treffpunkt campus 104 (Oktober 2019)

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Nr. 104 | Oktober 2019

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Sauer? Wir auch!

Sprache, Glauben, Handeln Vieles ist nicht gerecht!


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Da seid ihr ja wieder! Na, endlich zurück aus Paris, Stockholm oder dem wunderschönen Wien? Vom Lustwandeln, Ausspannen und Genießen? „Ab jetzt geht es wieder andersherum“, würde Mutti wohl mit erhobenem Zeigefinger sagen. Aber keine Sorge! Ihr müsst nicht sofort in Panik ausbrechen. Die erste Prüfung kommt bestimmt. Bis dahin könnt ihr den Sternenhimmel – pardon – die Sternenzelte auf eurem Campus genießen. Nach Stendal sind nun auch drei Stück in den Herrenkrug gezogen: mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung eures Studierendenrates! Entdeckt von Katharina Remiorz Foto: Matthias Piekacz

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Foto: Dawin Meckel, Agentur Ostkreuz

Unglaublich wichtig!

Prof. Dr. Anne Lequy Rektorin Hochschule Magdeburg-Stendal

Liebe Studierende, liebe Leserinnen und Leser, vor 50 Jahren wurden die ersten Fachhochschulen in Deutschland gegründet. Mit diesem neuen Typ begann 1969 das Erfolgsmodell der heutigen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW). Als „Hidden Champions“ bilden wir mit starker Praxis- und Lebensnähe die zukünftigen Fachund Führungskräfte aus. Unser Profil macht uns weltweit einzigartig: Wir bieten ausgezeichnete, praxisorientierte Lehre und forschen anwendungsorientiert an den Herausforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft. Dadurch entstehen starke soziale und gesellschaftliche Innovationen für die Region und unsere Partner. Bildungschancen und Karrierewege gestalten wir in globaler Verantwortung. In eindrucksvoller Weise bündelt das „Lübecker Manifest“ diese und weitere Vorteile von HAWs in Deutschland. Für mich steht fest: Wir Hochschulen für Angewandte Wissenschaften leisten einen innovativen Beitrag zu den gesellschaftlichen und technologischen Themen. Auf den Punkt gebracht: Wir sind unglaublich wichtig! Das enorme Potenzial unserer Hochschule, selbst 28 Jahre jung, zeigte sich vor Kurzem zum Beispiel in einer Veröf-

fentlichung der Expertenplattform „Demographischer Wandel in Sachsen-Anhalt“. Unsere Leistungen in Lehre, Forschung und Transfer werden darin dokumentiert. Auch auf nationalen wie internationalen Tagungen – über Web-based Learning, Siedlungsabfallwirtschaft oder zur Inklusiven Bildung in Sachsen-Anhalt – tragen unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihren Lehr- und Forschungsergebnissen zu neuen gesellschaftlichen Entwicklungen bei. Für die Fortsetzung dieses erfolgreichen Weges bin ich zuversichtlich. In das neue Hochschulgesetz sollen Verbesserungen für die Hochschulen einfließen. Mit dem Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“ wird auch der Hochschulpakt fortgesetzt. Und auch innerhalb unserer Fachbereiche und Einrichtungen arbeiten wir mit Hochdruck an den strategischen Herausforderungen für eine zukunftsfähige und moderne Hochschule. Ein herzliches Willkommen allen Erstsemestern und einen guten Start ins Wintersemester 2019/20 wünscht Ihre Anne Lequy Rektorin

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Inhalt 6

Editorial Konsequenz und Kompromiss Es sollte wohl wie ein Geschenk wirken, wie etwas Abgeschlossenes, Fertiges. Denn die Koalition im Bund hat ein Klimaschutz-Paket gepackt. Doch wer es auspackt, sieht oft enttäuscht aus. Vielen WissenschaftlerInnen geht das nicht weit genug. Politiker_innen der Partei DIE LINKE kritisieren die Wirkungen, die sie für unsozial halten. Andere sehen ihre persönliche Freiheit (Mein Fleisch, mein Auto, meine Kreuzfahrt!) gefährdet. So ist das in einer Demokratie. Das Klima ist zwar ein wichtiges Thema, es ist aber nicht das einzige Interesse der Bürger*innen. Wat dem eenen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall. Ist ein Ausgleich aller Interessen überhaupt möglich, ohne dabei das Ziel aus dem Blick zu verlieren? Ist es möglich, jedwede denkbare Diskriminierung, die sich aus Klimaschutzmaßnahmen ergeben könnte, im Voraus zu erkennen und zu vermeiden? Oder handelt es sich vielmehr um ein klassisches Dilemma? So ähnlich begegnet uns die Frage um Konsequenz und Kompromiss in anderen gesellschaftlichen Diskussionen – auch wenn es dabei nicht gleich um das Wohl der Erde geht. Unser Autor Robert Gryczke widmet sich beispielsweise der Suche um die richtigen Worte und Schreibweisen in Genderfragen. Viel zu oft wird dies emotional statt sachlich diskutiert, was auch bei Fragen zum bedingungslosen Grundeinkommen bekanntermaßen der Fall ist. Ja, und dass Plastik im Meer falsch ist, wissen eigentlich alle. Aber veranlasst das die Käufer.innen konsequent auf Plastik zu verzichten? So bleiben weiterhin genügend Fragen offen, um die sich die Wissenschaft ebenso kümmern muss wie die Politik. Und jede:r Einzelne sowieso. Norbert Doktor * Die im Text verwendeten diversen Gender-Schreibformen sind dem Autor bereits begegnet und wurden hier exemplarisch eingesetzt.

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Fotostory Stille Zeugen

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Titelthema „Sauer? Wir auch!“ Grenzen überschreiten

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Hör mir auf mit Ost und West! Wir sind (k)ein Volk!

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Ferndurst Kanada: Wald, Berge und ... Strände!

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Und neben dem Studium? Hier gibt’s die Jobs


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Blick in die Redaktion (Un)gerechte Sprache

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Titelthema „Sauer? Wir auch!“ Gleichheit ≠ Gerechtigkeit

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Formenvielfalt Produkte, die nicht schwimmen gehen

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Forschungsgeist Eine große Portion Gemeinschaft

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Campusgeflüster Der Natur verbunden

Tagtäglich fühlen sich Millionen Menschen auf den Schlips (oder das Kleid?) getreten, weil sie sich sprachlich ausgegrenzt fühlen. Sogar Klagen gab es bereits, weil eine Kundin nicht als solche auf ihrem Kontoauszug angesprochen wurde. Wie schwierig es ist, verständlich zu kommunizieren und zugleich niemanden zu verletzen, hat Robert Gryczke zusammengefasst: Ein Ringen um die richtigen Worte. ab Seite

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Die Erste, die studiert Lisa Virkus ist (k)ein typisches Arbeiterkind: Realschulabschluss, Berufsausbildung, ihre Mutter ist gelernte Gärtnerin, hat nie studiert und kann mit diesem Konzept auch nicht viel anfangen. Umso überraschender war Lisas Wunsch, mehr aus ihrem Leben zu machen. Sie entschied sich für ein Studium – gegen den Willen ihrer Mutter. Bianca Kahl hat die Kämpferin gesprochen. ab Seite

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Eine faule Nation? Stell Dir vor, Du bekommst jeden Monat 1.000 Euro und müsstest nichts dafür tun: Nicht arbeiten, nicht aufstehen, ja sogar anziehen müsstest Du Dich nicht. Die Initiative „Mein Grundeinkommen“ fordert eine unabhängige, finanzielle Sicherung für alle und verlost seit 2014 regelmäßig 1.000 Euro für eine Dauer von zwölf Monaten. Was dafür und dagegen spricht, hat Katharina Remiorz aufgeschrieben. ab Seite

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Stille Zeugen Erzählt von Katharina Remiorz Fotos: Matthias Piekacz

Alte Kernkraftwerke, verfallene Ruinen, verlassene Villen und Schlösser: Wer wollte nicht immer schon einmal das leer stehende, dicht bewachsene Herrenhaus im Wald entdecken oder die Mauern der ehemals schillernden Industriebrache erklimmen? Alte Gemäuer, die von der Zivilisation scheinbar vergessen wurden. Harald Grüner und Martin Hopfstock begeben sich mit Kamera und festem Schuhwerk bewaffnet regelmäßig in jene Mikroabenteuer. In Bildern konservieren sie das Fremde und Vergangene, dokumentieren die Zeichen der Zeit und erhalten Geschichten, die längst geschrieben sind.

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An einem Freitagvormittag treffen wir uns in der Nähe einer früheren Süßwarenfabrik. Den genauen Standort haben mir Martin und Harald erst kurz zuvor per E-Mail mitgeteilt. Die Fotografen, die an der Hochschule studieren und arbeiten, entscheiden sich bewusst dagegen, ihre Spots öffentlich zu verorten. Zu hoch ist die Gefahr des Vandalismus. „Take memories, leave only footprints“, ist ihr Credo. Wir klettern durch einen Durchbruch in einer Ziegelmauer und folgen dem dicht bewachsenen Pfad zu den leer stehenden Gebäuden. Ein Großteil der Scheiben ist zerborsten, alte Blechdosen und Kunststoffverpackungen säumen den Weg, der uns ab und an durch umgestürzte Bäume erschwert wird. Nach einer Biegung entfaltet sich die alte Fabrik in ihrer vollen Dimension. In einem der oberen Stockwerke, insgesamt sind es fünf, ragen etwa zwei Meter hohe Bäume aus den Wänden. Büsche und Sträucher zieren die Eingänge der ehemaligen Produktionsstätte. Die Natur holt sich zurück, was einst ihr gehörte.´

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Seit der Wende stehen insbesondere in Ostdeutschland viele Fabriken leer. Was nicht längst dem Abriss zum Opfer gefallen oder zu teuren Loftwohnungen saniert wurde, hat bis heute einen ganz eigenen Charme entwickelt. Wer dort eindringt, tut dies meist auf eigene Gefahr und ohne Wissen oder Zustimmung des Eigentümers. Das hiesige Ziegelgebäude wird von einer gewissen Mystik umgeben. Was verbirgt sich dahinter? Wer hat dort gearbeitet? Über was haben die Menschen gelacht, diskutiert, gestritten? Schokolade und Fruchtgummi sollen hier einmal produziert worden sein. Doch die Maschinen verschlissen, konnten der Konkurrenz nicht mehr standhalten. Ein Brand nach der Schließung tat sein Übriges. Harald und Martin bereiten ihre Ausrüstung vor: eine Drohne, drei Kameras, davon eine mit 360-Grad-Optik sowie mehrere Objektive. Beide sind Autodidakten, haben sich den Umgang mit Blende, Brennweite und Co. selbst beigebracht. Der Qualität ihrer Bilder tut dies keinem Abbruch.

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Im Inneren der Industriebrache wird der Boden von weißem Staub bedeckt, der bei jedem Schritt geheimnisvoll aufwirbelt. Rohre verbinden die einzelnen Etagen. Wo einst gearbeitet wurde, herrscht nun Einsamkeit. Nur das Zwitschern eines Vogels, der sich mit seiner Familie ein Nest auf der Fensterbank eingerichtet hat, erschallt im Raum. Wir entdecken eine alte DDR-Zeitung, die nahezu unberührt im Lichte eines Sonnenstrahls darauf wartet, gelesen zu werden. Dem Blick aus dem Fenster nach zu urteilen, liegt uns die halbe Stadt zu Füßen.

Ein schweres Kabel führt in einen meterhohen Schacht. Nur wenige Anlagen sind noch erhalten, keine Möbel, kein altes Gerümpel. Viel ist aus der damaligen Blüte nicht geblieben. Zeit lässt vergessen und zerfallen. Sprayer und SoftairSpieler haben ihre Spuren hinterlassen. Wir verlassen das Gelände, in der Hoffnung, zumindest einen Teil dieser Geschichte für die Nachwelt erhalten zu können. Ab November stellen Harald und Martin ihre besten Werke in der Hochschulbibliothek aus, versteigern sie sogar. Der Erlös kommt einem sozialen Zweck zugute.

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Grenzen überschreiten Flucht stellt nicht nur in Europa ein brisantes Thema dar. Oft sind es die Nachbarländer der Kriegsgebiete, die von einer steigenden Flüchtlingszahl betroffen sind. Tawfeek Alsheikh hat beide Seiten kennengelernt: Gegen den Willen seiner Familie reiste der Syrer Ende 2015 nach Deutschland. In einem internationalen Austauschprojekt hilft er nun, die Soziale Arbeit im Umgang mit Geflüchteten zu professionalisieren. „Ich weiß, wie sich diese Menschen fühlen. Ich bin selbst ein Flüchtling.“ Geschrieben von Sarah Krause und Katharina Remiorz Fotos: Matthias Piekacz

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„Ich hatte mich für einen Studienplatz im Iran beworben. Angenommen habe ich ihn nicht.“ Tawfeek Alsheikh wollte nicht, dass seine Eltern jeden Monat hohe Studiengebühren für ihn zahlen. Er wollte unabhängig sein. Heute studiert er Soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal und engagiert sich im Austauschprojekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“.

Tawfeeks Eltern verkauften das Auto und gaben ihrem Sohn Geld für eine Reise, auf die sie ihn nie schicken wollten. Doch es war allein Tawfeeks Wunsch, nach Deutschland zu gehen, um dort zu studieren. Über seine Flucht spricht der sonst so aufgeschlossene Syrer kaum. Eine Zeit, die ihn prägte und seither fest im Gedächtnis verankert ist.

Leicht hatte es der 20-Jährige zu Beginn keineswegs. Ein halbes Jahr wartete er auf seine Aufenthaltsgenehmigung. Erst danach durfte er am Sprachintensivkurs teilnehmen. Für ihn damals eine furchtbare Zeit: „Ich habe mich geschämt, dass ich mich als Erwachsener nicht ausdrücken konnte. Das war für mich das Schlimmste.“ Seit seiner Ankunft Ende

2015 hat sich Tawfeek sprachlich wie persönlich stark entwickelt. Dankbar ist er vor allem seiner Gastfamilie, die ihm in Magdeburg ein zweites Zuhause gab. Durch diverse Praktika, zunächst als Betreuer im Kindergarten, anschließend als Übersetzer beim Jugendamt, fand er Gefallen an der Sozialen Arbeit. Die eigene Fluchterfahrung ermutigte ihn zu-

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sätzlich zum Studium an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Tawfeek möchte seinem Heimatland mit seinem Wissen und den erlernten Fähigkeiten helfen. Ein erster Schritt ist bereits getan. Im Sommer brachte er seine Erfahrungen im Studienprojekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ ein.

Wenige werden viele Bereits 2015 legten Professorinnen und Professoren international den Grundstein für das Austauschprojekt, das vom Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördert wird. Sie bewegte die Frage, wie man die Menschen in den Aufnahmeländern auf die anstehenden Herausforderungen vorbereiten könnte. Aus einem informellen Netzwerk entstand ein Forschungsverbund, der nicht nur das einmalige Studienangebot „Social Work for Migration and Refugees“ sowie Weiterbildungsmöglichkeiten an der German-Jordanian University schuf, sondern u. a. auch das Studienprojekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ ins Leben rief. „Es ist wichtig, Menschen und Bildungseinrichtungen vor Ort zu

Gemeinsam mit der Hochschule Neubrandenburg, der jordanischen Al-Balqa´ University und der An-Najah National University in Palästina rief Prof. Dr. Rahim Hajji das Projekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ ins Leben, das Studierende für Flucht sensibilisieren und den Austausch zwischen ihnen sowie Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft, der humanitären Hilfe und der Wohlfahrtshilfe fördern soll.

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unterstützen und zu schulen. Damit können wir transnationale Bildungsexporte schaffen”, erklärt Projektleiter Rahim Hajji, Professor für Gesundheitsund Sozialwissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Gemeinsam mit der Hochschule Neubrandenburg, der jordanischen Al-Balqa´ University, der An-Najah National University in Palästina sowie Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft, der humanitären Hilfe und der Wohlfahrtshilfe entwickelte er verschiedene Workshops für Studierende und besuchte mit ihnen Institutionen der Sozialen Arbeit. Sie entwickelten Lösungen für die Probleme der alltäglichen Arbeit. Wie geht man in den einzelnen Ländern mit den Herausforderungen um? Welche Hilfe erhalten Geflüchtete? Welche Dienstleistungen sind von Nöten? Gespräche mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin sowie Fachvorträge über Themen wie Vormundschaften vermittelten den Studierenden detaillierte Einblicke über die Gegebenheiten der einzelnen Länder. „Wir tragen dazu bei, dass Soziale Arbeit in den Ländern, in die die Menschen flüchten, professionalisiert

wird. Deutschland ist auf einem guten Weg, doch auch wir müssen unsere Systeme weiter öffnen“, sagt Prof. Dr. Rahim Hajji und fordert: „Geflüchtete sollten beispielsweise unabhängig von ihrem Status Zugang zu Bildung, dem Arbeitsund Wohnungsmarkt erhalten.“

Fluchterfahrungen mit anderen teilen Für Tawfeek Alsheikh war dies das erste große Studienprojekt, das ihn direkt mit seinen eigenen Erfahrungen konfrontierte. „Ich weiß, wie sich diese Menschen fühlen. Ich bin selbst ein Flüchtling“, erklärt Tawfeek. Auch er hielt einen Vortrag, sprach über ein Thema, um das er sonst einen großen Bogen macht: seine Flucht nach Deutschland. Die Reaktionen reichten vom stillen Schweigen bis zur festen Umarmung. Anhand der Ergebnisse erarbeitete er zusammen mit seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Geflüchteten und über den Beitrag, den die Soziale Arbeit hierbei leisten kann. Im September präsentierten sie ihre Ergebnisse auf einer internationalen Konferenz und zeigten verschiedene Perspektiven auf. „Vor allem in Jordanien brauchen die Menschen dringend Hilfe. Die hohen Flüchtlingszahlen stellen seit Beginn der Krise eine große Herausforderung für das Land dar“, weiß Sahar Suleiman Al-Makhamreh, Projektpartnerin und Professorin für Social Work an der Al-Balqa´ Applied University. So sei die Bevölkerungszahl innerhalb kürzester Zeit von fünf Millionen auf elf Millionen Menschen um mehr als das Doppelte gestiegen. „Für ein Land mit schlechter Infrastruktur war das zunächst eine enorme Herausforderung. Plötzlich lastete großer Druck auf Bereiche wie Bildung, Wirtschaft und Gesundheit”, führt sie aus. Hinzu kommt: Im Vergleich zu anderen Ländern leben gerade einmal 17 Prozent der geflüchteten Menschen in Camps. Die meisten fanden in den Häusern der jordanischen Bevölkerung Zuflucht. „Jordanien ist ein sehr freundliches Land. Die Menschen teilen alles, was sie besitzen“, ist die Professorin besorgt und stolz zugleich.


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„Die Tragödie des Lebens liegt nicht in der Tatsache des Todes, sondern in dem, was in uns stirbt.“ Man sollte die eigene Zeit daher sinnvoll nutzen, um etwas zu bewegen, zu verändern, ist Sahar Al-Makhamreh überzeugt. Vor allem Palästina, aber auch Menschen aus dem Irak und Syrien flüchten nach Jordanien und hoffen dort auf eine zweite Chance. „Ich bin froh, dass sie unser Land als Paradies, als einen guten Ort ansehen. Das ist es, was wir auf die nächsten Generationen übertragen müssen: Wir brauchen keinen Krieg. Wir brauchen Frieden und Liebe.“

Eine traurige Tradition Dabei vergessen viele: Krieg und Flucht hat es seit jeher gegeben. So werden Palästina bereits seit 1948 aus ihrer Heimat vertrieben. Viele sind bis heute durch Traumata, Krankheiten und vor allem Angst gezeichnet. Der richtige Umgang ist hier besonders wichtig. „Es ist gut, dass wir Fachkräfte ausbilden, die verschiedene Methoden anwenden können und auch vor Ort nach Lösungen suchen. So können wir uns gemeinsam weiterentwickeln und das soziale System ausbauen”, erklärt Sahar Suleiman Al-Makhamreh. Tawfeek Alsheikh macht aus der Not eine Tugend: „Ich spreche Deutsch und Arabisch, habe selbst eine Flucht miterlebt, ich weiß, wie schwierig diese Zeit sein kann und möchte anderen helfen, diese zu überstehen.“ Indes möchte er mit Vorurteilen aufräumen: „Ich selbst liebe die deutsche Kultur und bin sehr dankbar für alles, was das Land für mich getan hat und noch tun wird. Wenn ein anderer sich nicht benimmt, fällt es auch auf mich zurück. Es ist wichtig, zu verstehen, dass jeder von uns anders ist. Ich bin zwar selbst noch nicht perfekt integriert, aber ich bin stolz darauf, wie weit ich gekommen bin.“ Liebe geht durch den Magen, deshalb ist gemeinsames Kochen besonders hilfreich, um fremde Kulturen kennenzulernen und zu verstehen.

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Hรถr mir auf mit Ost und West!

Wir sind (k)ein Volk!

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Damals ein „Schicksalsjahr“, heute eine „Beziehungskrise“. Wortkarg sind Medien keinesfalls, wenn es darum geht, die Wende und ihre Folgen zu beschreiben. Als Wissenschaftlerin beschäftigt sich Prof. Dr. Elke Grittmann, Professorin für Medien und Gesellschaft am Institut für Journalismus, bereits seit Jahren mit dem medialen Gedenken. Gerade der Journalismus sei ein wichtiger gesellschaftlicher Erinnerungsagent, der die Vergangenheit vergegenwärtigt, Ereignisse einordnet und deutet. Geschrieben von Prof. Dr. Elke Grittmann, Grafik: istock

Wenn sich im Herbst die Friedliche Revolution zum 30. Mal jährt, werden nicht nur bundesweit Veranstaltungen, Ausstellungen und Dokumentationen an sie erinnern. Auch die Medien werden den Mauerfall oder die Wende zum Anlass nehmen, um die Verfasstheit des Landes zu kartografieren und die aktuelle Distanz zwischen „Ossis“ und „Wessis“ zu vermessen. Schon den ganzen Sommer lagen an den Zeitschriftenständen Sonderhefte wie GEO Epoche „1989. Europas Schicksalsjahr und seine Folgen“ in vorderster Reihe. Die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ diagnostiziert in „Warum wir uns nicht mehr verstehen“ eine schwere Beziehungskrise und DER SPIEGEL weiß in provokativ-stereotypisierendem Stil sowieso, wer da nicht richtig will: „So isser, der Ossi“ titelt das Magazin in seiner 35. Ausgabe. Und man stöhnt auf: „So denkter, der Spiegelredakteur.“ Ich selbst erlebte den Aufbruch im Herbst 1989 als Studentin an der Universität Hamburg vorrangig aus Westperspektive aus den Medien. Danach habe ich über die Umbruchphase selbst berichtet. Inzwischen ist der Herbst 1989 zum Erinnerungsort geworden und seit gut zwei Jahren bin ich nun in Magdeburg, Professorin für Medien und Gesellschaft, zugewandert aus „dem Westen“, aus Hamburg, meiner zweiten Heimat. Nun also wieder Neuland, neue Erfahrungen, das Bedürfnis zu sehen und zu verstehen, im Alltag wie in der Wissenschaft. Was war in Magdeburg 1989 geschehen? Nach Berlin und Leipzig war auch Magdeburg ein wichtiger Ort, an dem sich Protest und Kritik breit formiert haben. Zwischen 50.000 und 80.000 Menschen sind hier in der Hochzeit der „Konter-Revolution“, wie sie die SED bezeichnete, auf die Straße gegangen, um für mehr Teilhabe und Demokratie einzustehen. In vielen bundesweiten Medien wird die Zeit symbolisch auf den Mauerfall reduziert – das klingt, als sei sie von alleine umgefallen. Dagegen setzt sich zunehmend

die Bezeichnung Friedliche Revolution durch, um der gesamten Entwicklung, den Demonstrationen, Protesten und all denjenigen, die dazu beigetragen haben, Rechnung zu tragen. Wie umkämpft der Blick auf die Vergangenheit jedoch ist, zeigen die jüngsten Versuche von Rechtspopulisten, die die Friedliche Revolution instrumentalisieren und neu verwenden. Im Sommersemester haben die Studierenden im Master-Studiengang Sozial- und Gesundheitsjournalismus die Friedliche Revolution in Magdeburg selbst aufgearbeitet, Archive durchforstet, Unterlagen ausgewertet, Fotosammlungen gesichtet und vor allem mit vielen Beteiligten, die sich damals engagierten, gesprochen. Im multimedialen journalistischen Online-Projekt „Magdeburg1989“ berichten sie über die Ereignisse, ihre Motivation und Erwartungen, die Euphorie und auch die Ängste dabei, wie die Mitglieder des Doms über Monate den wichtigsten Versammlungsort für Gespräch und Information geschaffen haben, wie die Frauenbewegung, das Theater, Initiativen und Bürgerbewegungen an den öffentlichen Protesten mitwirkten und sich unter den Sicherheitskräften eben auch schon einige solidarisierten. Auch wie der friedliche Protest die Biografien von Migrantinnen und Migranten geprägt hat und ein „Grünes Band“ zum Magdeburger Symbol wurde. Was haben wir alles erfahren. Wie viele haben gewagt, für grundlegende demokratische und Freiheitsrechte zu kämpfen. Für viele Studierende mag das sehr lange her sein, aber es ist noch immer aktuell. Der Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs hat schon vor bald 100 Jahren bemerkt, sich an die Vergangenheit zu erinnern, diene auch der Selbstvergewisserung der eigenen Identität. Das gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Gruppen, eine Gesellschaft insgesamt. Dazu lohnt es sich, noch einmal genau zuzuhören und hinzuschauen.

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Ăœberschrift*innen, oder:

Die Suche nach gerechter Sprache Der Asterisk: Kaum ein Satzzeichen spaltet die deutsche Gesellschaft mehr, als das Gendersternchen. Aber mĂźssen wir eigentlich gendern? Ist Deutsch per se eine genderunsensible Sprache? Und wie gendert Mensch richtig? Viele Fragen. Vielen Meinungen. Eine Suche. Geschrieben von Robert Gryczke Fotos: Matthias Piekacz

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Die Studentinnen Katja Schulz und Melissa Michna wollen fĂźr Diskriminierung und Gleichberechtigung sensibilisieren.

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Sprache schafft Bilder und fördert, falsch angewandt, Diskriminierung, sind sich Melissa Michna und Katja Schulz sicher. Für diesen Text habe ich mich unter anderem mit Melissa Michna und Katja Schulz unterhalten. Beide studieren an der Hochschule Magdeburg-Stendal, bekleiden hochschulpolitische Ämter und setzen sich für die Belange der Gleichberechtigung ein. Parallel dazu habe ich in sozialen Netzwerken nach Meinungen zu diesem Thema gefragt und zahlreiche Antworten bekommen, die wir hier ebenfalls abbilden.

Gendern – die Sache mit der Gleichberechtigung ROBERT: „Ich frag jetzt mal bewusst überspitzt: Warum gendern wir? Bis vor ein paar Jahren hat die Sprache auch wunderbar so funktioniert. Also: Warum gendern wir jetzt?“ MELISSA (lacht; überlegt kurz): „Um Diskriminierung abzubauen.“ KATJA: „Bevor ich Melissa kennengelernt habe, war mir das egal. Weil das bei uns [Master-Studiengang Bauingenieurwesen; Anm. d. Red.] keine Rolle spielt. Das sind die Professoren, das sind die Studenten, das sind die Männer, die Jungs. Weil wir sehr viel darüber geredet haben, ist mir dann auch aufgefallen: Ja, eigentlich spricht mich direkt so gut wie niemand an. Das schafft auch Bilder. Wenn Du jemanden fragst ‚Wie stellst Du Dir einen Bauleiter vor?‘, dann denkst Du nicht an eine Frau, die mit einem Helm auf der Baustelle steht.“

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In einer Studie von 2018 stellte das Bundesinstitut für Berufsbildung fest: Der Anteil der weiblichen Azubis in sogenannten Männerberufen steigt seit einigen Jahren um 0,2 Prozent pro Jahr. Das ist noch kein Bruch mit etablierten Rollenmustern, aber zumindest ein Trend – wenn auch ein vorsichtiger. Die Frage, ob Gendern diese Entwicklung beeinflusst oder beeinflussen könnte, muss an dieser Stelle leider unbeantwortet bleiben. Zum Thema Gleichberechtigung durch Gendern ist es zumindest erwähnenswert, dass die Partei DIE LINKE seit September 2019 ihren Webauftritt ‚entgendert‘ hat. Zitat: „Im Interesse des flüssigen Lesens und der Maschinenlesbarkeit ist auf eine ‚gegenderte‘ Schreibweise zu verzichten. Es ist also stets von Nutzerinnen und Nutzern zu schreiben.“

„Kann jemensch das Fenster aufmachen?“ Einige Möglichkeiten zum Gendern drängen sich in Texten regelrecht auf. Wir kennen LeserInnen, Leser/innen, Leser_innen und meinen damit weibliche und männliche. Wir kennen Leser*innen und meinen alle. Heimtückischer sind allerdings Pronomina, z. B. „man“ oder „jemand“ in Verbindung mit Pronomen, die bisher zwangsläufig männlich sind. Ein Beispiel: „Jemand hat seine Unterlagen liegen lassen.“ Eine simple Lösung wäre schon „seine/ihre Unter-


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lagen“. Gesprochen könnte das allerdings etwas sperrig wirken. In diesem Fall wäre eine aktive Formulierung besser: „Weiß jemand, wem diese Unterlagen gehören?“ Genderneutrale Pronomen wie jemand, niemand, wer oder alle sind eigentlich sehr gut dafür geeignet, geschlechtsspezifische Personenbezeichnungen zu ersetzen. ROBERT: „Wenn ich bei einer Party sitze und frage: ‚Kann einer mal bitte das Fenster aufmachen?‘ Wie wäre es gendergerecht? KATJA: „Du könntest eine Person ansprechen, die direkt am Fenster steht.“ MELISSA: „Genau: ‚Machst Du mal bitte das Fenster auf?‘“ KATJA: „Manche setzen darauf und sagen ‚jemensch’. Aus Überzeugung. Wir machen das nicht. Ich glaube, ich würde selber aufstehen.“ Tatsächlich gibt es diesen Trend. Denn das Generalpronomen „man“ wird zwar nicht wie „Mann“ geschrieben, ist laut feministischer Sprachkritik aber alles andere als inklusiv. Deshalb wird in einigen Strömungen versucht „man“ durch „mensch“ zu ersetzen. Walter Ulbricht hätte folgerichtig versprochen: „Niemensch hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ KATJA: „Das Sternchen ermöglicht es schon, alle zu meinen und lässt Dir die Freiheit, wie Du Dich einordnen willst.“ MELISSA: „Das kann aber auch nur eine Hinführung sein.

Zu einer Gesellschaft ohne Herren- und Damentoiletten. Zu einer Gesellschaft ohne Frau und Mann. Zu einer offenen Gesellschaft, in der wir sagen können ‚Liebe alle‘.“ Warum in die Ferne schweifen, wenn die Forschung ist so nah? Um sich mit dem Thema auf dieser Ebene zu beschäftigen, reicht ein Blick in die eigene Hochschule. Franziska Rauchut ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Journalismus. Ihr Forschungsschwerpunkt: „Medien-Demokratie-Partizipation“. Im Rahmen dessen erarbeitete sie unter anderem das Postdoc-Forschungsprojekt „Keine Angst vorm bösen Gender – Interventionen in die Antifeminismusdebatte im deutschen Print- und Fernsehjournalismus“. Im Zuge dessen setzte sie sich mit einem antifeministischen Diskurs in den Medien auseinander. Betrachtet wurde unter anderem eine umstrittene Ausgabe der WDR-Talkshow „hart, aber fair“ mit dem Titel „Nieder mit dem Ampelmännchen – Deutschland im Gleichheitswahn?“.

Sensibilisieren statt Sensibelchen Letztendlich geht es auch gar nicht darum, alle Menschen direkt anzugreifen, weil ihre Sprache nicht durchgegendert ist. Das unterstreichen auch Katja und Melissa während des Gesprächs. Es geht darum, sich bewusster mit der eigenen Sprache auseinanderzusetzen. Fakt ist: Deutsch ist Sprache der Dichter und Denker, aber noch längst nicht der Dichter*innen und Denker*innen.

Meinungen „Mich stresst diese geschlechtergerechte Sprache, vor allem beim Schreiben von Texten. Natürlich hat geschlechtergerechte Sprache den Hintergrund der Gleichberechtigung. Aber in meinen Augen kann das auch mit neutralen Formulierungen funktionieren.“

„Es interessiert mich einen Scheiß, ob da Anwalt oder Anwältin steht, solange Frauen acht Prozent weniger verdienen, bei bestimmten Berufen ungern gesehen und abgelehnt, weiterhin sexualisiert oder zum Objekt gemacht werden.“

ANJA, 36, Studentin, Magdeburg

NICOLE, 23, Model, Magdeburg

„Ich glaube, meine Sprache hat sich eh schon so an mich angepasst, dass ich da nicht mehr viel ändern werde. Was aber nicht heißt, dass diese Entwicklung in der Gesellschaft an mir vorbeigeht.“

„Finde ich super wichtig. Beim Schreiben achte ich immer darauf, beim Sprechen klappt‘s nicht immer. Das braucht, glaube ich, länger, bis das drin ist.“ SUSANN, 30, Designerin, Braunschweig

IVI, Produktionsarbeiterin, Salzwedel

„Bin ich in Kenntnis über die Geschlechtsidentität meines Gegenübers, ist es eine Frage der Höflichkeit sie/ihn/ es so anzusprechen, wie sie/er/es es gern möchte. Das in den allgemeinen Sprachgebrauch einzubinden, ist meiner Meinung nach (noch) nicht zwingend nötig.“

„Wenn sich jemand weniger diskriminiert fühlt, weil ich ein bisschen auf meine Sprache achte – geht doch voll klar.“ ALICE, 24, Studentin, Magdeburg

„Ich selbst fühle mich z. B. als Mitarbeiter genauso angesprochen wie als Mitarbeiterin oder Mitarbeitende.“

LEON, 22, Tischler, Magdeburg

SARAH, 30, Recruiterin, Magdeburg

„Ich glaube, dass wir die gendersensible Sprache brauchen, um die Gesellschaft zu sensibilisieren.“

„Absolutes Nein. Ich bin Ingenieur. Ich brauche das ‚-in‘ nicht.“

MELANIE, 37, Studentin und Chefredakteurin „Gemeindeblatt Biederitz“, Biederitz

LISA, 35, Ingenieurin für Maschinenbau, Magdeburg

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Ferndurst

Kanada: Wald, Berge und … Strände! Erzählt und fotografiert von Maria Weigl

Eben war sie noch in ihrer niedersächsischen Heimatstadt Selsingen, schon ist sie – nach 19 Stunden – in Kanada. Seit Ende Mai arbeitet Journalismus-Studentin Maria Weigl für den Chronicle Herald in Halifax. Ganz neu ist ihr die redaktionelle Arbeit nicht. Schon in Deutschland schrieb sie für die Bremervörder Zeitung und das Hamburger Abendblatt. Die Erfahrung, mehr als 5.000 Kilometer entfernt auf sich allein gestellt zu sein, ließ sie schon eher zweifeln.

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Kreatives Chaos in der Redaktion: Fast ein halbes Jahr wartete Maria Weigl auf die Zusage des Chronicle Herald. Während ihres Praktikums kann sie nicht nur ihr Schreibtalent fördern, sondern auch die Kamera für sich entdecken. Ihre Bilder zierten sogar bereits das Titelbild der kanadischen Zeitung.

Sorry, kein Platz frei! Als mein Auslandssemester anstand, habe ich mich für ein zwölfwöchiges Praktikum in Kanada entschieden. Zwölf Wochen scheint für die meisten wenig klingen. Für mich war es eine völlig neue Erfahrung – meine erste große Reise, allein! Vor etwa einem Jahr habe ich die ersten Bewerbungen geschrieben. Auf Antworten musste ich lange warten – auf manche bis heute noch. Erst nach gefühlt Tausenden Mails kamen die ersten Absagen. „Wir haben kein Traineeprogramm“ oder „Wir halten die Plätze für kanadische Studierende frei“ hieß es. Aufgeben kam für mich aber nicht infrage. Im Januar erhielt ich dann endlich die Zusage für meinen Wunschplatz: dem Chronicle Herald in Halifax, Nova Scotia an der Ostküste von Kanada. Nun hieß es Flug buchen und Visum beantragen. Das war gar nicht so einfach. Nach langem Hin und Her habe ich dann schließlich eine Woche, bevor mein Flieger ging, das Visum erhalten. Eine ganz schön knappe Kiste, aber wie sagt man so schön? Besser spät als nie!

Geschichten entdecken, Momente festhalten Während meiner Praktika in Deutschland habe ich überwiegend Artikel geschrieben. Nur ab und an durfte ich auch mal ein Foto schießen, obwohl das Fotografieren eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist. In Kanada hat sich das geändert. Hier habe ich die Arbeit als Fotografin kennen- und schätzen gelernt. Neben Fotos gehörten auch Videos zu meinen Aufgaben – eigentlich so gar nicht mein Interessengebiet. Im Laufe der Zeit habe ich viele Kolleginnen und Kollegen zu Terminen begleitet. Ich hatte aber auch eigene Geschichten. Im Projekt „Maria tours Nova Scotia“ ging es beispielsweise darum, die Provinz zu erkunden und meine Eindrücke in kurzen Videos und Texten festzuhalten. Viele meiner Fotos wurden sogar auf

der Titelseite abgedruckt. Obwohl mein Name schon oft unter Artikeln und Fotos in deutschen Zeitungen stand, ist es ein seltsames, aber zugleich tolles Gefühl, meinen eigenen Namen in einer kanadischen Zeitung zu lesen.

Die Stadt, das Land, das Leben Bevor ich nach Kanada kam, habe ich gedacht, es gäbe gar keinen großen Unterschied zu Deutschland, aber da lag ich falsch. Vieles wirkt hier wenig modern. Der Strom verläuft überirdisch und als Alternative zum Auto gibt es nur den Bus. Auch die Klamotten sind hier anders. Es ist, als wäre ich in der Zeit zurückgereist. Die Menschen leben in ihren eigenen kleinen süßen Häusern, einige davon sind etwas heruntergekommen, andere sehr gepflegt. Das gibt der Stadt Charakter. Schon vor vielen Jahren haben deutsche Einwanderer das Land geprägt. So kamen Städtenamen wie New Germany, Dutch Settlement und Lunenburg zustande. Lunenburg ist einer meiner Lieblingsorte – eine kleine bunte und gemütliche Stadt. Auch Charlottetown, bekannt als die Gründerstadt Kanadas, auf der „Kartoffelinsel” Prince Edward Island habe ich bereits besucht. Ein weiteres Highlight ist der Leuchtturm in Peggy’s Cove. Eine unglaubliche Kulisse. Die Wellen schlagen mit solch einer Kraft gegen die Felsen, dass man sogar etwas Angst bekommt. Bei einem Besuch in Halifax ist die Waterfront ein Muss. An einem sonnigen Tag am Wasser entlangspazieren, Halifaxs Geschichte entdecken, shoppen, Bootstouren und ganz wichtig: Essen – zum Beispiel Lobster. Ich dachte, Kanada besteht nur aus Wäldern. Das stimmt zwar – hier gibt es wirklich viel Wald und viele Berge. Aber zu meiner Verwunderung hat Nova Scotia unglaubliche Traumstrände. Damit habe ich absolut nicht gerechnet! Ich habe lange nicht alles gesehen und deswegen steht fest: Ich komme wieder!

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Und neben dem Studium?

Hier gibt’s die Jobs! Langeweile am Arbeitsplatz? Alpträume vor lauter Stress? Das muss nicht sein! Vier Studierende verraten uns, wie sie ihr Studium finanzieren. Von Kaffeekochen und mürrischen Restaurantgästen keine Spur.

Ein Nebenjob muss nicht immer hinter der Bar oder im Supermarkt an der Kasse sein. Oftmals bieten Vereine und Institutionen, von denen man es zunächst gar nicht erwartet, Studierenden die Möglichkeit, sich etwas zum Studium dazuzuverdienen. Auch für Paula Völker kam der Job als Zooguide ganz unverhofft.

Aufgeschrieben von Sarah Krause Fotos: Matthias Piekacz

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Ein Herz für Exoten Arbeiten im Magdeburger Zoo „Im Magdeburger Zoo leben derzeit 235 Tierarten, viele davon sind vom Aussterben bedroht“, erzählt Paula Völker, die Gesundheitsförderung und -management studiert. Während ihrer Führung durch den beliebten Tiergarten gibt es nicht nur viel zu sehen, sondern auch zu erfahren. Es gibt kaum eine Frage, der die 20-Jährige nicht gewachsen ist. Und wenn doch, zückt sie einfach ihr schweres Fachbuch. „‚Du arbeitest neben deinem Studium im Zoo?’ Das ist die übliche Reaktion, die ich erhalte, wenn ich von meinem studentischen Job erzähle. Eigentlich war dieser Nebenjob purer Zufall. Ich wohne unweit vom Magdeburger Zoo entfernt, bin mit ihm groß geworden und gehe auch privat gern dorthin. Spaßeshalber informierte ich mich auf der Webseite und tatsächlich suchten sie gerade Unterstützung. Ich arbeite als Zooguide. Spezielle Vorkenntnisse brauchte ich dafür nicht, aber eine Vorbereitung war definitiv nötig. Als Guide löchern mich die Besucherinnen und Besucher mit vielen Fragen zu verschiedenen Tieren und Arten. Eine Woche lang saß ich über meinen Skripten, bis ich sie auswendig konnte. Einen Spickzettel habe ich nie dabei. Wenn ich mal etwas nicht weiß, dann sage ich es und die meisten haben dafür Verständnis. Danach recherchiere ich in Fachbüchern, damit ich die Frage das nächste Mal beantworten kann. Was mich am meisten fasziniert, ist, dass man mit den Tieren, obwohl sie in einem Gehege sind, immer interagieren kann. Besonders unsere Affendame ist sichtlich erfreut, wenn sie mich in meinem grünen Zoo-Shirt sieht. Sie scheint mich

sofort zu erkennen. Daneben gefällt mir der Kontakt zu Kindern. Ich bin als Guide zwar für alle Altersklassen zuständig, hatte bisher zufälligerweise aber nur Kindergruppen. Die Arbeit fördert mich ungemein. Neben dem speziellen Wissen, das ich mir aneignen muss, konnte ich meine Angst, vor Menschen zu sprechen, ablegen. Das hilft mir auch im Studium, wenn ich Vorträge halten muss. Da ich zusätzlich viel mit Kindern unterwegs bin, habe ich zudem gelernt, mich durchzusetzen, sodass mir inzwischen alle aufmerksam zuhören. Im Zoo gibt es ganz unterschiedliche Touren. Jede dauert rund 90 Minuten. Ich arbeite eigentlich nur am Samstag und Sonntag. Da ist am meisten los und ich kann die Touren mit meinem Studium gut vereinbaren. Meinen Dienstplan bekomme ich meist einen Monat im Voraus. Zusätzlich gibt es einen Wochenplan für den Fall, dass kurzfristig Führungen hinzu kommen. Manchmal habe ich nur eine Tour, an einem anderen Tag habe ich drei. Monatlich sind es maximal 18 Führungen. Im Schnitt verdiene ich 450 Euro. Generell ist es eine Frage der Organisation, Studium und Nebenjob in Einklang zu bringen. Vor allem in der Prüfungsphase ist es ein Balanceakt, da mir die Zeit zum Lernen am Wochenende fehlt. Bisher habe ich aber immer alles gut hinbekommen. Auch wenn der Job rein gar nichts mit meinem Studium zu tun hat, bin ich sehr froh, diesen ausüben zu können. Ich habe ein großes Herz für Tiere und stehe allgemein hinter dem Konzept Zoo. Es hat mich gereizt, etwas Außergewöhnlicheres, also keinen 08/15-Job zu machen. Damit will ich nicht sagen, dass andere Nebenjobs weniger wert sind, doch für mich ist es einfach etwas Besonderes. Seit jeher schreit ein kleines Mäuschen in mir: ‚Vielleicht werde ich ja doch noch irgendwann Tierpflegerin!‘ (lacht).”

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Vater auf Zeit Arbeiten in einer Kinder-WG Ein sonniger Sonntagmorgen. Kreischend vor lauter Freude rennt die Meute über den Hof. Sie spielen, radeln, verstecken sich – die Kinder sind voll in ihrem Element. Zwischen ihnen stehend beobachtet Andy mit seiner angenehm ruhigen Art die Szene. Der 21-Jährige ist pädagogischer Mitarbeiter beim Kinder- und Jugendhilfeträger MiTTeNDRiN GmbH Magdeburg. Wenn er nicht bei seiner Wohngruppe ‚Crazy Kidz‘ ist, sitzt er in Vorlesungen und Seminaren der Sozialen Arbeit auf dem Campus im Herrenkrug. „Hier leben acht Kinder im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren, die theoretisch einen Mehrbedarf an Betreuung benötigen. Die Kinder werden von mir und anderen pädagogischen Fachkräften 24 Stunden, sieben Tage die Woche unterstützt. Wir setzen dabei viel Wert auf eine Struktur, einen Tagesplan, der den Kindern bei der Verselbstständigung helfen soll.

Meine soziale Ader entwickelte sich schon frühzeitig und wurde vor allem durch meinen Vater geprägt. Ich stamme aus dem Saalekreis. In Halle war mein Vater an der Gründung eines sozialen Trägers beteiligt. Dort war ich ehrenamtlich sowie im Praktikum tätig. Ich arbeitete mit Menschen mit Beeinträchtigungen und schloss diverse Praktika im sozialen Bereich an. Dass ich irgendwann Soziale Arbeit studieren würde, war also naheliegend. Auf die Wohngruppe ‚Crazy Kidz‘ bin ich durch meine Kommilitonen aufmerksam geworden. Ich betreue die Kinder vor allem am Wochenende und kümmere mich um hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Unter der Woche werden wir von unserer Hausmutti Inge tatkräftig unterstützt. Inge bereitet die Schulschnitten vor und kocht für uns. Sie kann hervorragend backen, was bei allen gut ankommt. Die Kinder sind die ganze Woche bei uns, wir

Der 21-jährige Andy Nenke ist einer von insgesamt vier pädagogischen Fachkräften, die die Kinder betreuen und wertschätzen. Seine ruhige und professionelle Art kommt gut an: „Wir wollen, dass Andy für immer bei uns bleibt”, erzählt Gina, ein Mädchen der Wohngruppe.

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bringen sie zur Schule oder in den Kindergarten und zu ihren Therapien, die meist extern stattfinden. In Absprache mit dem Jugendamt dürfen sie zudem ab und zu zur Beurlaubung zu ihren Eltern.

Jedes Kind wird im Rahmen verschiedener Projekte gefördert. Derzeit arbeiten die älteren an einer Modelleisenbahn.

Wir versuchen, alle Kinder individuell zu fördern. Dazu gehören z. B. diverse Projekte wie eine Fahrradverkehrsübung auf dem Hof oder ein Geschmacksexperiment. Natürlich führen wir auch einzelne Gespräche mit den Kindern, helfen bei Problemen, setzen uns mit ihnen zusammen, wenn es ihnen mal nicht gut geht. Im Grunde fungieren wir als verlängertes Organ der Eltern, mit denen wir im engen Kontakt stehen.

Nachtschicht beginnt um 15 Uhr und dauert bis zum nächsten Tag 10 Uhr. Das klingt zwar lang, doch nachdem die Kinder um 20 Uhr bzw. am Wochenende auch mal erst 21 Uhr im Bett sind, habe auch ich die Möglichkeit, mich zur Ruhe zu legen. Richtig schlafen kann man natürlich nie. Denn wenn es an der Tür klopft, ist man sofort bereit.

Besonders viel Freude macht es mir, wenn ich etwas aktiv mit den Kindern unternehmen kann, zum Beispiel Ausflüge oder spannende Projekte. Letztens haben wir einen Stop-Motion-Film mit Legofiguren realisieren können. Da haben auch die Kinder am meisten Spaß. Ab und zu gibt es auch sogenannte Bezugsbetreuertage, an denen ich mich intensiv mit einem einzelnen Kind beschäftigen kann. Wir arbeiten rund um die Uhr, dürfen jedoch keine 24-Stunden-Dienste machen. Der Tagdienst beginnt zwischen 9 und 16 Uhr, je nachdem wie viele Betreuerinnen und Betreuer bereits eingeteilt sind. Unter der Woche arbeiten wir immer zu zweit. Am Wochenende kommt die zweite Person erst am Nachmittag hinzu, es sei denn, es sind Ausflüge geplant. Die

Im Durchschnitt bin ich hier drei Tage in der Woche beschäftigt, je nach Diensteinteilung, bei Nachtschichten entsprechend weniger. Vertraglich arbeite ich insgesamt 20 Wochenstunden. Für mich ist es kein ungewöhnlicher Nebenjob, da viele, die Soziale Arbeit studieren, auch schon in dem Bereich tätig sind. Der Job ist wichtig, damit ich mir mein Studium finanzieren kann. Außerdem gibt es die Möglichkeit, mich in Weiterbildungen und Supervisionen weiterzuentwickeln. Mit dem Studium kann ich meine Arbeit recht gut vereinbaren. Schwierig wird es erst, wenn die Kinder Ferien haben oder ich aus der Nachtschicht komme, meine Vorlesung aber schon um 8 Uhr beginnt. Zum Glück habe ich eine nette Teamleitung, die mir sehr entgegenkommt. So hat man auch mal an einem langen Hochschultag Pause von der Arbeit.”

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Nicht mit dem Strom schwimmen Arbeiten im Trinkwasserwerk Ein Ausflug zum Hochbehälter Thauberg. Für viele etwas Außergewöhnliches, für Student Fabian Hoffmann Alltag. Seit Dezember 2017 arbeitet der 23-Jährige bei der Magdeburger Trinkwasserversorgung (TWM). Gleich nebenan studiert er den Master Wasserwirtschaft.

eine riesige Umstellung, doch man gewöhnt sich daran. In der Betriebsüberwachung findet jeden Morgen eine Dienstberatung statt, bei der wir die Ereignisse der letzten Nacht besprechen. Wir klären, ob beispielsweise Rohrschäden oder etwas Ähnliches aufgetreten sind.

„Wie ich zu diesem Studium gekommen bin? Gute Frage! Es begann mit einem Fachpraktikum in der neunten Klasse, das ich an der Hochschule absolvierte. Ich arbeitete zwei Wochen lang bei einer Laboringenieurin und habe relativ schnell gemerkt, dass das etwas für mich ist. Da ich aus Biere stamme, war es für mich naheliegend, an der Hochschule zu studieren.

Mein Aufgabenbereich ist das Zählermanagement. Im Wasserversorgungsnetz sind überall große Wasserzähler mit bis zu einem halben Meter Durchmesser installiert. Wir sind Zulieferer für viele Wasserzweckverbände und Stadtwerke wie die SWM. Das bedeutet, dass unsere Anlagen immer top in Schuss sein müssen. Ich arbeite mit einer Datenbank, bei der ich die Daten des Zählerbestandes regelmäßig auf den neuesten Stand bringe. Zudem haben wir seit Kurzem ein Projekt, das ich gemeinsam mit meinem Kollegen betreue. Darin kümmern wir uns um ein Bilanzierungssystem, welches uns ermöglicht, Verluste im Netz schneller einzugrenzen und zu minimieren. Klingt nach sehr viel Computerarbeit? Ist es auch! Gerade in Sachen Datenbanken musste ich mich erst einmal reinfuchsen. Aber das Schöne ist, dass mir die Zeit dafür eingeräumt wurde. So schaute ich ein YouTube-Tutorial nach dem anderen, um mir das nötige Wissen anzueignen. Kenntnisse aus meinem Studium sind ebenfalls von Vorteil, denn dann begreift man nicht nur, was man tut, sondern vor allem, warum man es tut.

Inzwischen bin ich im vierten Semester meines Masters. Mein Studium finanziere ich aus verschiedenen Quellen. Während meines Bachelors habe ich, genau wie Hunderte andere Studierende, bei Kaufland gearbeitet. Zusätzlich habe ich die letzten anderthalb Jahre ein Deutschlandstipendium erhalten. Meine lieben Eltern unterstützen mich bei der Zahlung meiner Miete. Zwischen Bachelor und Master absolvierte ich ein Praktikum in einem Ingenieurbüro in Osnabrück. Danach war ich mir sicher, dass ich mich nicht wieder an die Kasse setzen werde. Ich wollte einen Job mit Sachbezug. Also recherchierte ich und fand die Stelle bei der TWM. Die Lage ist super. Ich laufe 50 Meter bis zur Hochschule und kann so problemlos die Vorlesungen und Seminare wahrnehmen. Ein normaler Arbeitstag bei der TWM beginnt um 6:30 Uhr. So früh mein geliebtes Bett zu verlassen, war für mich

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Meine Arbeitszeiten kann ich flexibel anpassen. Momentan bin ich 15 Stunden in der Woche im Büro. Zu Beginn waren es 20 Stunden. Als ich viel in der Hochschule zu tun hatte,


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Fabian Hoffmann sieht sein Studium und die Arbeit bei der TWM als „gesunde Mischung“. Bei der Trinkwasserversorgung kann der 23-Jährige viel aus Gesprächen mitnehmen: „Man entwickelt ein Tiefenverständnis, für das, was man im Studium gelernt hat.“

waren es nur noch zehn. Bei derzeitig 60 Stunden im Monat bedeutet das, dass ich gut zwei volle Arbeitstage pro Woche hier tätig bin. Der Verdienst ist stundenabhängig und fällt somit sehr unterschiedlich aus. Angefangen habe ich mit dem Mindestlohn. Inzwischen konnte ich das Gehalt verdoppeln. Ich verdiene zwar mehr, als in einem Nebenjob erlaubt ist, befinde mich aber noch in der Gleitzone. Ich muss also Sozialabgaben zahlen, jedoch keine Steuern. Nur um die Krankenversicherung muss ich mich selbst kümmern, doch mit einem studentischen Tarif ist das vollkommen in Ordnung. Ich kann mich also nicht beklagen. Flexible Arbeitszeiten und sachgebundenes Arbeiten – was will man mehr?!“

Die Pumpen im Hochbehälter Thauberg stellen mit einer Fördermenge von 700 Kubikmetern pro Stunde unter anderem die Wasserversorgung Magdeburgs sicher.

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Ein Job mit Feingefühl Arbeiten im Integrationsprojekt „Es ist gut, dass es Menschen gibt, die Flucht und Migration positiv gegenüberstehen. Aber wir dürfen nicht nur reden, sondern müssen auch handeln“, ist Marie Rohde-Terlinden überzeugt. Die 28-Jährige engagiert sich neben ihrem Studium der Sozialen Arbeit bei der Integrationshilfe Sachsen-Anhalt und leitet dort das Projekt Familienpatenschaften. Auch wenn die große Welle der geflüchteten Menschen inzwischen abgeebbt ist, benötigt es nach wie vor viel Unterstützung. „Ich bin eigentlich gelernte Erzieherin, habe aber schnell gemerkt, dass mir das nicht reicht. Ich wollte nicht nur auf Kinder aufpassen, ich wollte etwas verändern und ich wusste, da ist noch Luft nach oben. Neben dem Studium wollte ich die Zeit nutzen, Erfahrungen für meinen beruflichen Neustart zu sammeln. Zu den Familienpatenschaften bin ich über einen alten Schulfreund gekommen. Er ist Vorstandsvorsitzender der Integrationshilfe Sachsen-Anhalt. Ich erhielt so zunächst einen Job als Leh-

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rerin, gab Deutschkurse für unbegleitete, minderjährige Geflüchtete. Diese Arbeit führte mich direkt in das Projekt Familienpatenschaften. Dieses möchte geflüchteten Familien das Ankommen in Magdeburg erleichtern und ihnen eine unbürokratische und individuelle Teilhabe am Leben ermöglichen. Bevor ich die Projektleitung übernahm, betreute ich eine Familie. Spezielle Vorkenntnisse brauchte ich nicht, doch Feingefühl und Empathie waren von Vorteil. Seit Februar darf ich das Projekt koordinieren. Ich bringe Familien und Freiwillige zusammen, führe Workshops durch und vernetze mich mit anderen Vereinen. Es ist nicht wie bei anderen Institutionen, die in Konkurrenz zueinanderstehen. Ganz im Gegenteil: Wir vermitteln uns gegenseitig, arbeiten also praktisch zusammen. Von daher ist die Netzwerkpflege unabdingbar. Familien mit Migrationshintergrund interessieren mich sehr. Ich möchte ihnen bei der Eingliederung helfen, ihr Ankommen aktiv mitgestalten und mit den Kindern Projekte realisieren, um ihr Selbstbewusstsein aufzubauen und zu stärken. Derzeit betreue ich neun aktive Familienpatenschaften. Hierfür veranstalte ich monatliche Austauschtreffen. Wo wird Hilfe benötigt? Was kann man zusammen unternehmen? Die Beratungen machen mir viel Spaß, weil sie mir das Gefühl geben, aktiv dabei zu sein. Für einen sozialen Job ist


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Das Projekt Familienpatenschaften besteht bereits seit 2016. Die Arbeit der 28-Jährigen ist sehr flexibel, benötigt aber einiges an Organisationstalent.

meine Arbeit meist sehr theoretisch. Umso mehr freue ich mich, wenn ich nach den Treffen mit einem Lächeln nach Hause gehe. Interessierte können sich gern per Mail (marie. rohde-terlinden@integrationshilfe-lsa.de) bei mir melden. Ich bin glücklich, einen Nebenjob zu haben, der flexibel, mit 450 Euro und 40 Stunden im Monat gut bezahlt ist und auch zu meinem Studium passt. Ich studiere jetzt im dritten Semester Soziale Arbeit und kombiniere mein Wissen aus Studium und Praxis. Im Studium haben wir beispielsweise viel über das Asylverfahren gelernt. Das hat mir sehr dabei geholfen, die Familien und ihre Situation bzw. ihren derzeitigen Status nachvollziehen zu können. Auch andersherum lassen sich die praktischen Erfahrungen gut mit den Studieninhalten verbinden.“ Noch mehr Jobs unter: www.h2.de/careercenter

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Gleichheit ≠ Gerechtigkeit Ein ungerechtes Essay ... Ein Gedankengang von Robert Gryczke Grafik: istock

„Alle Menschen sind gleich“ Bullshit! Menschen sind so unterschiedlich wie kaum eine andere Tierart auf dem Planeten. Ach was – auf allen Planeten. Und diese Unterschiede sind super. Warum gleiche Behandlung und faire Behandlung nicht dasselbe ist. 30


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Oder: Wofür wir Superhelden wirklich bräuchten „Ich kann etwas über Ungleichheit machen“, sage ich meiner Chefredakteurin. Positives Feedback. „Eine gleiche Behandlung ist ja nicht zwangsläufig eine faire Behandlung.“ Positives Feedback. Dann sitze ich vor einem leeren Textdokument. Und sitze. Und gucke. Sitze. Gucke. Moppelchen, pardon, Menschen mit Übergewicht, müssen im Flugzeug zwei Plätze buchen und bezahlen, wenn sie nicht den Hass der Mitfliegenden auf sich ziehen wollen. Die dänische Airline KLM verpflichtet Jumbos sogar dazu, einen zweiten Sitzplatz zu buchen und behält sich vor, XXL-Reisende einfach nicht mitzunehmen. Breit wie zwei Passagiere? Muss so viel zahlen wie zwei Passagiere! Das ist eine gleiche Behandlung, obgleich sicherlich keine faire. Während der Autor dieses Textes diesen Sachverhalt tippt, schaut er an seiner Wampe hinunter und kommt zu dem Schluss: Na das kann ja nun nicht die Quintessenz des Themas „Gleichheit ≠ Gerechtigkeit“ sein. Gibt es da nicht etwas Aktuelleres? Die Zielgruppe dieses Magazins sind ja Studierende und Alumni; also entweder verschuldete Mittdreißigerinnen und Mitdreißiger mit Einraumwohnungen und zerstörten Träumen ODER polyamore Frischabiturientinnen und -abiturienten mit dem Drang, das Geld der Eltern für Fair-Trade-Kaffee im pandabemusterten Mehrweg-togo-Becher auszugeben. Plötzlich fällt mir eine gute Gesprächspartnerin zu diesem Thema ein.

„Setz' Dich doch einfach auf Deine Hand“ Ich kontaktiere Alice kurzfristig per Video-Call. Wir kennen uns schon länger, haben zusammen einen Film gedreht. Sie ist 24, studiert seit knapp drei Jahren Kunstgeschichte in Leipzig, hat dissoziative Bewegungsstörungen, wohnt und jobbt in Magdeburg. Ihre Krankheit äußerte sich zunächst mit vokalen und motorischen Auffälligkeiten: Ticks, eher bekannt vom Tourette-Syndrom. Mitstudierende setzten sich in den gemeinsamen Vorlesungen weg. Ist das nachvollziehbar? Ist das arschig? „Ist ja arschig!“, werfe ich zwischendurch ins Gespräch. Wirklich, ist es das? Meine auditive Frusttoleranz bei Geräuschen ist gering. In der Bibo stehe ich schon vor der Implosion, wenn jemand seine überteuerten Süßigkeiten Saftbärchentüte betont vorsichtig öffnet. Der

Reflex lässt einen sagen: „Ja, aber für Ticks kann ja keiner was!“ Stimmt. Aber bin ich deshalb ein schlechter Mensch, weil ich ungestört der Vorlesung folgen will? „Ich finde nicht, dass sie sich unfair verhalten haben. Das hatte eher was mit meinem Ego zu tun.“ Übelgenommen habe Alice nur einmal den Hinweis, dass sie sich ja auch einfach auf ihre Hand setzen könnte. Gehe d'accord. Scheiß Kommentar. Ich könnte so jedenfalls nicht tippen.

Superkraft: Verständnis Das Wort „Gleichstellungsbeauftragter“ ploppt auf. Bis eben dachte ich, Gleichstellungsbeauftragte hätten vor allem etwas mit der Gender-m/w/d-Thematik zu tun. Schließlich geht es in dem Gleichstellungskonzept der h² für mich auf den ersten Blick erst einmal um Frauenquote und Co. Aber weit gefehlt: der Gleichstellungsbeauftragte kümmerte sich mit Alice zusammen auch um einen eigenen Raum zum Lernen und beriet sie unter anderem zu Fristverlängerungen für Prüfungsleistungen. An unserer Hochschule verteilt sich diese Arbeit auf die Gleichstellungsbeauftragte Angret Zierenberg, Behindertenbeauftragte Nicole Franke und Carolin Flux, Mitarbeiterin im Familienservice. Ich höre mir das alles an und frage, in peinlichster BILD-Manier, ob sie den Eindruck habe, aufgrund der Schwerbehinderung eine Extrawurst zu bekommen. Nein, tut sie nicht. Es ist fair, eine gleiche Chance zu haben. Meint übrigens auch der Chef der Bar, in der sie jobbt. Kurze Schichten und personelles Back-up, falls spontan etwas passiert. Und das ganz ohne Gleichstellungsplan. Während des Gesprächs dämmert mir, dass es eben auch eine ordentliche Portion Verständnis braucht, um jemanden fair anstatt einfach nur gleich zu behandeln. Und als investigativer serviceorientierter Journalist, bitte ich Alice um ein praktisches Beispiel für meine Erkenntnis. Dann erzählt sie mir, dass ihre WG-Mitbewohnerinnen und Mitbewohner sie nach ihrem Klinikaufenthalt genauso behandeln wollten wie davor: Party, Action – das volle Programm. Erst nach und nach kam Verständnis dafür auf, dass Nightlife bei ihr eben nicht mehr der Lebensmittelpunkt ist. „Und mit Inkontinenz darfst Du erst gar nicht anfangen. Dann sehen die Menschen nur noch eine riesige Windel, weißt Du Robert.“ Hach, ja, manchmal wäre Captain Empathy gut. Kommt einfach ins Geschehen, zack: Verständnis! Es könnte so einfach sein.

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Formenvielfalt

Produkte, die nicht schwimmen gehen

Sortiert und fotografiert von Katharina Remiorz

Bunte Schnüre

Scharfe Haken Fische am Haken? Lieber Fische als Haken – Kleiderhaken. Die von Elias Grothe gestaltete Garderobe hat nicht nur ein unverkennbares Design, sie besteht auch zu 100 Prozent aus Scheuerfäden, sogenannten Dolly Ropes. Die Quasten aus dünnen Kunststofffäden verhindern, dass sich Fischernetze, während sie über den Meeresboden schleifen und Muschelbänke oder groben Sand passieren, abnutzen und reißen, landen deshalb jedoch selbst häufig im Meer. Mit den Haken „wertet man nicht nur Bad, Küche oder Kleiderschrank auf, sondern setzt auch ein Statement für den Kampf gegen die Verschmutzung unserer Ozeane“, so das erklärte Ziel des Studenten.

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Vom Meer auf die Straße: Eben lagen sie noch am Grund des Ozeans, schon sind sie ein stylishes Modeaccessoire. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Und wünschenswerter wäre es, wenn unsere Abfälle gar nicht erst im Meer landen. Mit ihren bunten Schnürsenkeln inkl. passender Verpackung will Gülbahar Ceper daher auch in erster Linie sensibilisieren. „Man kann das Negative ins Positive umwandeln“, zeigt sie sich überzeugt. „Für mich ist es wichtig, mit den Schnürsenkeln meine Unterstützung, Leidenschaft und Meinung zu repräsentieren und mich für plastikfreie Alternativen in vielen Bereichen des täglichen Lebens einzusetzen.“


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Na, im letzten Urlaub auch im Fischernetz oder am Six-Pack-Halter hängen geblieben? Vermutlich lag das nicht an der exzessiven Party, sondern vielmehr an unseren verschmutzten Meeren oder den Fundsachen, die achtlos am Strand hinterlassen werden. Mehr als zehn Millionen Tonnen Abfälle gelangen jährlich in die Ozeane. Dank Fridays for Future sollte dieser Fakt nun auch bei dem Letzten angekommen sein. Doch kein Grund, dieses Thema bald wieder im Meer zu versenken. Vier Produktideen unserer Design-Studierenden werben für mehr Achtsamkeit. Sie sind klein, fein, schön anzusehen und: aus Ocean Plastic. Ein Kooperationsprojekt mit dem NABU und der Arbeitsgruppe Rohstoffwerkstatt, das sensibilisieren und unsere Natur schützen will. Gerahmtes Gedächtnis In unseren Häusern und Wohnungen zieren sie ganze Wände, schreiben Geschichten und erinnern uns an die schönsten Momente unseres Lebens: gerahmte Bilder. Nur die wichtigsten Dinge des Lebens scheinen es dort hinein zu schaffen. Für den Norddeutschen Vito Aping sind dies gerahmte Dolly Ropes und anderes Strandgut, die er selbst gesammelt hat. Sie seien Zeugen unseres Konsums und mahnen uns zur Vernunft und Sorgfalt: „Diese Rahmen zeigen, wie Jahreszeiten, Wetter, Wind und Zeit die Fundstücke beeinflussen und sind somit auch ein Tagebuch nicht nur von den Fundorten, sondern auch von klimatischen Bedingungen und der Verschmutzung der Meere.“

Keine leere Hülle Morgens halb zehn an der Ostseeküste. Es folgt nicht der genussvolle Biss in eine bekannte Milch-Haselnuss-Schnitte, sondern ein unerwartetes Stolpern verbunden mit einem dumpfen Aufschlag. Mit einem „Oh nein, nicht schon wieder!“ tritt der Schockzustand ein: Quer durch das Display des geliebten Smartphones zieht sich ein tiefer Riss. „Werden Handys heutzutage etwa mit Absicht so brüchig produziert?“ Julia Krafts Handyhülle aus recyceltem Ocean Plastic hätte dieses Ärgernis und die damit verbundenen grauen Haare vermutlich abwenden können. Besonders schön: Auf der Rückseite lässt sich ein Logo oder eine Message platzieren. Wie wäre es mit: „There is no plan(et) B!“

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Viele Eltern strotzen vor Glück, wenn sich ihre Kinder für ein Studium entscheiden. „Meine Mutter war enttäuscht von mir“, gibt Lisa Virkus zu. Sie selbst würde jedoch immer wieder diese Wahl treffen.

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Die Erste, die studiert

Lisa Virkus ist keine Soldatin, doch eine Kämpferin ist sie geblieben. Die Bundeswehr hat sie nach ihrer Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten verlassen. Denn von ihrem Berufsweg hat sie ganz eigene Vorstellungen. Vorstellungen, die sie auch gegenßber ihrer Mutter erst durchsetzen musste. Lisa ist in ihrer Familie die Erste, die studiert. Geschrieben von Bianca Kahl Fotos: Matthias Piekacz

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Arbeiterkinder: Warum so wenige von ihnen studieren Wenn die Eltern nicht studiert haben, dann ist das oft auch für die Kinder ausgeschlossen. Diese Bildungsungerechtigkeit geht die Initiative „Arbeiterkind“ an. Eva König, Mitarbeiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, erklärt im Interview mit Bianca Kahl die Hintergründe. Aus welchen Gründen entscheidet man sich für oder gegen ein Studium? Das ist individuell. Doch die Weichen für diese Entscheidung werden schon in der Kindheit gestellt – und zwar von den Eltern. In Sachsen-Anhalt entscheidet man sich zum Beispiel schon nach der vierten Klasse für oder gegen das Gymnasium und damit das Abitur. Was glauben Sie, warum haben Eltern Vorbehalte gegen ein Studium? Wenn Elternhäuser selbst keine Erfahrung damit haben, schätzen sie den Aufwand und die Kosten häufig zu hoch ein. Sie wollen lieber auf „Nummer sicher“ gehen und erwarten, dass ihre Kinder möglichst schnell Geld verdienen. Die vielen Möglichkeiten der Unterstützung sind meist gar nicht bekannt. Dabei gibt es nicht nur für die Einser-Schülerinnen und -Schüler Stipendien. Auf der anderen Seite wissen Eltern gar nicht, wie groß die Vorteile eines Studienabschlusses sind: Beschäftige mit akademischem Abschluss verdienen deutlich besser und werden nicht so schnell arbeitslos. Wie hilft die Initiative „Arbeiterkind“? Unsere Ehrenamtlichen informieren und ermutigen die Studieninteressierten mit ihren eigenen Erfahrungen. Betroffene kennen oft niemanden, den sie einfach mal ansprechen und befragen können. Auf unserer Webseite www. arbeiterkind.de gibt es allgemeine Infos, wie ein Studium abläuft, aber auch Tipps zu Auslandssemester, BAföG, Stipendien und Nebenjobs. Kann ich auch persönlich Fragen stellen? Na, klar! Von Montag bis Donnerstag schalten wir ein Infotelefon unter 030 / 679 67 27 50. Es gibt auch lokale Gruppen, die sich regelmäßig treffen. In Magdeburg ist das jeden vierten Dienstag im Monat ab 19.30 Uhr im Campustheater am Johann-Gottlob-Nathusius-Ring 5. Einfach hingehen, Gleichgesinnte treffen, Fragen stellen und Sorgen von der Seele reden!

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Mit 16 Jahren trat Lisa eine Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten an und pflegte ein offenes Verhältnis zu Lehrenden der Berufsschule sowie Mitschülerinnen und Mitschülern. Daher weiß sie: Das Gehalt und die Arbeitsbedingungen, die sie in ihrem Beruf erwartet hätten, reichen ihr nicht aus.

Gerade einmal 27 von 100 Kindern entscheiden sich in Deutschland für ein Studium, wenn die eigenen Eltern nicht studiert haben. Das sind die Ergebnisse einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Die Hochschule Magdeburg-Stendal fällt hier positiv aus dem Rahmen – zum Beispiel mit Lisa Virkus aus Wernigerode, die im dritten Semester Gesundheitsförderung und -management studiert – gegen den Willen ihrer Mutter. Ihre Geschichte zeigt, warum es „Arbeiterkinder“ manchmal schwerer haben als solche aus Akademikerfamilien.

Jobs und Sonderwünsche „Meine Mutter war so stolz, als ihre beiden Töchter zur Bundeswehr gegangen sind“, erzählt die 21-Jährige. „Sicherer Arbeitsplatz, ein gutes Gehalt und anständige Berufe – mehr konnte sie sich gar nicht für uns wünschen.“ Die Mutter ist gelernte Gärtnerin und trägt heute in Wernigerode Zeitungen aus. In Lisas Kindheit hatte sie gleich mehrere Jobs, um alle Wünsche ihrer Kinder erfüllen zu können. Lisas Schwester lebt heute als pharmazeutische Fachangestellte bei der Bundeswehr ihren Traum. Doch sie selbst hatte schon immer ihren eigenen Kopf.


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Akademikerfamilien

Nichtakademikerfamilien

44 Prozent

56 Prozent

Eine Befragung unter allen Studierenden der Hochschule zeigte im Sommersemester 2019, dass das Verhältnis zwischen Akademiker- und Nichtakademikerfamilien relativ ausgeglichen ist. Zu diesen Fragen haben 800 Personen Auskunft gegeben.

Bereits in der vierten Klasse wäre sie gern aufs Gymnasium gegangen. Doch die Mutter war dagegen. „Schreib lieber Einsen an der Sekundarschule, als dass du schlechte Noten am Gymnasium bekommst“, sagte sie damals zu ihrer Tochter. Statt das Abitur nachzuholen, ging es nach dem Realschulabschluss mit 16 Jahren zur Bundeswehr nach Berlin. „Ich bin meiner Mutter sehr dankbar, dass sie mir damals das Abi ausgeredet hat. Jetzt weiß ich, was Arbeiten heißt, bin viel selbstbewusster und weiß die Freiheit und die Möglichkeiten meines Studiums sehr zu schätzen.“ Doch auch nach ihrer Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten sollte ihr ein passendes Studium verwehrt bleiben. Die Antwort der Vorgesetzten, dass sie erst ein paar Jahre als Stabsunteroffizierin arbeiten könne und man dann weitersehe, reichte ihr einfach nicht aus.

Praxis schlägt Theorie Lisa weiß ganz genau, was sie will: „Ich will Berufsschullehrerin werden und zwar verbeamtet.“ Doch ein Lehramtsstudium an der Uni ist ihr zu theoretisch. Der Studiengang an der Hochschule Magdeburg-Stendal sei hingegen sehr praxisorientiert und damit genau ihr

Ding. Hinzu kommen die fairen Wohnungsmieten. „Fast alle meine Lehrerinnen und Lehrer an der Berliner Berufsschule haben hier studiert“, sagt sie. Das macht es allerdings nicht leichter. Um sich ihre Wohnung und ihr Leben finanzieren zu können, hat sie gleich zwei Jobs: Sie trägt viel Verantwortung im studentisch geführten Café FRÖSI und arbeitet zugleich in einer Fastfood-Kette. Diese Belastungen kennt sie schon aus der Zeit, als sie auf eigene Faust ihr Abi nachholte: immer spät zu Hause, wenig Schlaf, kaum Zeit zum Lernen. Durch eine Prüfung ist sie bereits durchgerasselt. Auch an die Art zu lernen, musste sie sich erst gewöhnen. „Beim Studium ist es ganz anders als in der Schule oder bei meiner Ausbildung.“

Auf eigenen Beinen stehen In besonderen Härtefällen und bestimmten Lebenslagen hilft die Hochschule mit Entlastungsprogrammen wie dem „KomPass“. Mit dem Mentoringprogramm, Tutorien oder Tandempatenschaften erhalten Studierende auch persönliche Hilfe. Doch Lisa Virkus fühlt sich auch ohne Unterstützung stark genug. Sie will auf eigenen Beinen stehen und hatte bisher nicht das Bedürfnis, um Hilfe zu bitten. „Ich wollte das ja alles so und hätte auch eine andere Wahl gehabt“, sagt sie. „Ich muss gestehen, dass mir das Arbeiten Spaß macht und dass ich bei meinem Lebensstil keine Abstriche mache.“ Auf keinen Fall will sie ihre Familie bitten, sie finanziell zu unterstützen. Dennoch würde sie sich sehr freuen, wenn ihre Mutter irgendwann erkennt, welch schönes Leben ihre Tochter dank des Studiums einmal haben wird, und dass sie dann einsieht: Es lohnt sich, sechs Jahre kein festes Geld zu verdienen und sich mit Anfang 20 noch kein eigenes Auto leisten zu können. Dann zeigt sich, dass das Kind Recht hatte mit seiner Entscheidung.

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Bedingungsloses Grundeinkommen

Eine Nation auf der faulen Haut?

Geschrieben von Katharina Remiorz Fotos: istock, Matthias Piekacz, Bastian Ehl

Was wäre, wenn Du jeden Monat 1.000 Euro mehr auf dem Konto hättest? Geld ganz ohne Gegenleistung, ohne Bedingungen. Würdest Du glücklicher sein, Dich freier, ja unabhängiger fühlen, vielleicht sogar weniger arbeiten oder Dich beruflich neu orientieren? Rund 15,5 Millionen Menschen leiden in Deutschland unter einer chronisch knappen Kasse, verfügen also über weniger als 1.096 Euro im Monat. Sozialleistungen wie Hartz IV sind für viele die letzte Lösung, auch weil sie stark stigmatisieren, die Betroffenen an den Rand der Gesellschaft stellen.

nen – die Erträge seines Unternehmens sind so hoch, dass er kaum mehr einen Finger krumm machen muss. Doch stattdessen wagte er den Perspektivwechsel: Wie würde es anderen mit einer finanziellen Absicherung gehen? Sagen wir mal in Höhe von 1.000 Euro?

Gleiches Geld für alle?

2014 rief Bohmeyer das Crowdfundingprojekt „Mein Grundeinkommen“ ins Leben. Seine Vision: eine bedingungslose Existenzsicherung, die allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und die Freiheit gibt, selbstbestimmt zu leben. Aus einer fixen Idee wurde eine

Michael Bohmeyer lebt in Berlin und gründete bereits mit Ende 20 ein erfolgreiches IT-Unternehmen. Eigentlich könnte sich der heute 35-Jährige entspannt zurückleh-

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Initiative, die Millionen Menschen antreibt und die Debatte über die Zukunft unseres Sozialsystems landesweit kontrovers befeuert. Dabei ist dieses Gedankenspiel kein neues. Schon 2005 setzte sich dm-Gründer Götz Werner für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein. Mit zwei Millionen Euro fördert seine Stiftung seit Mai dieses Jahres sogar eine Professur an der Universität Freiburg, die den Wunsch eines alternativen Sozialsystems wissenschaftlich untersuchen soll. Bohmeyer war dennoch der Erste, der diese Vision in die Tat umsetzte. In regelmäßigen Abständen verlost sein gemeinnütziger Verein für eine Dauer von einem Jahr ein bedingungsloses Grundeinkommen in Höhe von jeweils 1.000 Euro pro Monat. Das Konzept erhält großen Zuspruch: 114.344 Spenderinnen und Spender, sogenannte Crowdhörnchen, sammeln monatlich fast 490.000 Euro für den Lostopf. In fünf Jahren haben so bereits 156.911 Menschen 410 Grundeinkommen finanziert. Von über einer Million registrierten Nutzerinnen und Nutzern nehmen durchschnittlich 500.000 an den Verlosungen teil.

„Das bedingungslose Grundeinkommen vermittelt eine gewisse Grundsicherheit, wodurch die Menschen einen anderen Antrieb entwickeln“, meint BWL-Student Ray Keddi. Er selbst würde weniger arbeiten gehen und das zusätzliche Geld für die Familie sowie Zukunftspläne zurücklegen.

Schöne neue Arbeitswelt? Auch Ray Keddi, der in Stendal BWL dual studiert, versucht sein Glück in der Lotterie. Trotz anfänglicher Zweifel unterstützt er das Crowdfundingprojekt mit monatlich zehn Euro: „Ehrlich gesagt konnte ich mir ein bedingungsloses Grundeinkommen zunächst überhaupt nicht vorstellen. Die Umsetzung schien mir ein unglaublich großer Aufwand zu sein.“ Doch die Rückmeldungen früherer Gewinnerinnen und Gewinner sprechen für sich: „Ich glaube, es vermittelt eine gewisse Grundsicherheit, wodurch die Menschen einen anderen Antrieb entwickeln. Sie gehen glücklicher und erfüllter durchs Leben und fühlen sich nicht mehr dem Zwang des Staates ausgesetzt.“ Die breite Masse könne von diesem Projekt, sollte es bundesweit umgesetzt werden, profitieren, ist er sicher. „Unser Arbeitsleben wird sich aufgrund der Digitalisierung in den nächsten Jahren stark verändern. Maschinen werden weite Teile unserer Arbeit, vor allem körperlich schwere, übernehmen, Beratungsleistungen ausführen und Finanzen verwalten. Es wird also irgendwann zu viele Menschen für zu wenige Jobs geben und spätestens dann benötigen wir ein Grundeinkommen“, argumentiert Ray. Simeon Laux, Journalismus-Student aus Rheinland-Pfalz, hält die Weiterentwicklung unseres Sozialsystems, dessen Grundpfeiler bereits Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurden, für längst überfällig: „Ich finde es gut, dass man nach so langer Zeit darüber spricht und diskutiert, wie sich unser System an die heutige Zeit, an die Digitalisierung, an den Wegfall von traditionellen Berufen anpassen und diesen entgegenkommen könnte.“ Das bedingungs-

lose Grundeinkommen sieht er als wichtigen Schritt zur Armutsbekämpfung und zur Förderung sozialer Teilhabe, jedoch nicht als Allheilmittel: „In diesem Zusammenhang sollte man auch darüber nachdenken, Superreiche stärker zu besteuern und nach einem Modell suchen, bei dem niemand durchs Raster fällt.“

Ohne Druck mehr Leistung? Weniger Zwänge und Existenzängste, dafür mehr Zeit für die Familie und soziales Engagement: Das sind nur vier von vielen Argumenten, die Befürworter wie Ray und Simeon in die Diskussion um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens einbringen. Auch die Chance auf persönliche und berufliche (Selbst-)Verwirklichung spielt eine zentrale Rolle. Fallen Transferleistungen wie Hartz IV oder Wohngeld weg, so wie es sich die „Hardliner“ wünschen, würde sich zudem die bürokratische Sozialverwaltung wesentlich verschlanken. Dem gegenüber steht eine Vielzahl an Befürchtungen: von Jobs, die niemand mehr machen möchte, einer faulen Nation, die Tag und Nacht in der Hängematte verbringt, bis hin zu zunehmender Migration. „Es kommt darauf an, welcher Studie man glauben möchte“, fasst Prof. Dr. Volker Wiedemer, Professor für Volkswirtschaftslehre, zusammen. „Fraglich ist, ob die Produktivität gewährleistet werden kann, ob weiterhin hart und effizient oder womöglich weniger und nur noch selektiert gearbeitet wird“, gibt er zu bedenken und stellt einen Vergleich zum Studium auf: Brau-

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chen wir wirklich den Klausurendruck, um zu lernen und gute Leistungen zu vollbringen, oder können wir darauf vertrauen, dass unsere intrinsische Motivation so hoch ist, dass wir selbst daran interessiert sind, uns und das Leben unserer Mitmenschen weiterzuentwickeln und mitzugestalten? Letztlich könnte unsere Arbeit sogar an Qualität und Wert gewinnen, wenn wir uns nicht nur des Geldes wegen täglich zur Arbeit schleppen. Dass ein bedingungsloses Grundeinkommen zu mehr Kündigungen führen würde, hält Volker Wiedemer für abwegig. „Arbeit ist eine Berufung und vor allem die Zusammenarbeit mit anderen Menschen hat eine hohe integrative Kraft, die nicht selten unterschätzt wird.“

Andere Länder, andere Sitten? Auch andere Länder diskutieren die Möglichkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens. 2016 wagte Finnland das soziale Experiment: Die hohe Zahl an Menschen ohne Beschäftigung, aber auch das komplizierte und unflexible Sozialsystem veranlasste die Regierung dazu, per Zufall 2.000 Arbeitslose im Alter zwischen 25 und 58 Jahren auszuwählen. Zwei Jahre lang mussten diese auf Arbeitslosengeld verzichten, erhielten jedoch im Gegenzug monatlich 560 Euro zur freien Verwertung. „Wir müssen einen Weg finden, der übergroße Einkommensunterschiede in der Bevölkerung verhindert. Außerdem brauchen wir ein vereinfachtes System der sozialen Sicherheit und die Leute müssen ermuntert werden, zu arbeiten oder Unternehmen zu gründen“, hieß es von Seiten des damaligen Wirtschaftsministers Olli Rehn. Anfang 2019 dann die ersten Ergebnisse: Das unabhängige Grundeinkommen fördere zwar das persönliche Wohlbefinden und das Vertrauen in eine bessere Zukunft, der positive Effekt für die Entwicklung des Arbeitsmarktes bliebe jedoch aus.

Alles nur ein Gedankenspiel? Doch was tun mit dem zusätzlichen Geld? „Ich würde es vermutlich dreiteilen. Jeweils ein Drittel würde ich für die Kinder und für schlechtere Zeiten zurücklegen. Ich würde außerdem weniger arbeiten gehen und mit dem restlichen Einkommen den geringeren Lohn kompensieren“, spekuliert Familienvater Ray. Simeon würde einen Teil ebenfalls „auf die hohe Kante legen“, aber auch Geld in ein soziales Projekt und in die eigene persönliche wie berufliche Weiterentwicklung investieren. „Das bedingungslose Grundeinkommen ist gewissermaßen ein Vertrauensvorschuss des Staates, aus dem wir das Beste herausholen sollten“, stellt der angehende Journalist heraus. „Natürlich besteht die Gefahr, dass es nach einer gewissen Zeit seinen Wert verliert. Ich würde aber versuchen, mir immer wieder bewusst zu machen, dass das 1.000 Euro sind, die ich erhalte, ohne eine Gegenleistung zu erbringen.“ Das bedingungslose Grundeinkommen weckt die Hoffnung nach mehr Selbstbestimmung. Volker Wiedemer sieht in ihm dennoch eine Utopie. „Viele Bereiche unseres Transfersystems sind auf dem Bedürfnis- und Leistungsprinzip aufgebaut. Das heißt, Personen, die mehr eingezahlt haben oder besonders bedürftig sind, erhalten mehr Geld“, führt er aus. „Wir reden von einem vollständigen Systemwechsel. Meiner Ansicht nach ist das nicht realistisch, auch wenn ich eine Sympathie

Ein Grundeinkommen von der Wiege bis zur Bahre: Ist das ein Konzept, das in Deutschland funktionieren, ja bessere Erfolge erzielen würde? Was hat jede einzelne Person davon? Wer profitiert? Wer verliert? Das kommt ganz auf die Umsetzung an, weiß Ray Keddi. „Auch wenn ich mir über die Höhe des Betrags noch nicht sicher bin, befürworte ich das Modell von Robert Carls“, so der Student. Demnach würden alle Volljährigen, die ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben, monatlich 1.100 Euro erhalten. Kinder und Jugendliche bekommen ab der Geburt 500 Euro. Grundsicherungen, Kinder- und Elterngeld sowie der Bundeszuschuss zur Rente entfallen. Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung werden besonders berücksichtigt. „Dieses Modell würde vor allem Kindern, Jugendlichen, aber auch Menschen, die doppelt belastet werden bzw. ein geringes Einkommen haben, zugutekommen. Es gäbe eine Umverteilung von oben nach unten, von Reich zu Arm“, begrüßt Ray. 80 Prozent der Bevölkerung würden Robert Carls Rechnung zufolge von diesem Entwurf profitieren. Die Finanzierung könnte über die Einnahmen der Einkommenssteuer abgesichert werden.

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Der Spalt zwischen Arm und Reich wird immer größer. Das fällt besonders auf, wenn man Vermögen, aber auch Regionen miteinander vergleicht, weiß Prof. Dr. Volker Wiedemer: „Menschen in ländlichen Regionen fühlen sich abgehängt, wodurch Existenzsorgen zunehmen.“ Er versteht den Wunsch einer Grundsicherung, auch weil man sich von Stigmatisierungen wie Hartz IV lösen möchte. Einen vollständigen Paradigmenwechsel hält er dennoch für utopisch.


Oktober 2019

Journalismus-Student Simeon Laux ist über seine Schwester auf das bedingungslose Grundeinkommen aufmerksam geworden. Er selbst hält die Anpassung unseres Sozialsystems für längst überfällig. Das Grundeinkommen könne jedoch kein Allheilmittel sein, sondern nur ein Baustein von vielen. Am 29. Oktober 2019 wird er die Podiumsdiskussion über das Für und Wider moderieren. für dieses Projekt hege.“ Wenn überhaupt empfehle er eine internationale Debatte: „Überlegenswert wäre, dieses Anliegen innerhalb der EU zu diskutieren, um flächendeckend gleiche Chancen zu schaffen.“

Heute schon an morgen denken? Fakt ist: Dramatische Veränderungen des Arbeitslebens und das Auseinanderklaffen von Arm und Reich erfordern neue, innovative Konzepte. Ob das bedingungslose Grundeinkommen eines davon sein könnte, lässt sich nur vermuten. Sicher ist es kein Allheilmittel, vor allem nicht für jene, die sich im Grunde mehr Zeit, nicht aber mehr Geld wünschen. Manchmal braucht es jedoch erst einmal eine Vision wie „Mein Grundeinkommen“, um den Stein ins Rollen zu bringen, um unsere Gewohnheiten und Routinen infrage zu stellen und den Blick über den Tellerrand zu wagen. Wer der nächsten Generation den Weg bereiten möchte, muss jetzt damit anfangen.

Eure Meinungen zum Grundeinkommen auf Instagram „Ich könnte mehr für mich selbst tun, wodurch man weniger Stress aufbaut. Oder mehr Zeit mit der Familie verbringen.“ countryfox

„Viele Reisen unternehmen.“

kimkrogmann

„Ich würde mich nicht darauf ausruhen, trotzdem weiterarbeiten und investieren.“ jennybime

„Regelmäßiger nach Brasilien fliegen, um meine Familiezu sehen.“ lorenna.pe

Mehr Infos zum Thema: www.mein-grundeinkommen.de www.grundeinkommen.de

„Mehr Zeit fürs Studium haben, weil ich nicht so viel arbeiten müsste.“ always.love.always

„Was würdest Du tun?“

„Nur halbtags arbeiten, reisen und mich ehrenamtlich engagieren.“ alleinsamen

Gemeinsam mit den Aktivistinnen Claudia Cornelsen (Mein Grundeinkommen) und Petra Uhlmann (Bündnis Grundeinkommen) sowie Profs, Studierenden und Gästen diskutieren wir die Vorzüge und Nachteile des bedingungslosen Grundeinkommens.

„Teile des Geldes spenden.“ lerbynator

„Zweitstudium und Teilzeitarbeit.“ robin.ebb

Was: Lesung und Podiumsdiskussion Wann: 29. Oktober 2019, 19 Uhr Wo: Haus 15, Campus Herrenkrug

„Mehr Zeit für die Familie und eigene Projekt.“ marcel_fotografie_94

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Forschungsgeist

Eine große Portion Gemeinschaft Noch immer bestimmt die sozioökonomische Herkunft maßgeblich über Bildungskarriere und -erfolg. Das Projekt „Bildungslandschaften in ländlichen Räumen“ setzt neue Impulse, um die Ungerechtigkeit der heterogenen Bildungslandschaft der Altmark abzubauen. Erzählt von Diana Doerks Fotos: Matthias Piekacz

Stendal Stadtsee kurz vor 16 Uhr. „Hier bist du richtig“, begrüßt mich meine Kollegin Miriam Pieschke mit einem großen Kochtopf in der Hand und einem Lächeln im Gesicht. Ich öffne ihr die Glastür zur Kunstplatte in einem unscheinbaren Gebäude wenige Meter hinter dem Altmarkforum. Die Studierenden Wiebke, Jan und Lorenna begrüßen uns freundlich und gut gelaunt. Es ist ein heißer Sommertag Ende August. Am letzten Termin der Aktion „Jugend kocht“ im Sommersemester stehen Eierkuchen auf dem Speiseplan. Der Einkauf der Zutaten bildet den Auftakt des Kochnachmittags, Jan findet einige Kinder, die ihn dabei begleiten möchten.

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Ein Stück Partizipation Auf dem Weg zur kleinen Küche bleiben indes Miriams Augen an einem Miniaturbild des Stadtteils Stadtsee hängen. „Ursprünglich wurde der Stadtteil für das Bau- und Montagepersonal und das spätere Betriebspersonal des dritten und größten geplanten Kernkraftwerks der Deutschen Demokratischen Republik in den 1970er-Jahren errichtet“, weiß sie zu berichten. „Durch die Wende ist der Bau des Kernkraftwerks Stendal aber nie vollendet worden und die Arbeitskräfte wurden


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Lorenna Pereira und Samira Feizi (v. l.) haben Freude beim gemeinsamen Kochen.

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Seit dem Wintersemester 2018/19 kochen Studierende der Kindheitswissenschaften mit Kindern und Jugendlichen aus dem Stendaler Stadtteil Stadtsee. Initiiert wurde die Aktion von Miriam Pieschke, die im Rahmen des Teilprojekts „Bildungslandschaften in ländlichen Räumen“ das Vorhaben „Community Organizing im Brennpunkt“ betreut.

nicht mehr benötigt. Aus dem Stadtteil, in welches alle ziehen wollten, war im Laufe der Jahre ein prekärer Sozialraum geworden, obwohl hier immer noch gut verdienende Menschen leben.“ In regelmäßigen Haustürgesprächen und längeren Interviews erfährt Miriam mehr über die Wünsche und Interessen der hier lebenden Menschen. Ihr Projekt hat das Ziel, mit möglichst vielen von ihnen den persönlichen Austausch zu suchen und gemeinsam aktiv zu werden. Während unseres Gesprächs füllt sich der große Raum neben der Küche weiterhin mit Kindern, vornehmlich Mädchen, eines wird von seinem Bruder begleitet. Alle Kinder stammen aus dem Viertel, einige haben ihre Heimat verlassen, sind aus Afghanistan und dem Iran nach Deutschland gekommen. Sie sind zwischen acht und 15 Jahren alt und sprechen Deutsch, die meisten sind bereits vor der Schule nach Deutschland migriert. Deren Eltern, so Miriam, lernen erst noch die Sprache. Wenn nötig wird die Kommunikation mit ihnen durch Studierende mit arabischen und persischen Sprachkenntnissen unterstützt und erleichtert. Samira Feizi ist eine der Teilnehmenden. Die zehnjährige gebürtige Afghanin mit langen schwarzen Haaren hat wie die anderen Kinder keine Berührungsängste. Die Zeit während der Zubereitung nutzt sie um mit uns und den Kindern zu spielen. „Katze und Maus“ steht hoch im Kurs. Aber eigentlich gefällt ihr das Essen am besten.

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Grundlegend für das Projekt sind ein weiter Bildungsbegriff. So beschäftigt es sich mit allen drei Arten von Bildung: formell (z. B. Schule), non-formell (z. B. Jugendarbeit) und informell (z. B. Familie).

Eine Menge Respekt „Eine Herausforderung in ländlichen Bildungslandschaften ist neben dem fehlenden Austausch und wenig gemeinsamen Angeboten das Thema Diskriminierung“, erklärt Miriam. „Diesen begegnen wir gemeinsam mit dem Netzwerk RESPEKT – ein Projekt für Teilhabe und gegen Diskriminierung in Stendal, welches von meiner Kollegin Maike Simla koordiniert wird“, fährt sie fort. Seit Beginn des Jahres können Diskriminierungsfälle auf der Webseite www.respekt-mitteilen.de gemeldet werden. Die Fälle werden wissenschaftlich dokumentiert und daraus Maßnahmen gegen Diskriminierung und für mehr Teilhabe abgeleitet. Wer das persönliche Gespräch sucht, findet in Stadtsee in speziell geschulten Anlaufstellen wie der Bildungsund Begegnungsstätte AMICUS Gehör. „Es gibt allerdings nur wenige Beratungsstellen in Sachsen-Anhalt, die auf Diskriminierung spezialisiert sind und zum allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz beraten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.” In einem ersten Schritt will das Team für Diskriminierung sensibilisieren, sie sichtbar machen und basierend auf Grundlage dokumentierter Diskriminierungserfahrungen schließlich konkrete Maßnahmen für mehr Teilhabe einfordern.


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Maike Simla hat ihr Büro gemeinsam mit Miriam Pieschke und Anja Funke auf dem Stendaler Campus. Auf dem Schreibtisch liegen neben einem Leitfaden für Anlaufstellen, den sie erarbeitet hat, das vorläufige Programm zweier regionaler Veranstaltungen, die jährlich an der Hochschule Magdeburg-Stendal stattfinden. Die „ConnectYou“ und „Altmärkische Netzwerkkonferenz“ möchten der Bildungs- und Erwerbsabwanderung entgegenwirken und gut ausgebildete Studierende in der Region halten sowie aktuelle Fragestellungen von Akteurinnen und Akteuren der Altmark thematisieren. „Um dies zu realisieren, wurden die Veranstaltungen im Vorfeld mittels Befragungen und direktem Feedback auf Optimierungspotenzial untersucht, welches nun in die Veranstaltungskonzeption einfließt“, erfahre ich von Koordinatorin Anja Funke. Auch eine Neuerung ist in diesem Jahr geplant. Beide Veranstaltungen sollen um eine weitere Komponente ergänzt werden. „Die gemeinsame Bildungskonferenz am 6. November 2019 ist eine Möglichkeit, die sehr unterschiedlichen Bildungsakteurinnen und -akteure unter dem gemeinsamen Thema Bildungsgerechtigkeit zusammenzubringen“, so die Projektleiterin Prof.

Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya, die am Stendaler Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften Kindliche Entwicklung, Bildung und Sozialisation lehrt.

Gemeinschaftliches Miteinander Zurück in der Kunstplatte wurden zwischenzeitlich die quadratischen Tische zu einer langen Tafel verbunden, an dem alle zum Essen Platz finden. Kurze Zeit herrscht eine ungewohnte Ruhe im sonst lebhaften Gebäude. Auch im nächsten Semester möchte Miriam gern die Aktion „Jugend kocht“ mit Studierenden fortsetzen. Da sich auch viele Erwachsene ein nachbarschaftliches Miteinander wünschen, findet seit Kurzem jeden letzten Samstag im Monat ein offenes Treffen statt, verrät sie mir zum Abschied. Vor allem der Austausch untereinander stünde hierbei im Vordergrund. „Bildungslandschaften in ländlichen Räumen“ ist eines von 14 Teilprojekten im Rahmen des Vorhabens „TransInno_LSA“, kurz für „Transfer- und Innovationsservice im Bundesland Sachsen-Anhalt“, und wird für fünf Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz gefördert. Mehr unter www.transinno-lsa.de. Anzeige

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April 2018

Die Praxisnähe, die zahlreichen Exkursionen und ihr Umweltbewusstsein haben die Niedersächsin Janina Deppe (26) von ihrem Studium überzeugt. Wem die Energie mal ausgeht, kann in Magdeburgs Nachtleben abschalten und neue Kraft schöpfen: „Mindestens einmal Flower-Power in den frühen Morgenstunden: ein absolutes Muss!“

Campusgeflüster

Der Natur verbunden „Schon immer hegte ich den Hang zum Nachhaltigen und Ökologischen. Im Bachelor studierte ich Wasserwirtschaft. Für viele ein sehr eigenartiger Studiengang, doch ohne Wasser können wir nun mal nicht leben – es ist eine der wichtigsten Ressourcen unserer Erde und genau das fand ich spannend. Im Master konnte ich mich der Ingenieurökologie zuwenden. Umweltbewusst zu gestalten, zu renaturieren und Habitate für Flora und Fauna zu schaffen, machen den Studiengang zu etwas Besonderem. Später soll er mich auf den Weg des naturnahen Wasserbaus oder der ökologischen Baubegleitung führen. Ob ich in Deutsch-

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land arbeiten werde oder es für mich später einmal ins Ausland gehen wird, weiß ich noch nicht. Ich denke, es ist wichtig, sich nicht festzunageln, so stehen einem mehr Möglichkeiten offen. Welchen Rat ich für unsere neuen Studierenden habe? Genießt das studentische Leben, den grünen Campus und vor allem das praxisnahe Studieren! Später werdet ihr merken, wie nützlich die Theorie ist, die euch anfangs Kopfschmerzen bereitet.“ Notiert von Sarah Krause Foto: Matthias Piekacz


Hier geht’s lang! Oje ... schon wieder zu spät zur Vorlesung. Wo war noch mal der Seminarraum? Die ersten Wochen im Studium können echt anstrengend sein. Müssen sie aber nicht! So helfen euch beispielsweise Mentorinnen und Mentoren, damit ihr in der ersten Zeit nicht ins Wanken geratet. Apropos ... wusstet ihr, dass die Gebäude in Stendal blindenfreundlich gestaltet sind? Neben Brailleschrift an den Türen gibt es auch ein sogenanntes taktiles Blindenleitsystem auf dem Boden. So können sich blinde Menschen oder jene mit starker Sehbehinderung Punkt für Punkt durch die Hochschule „tasten“. Entdeckt von Katharina Remiorz Foto: Matthias Piekacz

Impressum

Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: 3. Januar 2020

Herausgeberin:

Rektorin der Hochschule Magdeburg-Stendal ISSN 1614-8770

V. i. S. d. P.:

Norbert Doktor

Redaktionsleitung:

Katharina Remiorz

Redaktion:

Sarah Krause, Robert Gryczke

Layout und Satz:

Carsten Boek

Hochschule Magdeburg-Stendal Hochschulkommunikation – Redaktion treffpunkt campus Breitscheidstraße 2, 39114 Magdeburg Telefon: (0391) 886 42 64 Fax: (0391) 886 41 45 Web: www.h2.de/treffpunktcampus E-Mail: treffpunktcampus@h2.de

Druck:

Koch-Druck, Halberstadt

Auflage:

4.800

Titelbild: istock/master1305

Für namentlich gekennzeichnete Beitrage sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich. Die Beiträge geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion wieder. Kürzungen behält sich die Redaktion vor.

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... aber es gibt Menschen, die etwas dagegen tun.


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