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Susanne Schriber & August Schwere (Hrsg.)

Spannungsfeld Schulische Integration Impulse aus der Körperbehindertenpädagogik

Mit vier kurzen Texten aus dem Roman «Jakob schläft» von Klaus Merz


Inhalt

Vorwort Einleitung Spannungsfeld Schulische Integration

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ZUGÄNGE Susanne Schriber Integration und Inklusion zirkulär denken: Vom dualen zum pluralistischen Bildungssystem Vom linearen zum modularen Bildungsweg

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Klaus Merz Unter der Sonne I

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STRUKTUREN UND ORGANISATION August Schwere Schulische Integration mit Unterstützung von Integrationsfachstellen

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Christina Le Kisdaroczi Integration: Zusammenspiel von Mensch, Identität und Organisation

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Ueli Speich Integration durch Separation

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Klaus Merz Unter der Sonne II

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SCHNITTSTELLEN UND KOOPERATION Claude Bollier Integrieren heisst kooperieren

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Yashi Bhalla Begleitung, Vernetzung und Kooperation in der schulischen Integration

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Ursula Scherrer Für eine Schule ohne Separation

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Klaus Merz Unter der Sonne III

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PROZESSE UND INDIVIDUUM Susanne Schriber und August Schwere ICF – ein Beitrag für die Integration?

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Gabriela Eisserle Studer Integrationsfähig? Person- und systemorientierte Voraussetzungen

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Janine Dasen Unterstützungsangebote im Schulalltag Integration

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Klaus Merz Unter der Sonne IV

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ÜBERGÄNGE Ines Schlienger «Wir müssen neu denken lernen» – Fachkräfte im Gespräch zu Übergängen in der Integration

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Anstelle eines Schlusswortes Merk-Blatt: Ein Kind mit Körperbehinderung in der Klasse

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Dank

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Vorwort

In der schweizerischen Bildungslandschaft ist die Diskussion zur Frage, ob die schulische Integration von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf auch ein möglicher Weg anstelle einer Sonderschulung sein könnte, schon bald vierzig Jahre alt. Internationale Deklarationen und Instrumente (u. a. die Erklärung von Salamanca der UNESCO 1994, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit der WHO 2001), nationale Gesetze und neue Abkommen zwischen den Kantonen zur Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (2007) haben viele Kantone und Schulen in den letzten Jahren dazu veranlasst, mit Konzepten und konkreten Umsetzungen die schulische Integration von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung zu fördern. «Spannungsfeld Schulische Integration» ist ein Sammelband mit Beiträgen von Fachpersonen, die alle mit dem Bereich der Körperbehindertenpädagogik verbunden sind. In diesem Band werden die aktuellen Erfahrungen in Theorie und Praxis mit eben dieser Integration von Schülerinnen und Schülern mit einer Körperbehinderung an Regel- und in Sonderschulen dargestellt, dies mit all ihren denkbaren Formen, mit allen Risiken und Chancen sowie mit allen Möglichkeiten, die bezüglich Organisation und Zusammenarbeit denkbar sind. Der Titel deutet es an: Das Feld zwischen dem Pol der Separation und dem der Integration ist nicht einfach spannungsfrei. Diese Spannung ruft nach einem Diskurs, der engagiert und mit Emotionen verbunden, der aber auch – wie in diesem Band – in einer differenzierten und fachlich hochstehenden Art und Weise geführt wird. Dabei sind die Standpunkte der Autorinnen und Autoren nicht immer nur deckungsgleich und ohne Widersprüche. Widersprüche sind jedoch der Motor für Entwicklung und Entwicklung ist auch in diesem Feld weiter notwendig!


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Die Episoden, die der Autor Klaus Merz aus seinem Leben und aus dem seines behinderten Bruders schildert, erinnern manchmal fast schmerzhaft, manchmal mit verstecktem Schalk daran, welchen Zuschreibungen, Abwehr- und subtilen Ausschlussversuchen oder aber handfesten RĂźcksichtslosigkeiten Menschen mit Behinderungen und ihre AngehĂśrige im Alltag ausgesetzt sind oder welche selbst AngehĂśrige an den Tag legen. Sie erinnern aber auch daran, welcher Gewinn aus dem gemeinsamen Zusammenleben resultiert. Urs Strasser Herausgeber der HfH-Reihe


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Einleitung

Spannungsfeld Schulische Integration Spannungsfeld Schulische Integration – ein «ideologisches Minenfeld»? Nein, wir möchten mit diesem Buch keine weiteren Sprengsätze in der Integration-Separation-Diskussion deponieren, im «ideologischen Minenfeld», wie es Otto Speck nennt. Wir leugnen nicht, dass es im Alltag verschiedene Spannungen rund um die schulische Integration gibt. Wir gehen aber davon aus, dass Spannungen, Widersprüchlichkeiten oder sogar Paradoxien auszuhalten sind, ja, dass sie das Leben bereichern und eben auch faszinierend und spannend machen. In Spannungen liegen Energien, diese können – wenn sie nicht blockiert sondern transformiert werden – für eine fruchtbare Auseinandersetzung bei der situativen Lösungssuche genutzt werden. August Schwere und Susanne Schriber haben sich in einem gemeinsamen Projekt auf den Weg gemacht, Erfahrungen und Reflexionen, welche die Arbeit der schulischen Integrationsbegleitung in der Deutschschweiz veranschaulichen, einzufangen. Daraus sind Impulse aus der Praxis für die Praxis entstanden, die Anregungen für die Weiterentwicklung im Fachbereich geben. Verschiedene Autoren und Autorinnen aus den Kompetenzzentren der Körper-, Geistig- und Mehrfachbehindertenpädagogik und der Lehre stellen ihre langjährigen Erfahrungen und Reflexionen dazu zur Verfügung. Wir sprechen von «Integration», verstehen immer die grösstmögliche Entwicklungsunterstützung und Partizipation der Schüler und der Schülerinnen mit einer Körperbehinderung und deren Familien. Ob Integration oder Inklusion, wir sehen unsere Arbeit als Beitrag zur Veränderung einer Gesellschaft im Hinblick auf Akzeptanz von Verschiedenheit und gleichzeitiger Teilhabe und Mitgestaltung verschiedenster Menschen in dieser Gesellschaft. Grundsätzliche und alltägliche Spannungen gehören wohl bei diesem hohen Integrationsanspruch dazu. Die Schule als wichtiger Kulturträger leis-


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tet hier tagtäglich (r-)evolutionäre Arbeit auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft und ist ein grosses Erfahrungs- und Übungsfeld, wenn es gilt, mit Spannungen entwicklungsförderlich und lösungsorientiert umzugehen. Drei Themenschwerpunkte sind im Spannungsfeld Schulische Integration von Kindern mit Körper- und Mehrfachbehinderung in den Vordergrund getreten. Sie sind zur Grundlage der thematischen Gruppierung der Beiträge geworden. Erstens Strukturen und Organisation, zweitens Schnittstellen und Kooperation und drittens Prozesse und Individuum. Umrahmt werden diese grossen Kapitel durch die Beiträge Zugänge und Übergänge, welche unsere Kulturen und Werthaltungen verdeutlichen. Am Schluss findet sich mit einem Merk-Blatt eine Zusammenfassung wichtiger Aspekte der schulischen Integration von Kindern mit Körperbehinderungen. In vier Zwischentexten «Unter der Sonne» wirft der Schriftsteller Klaus Merz in leicht bearbeiteten Episoden aus seinem Roman «Jakob schläft» ein Licht auf die Wirklichkeit von Familien mit einem behinderten Kind. Damit blitzt ein Stück Erleben von direkt Betroffenen auf, welches bei der Fokussierung auf die Thematik «Schule» im Schatten steht und vergessen geraten könnte. Die tägliche Bildungsarbeit wird aber bedeutsam von dieser Energie durchdrungen. Wir erfahren dank Klaus Merz erneut in eindrücklicher Weise, dass es ausserhalb der heilpädagogisch gängigen Sprache eine sehr bildhafte, ver-dichtete Erzähl- und Schreibweise gibt, um das Phänomen «Behinderung» zu erfassen und das Zusammenleben mit besonderen Menschen zu beleuchten. Bleibt uns allen Menschen zu danken, denen wir während der Bucharbeit begegnet sind. Sie haben dazu beigetragen, dass nun ein Sammelband mit reichhaltigen Beiträgen zum Spannungsfeld Schulische Integration vorliegt. Zürich und Baden, im November 2011 Susanne Schriber und August Schwere


ZUGÄNGE


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Susanne Schriber

Integration und Inklusion zirkulär denken: Vom dualen zum pluralistischen Bildungssystem Vom linearen zum modularen Bildungsweg

Zur Einstimmung: Salomés Bildungsweg Aus einem Interview von Katrin Moser (2008) mit der Schülerin Salomé und ihrer Mutter erfahren wir: Salomé ist seit früher Kindheit körperbehindert, ihre Fortbewegung erfolgt mittels eines Handrollstuhls. Salomé besuchte während acht Jahren die öffentliche Schule an ihrem Wohnort. Sie war in der Spielgruppe und in den Kindergarten des Wohnortes integriert, die Kindergärtnerin empfahl die Einschulung in die Regelschule. Eltern, Schule und Familien der Mitschülerinnen und Mitschüler gaben ihr Bestes, Salomé als Mitschülerin an allen Aktivitäten teilhaben zu lassen. Gleichwohl: Salomé fühlte sich – rückblickend erzählt und aus subjektiver Perspektive beschrieben – schon früh Hänseleien ausgesetzt, die von ihr schliesslich in der Realschule sehr stark empfunden wurden. Sie wechselte auf die Sekundarstufe, in der die sozialen Beziehungen unter den Schülerinnen und Schülern in ihrer Wahrnehmung besserten. Dennoch wollte die Schülerin entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern einen Schulwechsel. «Salomé wollte von sich aus einen Schulwechsel. Sie fühlte sich nicht mehr wohl und konnte in dieser Situation nicht mehr sich selber sein» (Moser, 2008, S. 10). Nach einem Schnuppern in der Sonderschule war für Salomé sofort klar, sie wollte künftig in die Sonderschule. Salomé meint auf die Frage hin, was sich durch den Besuch der Sonderschule verändert habe: «Viel. Man bringt mir viel Verständnis entgegen. Der Umgang unter Schülern ist hier wirklich viel besser. Die Lehrer akzeptieren einen so, wie man ist, und ich habe Freunde. [...] Ich gehe gern in die Schule hier. Ich fühl mich hier voll integriert» (Moser, 2008, S. 10). Salomé besuchte dann die dritte und vierte Klasse der Oberstufe an der Sonderschule. Ihr Wunsch war es, nach der Schulzeit eine KV-Ausbildung in der freien Wirtschaft absolvieren zu können (Moser, 2008, S. 11). Die Mutter, obwohl sie sich im schulischen Bereich etwas mehr Forderung, ja auch Druck


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wünschte und sie sich fragte, welchen Wert das Abgangszeugnis der Sonderschule auf dem Bewerbungsmarkt haben werde, meint rückblickend: «Für Salomés Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein war dies wichtiger als die schulische Ausbildung. Selbstvertrauen ist wichtig im Leben» (Moser, 2008, S. 10). Während die Mutter zusammenfassend dafür plädiert, die Integration unbedingt zu versuchen, meint Salomé: «Schaut, wo ihr euch wohl fühlt» (Moser, 2008, S. 11). Salomés Geschichte und Weg überraschen: Eine von aussen gesehen gute schulische Integration am Wohnort ist gelungen. Die Beteiligten waren engagiert, von der Spielgruppe über den Kindergarten, die gesamte Primarschulzeit bis hin zur Real- und Sekundarschule hat Salomé die Schule integriert besucht. Kurz vor dem Schulabschluss will sie die «erfolgreiche Integration» verlassen, um an die Sonderschule zu wechseln, weil sie sich sozial isoliert und in ihrer Identität gefährdet fühlt. In der Sonderschule dagegen fühlt sie sich auf Anhieb sozial integriert. Salomé erzählt ihre Geschichte unverkrampft, aus ihrer subjektiven Perspektive, frei von gesellschaftlichen Diskussionen rund um Pro und Kontra derzeitiger Integrationsdebatten. Könnte Salomé eine Protagonistin der Avantgarde offener Schulsysteme der Zukunft sein, wenn in Gesellschaften der Vielfalt, Diversität, Multikulturalität (vgl. Prengel, 1995), pluralistischer Wertevorstellungen ein Neben-, Nach- und Miteinander verschiedener Schulformen denkbar wird? Salomés Weg soll in den folgenden Abschnitten unter den drei zukunftsweisenden Punkten eines integrativen/inklusiven Schulungsverständnisses betrachtet werden: erstens «Barrierefreiheit», zweitens «Pluralismus der Bildungssysteme» und drittens «Von der Wahlmöglichkeit zur konsensualen Entscheidung». Auf eine Diskussion zur Unterscheidung bzw. Differenzierung von Integration und Inklusion wird in diesem Band verzichtet. Überlegungen und Erläuterungen dazu finden sich beispielsweise bei Bürli (2009), Ahrbeck (2011) und Haupt (2011).


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