahrheit ist und immer hinterfragt werden muss.

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Hydra: Eine letztgültige Wahrheit gibt es aber nicht. Also kann man sich auf dem Weg dorthin auch mit einem Kompromiss begnügen. Alf Poier: Dazu müsste man beweisen, dass das Denken frei ist. Das hat noch keiner bewiesen. Hydra: Ist doch egal, ob das Denken frei oder unfrei ist. Man kann eh nicht hinter das Denken schauen. Alf Poier: Wenn du sagt, du kannst dir aussuchen was du denkst, dann sage ich, denk ab jetzt nie mehr das Wort “Auto”. Das wird dir nicht gelingen. Hydra: Und? Alf Poier: Schau: Irgendwann sind die Leute verbrannt worden, weil sie behaupteten, die Welt ist eine Kugel. Und heute ärgert man sich, wenn man beschimpft wird. Ich will zeigen, dass Worte auch nur Begriffe sind. Dass das eine andere Ebene als die Wirklichkeit ist. Hydra: Aber Worte bewirken auch etwas, sind Teil der Wirklichkeit. Alf Poier: Stimmt schon. Was ich sagen will ist, dass wir in einem Konsens leben, aber der könnte auch ganz anders ausschauen. Wir wissen nicht, was gut und schlecht ist. Was ist z. B. menschlich? Der Holocaust ist meines Erachtens “menschlich”. Das ist zwar ein bisschen hart ... Hydra: ... ein bisschen einseitig ... Alf Poier: ... ein bisschen schockierend, schon klar, aber wenn ein kleiner Affe ins Wasser fällt, springt die Mama auch nach. Das ist nicht menschlich. Es gibt Tiere, die sich für die Gruppe aufopfern. Aber Holocaust gibt es im Tierreich keinen. Ich weiß, das ist arg, aber ich bin ja darauf aus, die Menschen zum Nachdenken zu bewegen.

Hydra: Das heißt also, du bist mit dem Konsens, in dem wir leben, unzufrieden. Alf Poier: Nein, ich bin sehr zufrieden. (lacht). Meine Ansicht ist ja, dass du im Leben nichts erreichen kannst. Du kannst eh nur sein, was du bist. Aber im gesellschaftlichen Sinne habe ich was erreicht, weil ich ein fleißiger Bub war in den letzten Jahren. Aber ich verwende ich das anders. Ich protze nicht mit dem Ferrari.

Ich habe Angst davor, dass man in irgendeiner Form weiter existiert. Das will ich nicht. Ich will ganz weg sein.

Ich will das, was ich mir verdient habe, dagegen verwenden. Ich habe zum Beispiel auf der Bank gesagt: ”Ich will keine Zinsen, nur weil ihr das wollt! Mein Kapital ist mein Kopf und nicht Ihr!” Aber die verstehen das nicht. Wenn jemand sagt, jetzt könntest du dir das und das leisten, sage ich: “Jetzt erst recht nicht.” Dieses Besitzdenken stört mich so, dass ich es umdrehen möchte.

Daraus ist “Kill Eulenspiegel” entstanden, wo sich ein Clown erschießt, weil er als Clown nicht mehr sagen darf, was er sich denkt. Ich erschieß mich also gleich mal auf der Bühne, werde quasi verurteilt, und habe dann keine Requisiten mehr, bin kein Clown mehr, rede über lebensphilosophische Sachen, bis zum Schluss mein innerer Clown auftaucht und ich die letzte halbe Stunde eigentlich komplett durchdrehe. Um zu zeigen, dass ein Clown eigentlich alles machen darf.

Hydra: Geht das? Wenn man das Geld mal hat... Alf Poier: Geld verdirbt nicht den Charakter, es zeigt den wahren Charakter. Die Leute haben früher zu mir gesagt, wenn du Geld hättest, würdest du auch in Designerklamotten herumlaufen. Ich habe gesagt: “Wenn ich Geld hätte, würde ich erst recht drauf scheißen.” Hydra: Das aktuelle Programm heißt “Kill Eulenspiegel”. Worum geht’s da? Alf Poier: Das ist eigentlich aus der zweiten Songcontest-Geschichte entstanden. Da bin ich ja mit dem Sterbelied für Europa angetreten. Nur war da die Textzeile drin (“weil sich Mohamed so gut vermehrt, singt schon bald in Rom der Muezzin”), wodurch die muslimische Glaubensgemeinschaft auf mich aufmerksam wurde. Da gab es viele Diskussionen bis hin zu Drohungen.

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Hydra: Was hat dich an der SongcontestGeschichte am meisten geärgert? Alf Poier: Eigentlich alles zusammen. Das geschobene Voting, die künstliche Aufregung, die Medienhetze samt ärgster Anschuldigungen. Irgendwann hat BBC-Saudiarabien bei mir angerufen. Das nahm eine Dimension an, die nicht mehr zu kontrollieren war. Und das eigentlich nur deswegen, weil der ORF eine Quotennutte gebraucht hat, um den Songcontest aufzublasen. Angeblich haben die Global Kryner die Bedingung ausgehandelt, dass sie nur mitmachen, wenn sie die Ausscheidung gewinnen. Ich war der Depp in der ganzen Sache. Aber, wie die Wirklichkeit so spielt, nach mir hat keiner mehr was zusammengebracht. Und ich hab’s auch keinem vergönnt, muss ich ehrlich sagen. Auch privat habe


Und das gibt’s aktuell von Alf Poier zu kaufen. Stimmt, schaut ein wenig nach Wiederholungszwang aus, aber: Das eine ist eine DVD, das andere ein Buch. In letzterem geht es um’s Dahinsiechen, in ersterem erschießt sich Alf Poier gleich nach fünf Minuten. Da sollte die Wahl nicht allzu schwer fallen. www.alfpoier.at

ich mich in dieser Zeit nicht sehr wohl gefühlt. Ich bin dann freiwillig aus dem Quatsch-Comedy- und den Rudi-CarrellGeschichten im deutschen Fernsehen ausgestiegen, weil ich nicht mehr wollte. Hydra: Und jetzt ist das anders? Beim ORF vielleicht? Alf Poier: Ich würde mich dort nicht aufgehoben fühlen. Wo auch? Beim Oliver Baier? Oder beim Dorfer? Mir ist ein lebensphilosophisches Gespräch wichtiger, als beim Oliver Baier zu erraten, was der in der Hand hat. Das ist mir, ehrlich gesagt, wurscht. Hinzu kommt, dass wir im deutschen Fernsehen doch ziemliche Freiheiten hatten. Wenn ich zum Oliver Baier gehe, müsste ich mich den Spielregeln dort anpassen. Ich lebe aber davon, dass ich mich nicht anpasse. Das ist mein Wesen. Hydra: Dann müsste der Eklat um den Songcontest im Grunde in deinem Sinne gewesen sein. Alf Poier: Nur weil ich mich nicht anpasse, hat keiner ein Recht mit Votings herumzujonglieren. Hydra: Vielleicht hat der ORF da auch einen Witz, eine Satire mit dir gemacht. Alf Poier: Das ist die Frage, ob das noch Satire ist. Aber die haben mich einfach nicht verstanden. Beim ersten Songcontest wollten Sie, dass ich dem Bürgermeister von Riga eine Weinrebe aus Österreich überreiche. Ich hab' gesagt: “Von mir kriegt er einen Ameisenhaufen, die Weinrebe könnt’ ihr ihm selber geben.” Das fing schon am Flughaben an. Wir haben vor dem Abflug gesagt, wir geben kein Interview mehr. Ich bin mit Rene, meinem Manager, zum Flughafen gekommen, wir hatten beide Masken auf, ich als Katze, er als Vogerl,

und haben kein Wort geredet. Erst hat uns die Flughafenwache fast verhaftet, dann kamen die Kamerateams. Die haben uns gebeten, ob wir die Masken runtergeben. Kein Wort von uns. Ich bin ein bisschen am Boden herumgekrochen und habe mich gekratzt. Da waren sie total sauer. Im Transit dann, wie alle Kameras weg waren, habe ich die Maske abgenommen, das ORF-Team begrüßt und gesagt: “Eines müsst ihr schon verstehen, ein Katzerl kann ja gar nicht reden.” Da haben sie gesehen, dass sie mit uns nicht Schlitten fahren können. Das mögen sie halt nicht. Hydra: Wenn dir der ORF eine halbe Stunde Narrenfreiheit bieten würde... Alf Poier: Ist im Raum. Unter der neuen Führung scheint das wieder möglich zu sein. Es gibt aber noch nichts Konkretes. Der ORF hat mir ja vorgeworfen, dass ich nicht anpassungsfähig sei. Also bin ich zur Vera gegangen und hab’ in der Sendung ein Koks-Sackerl ausgepackt und mir reingezogen. Das habe ich als Anpassung verstanden, weil das ja alle tun. Provokation muss über den Bühnenrand hinausgehen. Es hat keinen Sinn, wenn ich dort soziale Sprüchlein los lasse und ins Nobelrestaurant essen gehe. Das ist nicht authentisch. Entweder ich lebe es oder ich lebe es nicht. Hydra: Im Pressetext steht, dass dein Leben momentan in der “täglichen Vollstreckung deines Dahinsiechens” besteht... Alf Poier: Ich bin angetan von den dunklen, schwarzen Philosophien. Schopenhauer, Nietzsche. Mir hat das immer gefallen, wenn einer am Tisch haut und sagt: Es ist eh alles für’n Arsch. Wenn ich in der Nacht in den Himmel schau und weiß, dass es das alles irgendwann nicht mehr geben wird, dann 9,1021

frage ich mich: Soll es überhaupt etwas geben oder soll es nichts geben? Ist das Nicht-Sein dem Sein vorzuziehen? Da bin ich sehr am überlegen. Hydra: Hast du überhaupt eine Wahl? Außer dich umzubringen? Alf Poier: Ja, aber das hilft nichts. Denn man wird ja zu Erde und dann wächst daraus wieder eine Blume oder ein Baum. Und wenn ein Tier davon frisst, stellt sich die Frage, ob man nicht im Bewusstsein dieses Tiers drinnen ist. Ich habe Angst davor, dass man in irgendeiner Form weiter existiert. Das will ich nicht. Ich will ganz weg sein. Mir geht es gut sonst, aber ich sehe im Großen und Ganzen keinen Sinn. Der Viktor Frankl würde sagen: Ich habe Sinn im Leben gefunden, aber der Sinn des Lebens ist mir vollkommen abstrus. Unbezahlbare Anzeige


Sinowatz wollten wir uns dann doch nic nennen .

... also nannten sie sich “Kreis Der Sänger der gleichnamigen Rockband, Franz Adrian Wenz Funès, Zigaretten, Spinner un Ein Hydra-Interview von Mark Gastgarten des Cafè Sperl.

Hydra: Ihr habt Euch für “Kreisky“ als Bandnamen entschieden. Euer Bassist Gregor hat den Namen „Erdarsch“ vorgeschlagen, der aber nicht so bombastisch klingt. Deshalb Kreisky? Franz: Der Name “Erdarsch” ist eigentlich nie zur Diskussion gestanden, aber er wird dem Gregor immer noch vorgeworfen. Wir haben einen Bandnamen gesucht, da ist “Kreisky” im Raum gestanden – das hat gleich gesmasht. Hydra: Martin, Euer Gitarrist hat auch gemeint, “Sinowatz” klingt ein bisserl Scheiße. Franz: Eigentlich schon. Und Herr Gusenbauer hat ja auch schon bewiesen, dass sein Name sich nicht eignet.

Hydra: Außerdem würdet Ihr mit so einem Namen auf der Bühne immer umfallen. Franz: Ja, das stimmt. (Ich ernte den ersten Lacher des Interviews.) Hydra: Euer Musikstil wird von Deutschrock bis Udo Jürgens meets Jesus Lizard, von Goldenen Zitronen bis Nick Cave beschrieben. Wie würdest Du Euren Stil definieren? Franz: So Elemente sind schon drinnen, weil wir alle unterschiedliche Musik hören und die dann zusammenfügen. Es ist natürlich immer fürchterlich, Musik zu beschreiben. Das offensichtliche Musikgenre ist Deutschrock, weil’s deutschsprachige Texte sind mit Rockmusik, da gibt es aber noch feinere Abstufungen: Gerade weil der Martin einen amerikanischen Hadcoreeinschlag

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mitbringt, der wieder relativ ungewöhnlich ist für so eine klassische Rockpartie. Hydra: Eure Single: “Wo Woman ist, da ist auch Cry” lag auf Platz vier der Austrian Indie Charts. Kommt Ihr Euch wie Stars vor, wenn Ihr vor “Maximo Park” oder “Naked Lunch” platziert seid? Franz: Das wäre schon super, aber ich hab’ die Indie Charts noch gar nicht gekannt, bevor wir selber nicht drinnen waren. Und ich halte sie nicht für sehr relevant. (Jetzt erntet der Franz den ersten Lacher von mir.) Nein, es macht sich gut. Es ist schon klasse, aber eigentlich glaube ich, dass die echt nicht relevant sind.


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ht .. Zwischen Größenwahn und Selbstzerfleischung? Kreisky von links: Klaus, Gregor, Franz, Martin

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Hydra: Und in den FM4 und Ö3 Charts, da taucht Ihr nicht auf? Franz: Die Ö3 Charts sind Verkaufscharts, da kommen wir als Band mit unserer Größenordnung sowieso nicht rein, außerdem gibt es die Single in gepresster Form nicht zu kaufen. Hydra: Auf FM4 wurde “Wo Woman ist, da ist auch Cry” schon gespielt? Franz: Ein paar Mal, aber das sind Redaktionscharts, da suchen die Redakteure die Musik aus. Hydra: Im Video zu “Wo Woman ist da ist auch Cry” ermordest du auf hinterhältigste Art und Weise den Rest der Band: Der Mitter Klaus (Schlagzeuger) wird von Dir als Kegel von der Kegelbahn geschossen, den arme Gregor (Bassist) röstest

Foto: Ingo Pertramer

Du im Prolotoaster (Solarium) zu Tode. Warum das? Franz: Das ist eine Eifersuchtsnummer, die sich gegen die Nebenbuhler richtet. Wir haben uns überlegt, wie man das darstellen kann. Für mich war das eine große Befreiung, die Leute fiktiv ums Eck zu bringen. Seither sind wir eigentlich wieder sehr harmonisch. Hydra: Gehst Du im realen Leben auch über Leichen, um an Deine Ziele zu gelangen? Franz: Nein, im Gegenteil. Ich glaube nicht, dass das ein guter Weg ist, um Ziele zu erreichen. Ich bin eher der österreichische “Freunderlwirtschaftstyp”! Hydra: Nicht so der Gandhityp? Franz: Na ja, doch auch. Ich sag immer: Leben und leben lassen.

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Hydra: Du bist ja auch ein Louis de Funès-Fan. Die Fantomasreihe? Franz: Die eigentlich nicht so, da ist er nur Schauspieler, die sind nicht so auf ihn zugeschneidert. “Brust oder Keule” oder “Hasch mich ich bin der Mörder” (schon wieder Mord), “Oskar der Familienschreck” liegen bei mir ganz vorne. Hydra: Die Politessenreihe auch? Franz: Gendarmen! Politessen gibt es gar nicht. (Da fällt mir das Zitat: ”Lernen sie Geschichte Herr Redakteur” ein, von wem war das noch gleich?) Aber die waren nicht so der Mörder-Hammer. (und noch mal mörderisches ...)


Hydra: Was war die dümmste Frage, die dir jemand bei einem Interview gestellt hat? Franz: Das war sicher eine heute.

Hydra: Hat Dich Louis de Funès bei deinen Texten beeinflusst? Franz: Na! (Ein klares Nein, fällt dem geschulten Interviewer sofort auf!) Er hat ja in der Rockmusik doch nicht so viel... (Franz unterbricht meine Frage, wendet sich der Kellnerin zu und beginnt folgenden Dialog:) Dürfte ich noch Zigaretten bestellen? Was gibt’s denn? Ich will relativ leichte. Kellnerin: ”Meine Sorte” hab’ ich, dann “Memphis light” oder “Philip Morris”. Franz: ”Meine Sorte”, sind die recht leicht? Kellnerin: Das sind die “Milde Sorte” von früher. Franz: Die will ich haben. Hydra: Die “Milde Sorte”. Da kann man sich gleich in den Wald stellen und hat mehr davon. Franz: Das is ja wurscht. Kellnerin: Das ist witzig, zu mir hat einmal ein Herr gesagt – I hob auf des nia so geschaut – Ich krieg a Packerl “Meine Sorte”. Darauf sag I zu eam: I was ned, wos sie für a Sorte rauchen. (Ein Verdienstorden für die Kellnerin.) Hydra: Gibt es irgendwelche Vorbilder, die Dich inspiriert haben? Franz: Am ehesten noch der Paul Löwinger. (Er lacht.) Hydra: Und wer wirklich? Franz: Peter Hammill von „Van der Graaf Generator“. „Pawn Hearts“ ist ein super Album von VdGG.

Und das hier ist der Grund für dieses Interview. Nona. Das Album von Kreisky, erschienen bei Wohnzimmerrecords. www.kreisky.net

Hydra: Was war die dümmste Frage, die Dir jemand bei einem Interview gestellt hat? Franz: Das war sicher eine heute. Hydra: Die Louis de Funès-Frage? Franz: Die war eh relativ interessant. Hydra: Eine Textzeile aus einer Eurer Nummern lautet: “Mit der Musik kamen die Spinner, ihre Pläne, ihre Spontaneität, ihre feuchten Hände, ihr aufdringliches Zwinkern, ihre furchtbare Musik, Spinner eben.“ Wer sind Spinner für Dich im Musikbusiness? Ich will Namen hören. Franz: Das ist Definitionssache. Wir selber sehen uns natürlich auch als Spinner. Aber auch im positiven Sinne. Wir sind schon aus dem Teenageralter raus, alle Anfang Dreißig, da musst du schon ein bisschen einen Knall haben, unkokett gesagt, weil du verdienst genau gar nichts damit. Hydra: Ich seh’ den Begriff Spinner anders: Ihre furchtbare Musik, Spinner eben, das würde ich nicht auf Euch münzen. Gibt es Bands, wo Du sagst, so wie die ihren Weg gegangen sind, damit kann ich nichts anfangen? Mondscheiner z.B.? Franz: Mondscheiner hab’ ich nicht so verfolgt. Ich mag aber so aufdringliche, junge Bands nicht, die überprofessionalisiert sind. Das Überprofessionalisierte, das mag ich nicht.

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Hydra: Die “Jetzt Anders” vielleicht? Franz: Der Grazer, dieser Tom, der singt eigentlich gut. Das find ich ein großes Elend, dass der bei denen dabei ist, der hätte eine super Aura und Stimme. Der mit einer Erasure-Mucke, der würde einen guten Synthiepop machen. Zurück zu den Spinnern. Da gäbe es noch zu sagen, dass man größenwahnsinnig sein muss, sonst tät’ man ja nichts Relevantes machen. Die richtige Künstlermentalität besteht ja aus halb Größenwahn und Selbstzerfleischung. Hydra: In Eurem Song “Vandalen” heißt es: “Wir sind alle Kannibalen, wir sind alle keine Menschen mehr, wir sind viel zu junge Mädchen.” Franz: Das ist ein Hasslied gegen die Umwelt. Das transportiert ein übersteigertes, einfaches Gefühl, das betont übertrieben und unreflektiert ist. Das passt ganz gut zur Musik, die ein wenig monolithisch ist. Es handelt über einen Typen, der die gesamte Nachbarschaft überwacht hat. Hydra: Was sind die nächsten Ziele? MTV Music Award? Franz: Nein, nächstes Jahr den Amadeus! Hydra: Das heißt, der Christl Stürmer den 27. vor der Nase wegschnappen? Franz: Ja, genau. Aus ihrer Hand reißen. Hydra: Danke für das Gespräch.





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Keine A nzeige


einsten. Zickentratsch vom F weiten Reihe. z r e d s u a n e h sc n e Alice interviewt M

n i r e h c a m r Die Tü

Arbeiten wir uns t heran. schrittweise an die Nach zu einem Konzert Frohen Mutes gehen wir och bevor wir ein irgendwo in der Stadt. N t, en an unsere Ohren dring verheißungsvolles Tönch hinter e, die lange zuvor schon stoßen wir auf jene Leut Beispiel nd geschuftet haben. Zum u t l e k c a h e g n e s s i l u K n e d n in der “Szene” sagt, a m e i w , r e d o , t t i r t n i E m die Dame vo iese Grand Dame de la D . ” t h c a m r ü T e i d “ e i d , jene Frau . wollen wir hier vorstellen a r o n o e l E s n e m a n e s i o n scéne vien


Hydra: Eleonora, an Dir kommt jeder vorbei ... oder auch nicht. Was sind die Doe’s und Don’t’s beim Eintritt? Eleonora: Die Don’t’s sind, mich mit einem Dackelblick anzuflehen um umsonst reinzukommen. Das weckt in mir das wilde Tier. Ich sage dann meist: “Ich hab’ einen Hund Zuhause, ich brauche nicht noch einen!” Auch immer wieder im Angebot: “Wissen Sie nicht wer ich bin?” Meine Antwort: “Nein! Und das interessiert auch keinen!” Ich mag diese Art nicht, aber wer mag die schon? Hydra: Du meinst so von oben herab ... Eleonora: Ich meine diese “Ich bin der Graf Koks vom Gaswerk”-Typen. Ich kassier ja den Eintritt für Veranstaltungen wo Künstler, Bands oder DJs auftreten, also Leute, die eine Leistung erbringen und vom Eintritt leben. Hydra: Dennoch gibt’s eine Gästeliste. Eleonora: Die bekomme ich meist nicht vollständig. Und viele dieser Typen sind der Meinung, sie stehen automatisch drauf. Öde sind auch die G’schichterln von wegen Geldtasche geklaut, womöglich von Aliens. Dafür hab’ ich keine Zeit. Hydra: Dann gibt’s Listen-Diskussionen? Eleonora: [seufzt] Also wenn mir jemand nicht unter der Hand verblödet, versuch’ ich immer zu checken, wie berechtigt der ist, aber wenn mir jemand blöd kommt ... Hydra: Du hast hier also vollkommene Autorität! Eleonora: Das kann ich nicht beurteilen. Ich mache die Erfahrung, dass sich die meisten Leute bei mir relativ schnell auskennen. Bei mir wird erst gezahlt, dann kommt man rein. Die Mehrzahl der Leute ist eh lieb und weiß sich zu benehmen. Manche wissen’s eben nicht. Aber ich bin nicht wie diese Security-Typen, die rohe Gewalt an der Tür. Nur wenn jemand glaubt, er kann mich austricksen und an mir wie mit Tarnkappe vorbeischleichen, da greif’ ich durch! Hydra: Ließe sich nicht mit ein bisserl G’spür herausfinden, was geht und was nicht? Eleonora: Eh, aber die Leute sind oft nervös! Wenn das Konzert ausverkauft ist und sie noch nie da waren, bin ich eben “the doctor is in”. Ich hab ja immer meine Rescue Tropfen mit. Wenn jemand kollabiert ... oder bei Trauerfällen, Trennungen, Schlägereien, das kommt ja immer mal vor.

Hydra: Den Eintritt machen ist also mehr als Kassieren und Stempeln. Eleonora: Ich kenn mich bei Feng Shui nicht aus, aber eine bestimmte Atmosphäre entsteht schon beim Eingang. Ich persönlich mag keinen Security-Menschen, der mein Handtascherl grantig auf eine Nagelfeile durchsucht. Es sollen die Leute angenehm reinkommen und das Gefühl haben, sie kriegen was für ihr Geld. Ich erklär’ auch oft das Lokal, was und wer dahinter. Dafür hat das Barpersonal keine Zeit. Bei einem guten Hotel hast du auch einen Portier. Hydra: Du bist mehr die Concierge? Eleonora: Es ist wie beim Almabtrieb. Du musst immer schauen dass du die Kühe und die Schafe zusammen hältst. Ich meine, ich will nicht die Gäste beleidigen, aber Gigs und Partys sind nun mal ein Herdenevent, und du musst immer schauen, dass sie unverletzt, fröhlich und ungeschwängert ins Tal kommen!

“Es ist wie beim Almabtrieb. Du musst immer scchauen dass du die Kühe und die ammen Schafe zusa hältst..” Hydra: Jahaa, ins Jammertal Eleonora: Nein, mein Motto ist: Frohlocket, frohlocket! Hydra: So kommt’s wahrscheinlich auch, dass manche Leute lieber den Abend bei Dir am Eingang verbringen. Eleonora: Dazu kann ich nur sagen, wie’s mir selber geht. Ich kann selber nicht mehr auf Konzerte gehen, weil ich Menschenmengen nicht mehr aushalte. Konzerte und Weihnachten sind für mich vergleichbar. Das Christkind ist meistens eine Enttäuschung. Nicht weil es Scheiße baut, sondern wegen der zu hohen Erwartungen. So ist das auch bei einem Konzert: Du gehst voller Vorfreude hin, dann kommst drauf, eigentlich ist das Arsch hier, dir tun die Füße weh und voll ist es auch. Man kommt zu einem Konzert auch wegen des menschlichen Kontakts. Der findet halt’ dann bei mir statt. Es gibt diesen 70er Song: “You will always find me in the kitchen at partys.”

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Hydra: Zum menschlichen Kontakt zählen auch Deine berühmten Muffins? Eleonora: Ich verknüpfe das sehr gerne. Mir ist es wichtig, eine ausgleichende Stimmung zu erzeugen. Man lernt in diesem Job Gesichter zu lesen. Ich vermittle den Leuten gern, dass sie individuell bedient werden. Wenn ich sehe, das Publikum will nichts von mir, dann ist es eben “Geld her und Stempel druff”. Aber wer will, kriegt den Stempel auch auf den Arsch. Hydra: Bildlich gesprochen? Eleonora: Nein, in Echt. Wenn ich frech gefragt werde: “Wohin muss denn der Stempel?” Dann sag’ ich: “Mein Schatz, wohin hättest du ihn denn gerne?” So passiert’s! Hydra: Wo dürfen wir demnächst darauf hoffen, vor Dir in Schlange zu stehen? Eleonora: Im Badeschiff, im Rhiz, im Fluc, mal hier, mal dort. Hydra: Wie ist das mit den Wirten und Veranstaltern? Denken die bei einem Event auch daran, was “die Tür” braucht? Eleonora: Ich hab Erfahrung genug, dass ich mich nicht mehr darauf verlasse, dass der Boss denkt. Natürlich sage ich vorher, was ich brauche. In manchen Lokalen gibt es eingefahrene Rituale, da bemühe ich mich, so neutral wie möglich darauf zu reagieren. Du kaufst mich an diesem Abend, dann mach’ ich’s eben in deinem Sinne. Manche wissen nicht, was ihr Sinn ist, dann mach’ ich’s in meinem. Hydra: Lass uns über Bands reden... Eleonora: Es ist immer wieder traurig, wenn gute Bands vor 20 Leuten spielen, weil der Termin schlecht ist oder keine Pressearbeit gemacht worden ist. Hydra: Da bricht dir echt das Herz? Eleonora: Natürlich! Wenn ich hier für eine Leistung kassiere und sehe, die ist gut, aber kein Schwein kommt, dann ist das wohl eine traurige Angelegenheit. Hydra: Gab’s Extremes mit Musikern und Bands? Eleonora: Bis auf den Hugo Race, der mir einen Tobsuchtsanfall hingelegt hat, kaum. Die sind meistens ja schon von der Tour erschöpft oder haben Lampenfieber und brauchen Hilfe in der fremden Stadt. Der Elenie Mandell und ihren Kollegen hab’ ich mal gesagt, wo sie Lammfellsohlen für ihre Schuhe herkriegen. Es war ein eiskalter Winter und die haben gelitten!


“Wir scchweifen ab. Da bescchwe reen siich dann die männlichen Leseer,, das seei Zickentratsch.” Hydra: Was war mit dem Hugo Race? Eleonora: Das war im B72. Der hat einen Schock gekriegt, weil er an einem Freitag gespielt hat und das schlecht bis mittelmäßig besucht war. Es hat sich halt das Wochenend-Teeniepublikum eingefunden. Das Konzert war aus und keine 10 Minuten später war das Lokal voll. Das hat er nicht gepackt. Irgendwer hat sich auch sein Mikro gegriffen, das war ihm zuviel. Hydra: Der alte Australier, der war ja immer schon ein bisserl ... Eleonora: ... eine Diva, ja.

Hydra: Eine Diva bist Du ja auch. Eleonora: Ja. Und ich kann auch höllisch zickig werden! Hydra: Du bist doch nicht zickig! Eleonora: Das ist eine Auslegungssache. Manchen kommt’s eben so vor. Und ist der Ruf mal ruiniert, lebt sich’s herrlich unzensiert! Hydra: Das kommt eher bei Männern vor, oder? Eleonora: Genau. Männer und Veranstalter: “Lies mir die Wünsche von den Augen ab und bemerke nicht, dass ich unvorbereitet bin ...” Da sagt die Zicke in mir: ”Ich bin nicht die bezaubernde Jeannie und schon gar nicht gratis!” Hydra: Reden wir über Männer. Es soll ja Männer geben, die, sagen wir’s offen, scheißen sich richtig an vor Dir. Wie kommt das? Eleonora: Frag ihre Mutter! Irgendetwas hat die dann wohl richtig gemacht! (lacht) Nein, das ist ja gut so! Das erspart mir viel Arbeit an der Tür! Was tust du eigentlich mit den ganzen Radiergummis hier?

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Hydra: Ich mag neue Radiergummis halt. Eleonora: Ja, aber gleich so viele? Obwohl, ich hatte früher welche, die haben so gut gerochen, die hätt’ ich fressen können! Hydra: Wir schweifen ab, da beschweren sich dann die männlichen Leser, das sei Zickentratsch! Eleonora: Ist es ja auch. Vom Feinsten. Hydra: Das wollen wir aber nicht sein? Eleonora: Das ist mir wurscht, ich will vor allen Dingen Ich sein! Hydra: Das gelingt dir immer wieder sehr gut – und unüberhörbar. Eleonora: Obwohl das Außenstehende oft anders erleben, drossle ich bitte 90% meines Potenzials! Das ist vielen trotzdem noch zu laut! Hydra: Ich kann mich an Szenen im B72 erinnern, wo dein glockenhelles Lachen sogar die Band übertönte! Eleonora: Wirklich? Das lag an der Akkustik des Lokals! Hydra: Liebe Eleonora, Danke für das Gespräch. And for being there. Eleonora: Well, Honey, it’s a dirty job, but somebody’s got to do it.


Kurze Unterbrechung der leuchtturmwart SIE WOLLEN ALSO LACHEN! SIE WOLLEN SICH UNTERHALTEN! NICHT ZU SEICHT. DAMIT SIE AUCH EIN BISSERL WAS ZUM NACHDENKEN HABEN. DA FÄLLT MIR EINER EIN: Frau Müller ist beim Zahnarzt. Dieser reinigt ihr gerade die Zähne. Plötzlich fragt er: “Sollen wir eine Unterbrechung für eine Zigarette machen?” “Sehr gerne”, antwortet Frau Müller. Daraufhin nimmt der Zahnarzt eine Zange und zieht der Dame einen Vorderzahn. “Fertig”, strahlt er sie dann an. BESSER IST’S NATÜRLICH SIE KÖNNTEN GLEICH LACHEN. UND DASS DAS MIT DEM NACHDENKEN ERST SPÄTER PASSIERT. DANN, WENN SIE MIT ETWAS ANDEREM BESCHÄFTIGT SIND. WENN SIE SO

Wusst’ ich’s doch!

BESCHÄFTIGT SIND, DASS DIE POINTE PLÖTZLICH NACKT UND UNBESCHÖNT VOR IHNEN STEHT! WENN SIE SO BESCHÄFTIGT SIND, DASS ES LEICHT FÄLLT, MANCHE GEDANKEN NICHT FERTIGDENKEN ZU DÜRFEN! ABER WER SIND SIE DENN? SIND SIE DIE PERSON DIE SICH ANGESPROCHEN FÜHLT? SIND SIE DIE, DIE MAN MEINT, WENN MAN VON IHNEN SPRICHT? ODER SIND SIE NICHT DIE, DIE SICH GERADE DANN ERST ANGESPROCHEN FÜHLEN? MIR GEHT ES MANCHMAL SCHON SO! ICH MUSS NÄCHSTE WOCHE ZUM ZAHNARZT! DA KOMMEN MIR IMMER DIE KOMISCHESTEN GEDANKEN!

Was Großmutter schon wusste Praktische Lebenstipps für die forschende Jugend. Ein Hydra-Service für unsere Nachwuchsleser und -innen.

Liebe Annatant`! Gestern kam ich mit einem Wanken nach Hause. Heute morgen stellte sich heraus, dass mein Gleichgewichtssinn noch immer gestört ist, und meine Zunge fühlt sich so seltsam pelzig an. Auch mein Kopf war recht schwer und ich hatte so ein Hämmern im Nacken. Das Tageslicht beriet mir große Schmerzen. Wie heißt diese Krankheit? Und wie konnte ich mich damit anstecken? Vielen Dank für deine Antwort, ich kann sie schon recht dringend brauchen. Liebe Grüße Jacqueline, 14 Jahre.

Liebe Jacqueline! Deine Krankheit nennt man landläufig einen ausgewachsenen Kater, der sich, wenn du diese Antwort erhältst, bereits in Luft aufgelöst haben wird. Junge Lebern regenerieren ja schnell! Es sei denn, deine Katze lässt das mausen nicht

und Du und Deine Saufkumpanen habt die Flasche wieder kräftig kreisen lassen. Denn ich gehe davon aus, dass du in deinem jugendlichen Überschwang, deinen Rausch in der Horde auslebst. Iss das nächste Mal vorher eine Dose Ölsardinen, denn es braucht eine gescheite Unterlage. Das wusste schon die Großmutter! So hast du auch länger die Möglichkeit, deine Freunde beim gehaltvollen Nippen zu beobachten. Gibt tollen Gesprächsstoff für die große Pause. Außerdem kommt man so leicht in den Genuss des Titels: “Große Säuferin vor dem Herrn!” Versuche also beim nächsten Besäufnis so lange wie möglich bei Bewusstsein zu bleiben und die Dinge, die Du hörst und siehst zu speichern. Denn wisse: “Wissen ist Macht!” Spitze also die Ohren und sei immer recht gelehrig. Und meide billigen Fusel, denn der macht unschönen Pelz auf der Zunge. Hoffe dir gedient zu haben, Deine Annatant’


LET THE CITY

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Y TALK ...

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Der geneigte Serienkiller Wir haben offenbar alle etwas von einem Massenmörder. Nehmen wir etwa das berüchtigte Stanford-Prison-Experiment. Solange nur ein kleines Knöpfchen zu drücken ist, werden wir alle schnell zu Folterknechten. Aber ein mörderisches Kämmerchen in den Abgründen unserer Seele macht noch lange keinen coolen Serienkiller. Der russische Schachbrettmörder etwa hat laut eigenen Angaben 64 Menschen umgebracht. Alle von hinten mit dem Hammer erschlagen. Und warum 64? So viele Felder hat ein Schachbrett. Sehr originell. Das wahre Leben liegt also eher abseits der cineastischen Serienmörder-Verkultung, die spätestens mit dem “Schweigen der Lämmer“ von Jonathan Demme (1990) begonnen hat. Wir erinnern uns an Anthony Hopkins als abgründig-genialen Serienkiller, der alleine Dank seines Geruchsorgans die Biographie der FBI-Agentin Clarice Starling (Jodie Foster) aus deren Achselhöhlen rekonstruierte. Damit wurde der Serienkiller salonfähig und die schmackhafte Zubereitung der menschlichen Leber zum Privileg abartiger Genies. Höhepunkt dieser Verkultung war zweifellos “Sieben“ von David Fincher (1995). “Sieben“ war nicht zuletzt auch ein Triumph des Ausstattungsdesigns. Ein kleines Heer an kreativen Köpfen bastelte in mühsamer Kleinarbeit an den notwendigen Requisiten. Die legendären Tagebücher (tatsächlich handgeschrieben), die Polaroids des Ausgehungerten, die minutiös gestaltete Wohnung des Serienkillers John Doe (Kevin Spacey) und so

weiter. Die eigentliche “Tiefe“ des Filmes kommt allerdings von der archetypischen Gestaltung der beiden Polizisten. Der alte Haudegen Somerset (Morgan Freeman) ist überzeugter Pessimist, der nur noch an Schadensbegrenzung glaubt. Sein junger Kollege Mills (Brad Pitt) hingegen glaubt noch daran, etwas zu bewegen. Am Ende landet er in der Klapsmühle, das Böse hat triumphiert. Weltanschaulich eine klare Sache. Hängen bleibt vor allem der Kult des genialen Irrsinns. Töten als kranke Kunst, als Ausdruck einer irre gewordenen Welt. Der Serienmörder nicht mehr bloß als krankes Genie, sondern als Kommentar auf den Zustand unserer Welt. Noch einen Schritt weiter getrieben hat diese Interpretation Alan Moore. In "From Hell" (1989 bis 1992 entstanden) erzählt er die Geschichte von Jack the Ripper, Moores Theorie zufolge ein Freimaurer und ehemaliger Leibarzt der Queen, weswegen die Ripper-Morde auch niemals geklärt wurden. “From Hell“ ist ein 500-seitiges Monstrum von einem Comicroman und zugleich eine wissenschaftliche Abhandlung (in Fußnoten erläutert Moore einzelne Szenen, bespricht die Fach- und Splatterliteratur zum Fall, präsentiert Theorien und Interpretationen). Die Verfilmung der Holmes-Brothers ist gar nicht mal schlecht, aber im Vergleich zum Hauptwerk doch mager. Was unter anderem fehlt, ist die eigenwillige Deutung, die Moore dem Selbstverständnis des Rippers gibt. Dieser hat nämlich bei seinem letzten und abscheulichsten Mord eine 22,2292


Vision, die ihn tief ins 20. Jahrhundert katapultiert, genauer gesagt in ein schnödes Bürogebäude, was ihn mit reichlich Entsetzen erfüllt. (“Diese Geringschätzung. Dies ist Armageddon.“) An dieser und anderen Stellen legt Moore den Gedanken nahe, dass der Serienkiller ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ist. Massengesellschaft und Massenmord, das geht sozusagen Hand in Hand. Mit anderen Worten: Wenn das 20. Jahrhundert in die Entfaltung einer Individualgesellschaft mündet, gilt das wohl ebenso für das Morden. Vor diesem Hintergrund kann man gerne auch den ganzen CSI-Schnickschnack lesen. Mehr Bandbreite und Einfallsreichtum bei erdachten Todesarten gab es nie zuvor im TV. So gesehen ist “Zodiac“ von David Fincher ein eher unzeitgemäßer Film. Stellt man “Sieben“ und “Zodiac“ nebeneinander, hat man den Eindruck, Fincher wollte eine Gegenthese zu seinem Vorgänger abliefern. Während in “Sieben“ alles auf die Vervollkommnung des genialen Plans hinaus läuft, geht in “Zodiac“ alles schief. Der wahre Täter wird nie gefasst, die Ermittler zerbrechen im Laufe der Zeit daran, der Liller selbst ist weit davon entfernt, eine perfekte Vorstellung abzuliefern. Nach den ersten Morden scheint er kalte Füße zu kriegen, von einem makellosen Wahn keine Spur. Mittelmäßigkeit plötzlich auch hier. Der Serienkiller nicht als krankes Genie, sondern als vorübergehender Wahnsinn, der sich am Ende recht bequem in den Falten der Gesellschaft verstecken lässt. Irgendwie beunruhigend.

Kein Wunder, dass Zodiac nicht annähernd den Erfolg hatte wie Sieben. In Zeiten, wo man in diversen Splattermovies und Fließband-TVProduktionen Mord immer noch als große Kunst lesen will, hat die Botschaft, dass auch in dieser Causa Schlamperei und Mittelmäßigkeit regiert, wenig Chancen. Andererseits: Stumpfsinnige Filme wie jener über Hannibals Jugend oder ältere Delikte, etwa Gary Fleders haarsträubender “Kiss the Girls“, sorgen ohnehin auf unfreiwillige Weise für entsprechende Realitätsnähe. Töten als großer Pfusch. Ganz wie im echten Leben. Curt Cuisine, Fernsehtäter

Um diesen Film geht es. Zodiac von David Fincher. Gute Schauspieler, zäher Film.

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Hier der Klassiker. Sieben, ebenfalls von David Fincher. Kann man immer empfehlen, ist bloß nicht sehr originell.

Dieses Monstrum (ein Comic und eine wissenschaftliche Abhandlung) ist dagegen nur grandios. From Hell von Alan Moore.


Klarer Sieger unseres kleinen SilberlingRankings: Black Sheep Boy von Okkervil River. Erlesenes Layout, hübsche Grafik und last, but not least: feine Musik für Hoffnungslose und werdende Mütter.

Schöne Scheibe

Wer kauft schon CDs wegen der Musik? Sie etwa? Wir sicher nicht! Wir zünden unsere Zigaretten auch mit 50,- Euro Scheinen In an. Ach, Sie mit 500ern? der goldenen Ära der Schallplatte war das Innenlabel Angeber! Egal. Hydra eine unscheinbare Sache. Wichtig zwar zur präsentiert Orientierung (Seite 1 oder 2, was denn jetzt?), aber es lag verborgen, im Innersten des Inneren. Im Meisterwerke der Grunde eine intime Sache. Aber Schallplatten waren geCD-Kunst. nerell erotischer. Draußen das knallig-unhandliche Cover (aber praktisch zum Promenieren: Im Klassenzimmer, locker unter dem Arm getragen, man zeigt, was man hat und sich leisten kann), doch die wahre ästhetische Freude war das Entblättern bei einem Faltcover oder das Herausnehmen der Innenhülle, die oft den lyrischen Beipacktext enthielt. Manche Menschen sollen in ihrem Leben keine anderen schriftlichen Überlieferungen studiert haben. Die Jazz- und Klassikfreunde kennen überdies die hilfreichen Expertenkommentare, die helfen sollen, das Ungenießbare verständlich zu machen. Aber das war Herausnehmen der Platte selbst, das war ein Moment höchster die Domäne der PlattenIntimität. Nur die übelsten Rabauken ließen ihre Platten nackt firma. Da gab es zwar hübsche und schutzlos umher liegen. Wer so jemand kannte (und Sujets, aber erst spät, vielleicht sogar Vinyl schätze) hatte mitunter den Eindruck, ein heruntererst mit dem Aufkommen der Silberlinge wurgekommenes Vinylbordell zu betreten. Da lagen sie de dieses intimste Innere als ästhetischer Ort entnackt und schutzlos herum, die schwarzen Rillen, deckt. Ganz anders ist das bei der CD. Keinerlei Intidie doch mit einer Hülle, wenn nicht zwei bemität herrscht hier. Man klappt das Digipack oder Tray deckt gehörten. Das Innenlabel selbst auf und PATSCH!, schon liegt das Innere offen. Schamlos, aber führte meist ein Schatsich so gar nicht zierend. Ordinär irgendwie. Die CD ist auch tendasein. Es in technischer Hinsicht eine eher unerotische Geschichte. Keine Nadel, keine Berührung, kein Wandern über Unebenheiten, das zu Schall wird, sondern ein berührungsloses Abtasten, in höllischem Tempo noch dazu. Man kann sich keine Erotik dazu vorstellen, eher eine digitale Faschiermaschine, die akustischen Abfall erzeugt.Dennoch ist der CD-Silberling ein Ort, an dem Kunstwerke schlummern. Und nicht selten verrät dieses, dass hier ein Wille zur Gesamtkomposition, bis zum letzten Detail am Werk war. Manchmal war Platz Zwei gebührt freilich der graphische Gestaltungswille erChocolate & Cheese von folgreicher als der musikalische. Aber Ween. Einstimmiges Urteil wen kümmert schon die Musik? der Redaktion: Eine eindeutige (alice & cuisine) Botschaft, unmissverständlich umgesetzt. Ein Einsatz für andere Zwecke liegt nahe. Etawa als Wink mit dem Zaunpfahl: “Alles Gute zum Geburtstag! Ich weiß nicht warum, irgendwie muss ich bei der CD an Dich denken ...”

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Platz Drei geht an: The Adventures Of Ghost Horse And Stillborn von Coco Rosie. Blut, Sex und Tod von den Schwestern Sierra und Bianca Casady. Wer dieses Universum offenen Herzens und frohen Mutes betritt, wird belohnt mit Gänsehaut pur. Meint zuminPlatz dest Alice. Vier verdient sich: You’re A Woman, I’m A Machine von Death From Above 1979. Für die Offenbarung grund-sätzlicher Wahrheiten. Wo hängt der Rüssel? Genau! Insbesondere, wenn der bekennende Rock ’n’ Roller gröhlt: “C’mon girl, i know what you want, c’mon, c’mon, Platz c’mon...” Fünf geht dahin für “Stimmigkeit der Konzeption”. Ein Holzhammerschmäh für Holzhammermusik. Nothing less than: Never Breathe What You Can’t See von Jello Biafra with the Melvins. . Platz Sechs für ein Musterbeispiel liebevollen Remasterings: Searching For The Young Soul Rebels von The Dexys Midnight Runners. Da kauft man sich die CD gerne ein zweites oder drittes Mal. Erst recht für erlesene Bonustracks (der Künstler hustet im Studio oder dasselbe Stück mit frisch geputzter Gitarre Nein, eingespielt). wie putzig! Ein klarer Platz Sieben: I am not a doctor von Moloko. Wir könnten jetzt auch verraten, dass es sich um ein kleines Meisterwerk der genialsten Livediscoband des Planeten handelt, aber damit schon genug gesülzt. Platz Acht: Frauen und Kinder zuerst von Mann über Bord. Hach, das Meer, die Wellen, die Wolken. Könnte alles so schön sein, würde da nicht wer mit dem Kopf voran ersaufen. Wobei ein Kopf durch die Wand besser zu den drei heimischen Newcomern passen würde. Platz Neun für: Other Animals von Erase Errata. Tausendfüssler sind zwar ziemlich igitt, so nah am Boden und feucht und grrrauslich. Andererseits: Passt ganz wunderbar zum unkuscheligen Riot Grrrl Post-PunkLast Experimental Spaß der but not least: vier Ladies from CaSave the vinyl! Platz lifornia. Zehn für: Live in the red von Pussy Galore. Tja, diese sachdienlichen Hinweise kann natürlich nur eine Platte liefern. Über die Musik schweigen wir uns hier aber lieber aus. (Yes, it’s rock ‘n’ roll)

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Rezensionen

wie sie im Buche stehen

Rezensionen sind der heilige Gral jeder populärkulturellen Zeitschrift. Das wollten wir auch haben. Und haben es uns dann doch anders überlegt. Lag vielleicht an der Qual der Wahl. Oder an dieser entsetzlichen Migräne, die uns beim Lesen vieler Reviews überfällt. Midlake I The Trials of Van ...

Bsp. 1 I Die Hymne Man empfiehlt, was von wahrer Größe ist. Hier läuft der fachkundige Rezensent zur Höchstform auf, vergleicht das Werk mit einem halben Dutzend Referenzbeispiele, begründet nebenbei den Weltherrschaftsanspruch von Populärkultur und versucht irgendwie auch noch zu vermitteln, dass nichts falsch daran ist, diese CD käuflich zu erwerben. In diesem einen Fall handle es sich nämlich nicht um banales Konsumieren, sondern um reflexiven Konsum, man versteht am Ende gar noch globale Zusammenhänge durch das Lauschen eines hingerotzen Gitarrenriffs. Diese Liste dieser Vorzeige-CDs ist derzeit recht ansehnlich, typische Beispiele wären etwa Tocotronics “Kapitulation” oder “The Trials of Van Occupanther” von Midlake. M.I.A. I Kala

Bsp. 2 I Business as usual Die bevorzugte Rezensionsspezies in Kommerzblättern. Im Grunde gibt es nur eine Botschaft: “Kauft das Teil!” Das braucht man so aber nicht hinzuschreiben, weil, eh klar, warum findet sich das gute Stück überhaupt im Heft. Bevorzugte Floskeln: “Knüpft nahtlos am Vorgänger an, ein weiteres Meisterwerk, jetzt schon eine Platte des Jahres, die mühelos grelle Oberflächen mit Tiefgang kombiniert, etc.” Stellt sich also die Frage, ob die neue CD von M.I.A. wirklich gut ist, oder ob das business as usual ist.

#1 CDs

Killed by 9V Batteries I Same

Bsp. 3 I Der Liebesdienst Betrifft meist CDs aus heimischen Gefilden. Hier zeigt sich das wahre Fachmagazin: “Bei uns erfährt ihr von CDs, deren Existenz Ihr Euch nicht mal erträumt hättet!” Zugleich geht es um therapeutische Hilfestellungen für heimische Bands. Wieder einmal ist unter endlosen Mühen ein wenigstens beachtlicher Tonträger entstanden, trotzdem kauft kein Schwein das gute Stück. Aber immerhin: Wir haben irgendwo eine positive Rezension erhalten. Könnte dann in etwa so klingen: “Wirklich mutige CD der jungen, steirischen Band, die sich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.” Auch stets nett zu lesen: “Ein großer Wurf.” Ein Spendenaufruf wäre in manchen Fällen auch hilfreich. Ein anderes, aktuelles Beispiel: “Paroli” von Texta. Bruce Springsteen I Magic

Bsp. 4 I Der Verriss Tritt meist in zwei Variationen auf. a) Der Quotenverriss. Bevorzugte Heimat ist erneut die Konsumentenecke. Da es unseriös wäre, nur Jubelmeldungen und schamlose Kaufempfehlungen zu verbreiten, müssen ein paar CDs zumindest kritischer beäugt werden. Obligatorische Floskel dabei: “Für Fans trotzdem zu empfehlen.” b) Der Verriss aus Passion. Hier zeigt sich der wahre kritische Geist, der allerdings meist als subjektive Abrechnung auftritt. Existentielle Fragen knüpfen sich an diese Art der Rezension. Warum dann überhaupt die Erwähnung? Etwa um zu zeigen, wie kritisch man sein kann? Weil es geil ist, die kreativen Bemühungen anderer Menschen niederzumachen? Schon sind wir mitten im Wahnsinn des Rezensententums überhaupt. Lieblingsfloskeln in dieser Agenda: “Ohne jedes Feuer, uninspiriert, an den

Schwächen des Vorgängers anknüpfend etc.” Dafür gibt es momentan kein besseres Beispiel als die neue CD von Bruce Springsteen. (Wir haben alle Übeltäter schon an Christian verpfiffen.) The Robocop Kraus I Blunders and Mistakes

Bsp. 5 I The Pointlessness Je mehr Rezensionen in einer Zeitschrift, desto höher der Anteil aussageloser Rezensionen. Der/die Rezensent/in müht sich um eine Aussage, weil sich weder Hymne noch Verriss lohnen. Ein weiteres Stück Treibgut im Meer der monatlichen Neuerscheinungen. Also spricht man von “intelligenter Weiterentwicklung, interessanten Ansätzen” oder sinniert über die CDHülle. Hier zeigt sich ein weiterer Aspekt des Reviewwesens, der Versuch, die ernorme Fülle des globalen Populärkulturguts irgendwie zu archivieren. Man will ja eine Orientierung bieten. Doch die Review wird dabei selbst zum Treibgut in der großen Populärkulturflut. Das Archiv versinkt im zu Archivierenden. (Donnerlittchen! Her mit Michel-Foucault-Gedenkpreis!) Hier hilft meist nur noch die Berufung auf das Zielpublikum. Etwa Eingeweihte vs. Gelegenheitsleser. Für erstere wäre die neue CD von Robocop Kraus nichts weiter als ein offenes Buch. Letztere Wissen nach der Lektüre auch nicht mehr als vorher. The Weakerthans I Reunion Tour

Bsp. 6 I Der Livebonus Da der/die geneigte Rezensent/in ja auch das unmittelbare Live Erlebnis sucht, vermengt sich das Hören der Konserve gerne mit der Erinnerung an jenen, einen großartigen Gig. Klassisch, ganz nach dem bekannten Reiz-Reaktions-Schema, ist die synaptische Bahn eingeschliffen: “Band – neue CD – Hach, das Superkonzert!” Das

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wiederum deswegen so super war, weil zufällig reingeschaut und unbelastet durch Vorwissen einfach entdeckt. Da wurde vielleicht einfach mal unzynisch Musik gehört, wider die coole Rezesentenregel (mich findet ihr ab dem 3. Song an der Bar, denn ich habe alles schon gesehen und gehört ...). Vielleicht sogar unelegant mitgegrölt, ungelenk mitgetanzt oder sich unfassbar unerwachsen einen Song lang in den Sänger verknallt. Übersetzt in die ReviewSprache heißt das dann: “Live immer ein absolutes Erlebnis”, oder “großartig im kleinen Club” oder ganz direkt: “Vergesst die CD, geht zum Konzert!” Daran ist kein Fehl und Tadel, denn: Wer hören will, muß sehen. Und handeln. Auch unreflektiert. Bleibt also für das neue Album der Weakerthans zu schreiben: Erinnert sich noch wer an den Gig in der Arena vor dem Umbau? P J Harvey I White Chalk

Bsp. 7 I The native Speaker Schließlich gibt es noch die Rezension aus Passion, die sich als reine Empfehlung versteht. Drei Uhr nachts im Privatradio hört man eine bewegte Rezensentin die Musik ihrer Lieblingsband anhimmeln oder eine altgediente Chefredakteurin nimmt sich die Freiheit, das neue Werk ihrer Lieblingsinterpretin auf die Titelseite ihres Magazins zu hieven. Diese Momente sind die unverbrauchtesten in der Rezensionskunde, man sollte eigentlich keine anderen Reviews lesen. Wenn zwischen den Zeilen unschwer zu entziffern ist: “Ich liebe diese Musik und habe eine völlig inkorrekte Beziehung zu ihr”, dann, ja, dann, ist eine Rezension perfekt und findet im kleinsten Detail noch eine Sensation. Die neue CD von P J Harvey etwa klingt so sehr nach P J Harvey, dass sich eigentlich nicht einmal die Erwähnung, dass hier keine E-Gitarre mehr vorkommt, lohnt. Andererseits: Man liebt eben, was man liebt. (grog et alice)



Rezensionen

wie es sie nicht auf Platte gibt

Keine Sorge, kein Metadiskurs an dieser Stelle. Nur simple Rezensionen. Der Kameramörder I Thomas Glavinic

Bücher und Menschen haben einiges gemeinsam. Sie können informieren, sie können interessieren, sie können fesseln (Bücher nur im übertragenen Sinn) und sie können verärgern. Es liegt in der Macht der Leserin und des Lesers, sie wegzulegen. (Was bei Menschen nicht so einfach geht.) Manchmal ärgert man sich über ein Buch und liest trotzdem weiter. Zum Beispiel „Der Kameramörder“ von Thomas Glavinic. Glavinic wurde nicht nur in diversen Medien gelobt, auch im Freundes- und Bekanntenkreis wird er oft und gerne gelesen. Da will man natürlich mitreden. Als interessierter Leser besucht man die Buchhandlung seines Vertrauens, studiert Klappentexte und wählt das subjektiv interessanteste Werk aus. Ein atemberaubender Krimi wird versprochen. Man eilt nach Hause, legt sich auf die Couch. Die Kinder sind in der Schule, die Arbeit beginnt erst in zwei Stunden, es spricht also nichts gegen einen gemütlichen Vormittag zu zweit. (Ich und mein Buch.) Voll Vorfreude schlägt man den eben erworbenen Band auf, liest die ersten Seiten und ärgert sich. Der Stil ist seltsam, erinnert an einen bemühten Oberstufen-Schüleraufsatz, das Ende ist vorhersehbar. Trotzdem legt man das Buch nicht weg. Warum? Ich weiß es nicht. Schließlich ist man schon an wichtigeren Werken der Weltliteratur gescheitert. Bei Ulysses, die als Urlaubslektüre schon viele Strände gesehen hat, fünf Mal. An Ecos Foucaultschen Pendel drei Mal. Auf Seite 12, Seite 15 und Seite 17. Zwar in Größe, aber doch gescheitert. Warum liest man “Der Kame-

#2 Bücher

ramörder” zu Ende? Dazu sind drei Thesen vorstellbar: Man fühlt sich an die eigene Schulzeit erinnert, schwelgt in der Vergangenheit und ist dankbar, dass man nie einen Aufsatz über 157 Seiten hat schreiben müssen. Man denkt, das Buch wird besser. Medien, Freundinnen und Freunde können nicht irren. Man ist eine ausgeglichene Persönlichkeit, hat sonst nichts, worüber man sich ärgern kann und benutzt die Lektüre als Psychohygiene. Sollten Sie sich in einer oder mehrerer dieser Thesen wieder finden, laufen Sie in die nächste Buchhandlung und kaufen Sie sich „Der Kameramörder“ von Thomas Glavinic. Wenn nicht, lassen Sie es besser bleiben. Sie ersparen sich viel Ärger. (l’orou) Derrida, ein Ägypter I Peter Sloterdijk

Dieses kleine Büchlein muss hier einfach erwähnt werden, weil es, was auf den ersten Blick vielleicht verwundert, zwei durchaus sympathische Herren vereint. Peter Sloterdijk ist nicht nur der Fernsehsalonphilosoph, den man vom Wegzappen kannt, sondern hat einst die “Kritik der zynischen Vernunft” geschrieben, ein bis heute lesenswertes Buch, insbesondere weil es unnachgiebig die These verfolgt, dass wahrer Zynismus bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Angelegenheit der Mächtigen, der herschenden Elite war. Was wir heute als nihilistisch vernudelte Version kennen, ist demgegenüber nichts anderes als das Einmaleins der Machtlosigkeit. Jacques Derrida wiederum hat mit “Limited Inc.” eines der satirischsten und spitzzüngigsten Bücher der zeitgenössischen Philosophie geschrieben, eine Demontage sondergleichen, die nicht nur inhaltlich, sondern auch formal die philosophische Wucht eines unschuldigen, kleinen Begriffs namens Ironie demonstriert. Ironie als letzte Bastion der Skepsis gegen sämtliche ethisch-normati-

ve Vereinnahmungsversuche linker wie rechter Gesinnungsphilosophen. (Im Grund fehlt nur noch ein Philosoph in dieser Runde, nämlich der vor Kurzem verstorbene Richard Rorty, ebenfalls ein Großmeister philosophisch praktizierter Ironie, aber lassen wir jetzt diesen ganz philosophischen Kawumms beiseite). Das kleine Büchlein selbst ist eigentlich nur lesenswert, wenn man mit dem einen oder anderen Herren etwas anfangen kann, aber was soll’s, jede Gelegenheit, uns mit ein wenig Philosphie zu schmücken soll uns recht sein. (grog) Mann ohne Land I Kurt Vonnegut

Anlässlich der Wiederveröffentlichung als Taschenbuch eine allerwärmste Empfehlung. Wer noch nicht diesen witzigsten und hinterfotzig naivsten aller amerikanischen Humanisten kennt, sollte definitiv einen Blick riskieren. “Mann ohne Land” ist im Grunde ein Essay, aber Vonnegut hat sich bei seinen letzten Romanen ohnehin schon alle Freiheiten der Welt genommen und die eigentliche, meist abstruse Geschichte nur in Fragmenten erzählt, um stattdessen Anekdoten aus seinem Leben einzustreuen. Etwa: “Als ich noch grün war im Gefühl und kühl im Urteil und sowieso nie darum gebeten hatte, geboren zu werden, fragte ich meinen damaligen literarischen Agenten um Rat, wie man Geschichten enden läßt, ohne alle Figuren umzubrigen. Er sagte: ‘Nichts könnte simpler sein, lieber Junge: Der Held besteigt sein Pferd und reitet in den Sonnenuntergang davon.’ Viele Jahre später brachte er sich um, mit Absicht, mit einer Flinte vom Kaliber 12.” Die Übersetzung von “Mann ohne Land” besorgte übrigens Harry Rowohlt, was ohnehin unübersehbar am Umschlag zu lesen steht. (cuisine)

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Die Abraham Lincoln Maschine I Philip K. Dick

Es gibt einen guten Grund, die Romane von Philip K. Dick zu empfehlen. Das ist nicht Richard Linklaters abgedrehte Verfilmung von “A Scanner Darkly”, obwohl das auch ein guter Grund wäre ... na gut, also zwei gute Gründe. Der zweite Grund ist, dass der Heyne Verlag seit einiger Zeit Dicks wichtigste Werke in hervorragenden Neu-übersetzungen herausgibt. Abgesehen davon lohnt es sich immer über Philip K. Dick zu schreiben. (Drei gute Gründe also, aber Schluss jetzt damit, der Witz ist sowieso geklaut). Aber warum ein Autor aus einem Genre, das seit 30 Jahren beerdigt und vergessen ist? Die Frankfurter Allgemeine hat das hübsch auf den Punkt gebracht: “Ein Erzählen, dass durch die Kraft seines Erfindungsreichtums literarisch wird.” Mit anderen Worten: Wären seine Romane nicht derart durchgeknallt, wären sie nicht der Rede wert. Ein hervorragendes Beispiel ist “Simulacra”. Das Buch präsentiert fast ein Dutzend handlungstragender Personen, die sich alle um eine bevorstehende politische Revolution drehen. Im Zentrum steht ein seltsames Staatgebilde, das von einem virtuellen Staatspräsidenten (der nur als Simulacrum, als mediale Konstruktion existiert) und seiner seit 70 Jahren ewig gleich jungen Ehefrau geführt wird. Zugleich gibt es die Möglichkeit, zum Mars auszuwandern, telepathisch begabte Felltierchen (Papoolas), diverse Möglichkeiten durch die Zeit zu reisen (samt Gastauftritt von Herman Göring), ein telekinetisches Medium, das sich gegen Ende der Geschichte mit dem Kosmos verschmilzt und aufgrund von nuklearer Verseuchung die Wiederkunft des Neandertalers als neuen Menschen. Noch Fragen? “Die Lincoln-Maschine” ist nicht ganz so durchgeknallt, aber vielleicht deswegen der bessere Einstieg. Ach ja, es geht um Science Fiction. (grog)



Rezensionen

die nicht in die Hosentasche passen

300 I Der Comic (Frank Miller), der Film (Zack Snyder) und die Wahrheit.

Der Film wird in meiner Aufzählung nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Das einzige, das es über den Film zu sagen gibt ist, dass es Snyder (= der Regisseur) gelingt die Bilder (des Comics) zum Laufen zu bringen. Dabei kann er sich leider einige ausschmückende Schwachsinnigkeiten nicht verwehren, aber diese sind kaum der Rede wert. An sich stellt die Tatsache, dass sich ein Comic (gut) verfilmen lässt, eine Trivilität dar, doch Rodriguez entäuschendes Versagen in Sin City lehrt eine gewisse Demut. Kommen wir also zur Wahrheit, also zur Historizität von 300, schließlich fügt Frank Miller, der Autor des Comics, seinem Werk mutig eine (höchst zweifelhafte) Literaturliste an. Wahrheit, was für ein schönes Wort! Die Wahrheit der Euklidischen Geometrie, die Präzision der Hilbertschen Deduktion, die Erhabenheit des Gödelschen Diktums des klaren Denkens... Wie schön ist doch das alles. Und was für schlampige, logisch unsaubere, geradezu dümmlich faule Argumentation bekommt man vorgesetzt, wenn man versucht zu ergründen, was eventuell in der (ersten?) Schlacht an den Thermopylen wirklich geschehen ist. Kurz zur Erinnerung: Das persische Großreich will sich für die Schlappe bei Marathon rächen und sendet ein mittelriesiges Heer aus, um Griechenland aufzuwischen. Zu Land am Thermopylenpass und zu Wasser am Kap Artemision soll das (angeblich) verhindert werden; glaubt man der stümperhaften Lektüre, geht das schief und

#3 Filme und Spielsachen

Leonidas, einer der zwei spartanischen Oberbefehlshaber, lässt sich inklusive 300 anderer Spartiaten (und einigen mehr Thespiern und Thebanern) massakrieren; für letztere Großtat bekommt er von Herodot, Cicero, Göring und Miller den goldenen Heldenorden umgehängt. Nachdem ich mich mühsam durch fünf Sekundärliteraturschwarten gequält habe, kann ich nur trocken feststellen: Sicher sind zwei Dinge: 1.) Es gibt eine historische Gedenkstätte mit einer Inschrift. 2.) Die Perser haben den Krieg verloren. Wenn wir also Occam’s Razor anwenden, können wir die (immens) differierenden Schlachtenbeschreibungen nur so deuten: Die Schlacht hat nie stattgefunden. Nun das Comic: Niederere Geister mögen der Versuchung verfallen den bluttriefenden Kampf im Kontext von 9/11 zu lesen, glücklicherweise muss ich mich mit solchem Schwachsinn nicht herumschlagen. Stattdessen bleibt die Frage, ob diese Geschichte des Kriegers der auszieht, um sich einer Übermacht gegenüberzustellen und nach der Umzingelung lieber stoisch in der Falle verharrt als zu fliehen, gut ist. Blöde Frage! Natürlich ist sie gut. Natürlich ist sie perfekt gezeichnet. Natürlich ist sie gelungen getextet. Natürlich ist dieses Comic jeden Cent wert. Das ist ein Comic von Frank Miller, über das wir hier reden. (georg moser, professor, der)

wäre aber die Bezeichnung “Skurrilödie”, würde das nicht völlig bescheuert klingen. Es geht Wes Anderson weniger um gut getimte Witze, als um die skurrile Gesamtinszenierung. So wie in “Life Aquatic” (mit Bill Murray als Jacques Cousteau Hommage oder Verarsche, je nachdem...) der architektonische Querschnitt durch das Forschungsschiff selbst schon ein Witz war, so sind die Filmeinstellungen und die heraufbeschworenen Situationen, samt ihrer oft fast träge zu nennenden Weiterentwicklung, der eigentliche Witz. Die Marx Brothers in der Schiffskabine, aber stoned wie Gänseblümchen. Das ist, man darf es ruhig sagen, ein ausgewachsener, extrem individueller Stil. Sicher nicht jedermanns Sache (ups, schon wieder die weibliche Form vergessen), aber wie eingangs erwähnt: Es geht um eine rücksichtslos subjektive Empfehlung. Also im Klartext: Geht ins Kino und seht Euch einen der ganz wenigen zeitgenössischen Regisseure mit einem eigenen Stil an! Nein, nicht Besen, sondern Stil wie Handschrift, Signatur, Style, Individualität... (cuisine)

Metroid Prime Corruption I Retro Studios I Wii

The Darjeeling Limited I Wes Anderson

Das Werk von Wes Anderson, so schmal es derzeit noch ist, wird völlig unter seinem Wert geschlagen. Das Problem ist das Ettikett “Komödie”, das seinen Filmen seit “Rushmore”umgehängt wird. Viel treffender

Ein kleines Quiz. Allerdings nur für Nicht-Videospieler. Wer die Auflösung bereits kennt, bitte weiter zur nächsten Rubrik. Ahnungslose hingegen aufgepasst: Was denkt ihr, ist das? Diese komische Kugel da oben. Sieht ein wenig aus wie ein Relikt ägyptophiler Aliens. Könnte aber auch eine neue Glückspille sein oder gar der letzte Schrei auf dem Gebiet der Verhütungstechnologie. Weit gefehlt... tjaha. Das hier ist Samus Aran. Nie gehört? Was soll das sein? Ein Vogel? Ein Flugzeug?

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Auch nicht Superman? Nicht doch, es ist eine Frau. Samus ist eine intergalaktische Kopfgeldjägerin (blablabla), die sich ganz nebenbei in eine herumflitzende Kugel verwandeln kann. Willkommen in der völlig sinnfreien Welt der Computerspiele. Böse Zungen behaupten zwar, diese Idee ist zur Gänze von Sonic, dem Sega-Igel gestohlen. Gute Zungen hingegen behaupten, ein Igel der zur Kugel wird, gähn, das ist nun wirklich nichts Besonderes. Aber eine bildhübsche Frau, die man sich zur Not auch in die Hosentasche stecken kann, na, das ist doch mal was Nützliches! Allerdings... bildhübsch ist eher ein Gerücht. Auf dem Gameboy ist Samus äußerst selten ohne Kampfanzug zu sehen, in den Prime-Abenteuern auf den Gamecube spiegelt sich maximal ihr Gesicht im Visier wenn es dunkel wird. Das ist alles. Keine Poster für die spätpubertäre Zimmerwand, keine Unterwäschewerbung, nichts davon. Bleibt nur die Kugel bzw. der “Morphball” übrig. Kein Sterbenswörtchen jetzt aber über die Kugel als Symbol weiblicher Sexualität und Fruchtbarkeit, um Euch die Vorstellung zu ersparen, dass es ein Videospiel gibt, in dem man als Follikel über außerirdische Planeten rollt. Witziger ist da schon die Aussicht, dass irgendwann auch Samus ihre obligatorische Hollywood-Verfilmung bekommt. Ich schlage jetzt schon den Morphball für den Nebenrollenoskar vor. Und vermutlich ist auch die Stelle, wo ein Wissenschaftler erklärt, warum sich die Heldin in eine Kugel verwandeln kann, ein heißer Tipp für den Drehbuchoskar. Bis dorthin allerdings muss man sich mit der spielbaren Samus begnügen. Entweder als Flipperspiel auf dem Nintendo DS (!) oder in Metroid Prime Corruption auf der Wii. (grog)


“Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.” Robert Gernhardt


Rezensionen #4 Die Sache mit dem Opus-Hit

Es könnte schlimmer kommen ... ... zum Beispiel könnte der Sound Scheiße sein. Etwa beim Konzert von Living Colour im Porgy & Bess. Gehört und gesehen von Christian Orou. 20 Uhr 30: Artig, man will schließlich nicht als präpotenter Journalist gelten, finde ich mich eine halbe Stunde vor dem vermeintlichen Konzertbeginn an der Kassa ein, um meine Pressekarten abzuholen. Die nette Dame am Eingang erzählt etwas von Problemen beim Sound-Check, der Einlass würde sich verzögern. Ob ich trotzdem hinein will? Ich will nicht und gehe auf ein Bier ins Lokal vis-avis. Man will doch die Musikanten nicht unnötig stören.

zung reichen, doch hält der gemeine Mitteleuropäer und die gemeine Mitteleuropäerin nichts von geordnetem Anstellen.) Das dritte Seidel neigt sich dem Ende zu, meine Gelassenheit nicht. Schließlich habe ich für die Karte nichts bezahlt und einer geschenkten Karte schaut man nicht auf den Abriss. (Alte Floridsdorfer Weisheit)

Sound-Check-Probleme? Wahrscheinlich ist man zu spät in Maribor aufgebrochen (Natürlich recherchiert ein gewissenhafter Journalist vorher den Tourplan), ist dadurch zu spät in Wien angekommen und wurde mit dem Aufbau nicht fertig. Gelassen denke ich mir: Es könnte schlimmer kommen. Zum Beispiel könnte der Sound Scheiße sein.

21 Uhr 35: Die Schlange bewegt sich langsam dem Eingang zu. Zahlen Bitte!

20 Uhr 50: Zweiter Versuch. Kein Ende der Proben in Sicht. Dafür ein zweites Seidel. 21 Uhr 10: Dritter Versuch: Die nette Dame am Eingang erklärt mir mit einem schuldbewusstem Lächeln, dass erst um halb zehn geöffnet wird. 21 Uhr 20: Die Warteschlange vor dem Eingang nähert sich dem Gehsteig. (Wer das Porgy & Bess nicht kennt: Sie ist ungefähr zwanzig Meter lang. In England würde sie bereits bis zur Kreu-

21 Uhr 30: Das drittel Seidel ist leer. Die Schlange erreicht das Trottoir.

21 Uhr 45: Die Rechnung ist beglichen, die Menschenmenge vor dem Eingang auf eine erträgliches Maß geschrumpft. Langsam steigt die Vorfreude auf das Konzert. 21 Uhr 55: Der erste Weg führt mich an die Bar und mit einem großen Bier in der Hand (um den Betrag, der dafür zu entrichten ist, erhält man im Lokal vis-avis... genau) suche ich mir ein hübsches Plätzchen. Dieser Platz findet sich gleich hinter zwei Herren, die man zuvor im Lokal vis-a-vis mit News versorgt hat. Man fachsimpelt über vergangene Living Colour Konzerte. ("Damals im Zelt im Donaupark waren aber viel mehr Besucher." - "Ich war schon beim Konzert im Messepalast beim Big Beat. Das war ... egal." - "Schade,

dass sie keinen Merchandisingstand haben." - "Das Publikum ist ein bissl alt.") Meine Begleitung entschwindet kurz und lotst mich dann in eine Art Loge hinter dem Mischpult. Tolle Bühnensicht, der Ton wird sicher auch fein. Was will man mehr? 22 Uhr 05: Hinter dem Mischpult stehen zwei Männer. Ein hagerer, mit schütterem Haupthaar geplagter, Typ Jazzmusiker, und ein kleiner, bulliger, Typ amerikanischer Roadie. Der Hagere dreht wild und scheinbar wahllos an verschiedenen Knöpfen. Der Roadie sieht ihm fasziniert zu. War doch etwas dran an den Sound-Check-Problemen? 22 Uhr 10: Als Vorbereitung für das Konzert ertönt seditative Musik aus den Lautsprechern. Der Haustechniker dreht noch immer unter Beobachtung des Roadies, der sich als LivingColour-Techniker entpuppt, an den Knöpfen. 22 Uhr 12: Das Licht geht aus. Living Colour betreten die Bühne und legen los. Der Sound ist gut, lediglich der Sänger Corey Glover bemüht sich vergeblich. Kein Ton von ihm kommt über die Anlage, bei leisen Stellen hört man ihn unplugged. Der Haustechniker wird hektisch. 22 Uhr 17: Die Instrumentalversion von “Middelman” ist vorbei. Ein Informant erzählt, dass die Band mit kompletter Anlage angereist ist und dass diese mit

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jener im Porgy & Bess nicht kompatibel ist. Umso mehr verwundert es, dass der Techniker von Living Colour es bis jetzt nicht der Mühe wert gefunden hat, einen Finger zu rühren. Noch immer beobachtet er fasziniert die Bemühungen seiner österreichischen Kollegen. 22 Uhr 18: Die Band intoniert “Funny Vibes”. Beim Gesang von Doug Wimbish kann von Background keine Rede sein. Dafür ist er viel zu laut. Corey Glover ist akustisch noch immer nicht vorhanden. Ein Besucher gibt dem Haustechniker den guten Rat: “Der Sänger g’hört lauter!”. Als wenn er das nicht schon längst gewusst hätte und mit Hochdruck an der Lösung des Problems arbeitet. Er verlässt entnervt die Stellung hinter dem Mischpult, entschwindet Richtung Bühne. Sein amerikanischer Freund stellt sich lässig hinter die Knöpfe. 22 Uhr 23: Offensichtlich hat der Techniker des Hauses ein Wunder bewirkt, alles klingt, wie es klingen soll. 23 Uhr 15: Der amerikanische Roadie-Verschnitt hinter dem Mischpult findet endlich, dass Doug Wimbish zu laut ist und dreht ihn zurück. Die Nacht in Maribor war wohl doch zu lang. 00 Uhr 10: Living Colour beenden einen hervorragenden Gig mit “Cult of Personality”. Gibt es ein schöneres Ende eines Kon-


Alice in der Stadt The New Idea Society im Einbaumöbel, Wien. (Lieber würde ich ja schreiben: Barcelona! Oder: Rom! Oder: Paris! Aber zahlt das wer? Eben!) zerts als die Zeile: “The only thing, we have to fear is fear itself”? (Ja, ich weiß, Ostbahnkurtis "Paßts auf und laßts eich nix gfallen!" ist auch nicht schlecht.) 00 Uhr 12: Der Zugabenblock beginnt. Zuerst noch sehr schwungvoll mit einem angedeuteten Cover von Joy Divisions “Love will tear us apart”, verliert sich aber dann in endlosen Soli und endet so, wie es vor dem Konzert begonnen hat: Sehr sedativ. Es wundert kaum, dass das Publikum keine weitere Zugabe fordert. (Oder wollten alle nur noch schnell die letzte UBahn erreichen?) Fazit: Schön, wenn man seine Rock-Heroes aus der Jugend noch einmal ganz nah sehen kann und feststellt, dass sie es nicht verlernt haben. Eine letzte Bitte: Mehr Rock-Club-Gigs im Porgy & Bess. (Tolle Location, angenehme Atmosphäre, nettes Personal, Eintritt wohlfeile € 20,-)

Freitagabends ist die Stadt ein Horror. Die Weekenders strömen in Massen durch die Straßen auf der Suche nach Spaß und Event und überhaupt. Fürchterlich! Unerträglich! Nervig! Da hilft nur eines: Planen und Handeln! Das Um und Auf der wohldosierten Freizeitgestaltung! Erst das eine, dann das andere. (Frauen sollen da besser sein als Männer, auch grundsätzlich, aber das ist eine andere Geschichte ...) Es braucht also einen Plan für den Freitagabend. Und wie kann dieser für einen Menschen knapp jenseits der 30 nur aussehen? Richtig: “Gehe hin und hebe den Altersdurchschnitt!” Ideal dafür ist das Einbaumöbel allemal. Schon beim Eintreten großes Erstaunen, aber wir sind ja hier mit Plan, Verve, Grandezza und Gelassenheit, also hübsch der Reihe nach. Diese kleine, feine, äh, Lokal ist ein Ort der charmanten Seltsamkeiten und Skurillitäten, die sich aus dem very DIY-Vereinsbetrieb ergeben. Es gibt: Einen Scheinwerfer, zwei Boxen, eine Bar, ein Lichterketterl über selbiger, ein Klo (indoor immerhin) und einen Haufen engagierter junger Leute. Es gibt nicht: Ein zweites Klo, mehr Boxen und einen Backstageraum. Weswegen das Catering für die Bands auf einem Tischerl neben dem Eingang aufgebaut ist und auch von vorbeistreunenden, hochdosierten Kids genutzt wird (verroht, wie sie nunmal ist, unsere Jugend).

Dass Siluh Records ausgerechnet hier die Wiener Bands “Francis Internatiponal Airport”,“Protestant Work Ethic” featured, und dazu “New Idea Society” als Headliner geholt hat, ist schon klasse. Weil Warum? Weil es fein ist, wenn Indie, so er schon Teil des Musikbusiness-Establishments ist, wenigstens in noch nicht etablierten Räumen stattfindet.

Wäre frau je im Big Apple gewesen ginge sich ein geschlenztes “it’s all so new york here” aus. (Wink! Zaunpfahl? Von wegen! Lads and Gents, schon rattert das Gatter! Alice was never in New York! Untragbar, darum: Write and donate to office@hydrazine.at - und zwar fix!) Unter dem Strich also: “Fine place, fine band, fine friday!”

So machen “New Idea Society” die halböffentliche Proberaumstimmung durch großartiges Indierocken echt perfekt. Die vier Herren aus New York legen sich trotz spartanischer technischer Ausstattung fein ins Zeug. Der Keyboarder im Speziellen allerdings mehr auf die Tasten. Ja, so eine Europatournee strengt eben an, und es mag ja sein, dass junge Lebern schnell regenerieren, aber der Tastenmann kämpft echt schwer, den Kopf oben zu halten. Macht ja nix, den Superhit “Don´t Sleep” schafft er dann ganz ohne Hecheln, und hält sich tapfer an den Text.“And all this time i don´t want go to sleep, because i´ll sleep when i die.” Hah! Der alte Fassbinder, immer wieder dabei, und immer wieder wahr. Mittlerweile kniet der Bassist vorm Verstärker (rockend, nicht reparierend). Dem Schlagzeuger steht sein seliges Lächeln ausgezeichnet und der Mann an der Front erklärt uns beherzt ,wie schon lange nicht mehr gesehen, die Welt. Die natürlich “bright and lonely” ist, sagt ja auch der Titel des neuen Albums.

Mit einem großen Spritzer für wohlfeile Zwofuffzich,- geht sich sogar noch ein Unterstütze-diese-Band-sie-hat-es-verdientKauf aus. Allerdings, hier schreibt die Frau ohne Kohle, die dann ausgerechnet bei Mastermind Mike Law folgendes probiert: “Hi, the gig was great, and the t-shirts are great, but the 12 euros are, äääh, too much.Would 10 be ok?” Antwort: “Hi, I’m Mike, it´s great that you are here, but do you have the slightest idea, how expensive petrol is nowadays?” Nun gut, wieder mal ins Fettnäpfchen gesprungen.

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Bleibt noch eine Anmerkung für die anonymen Statistiker: Der Alterschnitt lag vor meinem Erscheinen (inkl. Bands) bei 20,5 Jahren. Danach… nicht doch, ist er nicht todschick, mein brandneuer Mantel des Schweigens? (alice) http://newideasociety.com/


“Vermögen ist ein scheues Reh!” Wilhelm Molterer “Wenn Sie für das, was du hast, keinen Namen mehr haben, heißt das, Sie wünschen dir Lebewohl.” Don De Lillo “Die Menschen haben zu große Gehirne.” Kilgore Trout “Wir danken Euch für die Geduld, die wir mit Euch hatten.” Harald Serafin “Man darf nicht alles so schlecht reden, wie es wirklich war.” Fredi Bobic

“Im Inneren der Moderne: Fetische” (Karl Marx) ist eine Found Footage Installation von Curt Cuisine


Die Welt macht Euch ja doch nicht gl端cklich. Lasst die Finger vom wahren Leben! Kauft Euch lieber eine HYDRA. Wir alleine machen Euch gl端cklich! Ehrenwort! hydrazine.at/shop/


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s war eine finstere Nacht. Der Sturm peitschte den aufgewühlten Starhemberger See. Es war kalt. Der Landungssteg an der Hafenmole lag einsam im Nebel. Rebecca wartete. Das Traumschiff “Wellness und Schönheitschirurgie” hätte längst anlegen sollen. War etwa ein Unglück geschehen? Rebecca machte sich Sorgen. Sie war die Besitzerin des Traumschiffs. Einige Jahre zuvor kam ihr die grandiose Geschäftsidee, Schönheits-OPs auf Schiffen anzubieten – Ein glänzendes Geschäft. Ihre chirurgischen Schiffe durchpflügten die Weltmeere. “Oh, Rebecca – starke Selfmadefrau. Mit beiden Beinen stehst du fest im Leben. Du hast es nie leicht gehabt, dich mühsam hinaufgearbeitet von der Reinemachefrau bis zur Erbin einer millionenschweren Reederei. Oh, Rebecca – Du kannst so hart sein, und deine Lippen sind schmal wie der Strich eines frisch gespitzten Bleistifts. Doch tief verborgen, hinter der rauen Schale verbirgt sich Verletzlichkeit. Wann wird deine Liebe erfüllt? Rebecca, in deinem Herzen bist du ein scheues Reh.” Rebecca spürte ein intensives Stechen in der Brust. War das etwa schon der Herzinfarkt? Nein, es war nur Liebe. Ihr Herz dürstete vor Verlangen! Sie griff zu ihrem Mobiltelefon. An Bord des Traumschiffs herrschte unterdessen Krisenstimmung. Der Sturm blies heftiger und die neue Nase der Patientin war immer noch nicht angenäht. Man hatte die Operation auf die Kommandobrücke des Schiffs verlegt, von wo aus Dr. Brinkmann auch immer mal einen Blick auf die Schiffsinstrumente werfen konnte. Er war schließlich nicht nur Chefchirurg, sondern auch Kapitän (eine Sparmaßnahme der Reederei). Sein Handy hätte zu keiner unpassenderen Gelegenheit klingeln können. “Tamara, heb' schon ab!”, herrschte der Doktor seine etwas unbeholfene und aschenbrötelhafte Hilfskrankenschwester an. “Tamara, jetzt mach’ endlich!” wiederholten im Chor die Krankenschwestern: “Abheeben! Taube Nuss!” Solcherart verunsichert und verwirrt nahm sie sein Han-

dy und meldete sich mit: “Tamara!” Das war natürlich ein Fehler. Es hätte heißen müssen: “Hier bei Dr. Brinkmann!” – “Tamaraaa?”, zischte es nun aus der Hörmuschel: “Welche Tamaraaa?” Tamara war nun ganz verwirrt und antwortete: “Tamara.” – “Soso, Tamara! Und wo ist Dr. Brinkmann?”, zischte es erneut. “Hier bei mir”, antwortete Tamara, und vernahm aus der Hörmuschel plötzlich ein lang gezogenes Zischen. Es war die Eifersucht, die da zischte. Rebecca war wütend und enttäuscht. Eine andere Frau war bei ihm. Ihr versagten die Worte. Doch offen gesagt, sie fand niemals Worte, wenn sie mit ihm sprechen wollte. Und nun, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: aufgepasst! So hart Rebecca in geschäftlichen Dingen sein konnte, so schüchtern und verletzlich war sie in Liebesangelegenheiten. Oft schon war sie Heinz begegnet – schließlich war sie seine Chefin. Doch immer wenn sie ihm nahe kam, war die sonst so eloquente wie ausgewechselt. Die Worte verdorrten in ihrem Mund, und ihr Verhalten spielte – man muss schon sagen – ins Groteske. Oh, was kann die Liebe aus ansonsten recht vernünftigen Menschen machen? Alles! Und nichts! Erfahrene Leserinnen und Leser kennen vielleicht den legendären Comicband “Asterix, der Legionär” und werden sich sicherlich an jene Szene erinnern, als Obelix um die Hand von Falbala anhält. Diese erinnert frappant an Rebeccas Begegnungen mit Heinz, nur dass man sich hier die Akteure vertauscht vorstellen muss. Einerseits ein freundlich jovialer Dr. Brinkmann, und ihm gegenüber Rebecca, mit ausgestreckter Grußhand und stieren Blicks “gnagnagna!” murmelnd. Nun würde man im alltäglichen Leben sagen: “Da wird wohl nix draus.” Oder, anders ausgedrückt: “So bahnt man der Liebe keinen Weg.” Rebecca hatte trotzdem Glück im Unglück. Ihr Anwalt und Leibwächter, Dr. Hu konnte die peinlichen Situationen meistens abmildern. Wenn man von Re-

becca erzählt, muss man auch Dr. Hu erwähnen. Er war nicht nur Rebeccas Rechtsbeistand, sondern auch – was im ruppigen Geschäftleben leider oft von Nöten ist – ihr persönlicher Leibwächter. Dr. Kim Hu war eher klein geraten. Er reichte Rebecca gerade bis zu jener Stelle, die Männer im Allgemeinen an Frauen besonders attraktiv finden. Das erleichterte ihm zwar die Aussicht, nicht jedoch die Aussichten, Rebecca betreffend. Dr. Hu hatte in Theologie, Mathematik und Jurisprudenz promoviert und einige Monate zuvor seine Dissertation über asiatische Kampfsportarten an der Universität von Pjönjang abgeschlossen. Somit war er für den Leibwächterposten geradezu prädestiniert. Rebecca liebte Dr. Hu’s Doktorhut und ersuchte ihn, diesen ständig zu tragen. So konnte er nämlich als mobiles Beistelltischchen fungieren, auf dessen abgeflachter Platte Drinks oder Knabbergebäck platziert werden konnten und das Rebecca außerdem auf Zuruf folgte. (Wir bewundern hier Dr. Hu’s fernöstliche Gelassenheit, hatte er doch ständig jene für Männer besonders attraktive Stelle Rebeccas vor Augen. Er muss Tantalusqualen gelitten haben, bewahrte aber stets eine tadellose Haltung.) Eine von Dr. Hu’s vertraulichen Aufgaben war es nun, Rebecca bei ihren Zusammenkünften mit Dr. Brinkmann zu assistieren. Rebecca wusste ja um ihre unkontrollierten Zustände im Angesicht von Heinz. Dem redegewandten Hu fiel die Rolle des Souffleurs zu. Er war sehr schmal und konnte sich prima hinter Bodenvasen oder Mauervorsprüngen verbergen. Aus dem Soufflieren wurde immer mehr ein Synchronisieren, da Rebecca in ihrer Nervosität nicht einmal die einfachsten Wörter aussprechen konnte. Also bewegte sie nur ihre Lippen und Dr. Hu sagte dann laut und vernehmlich: “Du bist so schön!” Oder: “Wollen wir essen gehen?” Freilich mit stark koreanischem Akzent. Fortsetzung folgt...


THE LIFE AND TIMES OF A REZENSENT Das Konzert beginnt, die Gäste sind längst eingetrudelt. Donnerharte Riffs fegen dem Auditorium um die Ohren. So geht es dahin, rezensentenunbefleckt wie die Jungfrau Maria. Kurz vor Mitternacht betritt der Rezensent das Lokal. Schleppenden Schrittes, gravitätisch, romanheldengleich. Er hadert mit seinem Job, schon den ganzen Abend. Im Lokal nebenan besprach er Details seiner Karriere mit dem Bier an seiner Seite. Diese eine Rezension noch, dann ist für immer Schluss. So der Schwur, von dem keiner weiß, seit Jahren schon ... Er ist eben ein Gefangener der Musik, diese Teufelsdroge, dieses Laster! Gerade schwebt der letzte Akkord der soeben sich verneigenden Rockband durch den Raum, aber der Rezensent hat genug gehört. Es reicht! Er weiß, wo es lang geht. In seinem mit uhrwerkartiger Präzision agierenden Gehirn formt sich ein Verriss der Sonderklasse. Er bestellt ein paar harmlose Drinks, die dem Quell der Worte die richtige Verve verleihen werden. Entfernte Bekannte are rushing by. Man tauscht Insiderliches aus. Hast du gehört, der Fauxpas des Sängers, neulich, oder die Körperhaltung des Bassisten, nun auch nicht mehr das Wahre, der Schlagzeuger gar ein Nasenbohrer. “Genug”, sagt der Rezensent, die Nichtigkeiten des Alltags von der Theke wischend. “Noch ein Bier!”

Zwei Uhr morgens. Der Rezensent fällt vom Hocker. “Wo bin ich hier”, fragt er sich. Robbend gelangt er auf die Toilette, wo zwei kroatische Reinigungsfrauen leise ein Liedchen vor sich her trällern. “Weiberband”, urteilt der Fachkundige mit Kennerblick über die Frauen vor seiner Nase und pisst, immer noch liegend, die Wände voll. Dann bleibt er besinnungslos liegen, von Zeit zu Zeit feine Häppchen seiner art du critique brabbelnd: “Das nächste heiße Ding im Pop.” Oder: “Jetzt schon eine Platte des Jahres.” Der Morgen dämmert, die Pflicht ruft. Der Rezensent wird in ein Taxi verladen und in die Redaktionsräumlichkeiten gebracht, wo er mit schier unmenschlicher Überwindungskraft seine von aller Welt heißgeliebten Rezensionen schreibt. Doch aus unerfindlichen Gründen ist nichts mehr von den Ereignissen der letzten Nacht abrufbar. Er kramt im Mief der Nacht und findet Bruchstücke aus seiner Vergangenheit, ähnlich klingende Bandnamen, jugendliche Konzertbesuche, popkulturelle Nachschlagewerke. Das muss auch dieses Mal reichen. “Ein erfahrener Rezensent kann immer aus dem Vollen schöpfen”, lallt er und beginnt zu tippen. Ein weiteres Meisterwerk seiner Zunft und Kunst entsteht. (grog)

Wussten Sie schon?

Die Sonnencreme wurde erst 1913 erfunden.

Als Folge des kalten Winters 1783 schrumpfte Mozart auf 48% seiner ursprünglichen Größe.

Mozart starb 1791 in Wien.


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populärkultur

DIE HEFTE Das “Magazinwerk”. Die Hefte No. #1 bis #4 sind allerdings nicht mehr erhältlich. Der Rest nur dann, wenn ihr ganz lieb fragt. Bestellung unter office@ hydrazine.at

satire

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